Volker Brauns Gedicht „Aus dem dogmatischen Schlummer geweckt“

VOLKER BRAUN

Aus dem dogmatischen Schlummer geweckt

Hast du die Nacht genutzt? – Ich übte mich
In der Erwartung. – Wessen? – Kennst du auch
Den süßen Schmerz: die Unbekannte lieben? –
Die unbekannte Tat? – Wie? – Wovon sprichst du? –
Die Adern sprangen fast in meinem Fleisch.
Wie bin ichs müd, den Markusplatz zu queren. –
Du träumst, nicht wahr, du träumst mit Konsequenz. –
Und auf den Straßen weht die Transparenz.

1987

aus: Volker Braun: Der Stoff zum Leben 1–4. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1990

 

Konnotation

Es gibt eine berühmte Szene der Geistesgeschichte, in der buchstäblich die Metaphysik vom Empirismus ernüchtert wird. In seiner Schrift Träume eines Geistersehers (1766) hat Immanuel Kant (1724–1804) angemerkt, was ihn zur Ablehnung der traditionellen Metaphysik geführt habe. Kein Geringerer als der Empiriker David Hume (1711–1776) habe ihn, so Kant in einem Brief „aus dem dogmatischen Schlummer geweckt“. Auch der Dichter und skeptische Marxist Volker Braun (geb. 1939) hat eine solche Erweckung bedichtet.
In dem 1987 entstandenen Gedicht wird der imaginierte Dialog zwischen einem Ich, das an der „Erwartung“ einer besseren Welt festhält, und einem skeptischen Fragesteller protokolliert. Es liest sich wie das Selbstgespräch des utopischen Sozialisten Volker Braun, der sich trotz der Verfehlungen der DDR mit den Impulsen des frühen Sozialismus identifiziert hat. Sein lyrisches Alter Ego fungiert hier als der Träumer mit „Konsequenz“, der zur Verwirklichung der alten Utopie drängt. Im ironischen Hinweis der Schlusszeile auf die bei Demonstrationen rituell mitgeführten Fahnen und Transparente wird eine fehlende Voraussetzung der sozialistischen Gesellschaft eingeklagt: „Transparenz“.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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