Lucio Piccolo: Von Rasten leben wir

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Lucio Piccolo: Von Rasten leben wir

Piccolo-Von Rasten leben wir

UNBESTÄNDIGES ALL AUS UNGESTÜM1

Unbeständiges All aus Ungestüm
von Strahlen, aus Stunden ohne Farbe, aus stetem
Fluß, aus Wolkenprunk:
ein Augenblick und schau – verändert
leuchten die Figuren, schwanken die Millennien.
aaaaaUnd der niedren Türe Bogen und der Staffel, glatt
von allzu vielen Wintern – Märchen sind sie unterm jähen
Strahl der Märzensonne.

 

 

 

„Ich bin ein zu harter Knochen für euch“

– Über den sizilianischen Lyriker Lucio Piccolo. –

1

Ein höchst ungewöhnlicher Mann, ein Mann, ständig auf der Flucht, Carlo Emilio Gadda ähnelnd, ein Mann, den die Krise unserer Epoche aus der Zeit geworfen hat. Eine El-Greco-Gestalt…

Der ,cavaliere‘ Lucio hat einen abwesenden Gesichtsausdruck, verstörte Augen, zerraufte Haare mit zwei schlampigen Strähnen über die Stirn, einen kleinen, schlecht gestutzten Schnurrbart, ausgedünnt, farblos: Alles in allem ähnelt sein Gesicht dem Prousts.

Das sind zwei Porträts des Dichters Lucio Piccolo, das eine von Eugenio Montale, dem Förderer Piccolos, das andere von Andrea Vitello, einem der Biografen des berühmten Cousins Piccolos, des Fürsten Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Lampedusa ist der Autor des umstrittenen, aber höchst erfolgreichen Romans Der Leopard, der 1960 nach dem Tod des Fürsten von Giorgio Bassani herausgegeben wurde. In der in den späten 80er-Jahren erschienenen Biografie des Fürsten, The Last Leopard von David Gilmour, sind ein paar Absätze der pittoresken Gestalt Piccolos gewidmet

… thickset and ugly, often dressed in plus fours and shooting stockings…

Piccolo, als „personaggio gattopardesco“, als Figur aus der Welt des Romans Der Leopard, als kultivierter Exzentriker, als Bezugsperson für den Schriftsteller Lampedusa taucht in Artikeln und Aufsätzen über die italienische, vor allem die sizilianische Literatur im 20. Jahrhundert immer wieder auf.
Sein Werk ist aber, nach einem diskreten, literaturbetriebsinternen Ruhm in den 50er-Jahren, in Vergessenheit geraten, sieht man von den immer rarer werdenden Veröffentlichungen zu Piccolo ab, zumeist von Autoren verfasst, die auf die Literatur der Region Sizilien spezialisiert sind, oder von knappen Würdigungen des Lyrikers anlässlich von Jahrestagen in Literaturzeitschriften.
Der Mailänder Verlag Vanni Scheiwiller hat sich schon früh und mit Konsequenz der Veröffentlichung der nachgelassenen Lyrik und Prosa Piccolos angenommen (Plumelia, 1967; La seta e altre poesie inedite e sparse, 1984; Il raggio verde e altre poesie inedite, 1993; L’esequie della luna e alcune prose inedite, 1996). Im Jahr 2001 erschienen schließlich im selben Verlag Piccolos erstmals 1960 von Mondadori veröffentlichtes und lange Zeit vergriffenes Hauptwerk „Canti barocchi“ e „Gioco a nascondere“ und in einen Band zusammengefaßt, die drei Gedichtbände aus dem Nachlaß.

In der Geschichte der Rezeption der Werke Piccolos und Lampedusas steckt eine für den Literaturbetrieb symptomatische Ironie, hat sich doch Lampedusa erst herausgefordert und ermutigt durch den Erfolg seines Cousins, hinter dem Montale stand, dazu entschlossen, sein reaktionäres, hagestolzisch-adeliges Epos vom Untergang der alten sizilianischen Gesellschaft zu verfassen.
Piccolo, der Lampedusa um mehr als ein Jahrzehnt überlebte und den Ruhm seines Cousins noch erlebte, sah sich daher auch immer wieder bemüßigt, um einer fiktiven Gerechtigkeit willen, die Tatsachen ins rechte Licht zu rücken: Nicht Piccolo sei der Cousin von Lampedusa, sondern Lampedusa sei der Cousin Piccolos gewesen, wie Leonardo Sciascia in einem Aufsatz über Piccolo in seinem Buch La corda pazza berichtet.

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Der Baron Lucio Piccolo wurde am 27. Oktober 1901 in Palermo geboren. Er verbrachte sein Leben fast ausschließlich auf seinem Landsitz in Capo d’Orlando, Messina, wo er auch am 26. Mai 1969 starb. Die Villa in Capo d’Orlando, vormals die Sommerresidenz der Familie, ab 1920 der feste Wohnsitz der unverheirateten, ihren exzentrischen Neigungen lebenden Geschwister Lucio, Casimiro und Agata Giovanna, ist heute ein Museum. Finanziell wohlsituiert, war Piccolo in der Lage, sich sein Leben lang ausschließlich seinen privaten Studien zu widmen. Er studierte Sprachen – Deutsch, Englisch, Französisch, Latein, Altgriechisch, Arabisch –, Philosophie, Mathematik, Physik, Astronomie, Musikgeschichte; er brachte sich selbst das Klavierspielen bei und konnte die Opern von Wagner angeblich nach dem Gehör spielen; er komponierte, schrieb sein Leben lang an einem „Magnificat“, das unvollendet blieb; er interessierte sich lebhaft für Okkultismus und Esoterik, glaubte an die Reinkarnation und ein Leben nach dem Tod, über das er so genau Bescheid zu wissen vorgab, dass ihm Lampedusa einmal vorschlug, doch einen „Baedeker“ darüber zu schreiben; er führte als junger Mann einen Briefwechsel mit dem irischen Dichter W.B. Yeats, nicht über Dichtkunst, sondern über die verschiedenen Arten von Elfen und die Unterschiede zwischen irischen und sizilianischen Kobolden; er war aber vor allem belesen in den wichtigsten europäischen und außereuropäischen Literaturen, las Thomas Mann, einen seiner Lieblingsautoren, im Original, übersetzte René Char, G.M. Hopkins, Yeats, Cummings … – er war also ein hochgebildeter Dilettant im besten Sinn des Worts, der auf Grundlage des soliden Familienvermögens allen seinen in verschiedenste Richtungen gehenden Neigungen zu folgen imstande war.

Montale, dem Piccolo die erste, privat und schlecht gedruckte Ausgabe seiner Gedichte schickte, fand sich bei seiner ersten Begegnung mit dem Dichter, den zu fördern er sich nach einigen Bedenken entschlossen hatte, zu seiner Überraschung nicht einem jungen Poeten aus der Provinz gegenüber, sondern einem 51-jährigen sizilianischen Baron, „einem zwar bisher unveröffentlichten Autor, aber ausgebildeten Musiker, Studenten der Philosophie, der Husserl und Wittgenstein im Original lesen kann, einem geschulten Gräzisten, Kenner der ganzen alten und neuen europäischen Dichtung (…), alles in allem also einem ,clerc‘ gegenüber, derart gelehrt und reich an Wissen, dass mich die Vorstellung, als sein Mentor aufzutreten, in unüberwindliche Verlegenheit brachte.“ Und er fügt hinzu:

Lucio Piccolo hat, in der Abgeschiedenheit seiner Ländereien in Capo d’Orlando, ,tous les livres‘ gelesen; aber er gehört keiner Schule an.

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Piccolo war zum Zeitpunkt seines kurzen Erfolgs, der ihm durch einen Auftritt bei dem Literatur-Symposium in San Pellegrino (1956) und die Veröffentlichung seiner Gedichte vorübergehend einen unverhofften, von ihm gar nicht erwünschten Leserkreis erschloss, alles andere als ein zeitgemäßer Autor.
„Ich bin“, schrieb er in einem 1971 veröffentlichten Fragment, „ein zu harter Knochen für euch, für eure Zähne…“ Damit wandte er sich gegen die, die ihn, ohne sein Werk zu kennen, voreingenommen und vorsätzlich verleumdeten. Das bis zur Raffinesse Kultivierte, stilistisch Synthetische, Eklektische von Piccolos Poesie, aber auch das Metaphysische und Hermetische musste zu einer Zeit, da das literarische Italien einer politisch engagierten, neofuturistischen, experimentellen Schreibweise huldigte, fragwürdig, anachronistisch, „passé“ erscheinen.
Die Beleseneren unter Piccolos Kritikern, Montale, Sciascia oder Glauco Cambon, überbieten sich denn auch in der Auflistung der literarischen Einflüsse und Echos in Piccolos Werk: D’Annunzio, Dino Campana, Dylan Thomas, G.M. Hopkins, Yeats, Jorge Guillén, Góngora, Lukrez, Quasimodo, Cattafi, Montale, Tomasi di Lampedusa…
Piccolos „barocke“ Dichtung ist aus einem aristokratisch-elitären, „post-historischen“ Bewusstsein heraus entstanden. Der Dichter sah sich in eine Welt gestellt, in der alles schon vor langer Zeit geschehen war, in die einzigartige Welt des alten Sizilien, gestaltet und beherrscht von der privilegierten Schicht der Adeligen, in eine Welt, die aber auch im Begriff war, sang- und klanglos unterzugehen. In dem Begleitbrief zur Buchsendung an Montale, der, wie Sciascia später von Piccolo selbst erfuhr, von Tomasi di Lampedusa verfasst worden war, heißt es:

… es war meine Absicht eine einmalige sizilianische Welt wiederzuerwecken und festzuhalten – genauer gesagt: die Palermos – die sich jetzt an der Schwelle ihres Verschwindens befindet, ohne das Glück gehabt zu haben, in irgendeiner Kunst-Form bewahrt zu werden. Und das, selbstverständlich, nicht aufgrund einer programmatischen Wahl einer Thematik, sondern aufgrund eines inneren, beharrlichen Bedürfnisses nach lyrischem Ausdruck. Meine Absicht ist es, von jener Welt barocker Kirchen, alter Klöster zu sprechen, von jenen, zu diesen Orten gehörigen Seelen, die ihr Leben hier verbrachten ohne eine Spur zu hinterlassen. Ich habe weniger versucht, sie wiederzuerwecken, als sie, ausgehend von meinen Kindheitserinnerungen, zu interpretieren.

Piccolos Dichtung ist nie symbolisch abstrakt, sie hat ihre erkennbaren Wurzeln in einem konkreten Heimatboden, in dem Palermos, vor allem in dem Palermo seiner Kindheit, einer von barockem Leben erfüllten Stadt, mit ihren Gebäuden, Denkmälern, Gärten, mit ihren Düften und mannigfachen Arten von Licht. Aus dem Fundus dieser Wirklichkeit erstellt der Dichter das Realitätsinventar seiner Texte: Labyrinthe feuchter Flure und enger Treppen, Terrassen und Wandelgänge, Fluchten düsterer Zimmer, voll mit Erinnerungsstücken, schwere Vorhänge, durch die ein blasser Lichtschein auf staubige Gerätschaften fällt, eingestürzte Dächer und Oberlichten, durch die die Schatten elementarer Wesen eindringen, das ruhelose Flackern von Kerzenflammen, die Halbschatten der Dämmerungen, gesprenkeltes Halblicht, aber auch das mittägliche Licht in seiner Überfülle, der schwere Atem der vollen Stunden, die wie Sühnefeuer flammenden Sonnenuntergänge, von Menschen gestaltete Landschaften, die sich im Zwielicht verfärben, das Meer, Flüsse, Wasser, die im geheimen Inneren einer überquellenden, metaphorischen Natur fließen, Blumen, Bäume, Sternbilder…

Aber wenn Piccolo auch von seinen Wurzeln in einer konkreten Wirklichkeit ausgeht, so übersteigt er sie, im Text von den Bildern der Sprache fortgerissen, immer wieder, inspiriert von einer durch das Studium der mittelalterlichen Mystiker und der Schriften Husserls genährten Leidenschaft für das Nicht-Erdhafte, das Über-Irdische. Doch dieser Raptus eines mystischen Welterlebens gelingt Piccolo nie lange. Immer wieder reißen die rhapsodisch sich steigernden Bildkaskaden jäh ab, holt sich der Dichter, ein „Mystiker der Materie“, wie ihn Sciascia nennt, mit einem knappen, oft bitter summierenden Spruch auf den Wurzelboden der Erde zurück, wie z.B. in den beiden letzten Zeilen des großen Gedichts „Die Sonnenuhr“:

Doch ist das Flüchtige Bestürzung,
so ist das Ewige Entsetzen

Was derart in den Texten Piccolos wie unter Zwang geschieht – die jähe Konfrontation einer „gottlosen“ Mystik mit der eigenen trostlosen Leere –, erläuterte der Dichter in einem Gespräch mit der Zeitschrift Books abroad, als er im Zusammenhang mit dem Gedicht „Die Sonnenuhr“ von „der existenziellen Tragödie Zeit“ sprach, „der Flüchtigkeit von Zeit die Angst ist, und der Ewigkeit, die Entsetzen ist.“
Die Zeit – ein Schlüsselbegriff für das Verständnis der barocken Dichtung Piccolos. Doch wenn für die Dichter des europäischen Barock die Zeit als Schöpfer und Zerstörer eine primäre religiöse Erfahrung war, so ist sie für Piccolo, einen Dichter der europäischen Moderne, nicht mehr als eine primäre existenzielle Erfahrung, die auch durch das poetische Verfahren der barockisierenden Bildreihung, die mehr vom Klang als vom Sinn bestimmt ist, nicht zu übertönen ist.
Der Dichter der „Canti barocchi “ ist kein Unzeitgemäßer. Er ist „ein Dichter unserer Zeit“, wie Montale, allerdings in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts, schon feststellte, nicht zuletzt auch dadurch dass er „den Widerspruch zwischen einer ständig sich wandelnden, aber konkreten, realen Welt und einem absoluten, aber irrealen, da nicht fassbaren Selbst“ – eine Erkenntnis, die Piccolo in den Schriften Husserls vor-formuliert fand – in seinem Werk thematisiert hat.

Piccolos Lyrik ist für den deutschen Sprachraum noch zu entdecken. Ich habe mich seit den frühen 80er-Jahren übersetzend mit Piccolo beschäftigt. Lyrische Texte von Piccolo in meiner Übersetzung erschienen in Neue Zürcher Zeitung (9. November 1990), in den deutschen Zeitschriften Individualität (27. September 1990) und Delta (Heft 8, 3. Jahrgang, II. Tertial 1990). Neun Gedichte in der Übersetzung durch Franziska Meier sind in der Zeitschrift Akzente (Heft 3 / Juni 1998) abgedruckt.
Es ist an der Zeit, sich an die Übersetzung einer repräsentativen Auswahl dieser „großen“ Gedichte zu wagen. Aber Piccolo, der auch in der Literatur seines Heimatlandes ein Schattendasein fristet, ständig in Gefahr zu sein scheint, wie „die verloren gegangene Botschaft“ aus seinem gleichnamigen Gedicht, endgültig daraus zu verschwinden, kannte die Tugend der „pacata attesa“, wie er es in einem anderen seiner Gedichte nannte, des „gelassenen Wartens“ …

Die Übersetzungen wurde durchgesehen und überarbeitet in der „Villa dei Pini “ in Bogliasco bei Genua. Der Übersetzer dankt der Fondazione Bogliasco / Centro Studi Ligure Per Le Arti e Le Lettere für den mehrwöchigen Aufenthalt im Frühling 2003.

Hans Raimund, Juli 2004, Nachwort

 

 

Zum Buch:

Piccolos „barocke“ Dichtung ist aus einem aristokratisch-elitären, posthistorischen Bewusstsein heraus entstanden. Der Dichter sah sich in eine Welt gestellt, in der alles schon vor langer Zeit geschehen war, in die einzigartige Welt des alten Sizilien, gestaltet und beherrscht von der privilegierten Schicht der Adeligen, in eine Welt, die im Begriff war, sang- und klanglos unterzugehen. Piccolos Dichtung hat ihre Wurzeln in einem konkreten Heimatboden, in Palermo, vor allem in dem Palermo seiner Kindheit, einer von barockem Leben erfüllten Stadt mit ihren Gebäuden, Denkmälern, Gärten, mit ihren Düften und mannigfachen Arten von Licht. Aus dem Fundus dieser Wirklichkeit erstellt der Dichter das Realitätsinventar seiner Texte. Aber wenn Piccolo auch von seinen Wurzeln in einer konkreten Wirklichkeit ausgeht, so übersteigt er sie, fortgerissen von den Bildern der Sprache, immer wieder, inspiriert von einer durch das Studium der mittelalterlichen Mystiker und der Schriften Husserls genährten Leidenschaft für das Nicht-Erdhafte, das Überirdische. Doch dieser Raptus eines mystischen Welterlebens gelingt Piccolo nie lange. Immer wieder reißen die Bildkaskaden jäh ab, holt sich der Dichter, ein „Mystiker der Materie“, wie ihn Sciascia nennt, mit einem knappen, bitter summierenden Spruch auf den Wurzelboden der Erde zurück, wie zum Beispiel in den letzten Zeilen des großen Gedichts „Die Sonnenuhr“: „Doch ist das Flüchtige Bestürzung, / so ist das Ewige Entsetzen.“

Wieser Verlag, Verlagsankündigung

 

Beitrag zu diesem Buch:

Donatella Bisutti: La poesia italiana all’estero
Poesia, Heft 199, November 2005

 

Zum 70. Geburtstag des Übersetzers:

David Axmann: Wider-Klang der Welt-Betrachtung
Wiener Zeitung, 3.4.2015

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + Archiv
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Hans Raimund im Interview mit Gerhard Winkler für die Literatur-Edition-Niederösterreich am 13.4.1999 in Hochstraß.

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

 

Präsentation eines unveröffentlichten Gedichtes von Lucio Piccolo.

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