Helmuth Nürnberger: Zu Heinz Politzers Gedicht „Grenzübertritt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Heinz Politzers Gedicht „Grenzübertritt“ aus Heinz Politzer: Franz Grillparzer oder Das abgründige Biedermeier. –

 

 

 

 

HEINZ POLITZER

Grenzübertritt

Dem Grenzer, der im Nebel lehnt,
Hab ich mit Frösteln meinen Paß gewiesen.
Er sah ihn an, die hohen Winde bliesen.
Und hat dazu kein Sterbenswort erwähnt.

Er trug in ein vergilbtes, schweres Werk
Die Herkunft ein und meines Vaters Namen,
Woher der Ahn, des Ahnen Ahnen kamen,
Doch meines Zieles tat er kein Vermerk.

Der zugeknöpfte Handschuh seiner Hand
Rührt an das Ränzel, das mich nicht beschwerte.
Aus der die Mutter mich zu glauben lehrte,
Die Bibel fand er und ein schmales Band,

Ein Tränenkrüglein und das Brot der Nacht,
Des letzten Weges zugemeßne Zehrung.
Der Zöllner sah sie, nickte die Gewährung
Und hat den Schranken vor mir aufgemacht.

Oh Land der Eltern, dessen fahlen Staub
Ich niederschüttle von den alten Sohlen,
Dort laufen fremde Straßen, mich zu holen,
Und fremden Lüften bin ich bald ein Raub!

So wie der Einsame, eh er ertrinkt,
Aus einem Meer der Ängste greift ins Helle,
So küß ich, gute Erde, deine Schwelle,
Die mir mit diesem Augenblick versinkt.

 

Der erzwungene Weg in die Fremde

Fenster vor dem Firmament (1937) war Heinz Politzers erster Gedichtband betitelt, der dem aus Wien gebürtigen jungen Germanisten außerordentliches Lob eingetragen hatte. Unter den Rezensenten, die ein vielversprechendes Talent rühmten, waren Franz Werfel und Klaus Mann, ferner Max Brod, der schon früh auf Politzer aufmerksam geworden war und ihn zum Mitarbeiter an seiner Kafka-Ausgabe gemacht hatte. Vier Jahre später war fast alles verändert: Politzer, noch ohne Studienabschluß, lebte nun in Jerusalem, und das Bändchen Gedichte (1941), seine zweite eigenständige Veröffentlichung, darin auch „Grenzübertritt“, erschien dort in einem „provisorischen Privatdruck in hundert und fünfzig Exemplaren“. Er hatte den lebensrettenden Weg ins Exil gewählt, angesichts einer völlig ungewissen Zukunft offenbar bangen Herzens, mit einem für seine Jahre fast zu ernsten, rückwärtsgewandten Blick- „mit Frösteln“, wie das Gedicht es beschreibt. Was sich seitdem nicht geändert hatte und nie ändern sollte, war, daß er sich zuallerst als Dichter fühlte. Noch seine Grabplatte auf dem Petersfriedhof in Salzburg weist es aus: Heinz Politzer 1910–1978 Dichter.
Seine äußere Biographie bestätigt die innere nicht, er ging von Jerusalem weiter in die Vereinigten Staaten; er wurde Professor in Oberlin (Ohio) und Berkeley, ein berühmter, auch umstrittener Interpret, veröffentlichte nur noch selten Gedichte, dann gar nicht mehr, obwohl die Lyrik ihn nicht losließ. Nach Österreich auf die Dauer zurückzukehren – ein auf seine Interessen zugeschnittener Lehrstuhl wurde eingerichtet –, erklärte er sich willens, er kam aber nicht. Nur seine Asche kam und der Wunsch nach der fast wie ein Protest klingenden Grabschrift.
Seine Kunst der Interpretation ließ er nur als Handwerk gelten. Wenn er interpretierte, war ihm die fremde Haut gleichsam näher als die eigene, er war Grillparzer, wenn er über Grillparzer schrieb, und der wurde gegenwärtig auf eine ganz ahistorische Weise. Politzer war ein Dichter wenn er als Interpret ein anderer wurde – war er einer auch als Politzer? Das scheint eine wenig dringliche Frage, mit dem Leben soll man nicht streiten. Wer sich nützlich macht bei der Pflege und Vermittlung von Kunst, leistet zuletzt mehr als einer, der eigensinnig anstrebt, was andere besser können als er.
Die Bildsprache in „Grenzübertritt“ mutet konventionell an, der melodisch weiche, aber eher zeitferne Ton mag das Urteil begründen, daß das Schwächere vor dem Stärkeren zurücktreten muß. Hat uns Brecht den Weg des Laotse in die Emigration nicht unvergeßlich beschrieben? Bei Politzer liest es sich fast, als stünde Grillparzers armer Spielmann, der gute Jakob, unauffällig-hilflos an der Grenze. Seine Sanftmut bleibt in der Welt, wie sie einmal ist chancenlos. Friedrich Torberg hat „Grenzübertritt“ parodiert:
Nicht um den Verfasser bloßzustellen (auch er schätzte Politzers Gedichte), aber um ihn mit der Realität zu konfrontieren, die er anders und besser zu kennen glaubte. „Letzte Fahrt“ betitelt er den Vorgang, von keinem „Ränzel“ ist die Rede, von keinem Buch, aus dem die Mutter den Glauben lehrt, von keinem „Tränenkrüglein“, vor allem aber ist das Wachpersonal an der Grenze von anderer Art:

Da stand der Scherge zwischen schmaler Türe.
In seinen Händen raschelten Papiere:
„Herr Politzer? Man wartet schon auf Sie.

Reinhard Urbach hat im Vorwort zu seiner Neuausgabe des Grillparzer-Buches die beiden Gedichte zusammengestellt.
Kein Scherge wartete, die Schranke wurde geöffnet, die aktuelle Bedrohung ging vorüber. „Grenzübertritt“ zielte aber auf noch anderes, auf seelische Beraubung, die zeitlose Not des erzwungenen Weges in die Fremde, auf eine besonders gravierende jener ungewählten Weichenstellungen, die es in jedem Leben gibt und fortan die Richtung weisen. Vom Ende her sind sie in ihrer eigentlichen Bedeutung nicht mehr zu bestimmen. Niemand vermag zu sagen, wie das Leben des jungen Schreibers ohne die barbarische Zeitgeschichte weitergegangen wäre, aber er spürte, was der Übergang ins Unbekannte, der alte Bindungen jäh abreißen ließ und nicht zuletzt in eine andere Sprachwelt führte, für ihn bedeutete.
Heinz Politzer, Dichter. Im Wiener Wasagymnasium hatte ihm der Professor bei der Abschlußarbeit ermutigend auf die Schulter geklopft.

Politzer, denken S’ net, schreiben S’.

Wer hätte die Sicherheit wiederherstellen können, die in diesem Satz beschlossen lag?

Helmuth Nürnbergeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2004

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