Günter Kunert: Zu Uwe Greßmanns Gedicht „Kosmos“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Uwe Greßmanns Gedicht „Kosmos“ aus Uwe Greßmann: Der Vogel Frühling.

 

 

 

 

UWE GRESSMANN

Kosmos

Und wer kennt nicht die Behörden
Und die Rennereien mit dem Schein?

Und du gehst da bis zum letzten;
Von Stock- zu Stockwerk,
Daß du die Angelegenheit erledigst,
Wenn du nur immer willst; und: mutig bist.

Und du weißt nicht, Gott, wo findest du die Stelle?
Und keine will zuständig sein.
Und wie das hier aussieht:
Alles zieht sich lang hin
In Strecken, Simsen, Perspektiven, Sprechstunden…
Die reinsten Korridore sind das.
Und Bänke, darauf zu sitzen, gibt es da.
Und wohin du kommst, auch Wände –
Zwischen denen Leere ist und Nichts –
Und Winkel, Flächen; und Räume, Türen, Räume…
Und Sterne, Sonnen, die an geweißten Himmeln strahlen.

Und du fragst die ewige Frage:
Was mag wohl hinter diesen Himmeln sein?
Und ich seh kein Ende.
Doch das soll sich ändern, sagt man hier,
Wenn man ruft: Der nächste bitte.
Und sinkst du nun auch erdewärts,
Wie du vorher himmelwärts gestiegen bist,
Als wärest du ein Paternoster,
so stehst du, als gäbest du den Passierschein ab,
Im nächsten Augenblick auch schon;
Und: siehst dann draußen in dem Raum ein Haus,
Das kleiner wird, je mehr du dich entfernst.

Und so gehst du von Raum zu Raum,
Die Angelegenheit zu erledigen,
Und betrachtest das alles.

 

Der alte und der neue Gott

Ist die Rede vom modernen Gedicht, fallen sofort bekannte Namen. Kaum ins Blickfeld gerät eine andere Modernität, die, abseits ausdrücklicher Ideologien, bedeutende gesellschaftliche Veränderungen metaphorisch reflektiert und von weniger bekannten Dichtern stammt. Oft enthält gerade solche Lyrik etwas Besonderes und Außerordentliches, wie es sich beispielsweise in dem Gedicht „Kosmos“ abzeichnet, mit seiner ins All expandierenden Bürokratie, die alle Räume, selbst jene einst den Göttern und dem technisch-utopischen Hoffen vorbehaltenen, unaufhaltsam besetzt hat. Sein Autor Uwe Greßmann, sechsunddreißigjährig an Tuberkulose gestorben, ist fast vergessen. Das Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller (Leipzig 1974), sonst großzügig in der Aufnahme von Dilettanten, kennt weder seinen Namen noch seine Vita. Sie ist auch kaum beispielhaft: Aufgewachsen in Kinderheimen, Volksschüler, ohne Ausbildung, schließlich in der Poststelle der HO-Gaststätten Berlin-Mitte: Keine Förderung, keine Preise, keine Sinekuren.
Weil das Bezugssystem seiner Gedichte verdeckter ist, als es politisch gefärbten Leser-Erwartungen entspricht, geriet sein schmales, ungleichartiges Werk ins Abseits: Der Dichter einer spezifischen und ihn überwältigenden Gegenständlichkeit, der Blumen, Tiere, Planeten, Naturerscheinungen wurde mit dem Adjektiv „naiv“ abgestempelt und in die literatur-ökologische Nische der Ungefährlichen abgeschoben. Aber ganz so harmonisch-unverbindlich sind seine Gedichte nicht, weil sie voller Widerborstigkeit stecken und ihre Intention mit keinem geheiligten Schema übereinstimmt. „Kosmos“ beweist das.
Schon am Anfang stoßen wir auf Gott, abgesunken zum Bittsteller, für den keiner zuständig ist: Als Absolutum von seinem Platz vertrieben, ohne daß an dieser frei gewordenen Stelle sich ein anderes auf Dauer zu halten vermochte. Der sogenannte Mensch, demzufolge nichts Gewaltigeres lebt als er selber, mit seinen Ersatzgottheiten gescheitert, hat am Ende aller Visionen und glückverheißenden Träume den abgeräumten Fleck der totalen Verwaltung überlassen. Und wer die ewige und häretische Frage fragt, was hinter diesen „Himmeln“ sein mag, weil die existentielle Nichtigkeit für alle Ewigkeit installiert scheint, dem wird zwar Abhilfe zugesagt („das soll sich ändern“), aber eine von bedenklicher Sorte! Denn das Versprechen der Änderung bezieht sich nicht auf das System selber, das den Frager umschließt, sondern auf dessen Person. Die Änderung des sich selbst vollstreckenden Universums soll, „sagt man hier“, geschehen, wenn man ruft: „Der nächste bitte!“ Anstatt der Behörde, so steht zu fürchten, werde der einzelne, der Hineingerufene, besagter Veränderung unterworfen: sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hat. Verschiedene solcher gedanklichen Falltüren sind in diesem Gedicht listig versteckt.
Und weil die Überwältigung des Individuums durch den Apparat kein befürwortbarer Akt ist, wehrt Greßmann sich dagegen auf seine Weise. In den letzten Zeilen schrumpft die monströse Verwaltung zum Haus, „das kleiner wird, je mehr du dich entfernst“ – wobei diese Formulierung unterschiedliche Lesarten gestattet. Wird die Verkleinerung durch den Angesprochenen selber vollzogen und indem er sich entfernt? Oder ist die wachsende Distanz zwischen Subjekt und Objekt nur eine vom Subjekt empfundene, eine innerliche Befreiung, da es gegen die umgebende Allmacht sich selbst setzt? Und wer ist eigentlich dieses „Du“? Akzeptiert man, das „Du“ sei bis zum Schlußpunkt identisch mit dem ihm verliehenen Namen „Gott“, der nirgendwo widerrufen wird, bietet sich die Lösung an. (Übrigens heißt es ohnehin von dem „Du“, es sei „himmelwärts“ gestiegen, bevor es „erdewärts“ sinke: „Als wärest du ein Paternoster“!) Gezeigt wird damit die Begegnung des alten mit dem „neuen Gott“, des individualisierten Abstraktums mit einem entpersönlichten, durch seine Praxis irrational gewordenen Ordnungsprinzip. Kein harmloses Thema, meine ich.

Günter Kunertaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980

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