SAIDs Gedicht „Psalm“

SAID

Psalm

herr
du bist kein haus
vor dem der tod lungert
kein fenster
durch das ich die welt betrachte
keine tür
durch die ich eintrete
du bist viel leicht ein kiesel
den ich stets in der tasche trage
siehe oh herr
ich bin dir nah

nach 2000

aus: SAID: Psalmen. Verlag C.H. Beck, München 2007

 

Konnotation

Die biblischen Psalmen gelten als eine der ältesten Textsammlungen mit Liedern und Gebeten, in denen ein religiös gestimmtes Ich seinem „Herrn“ gegenüber tritt. Der 1947 in Teheran geborene und seit 1965 in München lebende Dichter Said hat die Psalmen als lyrische Form einer skeptischen Theologie und des metaphysischen Zweifels wieder belebt. In Saids Psalmen durchmischen sich poetische wie auch meditative und metaphysische Impulse: Sie sind lyrische wie auch existenzialistische Konfession. In Ihnen spiegelt sich ein spiritueller Synkretismus, der christliche, jüdische oder islamische Denkfiguren kombiniert.
Die demütige, verzweifelte oder auch aufmüpfige Anrufung des „Herrn“ hat Said als Geste beibehalten. Aber die Annäherung an eine göttliche Instanz erweist sich hier zugleich als größtmögliche Entfernung. Denn das Ich gelangt zunächst nur zu negativen Bestimmungen des „Herrn“. Alles religiös Konventionelle wird ebenso verworfen wie auch die politische Anklage. Und dennoch bekennt sich das Ich zu einer Nähe, die in einem symbolischen Objekt – einem Stein – Ausdruck findet.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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