Karl Krolow: Zu Georg Trakls Gedicht „Abend in Lans“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Trakls Gedicht „Abend in Lans“ aus Georg Trakl: Werke. Schriften. Entwürfe. –

 

 

 

 

GEORG TRAKL

Abend in Lans
2. Fassung

Wanderschaft durch dämmernden Sommer
An Bündeln vergilbten Korns vorbei. Unter getünchten Bogen,
Wo die Schwalbe aus- und einflog, tranken wir feurigen Wein.

Schön: o Schwermut und purpurnes Lachen.
Abend und die dunklen Düfte des Grüns
Kühlen mit Schauern die glühende Stirne uns.

Silberne Wasser rinnen über die Stufen des Walds,
Die Nacht und sprachlos ein vergessenes Leben.
Freund; die belaubten Stege ins Dorf.

 

An geisterhaftem Ort

Als ich vor etwa fünfzig Jahren antiquarisch Die Dichtungen von Georg Trakl, ausgewählt von dem Freund Karl Röck, als erste Gesamtausgabe erstand, hielt ich die schöne, tiefblau gebundene Edition des Verlags Kurt Wolff, Leipzig, in der Hand. Ein zerrissenes Saitenspiel und ein dünner Lorbeerzweig schmückten den Einband. Das Buch war damals fünfzehn Jahre alt, mußte gegen oder nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erschienen sein. Ich kannte damals Trakl nur durch eine schmale Auswahl in der alten Insel-Bücherei. Die Ausgabe des Kurt Wolff Verlags schien mir – noch dazu unter den damaligen tristen Umständen – ein besonderer Fund zu sein. Er war es tatsächlich. Denn erst die Röcksche Ausgabe erschloß mir den österreichischen Dichter, der so früh das Leben hinter sich gelassen hatte, in dem er – nur der Schwester verbunden – ein Abwesender war.
Die Landschaft war mir, dem Norddeutschen, unbekannt. Um so begieriger nahm ich diese Landschafts„stoffe“ in ihrer herbstlichen Transparenz auf, die keinen Unterschied zwischen Diesseits und Jenseits zu machen schien. Es waren namenlose Orte der Seele. Wenn einmal ein Name fiel und ein Ort genannt wurde, so erweckte er sogleich meine Neugier.
Als ich das Gedicht „Abend in Lans“ – in der zweiten Fassung, wie ich später erfuhr – las, kam etwas wie Sehnsucht nach diesem unbekannten, geisterhaften Ort auf. Später – ungefähr zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und anläßlich einer kleinen Tagung im benachbarten Igls – lernte ich auf einem Ausflug Lans kennen. Es war ein flüchtiger Gang durch eine stille Ortschaft, von Wäldern umgeben, irgendwo oberhalb von Innsbruck. Mittagszeit war und die Stille für mich doppelt spürbar. War dies überhaupt noch das Lans, das Trakl einst im Gedicht genannt hatte, mit jenen „Belaubten Stegen ins Dorf“, die ich wiederzuerkennen meinte?
Nicht viel weniger als ein halbes Jahrhundert mochte inzwischen verstrichen sein, und Lans mußte sich notwendigerweise verändert haben. Es war die Jahreszeit des Gedichts, das gebündelte Heu auf den Feldern. Und auch die getünchten Häuserbögen mit den huschenden Schwalben gab es zu sehen. Auch das andere, Geheimnisvolle, diese Schwermut und das sprachlose, das vergessene Leben schien in der lastenden Mittagszeit auf dumpfe Art und Weise gegenwärtig. Dennoch konnte ich das Lans des Jahres 1955 im Gedicht Georg Trakls nicht wiederfinden. Insgeheim mochte ich auf einen Hinweis wie auf eine „Erscheinung“ hoffen, die ausblieb. Ich war zu flüchtig in diesem vor dreißig Jahren noch mittagsstillen Tiroler Dorf, das schwieg, bis auf kurzes Lachen, das aus dem Wirtshaus zu hören war, ehe alles wieder „in Ruh und Schweigen“ sich verlor.
Das Betäubte, das Suggestive, diese Augenblicke schwermütiger Euphorie waren mit dem, der sie niederschrieb, in einer Zeitlosigkeit verschwunden, in der allenfalls noch die „zweite Zeit“ der Dichtung und der Dichter herrscht. Die Schauer, die einst die „glühende Stirne“ kühlten, hinterließen im Gedächtnis eher ein Frösteln dessen, der an einem geheimen Ort der Dichtung zu spät und als ein anderer gekommen war. Ich fror in der Wärme. Ich sagte mir „Abend in Lans“ auf, par cœur, wie die Franzosen sagen. Ich fühlte mich als ein später Fremdling hier.

Karl Krolowaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zehnter Band, Insel Verlag, 1986

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