Jay Rosellini: Volker Braun

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jay Rosellini: Volker Braun

Rosellini-Volker Braun

II. DIE WERKE VOLKER BRAUNS

1. Zu den frühen Arbeiten
Im Rahmen dieser Arbeit ist es nicht möglich, alle frühen Werke Volker Brauns ausführlich zu betrachten. Da diese ersten Versuche jedoch von demjenigen, der sich mit dem Werdegang des Schriftstellers Braun befassen möchte, unbedingt berücksichtigt werden müssen, schien es angebracht, sie in einer kurzen Zusammenfassung vorzustellen. Bereits im ersten Gedichtband Provokation für mich (entstanden 1959–64), in den Stücken Die Kipper (1962–65), Freunde (1965) und Hinze und Kunze (1. Fassung 1967–68 unter dem Titel Hans Faust, im Agitprop-Band KriegsErklärung (1966) und im Lyrikband, Wir und nicht sie (1965–68) werden Fragen aufgeworfen, denen der Autor auch heute noch nachgeht.
Die ersten literarischen Erzeugnisse, die Braun noch gelten läßt, stammen aus der ,Übergangsperiode‘ zwischen der „Errichtung der Grundlagen des Sozialismus“ und deren „Stabilisierung“.1 1959 wurden die ersten „Brigaden der sozialistischen Arbeit“ gebildet, und ein Jahr später wurde die Kollektivierung der Landwirtschaft abgeschlossen. Nach dem Bau des „antifaschistischen Schutzwalls“ im August 1961 begann eine „Etappe der Festigung der ökonomischen Grundlagen und der gesellschaftlichen Verhältnisse“.2 Der VI. Parteitag der SED (Januar 1963) befaßte sich mit der „Strategie zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“.3 Diese ,bewegten Jahre‘ erlebte Volker Braun zunächst als Arbeiter, dann als Student der Philosophie; bei seinen ersten Werken konnte er sowohl von praktischer Erfahrung als auch von theoretischen Überlegungen ausgehen. Er wußte überdies, daß Aufgaben auf ihn warteten: Auf der Bitterfelder Konferenz im April 1959 hatte der SED-Vorsitzende Walter Ulbricht einerseits die fehlende literarische Gestaltung „des brausenden umwälzenden Lebens in unserer Gegenwart“ bemängelt, andererseits die Schriftsteller dazu aufgefordert, „an den Brennpunkten der Entwicklung“ zu wirken und selbst am „sozialistischen Aufbau“ teilzunehmen.4 Ganz im Sinne von Ulbrichts Ausführungen – in derselben Rede wird der Beitrag des Schriftstellers zur „Beschleunigung der Entwicklung“ (ebd., S. 553) betont – äußerte sich Volker Braun in einem 1964 geführten Gespräch mit der Kritikerin Silvia Schlenstedt:

Eine positive Haltung einnehmen gegenüber den Prozessen, die sich bei uns abspielen, muß, meine ich, bedeuten, diese Prozesse zu beschleunigen.5

In Provokation für mich6 liegen die Sprech-Übungen eines ,idealistischen Agitators‘ vor:

Die frühen Gedichte waren ein sehr persönliches Mich-Aussprechen zu Vorgängen, in denen ich mich als Jugendlicher sah, was den Vorteil hatte, daß ich bei meinen Erlebnissen blieb. Es geschah oft als provokatorisches Daherreden, ein strenger Bau der Gedichte wurde nicht unbedingt angestrebt.7

Das trotzige ,Vorwort‘ (S. 9) postuliert eine abstrakte Kollektivität jenseits bürgerlicher Kunstvorstellungen, und in „Kommt uns nicht mit fertigem“ (S. 10) erfolgt neben einer Abgrenzung von der kapitalistischen Bundesrepublik – ein Aufruf an die Altersgenossen, die ,permanente Revolution‘ voranzutreiben:

… Alles Alte prüft: her, Kontrollposten Jugend!
Hier wird Neuland gegraben und Neuhimmel angeschnitten –
Hier ist der Staat für Anfänger – Halbfabrikat auf Lebenszeit…

In diesen vor Kraft strotzenden Bildern findet ein Hauptthema von Brauns Gesamtschaffen seinen Niederschlag, nämlich die Notwendigkeit der ständigen revolutionären Bewegung, ohne die alles Erreichte zum Hemmschuh des weiteren Fortschritts werden müßte. Braun entgeht allerdings der Gefahr – und das unterscheidet ihn grundsätzlich von den ,Aufbaulyrikern‘ der fünfziger Jahre –, seine Ansprüche als Realität hinzustellen: Er leistet sich zwar (wenn auch schnoddrige) Lobesworte für selbstlose FDJler („Jugendobjekt“), doch dafür unterschlägt er nicht, daß nicht wenige Jugendliche damals von derartiger Selbstlosigkeit kaum begeistert waren. In manchen Gedichten kommt es etwas zu schnell zur Überwindung des ,falschen Bewußtseins‘, doch man sollte sich bei der Lektüre vergegenwärtigen, wie wenig die bloße Darstellung negativer Erscheinungen damals erwünscht war. Braun konnte augenscheinlich nicht davon ausgehen, daß seine (dem heutigen Leser überdeutliche) Parteilichkeit klar zu erkennen war; er fühlte sich zum direkten Bekenntnis verpflichtet:

… Ministerium, schließ deine Mappe: das sind parteiliche Verse. („Zueignungen zum Zyklus für die Jugend“, S. 69).

Die in der „Gebrauchsanweisung zu einem Protokoll“ (S. 71) zitierte Kritik an der Braunschen Sichtweise („Ich bin der Braun, den ihr kritisiert / Wegen häufigen Erwähnens von Worten wie / MÜDIGKEIT, TRÄGHEIT, welche / überholt sind…“) führt aber nicht zur Selbstkritik, sondern eher zur Versteifung der eigenen Einstellung. Die Schlußverse der Provokation für mich (S. 70; bissiger Untertitel: „als im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts die Gedichte entbehrlich wurden“) könnten als eine Art poetisches Programm des jungen Volker Braun gelten:

… Die Freunde loben nicht tollkühn wie wir:
Sie preisen den Plan, indem sie ihn ändern –
Das nenn ich: positiv sein! Das Positive verbessern!
Wir aber, in unserer Dichterbrigade
Rühmen nur, bessern nichts, sind denkfaul, entbehrlich
Wir nehmen uns selbst nicht für voll
Uns nenn ich noch: negative Dichter

Die Agitprop-Verse der KriegsErklärung (diese Fotogramme wurden 1966 für eine Vietnam-Matinee des Berliner Ensembles geschrieben) verzichten fast völlig auf eine persönliche Perspektive. Als Vorbild diente Bertolt Brechts Kriegsfibel, eine Art kritische Chronik des Zweiten Weltkrieges, die zu seinem „literarischen Report über die Exilzeit“ gehört.8 Brauns Agitation wirkt allerdings abstrakter als diejenige seines Vorläufers: während Brecht bei aller Parteilichkeit weder seine eigene Mitschuld noch die Widersprüche in seiner Haltung verschleiert, schreibt Braun über einen fernen Krieg zwischen zwei Ländern bzw. Völkern, die er nicht kennt. Seine Solidarität mit dem antiimperialistischen Kampf der Vietnamesen ist zweifellos echt, und seine moralische Empörung ist berechtigt, doch in Ermangelung eigener Erlebnisse und Erfahrungen beruht die KriegsErklärung zu sehr auf Information aus zweiter Hand, als daß sie überzeugen könnte. Die begrenzten Kenntnisse des außenstehenden Beobachters wirken sich auch auf die Wahl der Gestaltungsmittel aus. Wie bei Brecht werden Fotos aus Zeitungen und Zeitschriften durch kurze Gedichte (meist leicht verständliche Vierzeiler) erläutert bzw. kommentiert, doch Brauns Auseinandersetzung mit dem Bildmaterial erreicht nicht das Niveau der Kriegsfibel: der einst von Brecht angestrebte ,Dialog‘ mit den Abgebildeten (z.B. mit Angehörigen der Wehrmacht) fällt aus, weil die Vietnamesen und Amerikaner letzten Endes Fremde bleiben. Die KriegsErklärung ist eine Auftragsarbeit, die nur als Dokument ihrer Entstehungszeit das Interesse heutiger bzw. künftiger Leser erwecken dürfte.

(…)

 

 

 

I. Einleitung

(…)

Es ist schwierig in Umbruchzeiten, mit allen Gattungen zu arbeiten, denn arbeiten heißt sie entwickeln.9

Bei der Interpretation der Lyrik Volker Brauns hat sich in der DDR – z.T. gestützt auf Aussagen des Autors (vgl. Notate, S. 114f. bzw. 120) – die Ansicht durchgesetzt, es gäbe drei Entwicklungsstufen.10 In Provokation für mich (1965) sei Braun als jugendlicher Aktivist aufgetreten, dessen vorwärtsdrängende Ungeduld mit einer noch undialektischen Sichtweise gepaart gewesen sei; in Wir und nicht sie (1970) habe eine Einübung in die Dialektik eine gewisse Abstrahierung des lyrischen Sprechens nach sich gezogen, und in Gegen die symmetrische Welt (1974) bzw. Training des aufrechten Gangs (1979) sei die eigene Subjektivität des Lyrikers in eine Diskussion der ,großen‘ Fragen integriert worden. Diese kritische Perspektive hat Wesentliches zutage gefördert, doch gewisse Kontinuitäten bzw. zeitbedingte Erscheinungen sollten dabei nicht übersehen werden. Wie Heinz Czechowski treffend bemerkt hat,11 entsprang Brauns frühe Hinwendung zum „Sprech-Gedicht“ weniger eigenen Neigungen als den Bedingungen der „Lyrik-Welle“ in den frühen sechziger Jahren, in deren Rahmen viele öffentliche Lesungen veranstaltet wurden. Darüber hinaus zeugen bereits frühe Gedichte wie „Jazz“ oder „Provokation für mich“ von Brauns Fähigkeit, dialektisch zu denken. Die ,Abstraktheit‘ des zweiten Bandes ist deutlich ausgeprägt, doch das lyrische Ich in Provokation für mich gibt sich zwar individualistisch, aber nicht in dem Sinne ,subjektiv‘, daß die introspektive Selbstbefragung der späteren Sammlungen zum Vorschein käme. Richtig ist jedoch, daß eine Verquickung von echter Subjektivität und politischem Engagement erst in Gegen die symmetrische Welt gelingt.
Der Lyriker Braun setzt sich unaufhörlich mit den Möglichkeiten poetischen Sprechens auseinander, die seine Vorgänger entwickelt haben. Bei den pathetischen Versen der Frühphase stand vor allem der ,Dichter der Oktoberrevolution‘, Wladimir Majakowski, Pate, und zur gleichen Zeit begann die Beschäftigung mit dem ,Gebrauchslyriker‘ Brecht, die bis heute andauert. Die Tatsache, daß Brechts Einfluß sich als nachhaltiger erwies denn derjenige Majakowskis, ist wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die Verhältnisse in der DDR mit den Zuständen im nachrevolutionären Rußland wenig Ähnlichkeit haben. Die differenzierte Sprechweise etwa der Buckower Elegien läßt sich dafür heute noch ,ausbeuten‘.12 Brauns in der Mitte der sechziger Jahre einsetzende Rezeption der Odendichtung Klopstocks bzw. Hölderlins erfolgte zunächst im Rahmen einer kulturpolitischen Auseinandersetzung um das ,lange Gedicht‘,13 das von einigen jüngeren Lyrikern als Gegenentwurf zur „leer und blaß gewordene(n) Liedlyrik“14 der fünfziger Jahre aufgestellt wurde. Braun hat später seine Suche nach gültigen Ausdrucksformen für das politische Gedicht, in dem „das Individuelle“ sich ausspreche, folgendermaßen dargestellt:

… Hölderlin, den Brecht überholte, ohne ihn einzuholen: darum bedeutet uns Brecht soviel, aber nicht alles15

In der Praxis prägt sich diese Erkenntnis so aus, daß Braun zwischen zwei Polen schwankt: einerseits erstrebt er ein „Höchstmaß an Klarheit für den wirklichen Leser“ (das gilt für fast alle Kurzgedichte), andererseits reizt es ihn, ein „Übermaß an Tiefe für einen idealen Leser“ anzubieten. 16 Im vorerst letzten Gedichtband Training des aufrechten Gangs besteht die „profane“ Linie neben der „pontifikalen“ fort;17 erstmalig begegnet man aber den Früchten einer Auseinandersetzung mit der ,spätbürgerlichen Moderne‘: die Lektüre der Lyrik T.S. Eliots führt zum Versuch, das Gedicht mittels Montage und Assoziation ,aufzubrechen‘. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt läßt sich nicht voraussagen inwiefern diese Erweiterung von Brauns poetischem Blickfeld zum allmählichen Zurückdrängen der politischen Lyrik in der Nachfolge Brechts führen wird. Auf jeden Fall wäre es nichts weniger als erstaunlich, folgte der operative Lyriker Braun dem Weg seines Kollegen Günter Kunert, der sich in letzter Zeit in der Nähe der Statischen Gedichte Gottfried Benns bewegt. Eins ist unbestreitbar: sollte sich Volker Braun jemals vom politischen Gedicht verabschieden, so wäre das nicht die Folge eines stilistischen Notstands, sondern Ausdruck einer tiefen Skepsis, was die künftige Entwicklung der DDR betrifft. Wenn es soweit käme, hätte niemand – sei er nun Literaturfreund oder nicht – Grund zur Freude.

(…)

Jay Rosellini, Vorwort

 

 

SYSTEMVERLUST
für Volker Braun

die eine Welt war wieder sichtbar
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazwei geworden
auf den Bildschirmen David
aaaaaaaund Goliath, die Rollen vertauscht
atmeten Rückschlag
aaaaaaaaaaaaaaaaaEntschärfung der Lage
durch entSchöpfung
aaaaaaaaaaaaaaaaalängst begonnen
hat der achte Tag
aaaaaaaaaaaaaaaaadas THEATER DER TOTEN
die Zukunft geht aus (uns)
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaavon VISIONEN
zu sprechen liegt mir fremd
aaaaaaaaaaaaaaawohnhaft in Fatalismus
der Restposten Mensch
aaaaaaamit der Lösung durchdacht aus
IBM thinkpads
aaaaaaasprechen Runen in die Luft
,wir‘ schießen in die Wiege
aaaaaaadie uns (Knochen) brach
aaaaaaaK.…–KARTHAGO
das Pentagramm ist mit uns

Ron Winkler

 

PLAN VON BERLIN
für Volker Braun

Im Kadewe das Paradies der Fresser
In Zehlendorf die Mörderwitwen
Vor der Oper die grünen Kinderschlächter
Am Kudamm einsam die Schuhe von Rudi
Der Kanal noch lange nicht voll
Und die andere Seite
Wo es nicht ist wie es bleibt
19-68 78 88

In Lichtenberg die Liebe der Spinne für alle
Am Werderschen Markt das geschmeichelte Lächeln
Des Idioten gewählt von Idioten
Die andere Seite der anderen Seite
Auf dem Alex die Leute
Das Phantom der Freiheit
Über die Bornholmer Brücke entschwindend
1989 

aaaDenk o denk an ihr Eden
aaaDer Mann ein Sieb die Frau
aaaMußte schwimmen die Sau
aaaFür sich für keinen für jeden 

1990

B.K. Tragelehn

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

 

In der Reihe Klassiker der Gegenwartslyrik sprach Volker Braun am 9.12.2013 in der Literaturwerkstatt Berlin mit Thomas Rosenlöcher.

Welche Poeme haben das Leben und Schreiben von Karl Mickel und Volker Braun in der DDR und Michael Krüger in der BRD geprägt? Darüber diskutierten die drei Lyriker und Essayisten 1993.

 

Zum 80. Geburtstag von Volker Braun:

Katrin Hillgruber: Der ewige Dialektiker
Der Tagesspiegel, 5.5.2019

Rainer Kasselt: Ein kritischer Geist aus Dresden
Sächsische Zeitung, 7.5.2019

Hans-Dieter Schütt: Die Wunde die bleibt
neues deutschland, 6.5.2019

Cornelia Geißler: „Der Osten war für den Westen offen“
Frankfurter Rundschau, 6.5.2019

Helmut Böttiger: Harte Fügung
Süddeutsche Zeitung, 6.5.2019

Erik Zielke: Immer noch Vorläufiges
junge Welt, 7.5.2019

Ulf Heise: Volker Braun – Inspiriert von der Widersprüchlichkeit der Welt
mdr.de, 7.5.2019

Oliver Kranz: Der Schriftsteller Volker Braun wird 80
ndr.de, 7.5.2019

Andreas Berger: Interview zum 80. Geburtstag des Dresdner Schriftstellers Volker Braun
mdr.de, 7.5.2019

 

 

Fakten und Vermutungen zu Volker Braun + Linkliste + Archiv 1 + 2 +
KLGDAS&D + Georg-Büchner-Preis 1 & 2 + Anmerkung zum GBP +
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Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
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Dirk Skibas AutorenporträtsBrigitte Friedrich Autorenfotos +
Keystone-SDA + deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Volkerbraun“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Braun, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Volker Braun

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