Martin Reso (Hrsg.): Expressionismus Lyrik

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Martin Reso (Hrsg.): Expressionismus Lyrik

Reso (Hrsg.)-Expressionismus Lyrik

ABSCHIED

Der Regen säubert die steile Häuserwand,
Ich schreibe auf den weißen, steinernen Bogen
Und fühle sanft erstarken meine müde Hand
Von Liebesversen, die mich immer süß betrogen.

Ich wache in der Nacht stürmisch auf hohen
aaaaaMeereswogen!
Vielleicht entglitt ich meines Engels liebevoller Hand,
Ich habe die Welt, die Welt hat mich betrogen;
Ich grub den Leichnam zu den Muscheln in den Sand.

Wir blicken all’ zu einem Himmel auf, mißgönnen uns das Land? –
Warum hat Gott im Osten wetterleuchtend sich verzogen,
Vom Ebenbilde Seines Menschen übermannt?

Ich wache in der Nacht stürmisch auf hohen Meereswogen!
Und was mich je mit Seiner Schöpfung Ruhetag verband,
Ist wie ein spätes Adlerheer unstet in diese Dunkelheit geflogen.

Else Lasker-Schüler

 

 

 

Nachwort

Verfall, Katastrophe, Untergang, Weltende – Bilder und Vorstellungen solcher Art begegnen dem Leser dieses Buches. Das mag befremdlich sein für den, der von Gedichten Naturbilder, Liebesempfindungen und Weltbegegnung in Harmonie erwartet. Das wird weniger verwundern dann, wenn die Zeit, die diese Lyrik hervorbrachte, mitgedacht wird: bedrohliche Aktivitäten der imperialistischen Mächte, die auf eine Neuaufteilung der Welt zielten; aggressive Akte des Wilhelminischen Militarismus, mit Raubverträgen endend, zum Nutzen mächtiger Monopole, die mächtiger werden wollten; begrenzte Kriege, die auf den großen Konflikt, den Weltkrieg, hindeuteten. Und dann der Krieg, der das Leben aller berührte, den Massen mehr und mehr klarwerden ließ, daß es nicht ihre Sache war, für die sie da kämpften, daß es galt, endlich Schluß zu machen mit dem Krieg und nicht nur mit ihm; Revolution also, Versuch, die alte Herrschaft abzuschütteln, Spartakus zur Macht zu verhelfen und zum Nutzen seiner Arbeit – aber dann wurde er noch einmal geschlagen. Zeit also des Umbruchs, der Katastrophe für eine Welt machtgeschützter bürgerlicher Sicherheit, Leiden vor allem und Empörung für die Masse der Völker. Entspricht also diese Lyrik mit ihren Warn- und Schreckbildern von Verfall, Vernichtung und Krieg, mit ihrer Sehnsucht nach brüderlicher Weltfreundschaft und Erlösung aus quälenden Widersprüchen der vorrevolutionären Situation ihrer Zeit, deuten ihre Katastrophenbilder auf die wirklichen Umbrüche? Für ein historisches Verständnis können Entsprechungen dieser Art gefunden werden – wie sahen es die Zeitgenossen?
Wem der Friede ein „müdes greisenideal“, der Krieg aber nötig erschien als menschliche Grundform „wie das wandern, die liebe, das beten“, wer die Massen als „fürchterliche ausgeburt eines hemmungslosen fortschritts, gesetzloser humanität“ verachtete – und so tönte es damals aus dem George-Kreis -, dem mußte eine Seh- und Empfindungsweise, die die Mehrzahl der Gedichte der expressionistischen Dichter prägte, als verweichlicht, als „bekenntnisorgie“, in ihrer Wendung zur Friedensbewegung und den Massen als zersetzend erscheinen. Aber auch dem Thomas Mann dieser Jahre war solche Poesie peinlich, er rügte ihre „psychologische Überreiztheit, eine gewisse Unverschämtheit der Erkenntnis“ und später – verstrickt in eigene Auseinandersetzungen um eine zeitgemäße Welthaltung – schimpfte er gar:

Nichts als Schule, Clique, ,Organisation des Geistes‘, nichts als ,Politik‘, Zielhaftigkeit, Gesinnungsprotzerei. ,Liebe‘ ist politisch-literarisches Oppositionsprogramm ; aber um einen anständigen deutschen Satz zu schreiben, dazu reicht die Liebe nicht. Bande.

Gutbürgerliche Zeitgenossen sahen in der neuen Lyrik Krankhaftes, Einseitiges, Zerstörerisches – nicht ihre Welt schien darin gespiegelt, sie wollten solcherart Spiegel nicht wahrhaben.
Wahrhaben wollte man aber auch nicht Prophezeiungen einer Katastrophe, die von ganz anderer Seite kamen, von den Sozialisten. Der Führer der deutschen Sozialdemokraten, Bebel, sah 1911 Anzeichen der „Götterdämmerung der bürgerlichen Welt“ und einer Katastrophe, die durch den Krieg Massenelend, Massenarbeitslosigkeit und Hungersnot bringen würde. Und auch Lenin sprach bereits 1910 vom Herannahen der Revolution in Deutschland als notwendiger, unvermeidlicher Folge der Zuspitzung aller Gegensätze, der ausweglosen Lage der herrschenden Klassen und der wachsenden Erbitterung der Massen. Von Krise und Katastrophe, Ende einer Welt und nahendem Sturm ist also auch hier die Rede; die Übereinstimmung der Stichworte darf jedoch nicht dazu verführen, Gleichheit der Beweggründe und der Haltungen zur Krise anzunehmen. Für die Sozialisten ist die philosophisch und historisch fundierte Analyse der Gesellschaftskrise kennzeichnend; und wenn sie die Götterdämmerung der bürgerlichen Welt kommen sahen, wußten sie um die Ursachen der Katastrophen und vor allem um ihre Wirkungen auf das Leben der Massen; Urteil und Aktion zielten gerade darauf.
Ein wissendes Begreifen des Zusammenhangs von Krise und Katastrophe wie es – allerdings nur bei wenigen in der deutschen Sozialdemokratie – hier sich aussprach, werden wir in der poetischen Welt der jungen Dichter, in ihren Programmen und Essays nicht finden und nicht volle Bewußtheit über die realen Beziehungen am Vorabend einer weltgeschichtlichen Wende. Aber dennoch ist diese Literatur, vermittelt durch spezifische Erfahrungen, Weltanschauung und Haltungen, Reflex des Vorabends. Sie ist Ausdruck und Antwort auf den Vorabend – wie es, zur Verdeutlichung, bislang herausgestellt wurde – durch die unmittelbare Thematik und Motivik von Verfall und Weltwende, sie ist es aber in einem breiteren Feld von Reaktionen.
Neu an dieser Lyrik ist nicht eigentlich ein Empfinden für das Krisenhafte der herrschenden Zustände, das drängte sich bereits vor in der Literatur der vorangegangenen zwei Jahrzehnte – in Unbehagen, Ängstigung, Blick auf Dekadenzprozesse. Jene Poesie bemühte sich jedoch anders, mit solchen Empfindungen und Erfahrungen fertig zu werden, sie nicht ungebändigt ins Werk treten zu lassen, Einbrüche von Krise letzthin zum Ausgleich, zur neuen innerlichen Aufgabe, zur harmonischen Überschau hinzuführen. Solche Haltungen und weltanschaulichen und poetischen Idealbilder sind den Dichtern jetzt schwer möglich: das Krisengefühl wird nicht nur allgemein, sondern auch mit neuer Schärfe vorgetragen. Das Bestehende wirkte als gröbere Herausforderung, man antwortete mit lauterem Protest, mit eigenen herausfordernden Repliken und suchte nach Wegen zur Überwindung eines unerträglichen Zustandes.
Die neue literarische Strömung, die sich in den letzten Jahren vor dem Weltkrieg herausbildete, ist unter verschiedenen Aspekten beschreibbar. Man könnte ihre Genesis vor Augen führen, das fast gleichzeitige Beginnen junger Poeten in ganz verschiedenen Landschaften, könnte die Folge der zeittypischen Motive vorstellen, das verbindende Erlebnis des Jungseins, des Aufbruchs der Jugend, der Eroberung der Großstadt und so weiter. Hier soll jedoch versucht werden, über die jeweils anderen individuellen Ansatzpunkte, Vorstellungen, Zielsetzungen, über die Unterschiede hinweg, die schon in der Frühphase beträchtlich sind, die Strömung als widersprüchliches Ganzes zu fassen. Denn sie hebt sich von der früheren und auch von der gleichzeitigen literarischen Produktion anderer Autoren ab. Mit einer Intensität, Vielfalt und Breite, wie sie bislang nicht herrschten, reagierte diese Literatur, und besonders die Lyrik, auf den allgemeinen Gesellschaftszustand im Imperialismus; sie bringt eine neue Substanz in Dichtung und literarisches Leben ein und gibt der deutschen Literatur ein anderes Gesicht. Erst das akute Krisenstadium scheint für die Poeten die Voraussetzung hergegeben zu haben, Grundvorgänge im sozialen Leben, die veränderte Stellung des Menschen in seiner Welt, seine größeren Möglichkeiten und seine vermehrten Begrenzungen in den verschiedenen Bereichen bewußter zu erfahren. Stärker als bisher wurden die widersprüchlichen Erscheinungen des modernen Lebens aufgenommen: enormes Wachstum der Technik, grandiose Entfaltung menschlicher Produktivität, die Möglichkeit des Menschen, sich die Natur untertan zu machen, Grenzen und Entfernungen immer schneller zu überbrücken, über fernste Ereignisse sich rasch ins Bild zu setzen – und bei all dem der Mensch als Getriebener, in den sozialen Beziehungen gefesselt, Verhältnissen unterworfen, in denen er sich nicht zu Hause fühlen kann, vom wachsenden Arbeits- und Lebenstempo gehetzt. Dynamik des Technischen und Stagnation der sozialen Beziehungen, wachsende Mächtigkeit des Menschen und verstärkte Ohnmacht – das prägte in widersprüchlicher Einheit Sujets und Motive, vor allem aber die Gesamtatmosphäre, die Grundstimmung, die emotionale Reaktion dieser Dichtung. Gerade weil man spürte, ahnte (kaum wußte), daß die Gesellschaftsordnung die menschliche Entfaltung hemmte, daß den zivilisatorisch-technischen und ökonomischen Aufschwung nicht auch eine Bewegung und Entwicklung im Sozialen begleitete, wurde das Hemmende, Beengende in den Lebensbeziehungen immer wieder hervorgehoben, erschien der Mensch als Gefangener, fremden Mächten Unterworfener, Ohnmächtiger, Gequälter.
Die Wucht und Übersteigerung, mit der uns alles das in der expressionistischen Poesie begegnet, weist darauf hin, daß hier Widersprüche zu ihrem Zusammenprall, Antagonismen zur Lösung drängen. Es wird sich beim Leser aber auch die Frage einstellen, ob denn Erfahrungen und Erkenntnisse der jungen Dichter diesen objektiven Antagonismen gewachsen waren, ob die Gegenstände, die sie ergriffen, das Milieu, der Menschenkreis, den sie im Auge hatten, ausreichten, um die Folgerung tragen zu können, daß es so nicht mehr weitergehen könne. Tatsächlich handelt es sich in der Regel um junge Intellektuelle meist bürgerlicher Herkunft, ihre Erlebnis- und Erfahrungswelt ist die der bürgerlichen Familie, der Universität (die überwiegende Mehrzahl – und das ist in diesem Umfang in der deutschen Literatur neu hat eine Hochschule absolviert). Und es ist die Großstadt, die ihnen zum Erlebnis wird, das sie miteinander verbindet, deren Dynamik sie nachspüren, deren Kontraste sie verwirren und aufpeitschen und deren Straßen und Cafés sie unruhig bevölkern.
Kaum einer zwar kennt eine Fabrik von innen – den Bereich, in dem die Widersprüche der Epoche, die Wirkungen des Kapitalismus unmittelbar zutage treten -, aber sie laufen mit wachen Augen durch die Städte, sehen die Arbeiterviertel, die spielenden Kinder im Schmutz der Straße, begegnen Bettlern und Dirnen. Sie werden für eine bürgerliche Existenz, als Kaufmann, Beamter, Apotheker, Jurist, Arzt ausgebildet, aber häufig sind sie noch nicht in Beruf, Stellung, Dienst eingegliedert, sie wollen sich auch nicht eingliedern lassen in eine Ordnung, die ihnen fremd, verhaßt, zuwider ist, oder sie versuchen, ihr trotz beruflicher Einfügung zu entfliehen, sich innerlich frei zu machen, neben der bürgerlichen Existenz ein eigentliches Leben als Dichter zu führen. Ihre praktischen sozialen Erfahrungen sind gering, aber dennoch nehmen sie die Spannungen wahr, die ihre Zeit beherrschen. Und so kommt es, was heute vielleicht verwunderlich, ja überzogen erscheinen mag, daß sie diese epochalen Spannungen oft in einfachen, begrenzten Lebenssituationen ausdrücken. Die Erlebnisse des jungen Menschen, der sich im Elternhaus gefangen, vom Leben abgeschieden fühlt, der im überholten Gymnasialbetrieb und in seinen Lehrern die Übermacht der Institution und Tyrannei sieht – gerade solche Erlebnisse werden zum Nährboden für Empfindungen vom Gefangensein des Menschen, Lebenssehnsucht und Lebensangst, werden zum Gefäß für Urteile über sie. Die ganz besonderen und die allgemeinsten Lebensbedingungen der jungen Dichter werden so verschmolzen, und das ist ein wichtiges Spezifikum ihrer Poesie. Auf der einen Seite folgt daraus ein abstraktes Aussprechen von Stimmungen und Emotionen, eine poetische Darstellung, die das Bewirkende, den realen Zusammenhang, die auslösenden Begebenheiten kaum mitgibt und daher häufig allgemein bleibt. Auf der anderen Seite werden nicht selten von einfachen, zum Teil sozial nicht sehr tragfähigen Situationen aus höchste poetische Verallgemeinerungen und Symbolisierungen vorgetragen. Solches Verfahren offenbart die allgemeine Zeitgenossenschaft, der Autoren, ihre Ahnungen, ihren Spürsinn dafür, daß sie im Vorabend einer großen Wende leben, sie lassen aber zugleich ihre begrenzten Möglichkeiten erkennen, auf dem Fundament historischer Erkenntnisse bewußte Zeitgenossen zu sein. Und noch ein anderes: Solche Symbolisierungen enthüllen zudem eine charakteristische Art der produzierenden Subjektivität, eine Methode des Zusammenführens von Außenwelt und Innerlichkeit, des subjektiven Verknüpfens, das nur mitzuvollziehen ist, wenn der, der da sein Muster findet und erfindet, als Schöpfer begriffen wird.
Ein bezeichnendes Beispiel für die Methode, eine kleine Begebenheit mit Gefühlsgehalt und Bedeutung aufzuladen, so daß sie weit über ihre konkreten Sozialbezüge hinausweisen soll, findet sich in dem Prosastück „Mitgefühl“ von Albert Ehrenstein. Es stehe zugleich als Beispiel für den hier erst angedeuteten Grundzug expressionistischer Poesie, die subjektivierende Methode, die alle Gattungen berührt und die zugleich bewirkt, daß Prosa und Drama sich der Lyrik zuneigen. Der Erzähler wird durch einen zufälligen Gang ins Wiener Arbeiterviertel zu Erkenntnissen gebracht, die ihn überraschen. Er sucht nach einer gemäßen Haltung gegenüber dem Elend, dem er begegnet, wird aber endlich vom Mitgefühl auf ein hilflos egozentrisches Verhältnis zurückgeworfen. Zuvor jedoch wurde für ihn die Beobachtung von Kindern auf der Straße wesentlich, er nahm sie als Lebenssymbol :

Eine Abteilung ruft bei einem Kanalgitter etwas hinein, die anderen liegen bei dem nächsten Kanalloch platt am Boden, horchen und antworten… Was sie rufen? einen Ruf habe ich vernommen, er war vielleicht humoristisch gemeint, keineswegs mit dem Gefühl beschwert, das ich später in ihn legte, und doch werde ich ihn nie vergessen. ,I möcht Erdbeer!‘ schrie ein Kind in den stinkenden Kanal hinab… Der beim andern Gitter dürfte: ,Ja‘ geantwortet haben Beide konnten ihr Ideal – denn es gibt kein tieferes Symbol für den Begriff ,Ideal‘ und alles Streben der Menschheit, der Wirklichkeit zu entrinnen, als seine Sehnsucht nach Erdbeeren in ein Kanalgitter hinabzurufen – ich sage, beide konnten ihren Wunsch nicht erfüllt sehen. Denn Erdbeeren brocken, nichts war leichter, wenn sie nur zeitlich früh aufstanden und im Wald den richtigen Platz fanden. Aber die Buschen gehörten nicht ihnen, die wurden verkauft.

Literatur des Vorabends – ein Symptom dafür ist das verbreitete Empfinden, daß aus Ordnung Unordnung wurde, daß die alten Normen und Maße nicht mehr gemäß waren, die Konventionen leer geworden. Ernst Stadler, der die neuen Erscheinungen der jüngsten Literatur scharfsichtig analysierte und klug verallgemeinerte, bestimmte in einer seiner Literaturkritiken das „Gesicht dieser Zeit“ so:

Das Chaotische unserer Epoche, Zusammenstürzen noch eben gültiger Überlieferungen, Anarchismus aller Werte, mühselige Behauptung eines nicht mehr Geglaubten durch Wort und Geste, die zur leblosen Form entarten, weil keine Realität hinter ihnen steht – all das Ziellose, Ungeordnete, durch keine Gemeinsamkeit Geregelte, das deutsche Gegenwart heißt…

Das Gefühl für das historisch Überfällige der herrschenden Ordnung und ihrer Normen, mit denen Übereinkunft den jungen Dichtern unmöglich, unwürdig erschien, wurde zur Ausgangslage ihrer kritischen Position und ganz verschiedenen Bemühungen um ein positives Gegenbild.
Dem „Zusammenstürzen noch eben gültiger Überlieferungen“ standen sie anders gegenüber als die Schriftstellergeneration vor ihnen. Denn die Zwanzigjährigen des Vorkriegs, die sich gerade erst bewußt in der Gesellschaft umzublicken begannen, hatten nicht selbst miterlebt, wie sich die jetzt herrschenden Formen herausbildeten, wie seit den neunziger Jahren ein großer Umschichtungsprozeß im Politischen und Sozialen vonstatten ging. Den Älteren ermöglichten diese Erfahrungen ein Betrachten der Gegenwart als etwas geschichtlich Gewordenes, das ihren eigenen Werdegang und ihr Tun positiv oder negativ bestimmt hatte, an dessen Werden sie beteiligt waren – die Jüngeren nahmen sie unbefangener, unbeteiligter, unwissender als Gegebenes, das ihnen verfestigt gegenübertrat, nicht als ihre Welt, sondern als die ihrer Väter, eine gesellschaftliche Wirklichkeit, von der sie sich abstoßen wollten, da sie sie so nicht wünschten. Hierin äußerte sich nicht nur das immer wieder hervortretende allgemeine Empfinden jüngerer Generationen zur älteren, in mehrfachem Gegensatz zu stehen, sondern ein spezifisches: die jungen Bürger, noch nicht in die bürgerliche Ordnung eingefügt, sahen in den Älteren diejenigen, die eine nicht vernünftig und menschlich geordnete Welt repräsentierten, die nicht wahrhaben wollten, daß sie in Bewegung, in Fluß gebracht werden mußte; sie dagegen wollten sich aus dieser Welt lösen und sahen sich doch allenthalben mit ihr verbunden, abhängig und beherrscht. Die spontane Erfahrung der nahenden Zeitenwende steigerte die für die bürgerliche Welt normale Generationsspannung; gerade für die Anfangsjahre der literarischen Bewegung ist die diffuse Negation allgemeines Kennzeichen; historische Erfahrungen anderer Art, der Krieg und die Revolutionierung der. Massen, beschleunigten das Unterscheiden und den Aufbau positiver Programmatik mit vertieftem historischem Bewußtsein. Stadlers Beschreibung des Gesellschaftszustandes findet sich in einer Rezension von Komödien Sternheims „aus dem bürgerlichen Heldenleben“ – das ist nicht zufällig. Der Kritiker-Dichter konnte hier leichter verallgemeinern, weil Sternheim in seinen Dramen in objektiver Gestalt zeigte, wie die bürgerliche Welt überfällig wurde, wie das Verächtliche sich in ihr als Held bewährte. Hier wurde wie kaum sonst in der zeitgenössischen Literatur der soziale Typ des Bourgeois, sein Privatleben im Zusammenspiel mit dem Geschäftsgebaren, seine Wege zur Macht attackiert, hier wurden nicht nur Unbehagen und Protest vorgetragen, sondern eine Satire aufgebaut, die ins Zentrum gesellschaftlicher Zustände und Beziehungen wies. Kritik der herrschenden Konventionen und Normen von solchem Niveau, das anders auch Heinrich Manns sozialsatirischer Roman erreicht, findet sich in der gleichzeitigen Lyrik kaum, wie denn, überhaupt die Satire im expressionistischen Gedicht dieser Jahre selten ist.
In der Lyrik Georg Heyms zum Beispiel gibt es nur ganz wenige satirische Stücke, dabei war seine Sache keineswegs die weiche Klage. Er wollte sich nicht mit seinen Verhältnissen abfinden, empfand Abscheu, Entsetzen, Haß über den kranken Weltzustand. Diese Haltungen und Empfindungen führen zur satirischen Attacke dort, wo er sein unmittelbares Lebens- und Arbeitsmilieu zum Gegenstand wählt die Professoren der Jurisprudenz, den juristischen Staatsdienst. Da entlädt sich sein Zorn und sein Überdruß über verstaubtes Kastenwesen, Untertanengeist und bornierte bürokratische Tätigkeit in bösen Angriffen auf Staatsdiener und jämmerliche Beamte. Es bleibt aber bei direkter persönlicher Invektive, die weniger bloßstellt als verächtlich macht, die eigene Erfahrungen nicht zu‘ verallgemeinern vermag. (Ähnlich, wo die Satire sich auf unmittelbare Literaturfragen erstreckt – auch dort persönliche Invektiven, vor allem gegen George.) Es gibt allerdings poetische Verdichtung in der satirischen Attacke, wenn Heym „Die Professoren“ in Ungeziefer-Bildern vorstellt – aber hier geht die Denunziation des Angegriffenen schon in groteske Darstellung über. Das ist durchaus symptomatisch: Große Gesellschaftssatire hätte nicht nur Abscheu und Haß als Impulse verlangt und nicht nur das Hervorkehren des Unwürdigen und Verächtlichen im Bild des Befehdeten, sondern ein Gefühl und Bewußtsein vom Unangemessenen, Überholten, historisch Überfälligen des Kritisierten, und ein Selbstbewußtsein, das dem Poeten gestattet, sich innerlich frei zu machen, sich in der Satire über seinen Gegenstand zu erheben. Bei Heym war das Maß an innerer Freiheit und Bewußtheit nicht so groß, das unwürdige Feindliche war ihm zwar angreifbar, aber nicht voll begreifbar, es erscheint als nicht geheuer, Groteske entsteht. Diese Konstellation ist vor allem für die expressionistische Lyrik der ersten Jahre charakteristisch. Das Verhältnis verschiebt sich erst in der Phase kurz vor und nach der Revolution, da nimmt das Satirische zu, besonders der direkte politische Angriff auf Kriegsgewinnler, Durchhalteprediger und blutige Unterdrücker der Revolution. In der zornig-schaurigen Anklage der Mörder, die im „Rosenkavalier“ sitzen, der grausigen Prophetie eines ungeheuren Totentanzes durch Walter Hasenclevers „Die Mörder sitzen in der Oper“ erhält solche Gesellschaftssatire außerordentliche Gestalt. Insgesamt aber sind nicht hier die bedeutendsten und bestimmenden Leistungen der expressionistischen Dichtung zu finden.
Historische Zeitenwende signalisiert diese Literatur häufig auf andere, indirektere Weise. Stagnation der Sozialbeziehungen wurde ebenso intensiv wie diffus wahrgenommen, das führte zu einer verbreiteten Stimmung von Überdruß und Lebensekel. Sie nun konnte zu lyrischen Bildern führen, die auch in ihrer diffusen Allgemeinheit erkennen ließen, daß die bestehende Ordnung dem Menschen nicht mehr gemäß war, daß sie sich als historisch überfällig erwies, auf Änderung drängte. Der expressionistische Dichter konnte die Zustände nicht mit kühler Distanz betrachten, er sah sich selbst betroffen; Betroffensein und Betroffenheit steigerten sein Vermögen, das Unerträgliche offensichtlich zu machen.
Ein bezeichnendes Dokument für diese Lage ist Heyms Versuch, Weltzustand und eigene Stellung in ihm als „Krankheit“ zu formulieren. „Unsere Krankheit ist grenzenlose Langeweile“, heißt es; der hier spricht, nimmt Langeweile nicht hin, Nichtbeteiligtsein empfindet er vielmehr als ungesund, gegen die eigentliche Bestimmung und Möglichkeit gerichtet, und doch sieht er sein Schicksal nicht als vereinzeltes, sieht es als erzwungen, bedingt an, denn:

Unsere Krankheit ist, in dem Ende eines Welttages zu leben, in einem Abend, der so stickig ward, daß man den Dunst seiner Fäulnis kaum noch ertragen kann.
Begeisterung, Größe, Heroismus. Früher sah die Welt manchmal die Schatten dieser Götter am Horizont. Heute sind sie Theaterpuppen.

Hier drücken sich nicht Langeweile und Lebensekel des Dandys aus, der sich ohnmächtig in sich zurückzieht, der sich Ersatzwerte und Ersatzwelten schafft, um den Fäulniszustand überlegen genießend zu ertragen. Vielmehr wird ein real-historischer Dekadenzprozeß konstatiert, der das Lebensklima vergiftet, der Abbau der menschheitlichen Anstrengungen des Bürgertums (Begeisterung, Größe, Heroismus treten bei Heym meist als Kennzeichen der französischen Revolutionsepoche auf) wird als Verfall erkannt, dessen Wirkungen der einzelne allenthalben spürt und dem er sich zu entziehen sucht. In seiner Vitalität und seiner Bereitschaft zum Handeln sieht er sich jedoch verkümmern und ins Leere laufen. Vor allem das Unvermögen, in den Gang der Dinge einzugreifen, dem Wechsel von Größe zu Gemeinheit zu entfliehen, läßt Langeweile, Überdruß und Ekel am Leben entstehen. In der jungen Dichtergeneration vor 1914 stoßen wir immer wieder auf gleichlaufende Reaktionen dieser Art, mögen auch ihre Voraussetzungen und Anschauungen sich unterscheiden, und so wäre ihre Lage auch auf diese Weise zu beschreiben:

… von unbefriedigten Leidenschaften gepeinigt, von außen zu bedeutenden Handlungen keineswegs angeregt, in der einzigen Aussicht, uns in einem schleppenden, geistlosen bürgerlichen Leben hinhalten zu müssen…

Das sind nun allerdings Worte, mit denen Goethe die Lage der bürgerlichen Intelligenz seiner Jugendperiode kennzeichnete, wir können sie nicht Wort für Wort auf die Übergangsepoche beziehen, die den Expressionismus hervorbrachte. In ihnen spricht sich aber eine bedeutende historische Erfahrung aus, die einen wichtigen Aufschluß ermöglicht: Im Umkreis von Revolutionen drücken sich die zur Lösung drängenden Antagonismen, bevorstehenden sozialen Umschichtungen durchaus nicht allein direkt, sondern auch vermittelt, in Empfindungen vielfach gebrochen aus. Und so konnte Goethe Überdruß und Ekel am Leben damals verstehen als „eine stille Einleitung zu jenen ungeheuern Weltveränderungen, in welchen alles Bestehende unterzugehen schien“. Im Vorspiel zu neuerlichen „ungeheuren Weltveränderungen“ traten Unbefriedigtsein und Lebensüberdruß wiederum auf und wurden zum Gefäß für die Provokation überfälliger Verhältnisse und Anschauungen.
Dies um so mehr – und das führt zu einer gewissen Korrespondenz mit nach klassisch-romantischen Positionen – als die expressionistische Generation bereits die historische Entwicklung des Bürgertums seit der Zeit der Verkündigung von Freiheit und Gleichheit bis zu imperialistischer Unterdrückung in ihren weltanschaulichen Reaktionen zu verarbeiten hatte, der Proklamation bürgerlichen Fortschritts notwendig desillusioniert, zumindest was den allgemeinen Gang betraf, gegenüberstand. Das konnte zum Zweifel am möglichen Fortschritt überhaupt führen, zur absoluten Ablehnung der vormals verkündeten Ideale; auch auf eine solche Position treffen wir innerhalb des Expressionismus. Eine absolute Skepsis gegenüber dem gesellschaftlich-zivilisatorischen Dasein des Menschen, die Gleichsetzung von bourgeoiser Welt mit den Möglichkeiten des modernen Menschen überhaupt, wie sie für den frühen Benn kennzeichnend sind, trägt ein Weltverhältnis, in dem Überdruß und Ekel sich nicht auf den historischen Zustand, sondern das gesellschaftliche Wesen des Menschen beziehen, also total werden. Damit bleiben auch Impulse zur Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen aus, Überwindung des Gegebenen kann sich nur noch im Innern vollziehen, in einem künstlich geschaffenen Raum, der dem einzelnen den Schein der Befreiung verschafft, in der Zurücknahme der geschichtlichen Entwicklung der Gattung Mensch. Diese Zurücknahme von Geschichte, Verleugnen von Entwicklung enthält bereits den Kern von Benns späterer Menschen- und Kunstauffassung, die in seinem zeitweiligen Bekenntnis zum Faschismus nicht etwa entgleiste, es vielmehr einschloß.
Solch unhistorisches Absolutsetzen von Krankheit und Verfall, womit die Flucht in ferne oder verinnerlichte südlich-archaische Rauschwelten korrespondiert, ist wohl zu scheiden von einem Ungenügen an der Welt bürgerlichen Verfalls, das Heym reflektierte oder das Bechers Gedichtwelt kennzeichnet (um nur zwei Exponenten anzuführen). Beide sind weit entfernt davon, die historischen Phänomene, die sie leiden machen, bewußt zu begreifen, aber beide suchen doch im geschichtlichen Bereich selbst nach Gründen und Ursachen, und sie drängen auf eine Überwindung und Lösung der geahnten gesellschaftlichen Spannungen in der Sphäre realer Aktivität. Freilich ist das oft ziellos und vor allem auf sich selbst, auf die Befreiung der eigenen „Beengung“ bezogen. „Die Welt wird zu enge. Die Städte langweilig“ – so beginnt ein Gedicht Bechers, in dem zu verfolgen ist, wie durch eine Umwelt, die von Verfall, Krankhaftem, Beengendem bestimmt scheint, der Wunsch nach Bewegung und erfülltem Leben produziert wird. Dabei ist es kennzeichnend, daß sich das Ich des Gedichts sowohl von einem Zusammenbruch als auch von Galeerendienst Erlösung verspricht, von einem „großen Weltkrieg“ als auch von einer Revolte der „ärmlichen Menge“ gegen die „Paläste“. Überdruß am Bestehenden, verzweifelt-angeekelte Abwehr können zwar das Unhaltbare der gegenwärtigen Ordnung ans Licht heben, es können „Skandale erregt“, die Saturiertheit des Bürgers kann irritiert wet:den, das allein bringt jedoch noch nicht wirklich produktive Lösungen hervor. Das Gedicht Bechers zeigt vielmehr, wie die subjektive Revolte, solange sie ziellos bleibt, ins Anarchische umschlagen kann, Krieg oder Aufstand als Mittel zur Ekstase des einzelnen in Kauf nimmt. Eine ähnliche Struktur von Verhalten und Empfinden prägt sich bei Heym aus. In dem bereits zitierten Dokument formuliert er ebenfalls aus Protest gegen den stickigen Abend des „Welttages“: „Der Krieg ist aus der Welt gekommen, der ewige Friede hat ihn erbärmlich beerbt“, und in seinem Tagebuch beklagt er die „Ereignislosigkeit des Lebens“ und sehnt aus „Hunger nach einer Tat“ einen Krieg herbei, da er eine gewünschte Revolution nicht kommen sieht.
Langeweile und Lebensekel sind – die beiden Beispiele zeigen es – häufig Ausgangspunkte für einen Aktivismus, der sich in Bewegung, großen äußeren Begebenheiten realisieren will. Protest gegen Stagnation und Pathos des Aufbruchs sind in dieser Lyrik eng verschwistert, auch dann, wenn nicht beide Elemente deutlich hervortreten.
Abwendung von allem Starren, Ja zur Bewegung, Messen der Kräfte in Neuland – so wäre eine allgemeine Grundstimmung zu umschreiben, die viele der jüngsten Dichter verband. Daraus mag sich auch erklären, weshalb ein Gedicht wie „Junge Pferde“ von Paul Boldt – ähnlich wie van Hoddis’ „WeItende“, wenn auch aus anderem Grund – damals Furore machte. Jungsein, Dynamik, Ängstigung und vitaler Genuß im Besitzergreifen des Geländes wurden hier in einer bewegten offenen Rhythmik vorgetragen, was alles eine breite Basis zur Kommunikation für das Aufbruchsgefühl schaffte. (Es ist daher nicht zufällig, wenn auch nicht ganz zutreffend, daß ein zeitgenössischer Kritiker 1916 die Expressionisten mit den jungen Pferden Boldts verglich: „… junge Pferde, die herdenweis hin und her galoppieren, die Nase am Wind, ungebärdig sind, reiterlos – indessen der Koppelmeister am Gatter steht und diesen Jahrgang wie jeden andern vor ihm auf das Spiel seiner Muskeln prüft.“) Die Besonderheit dieses Gedichts und seiner Wirkung sagt etwas über das Allgemeine aus; Genuß am Dynamischen blieb hier, im nicht-sozialen Sujet, wertfrei, Offenheit kennzeichnet viele Stücke mit Aufbruchsmotivik. Stadler, der keineswegs ein Bejaher des Krieges war, gab seinen „Aufbruch“ in Bildern eines kriegerischen Sturms, und auch Lotz kennzeichnet das Lebensgefühl der Jungen in solcher Metaphorik:

Also zu neuen Tagen erstarkt wir spannen die Arme,
Unbegreiflichen Lachens erschüttert, wie Kraft, die sich staut,
Wie Truppenkolonnen, unruhig nach Ruf der Alarme,
Wenn hoch und erwartet der Tag überm Osten blaut.

Sein „Aufbruch der Jugend“ entwirft dann aber das Bild eines Revolutionsbeginns mit Befreiung der Verbannten, Stürmen der Gefängnisse, Barrikadenkämpfen, roten Tribünen.

Wie Sturmflut haben wir uns in die Straßen der Städte ergossen
Und spülen vorüber die Trümmer zerborstener Welt.
Wir fegen die Macht und stürzen die Throne der Alten,
Vermoderte Kronen bieten wir lachend zu Kauf…

Mit dem Bewußtsein eigener Kraft und Berechtigung wird in der Vision die Macht des Alten weggefegt, die Sympathie gilt den Unterdrückten, deren bewaffneter Aufstand freudig gesucht und ersehnt wird. Das Bild des Aufbruchs zeichnet Lotz als eine historisch fällige Umwälzung, bejaht die Umkehr der Machtverhältnisse, es ist geprägt vom Schwung jugendlicher Begeisterung, die solche Revolution als raschen freudigen Ansturm, als lachendes Kräftemessen begreift. Ungebrochen und undifferenziert steht hier den vermoderten Kronen eine einhellig entzückte Masse gegenüber – ähnlich wie wir es in der vorrevolutionären Poesie der 48er Zeit finden können (im Vergleich dazu hat sich allerdings der Ton geändert, er ist teils heftiger und verbissener, teils strahlender geworden). Die Gegenüberstellung von Thron und Krone und der lachend kämpfenden Masse macht uns darauf aufmerksam, daß der Poet weniger die wirklichen Bedingungen und Verhältnisse seiner Gegenwart, die komplizierter gewordene Klassenstruktur im Auge hat, die tatsächlichen sozialen Interessen und politischen Forderungen der Klasse, die jetzt die kommende Revolution tragen wird, das Proletariat, daß sein Aufbruch vielmehr nach einem Muster revolutionärer Umwälzung formiert ist, wie es für die frühen bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts, oder genauer: ihre literarische Antizipation und Begleitung kennzeichnend war. Der junge Bürger, der sich im Widerspruch zu seiner Welt fühlt, greift nach. Bildern revolutionärer Umwälzung, die an den Beginn der bürgerlichen Epoche verweisen. Es kommt zu einem Anachronismus, der aber historisch erklärbar und auch partiell berechtigt ist. Denn tatsächlich ist ja die bürgerliche Revolution für das Deutschland des Jahrhundertbeginns nicht erledigt, sondern noch eine historische Aufgabe. Der Rückgriff auf die Bilder – und damit die Inhalte – der frühen bürgerlichen Revolution, besonders der Französischen, hat also nicht nur einen rückwärtsgewandten Aspekt, sondern auch einen aktuellen.
Aktuell und polemisch war das Bekenntnis zu Frankreich als dem Land geglückter Revolution, es wurde als Gegenbild zu Deutschland gesetzt. „Er ist nach dir von wilder Sehnsucht krank“ – so wendet sich der Dichter bei Heym an Frankreich, und gerade durch die polemische Konfrontation der beiden Länder wird Becher im Gedicht „Deutschland“ eine erfrischende Satire möglich. Die Besinnung auf die Französische Revolution, die positive Darstellung revolutionärer Gewalt, die wir in expressionistischer Lyrik mehrfach finden (und übrigens nicht nur hier: auch Heinrich Mann wählt jetzt einen Stoff aus der Französischen Revolution), deuten darauf hin, daß der historische Anachronismus Deutschlands bewußt wurde, die vergangene Revolution als Exempel für notwendige Umstülpung alter Verhältnisse dienen konnte. Der Rückgriff bringt zukünftigen Gehalt in die Literatur. Die neue Poesie aus einer realen Zukunft zu holen – das erforderte, die weiterentwickelten sozial-politischen Verhältnisse des imperialistischen Deutschland konkret ins Spiel zu bringen. Das hätte nur geschehen können durch eine vertiefte weltanschauliche Verarbeitung des weiteren Verlaufs der bürgerlichen Revolution, des Weges von Bastillesturm und der Proklamation der Menschenrechte über die Jakobinerherrschaft bis zur Niederschlagung der „Verschwörung der Gleichen“ oder des Weges von den revolutionären Ereignissen im Februar 1848 bis zur blutigen Niederschlagung des Juniaufstandes der Pariser Arbeiter. Historische Bewußtheit solcher Art ist in der poetischen Diskussion der Revolutionsprobleme allerdings kaum zu finden. Georg Heym, der sich am meisten mit diesem Gegenstand herumschlägt, hat freilich nicht nur den begeisterten Beginn der Revolution im Auge. Die verschiedenen Etappen der Revolution und die Widersprüche ihres Verlaufs treten in seinen Gedichten hervor, jedoch kann es ihm nicht gelingen, diese Widersprüche poetisch in eins zu fassen, den sozialgeschichtlichen Grund für ihre Entwicklungsetappen hervortreten zu lassen. Das liegt nicht in einem Mangel an gründlicher Beschäftigung mit der Historie selbst (sie ist bei Heym nachzuweisen), das liegt an der Höhe des sozialhistorischen Verständnisses der Gegenwart – um sie ging es ja in den Gedichten – und des Wissens um die gänzlich anderen Bedingungen, unter denen jetzt allein die Forderungen nach Demokratie und Befreiung verwirklicht werden konnten. Wir erkennen: den jungen Oppositionellen war es einerseits durch das Beharren auf den Forderungen der bürgerlichen· Revolution, durch ihren antiimperialistischen polemischen Demokratismus möglich, den Anachronismus der deutschen Gegenwart zu markieren, aber andererseits durch ihre, wenn auch oppositionelle, bürgerliche Position unmöglich, den neuen Gegenspieler in der Weltgeschichte wirklich zu erkennen und ganz zu erfassen, daß nur das Proletariat imstande sein würde, wesentliche Änderungen in der Gesellschaft herbeizuführen, daß es nur durch diese Klasse und mit ihr zu erreichen war, ihre eigenen Sehnsüchte und Wünsche nach einem neuen Menschen, nach bewegtem demokratischem Leben, das dem Menschen Entfaltung und Selbstverwirklichung bot, zu realisieren.
Für den Wunsch nach Änderung und Erneuerung ist die Wahl des Revolutionssujets nur ein Symptom, er äußert sich bereits in der Anfangsphase vielfältig in Bildern einer neuen Menschlichkeit, Lösungen aus alten Fesseln für den einzelnen und für die Gemeinschaft. So unterschiedlich, wie die Kriterien für die kritische Sicht auf die Gegenwart als einer krisenhaften, von Katastrophen bedrohten Zeit, sind auch die Vorstellungen, wie diese Krise zu überwinden sei. Brudertum, Verwandtschaft mit dem Mitmenschen sind für Franz Werfel Inbegriff seines Ziels, Überwindung der Trägheit des Herzens, der Fremdheit und Fühllosigkeit sein Vorsatz. Davon kündet schon in seinem Erstling Der Weltfreund das damals rasch berühmt gewordene Gedicht „An den Leser“ mit der Zeile: „Mein einziger Wunsch ist, dir, o Mensch, verwandt zu sein!“, davon lebt das entzückte und beschwörende „Wir sind!“ des zweiten Bandes. Der Dichter blickt um sich, sieht in Schiffsheizer und Vorstadtdirne, Erzherzogin und Bürgermeister, Gouvernante und Bettler immer wieder den sehnsüchtig fühlenden und einsam leidenden Menschen und sucht all das in sich zu vergegenwärtigen:

Nie war ich ein Kind, zermalmt in den Fabriken
Dieser elenden Zeit, mit Ärmchen, ganz benarbt!
Nie hab ich im Asyl gedarbt,
Weiß nicht, wie sich Mütter die Augen aussticken,
Weiß nicht die Qual, wenn Kaiserinnen nicken,
Ihr alle, die ihr starbt, ich weiß nicht, wie ihr starbt!

Erstrebt wird eine Haltung, in der Feindschaft lind Fremdheit als äußerlich abgetan, Menschlichkeit als das Wesentliche und Verbindende bejaht werden können, um in diesem Gefühl zum Weltfreund aller zu werden. So erklären sich die Gefühlsmaximen des „Lebensliedes“:

Feindschaft ist unzulänglich.
Der Wille und die Taten,
Ein erdbewußtes Leben
In sich, was sind sie, Welt?
Es schwebt in jedem Schicksal,
Im Schritt der Lust und Schmerzen,
Im Morden und Umarmen,
Anmut des Menschlichen!

Der Mensch wird auf solche Weise von seinen sozialen Besonderheiten, konkreten Tätigkeiten und Interessen abstrahiert, der Mensch als Bruder aller kommt so erst zustande, und das geht in eins mit der Absage an Tat und Empörung – sie berühren für Werfel das Wesentliche nicht -, mit einem religiösen Bekenntnis zum Leben, zum Reichtum der Innerlichkeit.

Wer handelnd sich empörte
Bedenke doch! Unsagbar
Mit Reden und Gestalten
Sind wir uns fern und nah!
Daß wir hier stehn und sitzen
Wer kann’s beklommen fassen?!
Doch über allen Worten
Verkünd ich, Mensch,
wir sind!!

Die Vorstellung, die Menschheit könnte erneuert werden durch die Beförderung eines „Existenzbewußtseins“ der Frömmigkeit, wodurch sich „alles menschlich Hohe, die Güte, die Freude, der Jubel, der Schmerz, die Einsamkeit… erheben können“ (wie Werfel selbst seine Zielsetzung 1913 formulierte), bleibt auch später im Prinzip erhalten. Auch der „Revolutions-Aufruf“ mit dem eindringlichen Schlußappell „Renne renne renne gegen die alte, die elende Zeit“ meint mit dem Zertrümmern der Pfähle und Dämme die Überwindung innerer Barrieren, meint Erneuerung des Menschen aus der Selbstbesinnung auf das Allgemein-Menschliche in sich – ein Vorschlag, der angesichts der wirklichen Empörung, dem Bestreben nach Zertrümmerung realer politisch-sozialer Fesseln in der Revolution an den Bedürfnissen und Forderungen des Tages vorbeiging, ja ihnen entgegenstand.
Diese Konzeption, die Werfel viel Bewunderung, beinahe Popularität brachte, da sie der auf Profit und Krieg zielenden Gesellschaft mit einem lebensbejahenden, aus einer gefälligen Erneuerung geborenen Menschentum begegnen wollte, sie steht dem Rigorismus etwa der Poesie Heyms, die Stagnation und Krankheit betont, schroff entgegen. Heym sah sich im Widerspruch zu den „Leuten des Innern“, den „Contemplativen,… die genug Leben aus ihrer Seele ziehen können“, und verlangte nach großen Begebenheiten und Bewegungen der Menschen, durch die auch er gesunden würde. In der gewaltsamen Veränderung wurde noch – bei aller Differenz zu Werfel – ein Feld vor allem für die eigene Erneuerung und Entfaltung gesucht, geschichtliche Erneuerung aus Ichbezogenheit gewollt. Bei allem Berechtigten, das Heyms Polemik gegen die „Leute des Innern“ enthält, wäre es doch ungerecht, sie voll auf Werfel zu beziehen. Denn da ist Werfels Bereitschaft, sich mit den Sehnsüchten und Leiden seiner Mitmenschen zu identifizieren und auf solche Weise sein Gefühl und seine Dichtung der Welt zu öffnen. Das bewahrt ihn vor der verhärteten Abwehr im Zynismus, das gewährt ihm die Leidens- und Mitleidensfähigkeit, die dann seine Antikriegsgedichte fundierte. Der wesentliche Gegensatz zu Werfels innerlicher Erlösung erhebt sich auf einer anderen Position. Sie wird bereits vor dem Weltkrieg als direkte Polemik vorgetragen; die Aktion veröffentlichte ein Gedicht „Rebellion. Eine Werfel-Antithese“ von Ernst Angel, in dem es hieß:

Die Seele hat uns lang genug genarrt:
Wir brechen donnernd von der Liebe los
Und stürzen hingegeben und doch hart
Dem Chaos der Vergeltung in den Schoß.

Landsknechte ohne Löhnung, stets bereit,
An faulende Paläste Brand zu legen:
Uns schreit der
Streit sein blutiges „Ihr seid!“
Und
unsre Liebe dröhnt in unseren Schlägen.

Gegen das entzückte „Wir sind!“ und das Zurückweisen von Tat und Empörung im Namen der Seele steht hier der Vorsatz zu Rebellion und Vergeltung, Verwirklichung der Menschenliebe durch Schläge gegen die Paläste. Zwar bleibt dieser Vorsatz noch allgemein, formuliert sich in der Umkehrung der ethischen Fahnenworte Werfels, aber eben doch in einer bezeichnenden Struktur aktivistischer Programmatik: Überwindung der verinnerlichten Menschenliebe durch Aufbruch zu Tat und Gewalt, Polemik gegen eine politisch und sozial undifferenzierte Weltfreundschaft durch einen Revolutionarismus, der – wieder – das Bild früher bürgerlicher Revolution aufnimmt. Bezeichnenderweise finden wir diese Werfel-Antithese in der Aktion, die sich am stärksten und konsequentesten von allen Blättern, die dem Expressionismus zur Verfügung standen, um eine Klärung der Möglichkeiten gesellschaftlicher Erneuerung mühte. Hier erhielt auch am deutlichsten Ausdruck, was viele der jungen Dichter, auch außerhalb der Aktions-Freunde und -Mitarbeiter, kennzeichnet: Indem sie Umschau halten nach echter Alternative zur bourgeoisen Ordnung, stoßen sie auf den Sozialismus und setzen sich mit ihm auseinander.

Auseinandersetzung mit dem Sozialismus, das heißt für sie zunächst mit der Sozialdemokratie ihrer Tage, die sie zu einer Zeit erleben, da der Revisionismus stark und einflußreich geworden war, Protest gegen die Kriegsvorbereitungen zwar zustande kam, aber das Versagen vom August 1914 sich bereits deutlich ankündigte, da die Orientierung auf revolutionäre Beseitigung des Systems verdeckt und zurückgestellt war und nur bei wenigen Linken eine konsequente marxistische Alternative propagiert wurde (und auch dies behindert von den Revisionisten, nicht in den großen Organen der Partei). Diese politische Praxis erschwerte es den jungen Bürgern offenbar, das prinzipiell Neue des Sozialismus zu erkennen, die sozialistische Weltanschauung als ganze aufzunehmen, die ökonomischen und politischen Grundthesen von Marx aufzunehmen. Marx selbst wird kaum einer gelesen haben, den Sozialismus lernten sie, wenn überhaupt, in verwässerter, auch verfälschter Weise kennen. (Auf sie wirkte von klein auf – vermittelt durch Gymnasium, Universität, herrschende Presse – ein ganzes System irrationalistischer, antisozialistischer Ideologie, wirkten subjektivistische Weltanschauungen von Nietzsche bis zur Lebensphilosophie.) Von den Grundtatsachen der sozialen und politischen Beziehungen wußten sie wenig, nichts vom Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft und vom Gesetz der Ausbeutung, deren Auswirkungen allein traten ins Blickfeld. Nicht das Entstehen der notwendigen Bedingungen für Revolution und Beseitigung des Klassenstaates bewegte sie, vielmehr der Wille zum „Unbedingten“. Geduldiges Überzeugen und Organisieren der Massen schien ihnen nicht verschieden vom bürgerlichen Parteibetrieb, Wahlkampf und Beteiligung am Reichstag galt ihnen als konservativer Parlamentarismus – mit Ungeduld suchten sie nach Menschen, die rasch, jetzt, unbedingt das Neue taten, die ein Zeichen setzten gegen die Zeit. So schien ihnen der Außenseiter, der vereinzelte Rebell, der {Attentäter bewundernswert, das dumpfe Aufbegehren der Ärmsten, die Entladung in der Rebellion Voraussetzung zum Neubeginn.
Galt die Dirne in Gedichten von Stadler, Werfel, Trakl und manchem anderen durch das Unmaß an Leiden und Entwürdigung als die Auserwählte, wurde sie poetisch verklärt und geadelt (schon die Naturalisten hatten sich ihr literarisch zugewandt, damals allerdings mit sozialem Mitleid und Anklage), – in aktivistischer Wertung wandelt sich das: die Dirne gehörte hier zu denen, die zu Empörung und Rache für die Zerstörung ihres Menschseins ausersehen sind. Sah man in den Bettlern und Ärmsten der Städte im allgemeinen ein Signum des leidenden, von Geborgenheit und Gemeinschaft ausgestoßenen Menschen – hier wurden sie zu Trägern der Hoffnung auf endlichen Aufbruch und Rebellion. In „Die Armen“ will Becher den entrechteten Elenden Stimme geben, er entwirft ihr Gericht über die Peiniger und verklärt sie zugleich. Aus all dem spricht das Verlangen nach dem anderen, tätigen Menschen, der Gequältheit und Dulden abwirft, und Bewunderung für den aufs äußerste, sichtbar Leidenden, der sich opfert, der Märtyrer wird. Sympathie neigt sich Senna Hoy zu, dem anarchistischen Agitator, der sich aufmachte zum Angriff auf den Zarismus und der dessen Opfer wurde. Spontane Sympathie, zumindest Interesse entwickelte sich auch für den Stolypin-Attentäter, der an den Geheimaufträgen selbst zugrunde ging, ähnlich dann 1914 für den Attentäter von Sarajevo, den verblendeten Täter. Mit dem Krieg, der in alle Beziehungen eingriff – in alle Bereiche des Denkens, in die Sicht auf die Großstadt und die Hoffnung auf Brudertum, den Glauben an Erneuerung, das Selbstverständnis über die Rolle des Dichters – im Verlauf des ersten Kriegsjahres, das eine neue Phase expressionistischen Dichtens einleitete, veränderte sich auch dieses Verhältnis zum Täter. Äußerstes Leiden, so zeigte wohl die Erfahrung, bringt noch nicht Empörung hervor, die Kraft dazu entsteht nicht spontan. In der zweiten Kriegshälfte tritt der Arbeiter ins Blickfeld der Lyrik, bestimmt zum Gegenspieler des verhaßten Bourgeois und Kriegsschuldigen, fähig zu Kameradschaft und geschlossener Aktion. Es ist auch nicht mehr, wie bisweilen vor 1914, die Gestalt des einzelnen Rebellen, die jetzt würdigend herausgestellt wird, vielmehr ist es nun der Repräsentant einer tätigen Gemeinschaft, der überzeugende und im Namen der am Kriege leidenden Massen tätige Sozialist. Revolutionsprophetie kann nun realer fundiert sein als früher, Gericht und Auferstehung werden nun die Symbole einer kommenden sozialen und politischen Wiedergeburt der Massen.

Wann werdet ihr, Minister, Generäle,
am Galgen, den ihr uns errichtet habt,
mit gelber Angst der ausgedörrten Kehle
selbst pendeln auf dem Grabe, das ihr grabt?
….
Turati spricht. Kehrt um, Maschinengewehre,
durch Straßen Hungers rächende Wiederkunft.
Zurück, du ungeahnte Schar der Heere,
Befreier unser, Sieger der Vernunft.

Nicht gegen Fronten, leichenhaft verwaiste,
stellt ein der schimmernden Visiere Korn.
Ihr Kriegerischen in dem neuen Geiste:
Zuerst mit diesen rechte euer Zorn.

Der konsequente Pazifismus ermöglicht hier Walter Hasenclever, das geschichtlich Notwendige und die keimenden Wünsche der Massen nach dem Sozialismus in einem politischen Gedicht zu artikulieren, das reale Perspektive anschaulich-losungshaft entwickelt. Das wurde begünstigt durch die Gestalt eines sozialistischen Führers, den er in direkter politischer Aktion zeigte, den er Sprecher von Anklage und Prophetie werden ließ (wobei Hasenclever auch über die spezifische Rolle Turatis in der internationalen Arbeiterbewegung hinausging). Das Gedicht hebt sich aber nicht nur dadurch von denen anderer „politischer“ Dichter ab, daß es eindringliche Bilder und eine prorevolutionär aktivierende und zugleich eingängig geschlossene Form hat. Es wird nicht, wie häufig in der Antikriegslyrik, in einer Überfülle von Bildern und grotesken Tiraden zerbrochen. Hierin müssen wir eher Folge als Grund sehen. Bedeutungsvoll kann es werden, weil Hasenclever eine Situation findet, in der sich Spieler und Gegenspieler im wesentlichen Widerspruch begegnen, weil hier die exponierte Gestalt nicht allgemein, von realer Tätigkeit abgelöst besungen, sondern als Akteur und Sprecher (auch des Dichters) gezeigt werden kann. Gehalt und Mittel des Rhetorischen entsprechen der gewählten Situation und Figur, was bei anderen häufig nicht der Fall ist. Das Bild der Gesellschaft differenziert sich dadurch, es scheint nicht schlechthin von Verfall und Untergang bedroht, vielmehr werden Schuldige und Opfer, Gewinner und Verlierer im Krieg und ihre Ideologen unterschieden, und der kommende Untergang der einen wird auf die Bereitschaft zur Aktion der anderen zurückgeführt. Ähnlich übrigens später: Das Zusammenführen der Antagonisten im Vorgang des Gedichts, eine poetische Entdeckung, wie sie damals ganz selten gelang, schuf die große Satire von „Die Mörder sitzen in der Oper“.
Die Differenzierung und das Erkennen und Gestalten echter Alternative, die wir bei Hasenclever feststellen konnten, kennzeichnet eine wachsende Zahl von Dichtern während des Krieges. In ganz anderem Maße als zuvor teilten sie im Krieg Erlebnisse und Erfahrungen der Massen, erkannten die Methoden und Wirkungen einer reaktionär manipulierenden Ideologie; Einblicke in Ursachen und Motive gesellschaftlichen Geschehens wurden dadurch befördert, so kam eine Politisierung zustande, die eine Gruppe von ihnen auch über den Pazifismus hinaus nach links führte. Wurden vor 1914 nur von wenigen – insbesondere im Kreis der Aktion – die Bemühungen Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts zur Verhinderung des Krieges anerkannt (was sich freilich noch nicht literarisch niederschlug), so wenden sich nun mehrere und zunehmend dem Sozialisten zu, dem Repräsentanten einer Bewegung, die wirksame Lösungen bereithielt. Von einem völligen Begreifen der Rolle dieser sozialistischen Führer kann noch keine Rede sein, aber Sympathie und Bewunderung sind auf jene gerichtet, die den Kampf um wirkliche und wirksame Kameradschaft, Gemeinschaft und Menschlichkeit vertreten, wonach diese Jungen von ihren Anfängen an gesucht haben. Dabei bleibt in Bechers hymnischer Anrufung des Sozialisten als des heiligen Mannes der Tribüne, in Ottens lyrischer Ansprache an den Arbeiter, der die Menschheit zu retten habe, oder in Rubiners forderndem Entwerfen der Befreiung der Massen vielfach die Zeichnung der Kämpfer und des kommenden Kampfes vage und unspezifisch, eher Objektivierung der eigenen Idealvorstellungen als konkrete, aus Erfahrung und Erkenntnis gewonnene Gestalt. Aber mit solchen Gedichten ist etwas in die Poesie gekommen, was bis heute von grundlegender Bedeutung ist. Die Suche nach positiven Lösungen und Ordnung der realen menschlichen Beziehungen treibt die bürgerlichen Oppositionellen über den bürgerlichen Standpunkt hinaus, läßt sie erkennen: wenn sie „Kameraden der Menschheit“ bleiben, wenn sie nicht in hilflos-isolierte Attacken oder unproduktive Introvertiertheit zurückfallen wollen, müssen sie bürgerliche Positionen verlassen.
Nach dem Scheitern der Revolution und der grausamen Ermordung der sozialistischen Führer erhebt sich Klage über den Tod von Karl und Rosa. Bei Iwan Goll, Rudolf Leonhard, Oskar Kanehl und Becher spricht sich die Sympathie für die Opfer, Bewunderung für ihre Konsequenz und menschliche Größe aus. In dem „Ave, Liebknecht“ Golls oder dem Weltendurchrasen nach der gemordeten Heiligen Rosa bei Becher ist eine verzweifelte Trauer, die auch in der Ahnung gründet: diese Toten symbolisieren zerschlagene eigene Hoffnungen. Und wenn an der revolutionären Perspektive festgehalten wird, sie jedoch nur in religiöser Haltung vorgetragen werden kann, so dürfen wir daraus schließen: diese hier spüren, daß künftig für sie schwere Entscheidungen und Wandlungen kommen müssen. Darin offenbart sich ein Allgemeines, das die Epochenwende markiert: Nicht nur die Niederlage der Revolution und in ihrem Gefolge die brutale Neuetablierung des Imperialismus waren weltanschaulich zu verarbeiten, sondern die bittere Tatsache, daß es die Klasse der eigenen Herkunft war, die den Aufbruch zu einer gesellschaftlichen Erneuerung zurückgeschlagen hatte, daß also Berufung auf die Ideale bürgerlicher Befreiung jetzt endgültig als Selbsttäuschung erkannt und die vorrevolutionären Utopien an den Realitäten überprüft und revidiert werden mußten.
Diese verworren-schmerzliche Lage – Abschiednehmen, Sich-Scheiden-Müssen von einem Zeitalter, Zwang zu neuer Entscheidung – stellte besonders jene Dichter, die sich bewußter in der Zeitgeschichte engagiert hatten, auf eine schwere Probe; das wird auch in anderer Weise ästhetisch reagiert. Verzweifelte Trauer war auch die geistig-emotionale Basis für die Satire, für den Angriff auf das Nachkriegsdeutschland als Regime der Panzerwagen und der Sieger mit Blutkokarden und als makabrer „deutscher Märchenwald“, sie trug aber auch – mit wachsend hilflosem Zorn – die groteske Gestaltung. Die „Litanei auf Liebknechts Tod“ und der groteske Wirbel in Golls nachrevolutionären Gedichten erwachsen aus der gleichen Trauer und enttäuschten Hoffnung.
Wenn in der Lyrik der letzten Kriegsphase, wie in der expressionistischen Literatur insgesamt, die Sehnsucht nach Beendigung des Krieges und radikaler Erneuerung, die poetische Entdeckung der proletarischen Massen und des Sozialisten zunehmen, wenn also sichtbar die Erfahrungen und Stimmungen der Massen mit den Zeitreaktionen der Dichter übereinkommen, dann ist hierin nicht nur ein spontaner Reflex auf Massenstimmungen, auf die anwachsende Revolutionierung zu sehen. Es kommt dazu auch – obwohl nicht bei vielen, obwohl sporadisch – durch eine neuerliche Auseinandersetzung und Aufnahme sozialistischer Ideologie. Deutlicher erkennbar trat nun die Möglichkeit ins Bewußtsein, bei den Marxisten Erklärung der Zustände und Orientierung für die Aktion zu erhalten. Indem man sozialistische Ideen und Losungen rezipiert, treten auch nichtmarxistische Vorstellungen vom Sozialismus zurück. Denn in der Sympathie für Täter und spontane Empörung vor 1914 und in der Hinwendung zu den Ausgestoßenen, dem „fünften Stand“, wirkten anarchistische Theorien vom Sozialismus mit. Beim Anarchismus fand sich eine Kritik der sozialdemokratischen Politik und der Theorie vom Hineinwachsen in den Sozialismus, die die spontane Aversion gegen allen Parteibetrieb und die Beobachtung tatsächlicher Schwächen der sozialistischen Bewegung bestärken mußte; bei den russischen Anarchisten und vor allem in Gustav Landauers „Aufruf zum Sozialismus“ (1911) war zu lesen, daß man nicht warten könne, bis die Menschheit für den Sozialismus reif sei, sondern jederzeit, im Individuum, beginnen müsse, daß Voraussetzung nur der Wille sei, sich im Geist der Gerechtigkeit zur Gemeinschaft zusammenzuschließen. Das mochte manchem der „unbedingten“ Poeten, seiner Ungeduld, seinem Individualismus, seiner Suche nach Gemeinschaft entgegenkommen (und die unwissenschaftliche Polemik Landauers gegen Marx wurde mitgeschluckt). Solche Theorien, aber auch die mutige und unentwegte publizistische Tätigkeit Erich Mühsams, der auf die sozialen und politischen Antagonismen zielte, wenn auch theoretisch ebenso wirr, wenn auch voller Donquichotterien im einzelnen, waren von nicht geringer Wirkung im Expressionismus. Die Idee des Sozialismus und der Angriff auf den herrschenden Staat wurden dadurch im Bewußtsein wach gehalten, zugleich aber Barrieren vor ein wirkliches Begreifen der sozialistischen Bewegung und Theorie errichtet, ein verfälschtes Marxbild wurde konserviert. Es bedurfte neuer praktischer Erfahrungen in Antikriegsbewegung und Revolution und ernsthafter theoretischer Bemühungen, um das zu beseitigen, was dann später, bei einigen wenigen, geschah.

Als Literatur der Zeitenwende und des Vorabends erweist sich die expressionistische Dichtung aber nicht nur in der direkten emotionalen und thematischen Spiegelung gesellschaftlicher Problematik, nicht nur in der Öffnung für Politisches und soziale Widersprüche. Einen gewichtigen Platz erhält als vermittelte Zeitreaktion die Neubestimmung der Rolle der Dichtung und des Dichters. Schon die Breite der außerliterarischen und poetischen Debatte und Programmatik weist auf das allgemein werdende, für Umbruchszeiten kennzeichnende Gefühl hin, daß auf neue Weise auf die Ze1t literarisch geantwortet werden muß.
Dichtungskonzeptionen der unmittelbaren Vorgänger werden vielfach abgelehnt, vor allem George und der frühe Rilke, und neue Leitbilder gesucht. Auch hier kann es natürlich keine Einheit geben, und selbst wenn sich mehrere auf den gleichen Dichter berufen und sich durch ihn bestärkt sehen, so reagieren oft unterschiedliche Aspekte. Da ist Walt Whitman der Prophet einer Weltliebe oder der Sänger der Schlacht, Rimbaud der Zerstörte oder der Empörer, Dostojewski der rätselhaft ruhlose Priester oder Sprecher der Gewalt in sturmzerquälter Zeit. Aber dennoch: Gehen diese gegensätzlichen Berufungen auch von unterschiedlichen Zielvorstellungen und poetischen Temperamenten aus, eine Hauptrichtung des poetischen Wollens setzt sich durch, das Leitbild eines Dichters, der die moderne Welt durch sich hindurchgehen läßt, sie nicht glättet und idealisiert, der in Leiden und trotzigem Affront aktiv bleibt und in die Welt zurückwirkt. Gewiß gibt es auch hierbei Varianten, Verbleiben im Artistischen eines nur poetischen „Sturms“ oder Gelähmtsein in Resignation. Und es gibt auch in der Berufung auf den „Räuber-Schiller“ oder den „jungen Hebbel“ eine Literaturprogrammatik vom absoluten Weltekel, der Rache an der Welt der Eltern, künstlerischer Arbeit als Ich-Formung und Abwehr einer total feindlichen Welt.
Die Programmgedichte Benns, auf die wir uns hier bezogen, weisen durch die anarchische Kraftgebärde hindurch schon auf die spätere artistische Abwehr einer Zwecksetzung der Kunst außerhalb des Künstlers, auf seine endliche Apologie des Gedichts „an niemand gerichtet“. Es ist deshalb auch konsequent, wenn gerade der späte Benn eine Interpretation des Expressionismus gibt, in der das Wirkenwollen, die Bereitschaft zum Engagement eliminiert wurden. Benn hat die Negation einer bestimmteren gesellschaftlichen Wirklichkeit, wie immer sie auch von differenten weltanschaulichen und poetischen Standpunkten ausging, zu einem einheitlich irrationalen Absehen von der Wirklichkeit machen wollen. Die einheitliche „innere Grundhaltung“ expressionistischer Poesie definierte er „als Wirklichkeitszertrümmerung, als rücksichtsloses An-die-Wurzel-der-Dinge-Gehen bis dorthin, wo sie nicht mehr individuell und sensualistisch gefärbt, gefälscht, verweichlicht verwertbar in den psychologischen Prozeß verschoben werden können, sondern im akausalen Dauerschweigen des absoluten Ich der seltenen Berufung durch den schöpferischen Geist entgegensehen“. Hier wird ganz offensichtlich versucht, die eigene Spät-Konzeption als einzig logische Folge aus den expressionistischen Anfängen auszugeben, die zudem auf antigesellschaftlichen Individualismus und Artistik festgelegt werden sollen (was so nicht einmal für den eigenen Beginn zutrifft, geschweige denn für das Gros). Das aber geht eben am Hauptinhalt und am wirklich Produktiven dieser Dichtung vorbei, sieht ab gerade von den Bestrebungen, die in der späteren Entwicklung der bürgerlichen Lyrik als Aufgabe und Entscheidung aktuell blieb, aber über weite Strecken verlorenging. Bestimmend und fruchtbar war der Entwurf einer Dichtergestalt, die sich der Wirklichkeit aussetzt, sie zu verändern sucht – sei es, illusionär, durch innere Läuterung und Wandlung, sei es durch radikale Erneuerung −, als Bruder des Mitmenschen und Sprecher seiner Nöte und Sehnsüchte, teils in der selbsterschaffenen Gloriole des Messias, teils als Rebell und Aufrührer.
Dieser expressionistische Dichter macht sich zum Ankläger und Richter im ersehnten Jüngsten Gericht und ruft mit seinem Lied künftige Paradiese herbei. Gewiß, das ist maßlos, Überschätzung der eigenen Möglichkeiten und der Wirkungen seiner Gedichte, aber dennoch: indem er sich solchermaßen überhebt, durch seine Empörung und Leidenschaft die Wandlung und Erneuerung herbeiführen will, kann er den engen Zirkel bürgerlichen Krisenbewußtseins mitunter weit überschreiten, den gesellschaftlichen Anachronismus zur Sprache bringen und das Bewußtsein von der Unvermeidbarkeit humaner Erneuerung vermitteln. Selbstüberschätzung, Verkennung der eigentlichen geschichtsbildenden Kräfte, Schwäche an wirklicher, praktischer demokratischer Tradition und Intention und Bereitschaft zu öffentlichem Wirken, Gewinn an gesellschaftlich bedeutendem Gehalt, Wendung zum Volk sind eng verquickt – ein Widerspruch, der lange bestimmend ist, ja sich noch verstärkt. Die Ereignisse nach dem August 1914, Täuschung und Taumel der Massen, Versagen der Sozialdemokratie, Haßgesänge und Apologie des Krieges bei den meisten der anerkannten „Dichter und Denker“ gaben den oppositionellen Jungen das Gefühl, verkannt und einsam im Erkennen zu sein. Das alles verstärkte die Auffassung von der Führungsrolle einer Elite der Geistigen, vom Dichter als Märtyrer und Propheten, aber es verstärkte auch das Verantwortungsgefühl und das Engagement.
Aus dem düsteren Dichter, der mit dem Browning durch die Straßen strolcht – so bei Becher – wurde der Tribünenredner, der für den Sozialisten agitiert, ihm die Worte zuspitzt und die Massen rhythmisiert, wurde der Dichter, der von „Liebe und Gewalt“ zerrissen, die gefallenen Kämpfer der Revolution zu Heiligen erklärt und sie so bewahren will. Aus Klage, Ungenügen und Rebellion des Jünglings bei Hasenclever wurde die Rhetorik des politischen Dichters, der Auferstehung der leidenden Massen fordert, der aber dann im Entwurf der kommenden Revolution, verschreckt von der eigenen Vision revolutionärer Anarchie, eine Republik durch Versöhnung und Gewaltlosigkeit, durch die Macht seines Geistes auch gegen die Gewalt der Massen erzwingen will. Diese Wendung, die Wandlung des Dichters vom Aufrührer und Mitkämpfer zum Prediger illusionärer Versöhnung und waffenlosen Sieges in Hasenclevers Gedicht vollzieht sich bereits in den Jahren 1916/17, hier fallen schon die Vorentscheidungen für die Revolution, hier wurden bereits antizipatorisch die Grenzen abgesteckt, an denen die Mehrzahl der expressionistischen Dichter zwei Jahre später verharrte und in neuerliche Krise geriet.
Diese Krise und der Zwang zur Revision der eigenen Haltung und Utopie waren besonders tiefgreifend dort, wo die gesuchte Erneuerung politisch akzentuiert war, aber sie wirkten allenthalben. Iwan Goll zielte in Kritik und Utopie auf anderes, allgemeineres. Sein „Panamakanal“ zeigt Blick und Interesse für die Verhältnisse des Menschen in der Arbeit und die Möglichkeit, sich aus entfremdenden Fesseln zu befreien, und ähnliches bewegt auch die innerlyrische Diskussion seiner Dichtung. Goll gibt mit seinem Orpheus, der in die Unterwelt hinuntersteigt, um Eurydike, die Menschheit, zu befreien, ein aufschlußreiches Bild expressionistischer Motive und Entwicklungen. Unterwelt, das ist für den Lyriker Orpheus-Goll Arbeit in den Fabriken, Düsternis der Wohnungen und Schenken, Hast und Elend, Trostlosigkeit und verschüttete Sehnsucht der Armen, aus ihr soll der Gesang von der Güte und Menschenliebe befreien. Aber im Lärm der Arbeit und der betäubenden Vergnügungen – so entfaltet Goll die Situation – kann er nicht vernommen werden, gegen die Realität, die die Menschen beherrscht, kommt er nicht auf. Ein Café engagiert ihn, vor den Bürgern wird seine Predigt zum Schrei der Anklage menschlicher Schuld – dann flieht Orpheus die Unterwelt. Aber so der Schluß und das Urteil der Dithyrambe von 1918 in einer fernen Zukunft kommt die Wandlung, die des Orpheus, der seinen übermäßigen Anspruch aufgibt, der das Leben der Menschen realer verstehen will, und die Wandlung der Menschen, die sich zu einer großen liebenden Gemeinde verbrüdern. In dieser bedeutenden Utopie von einer wirkenden humanen Kunst und einer befreiten Menschengemeinschaft ist die idealische Vision – und das gibt ihr einen realen Akzent – durchsetzt mit kritischer Sicht der eigenen abstrakten Wunschbilder, es wird aber dennoch am Ideal festgehalten, das freilich nur im Bild einer religiösen Läuterung gezeichnet werden kann. Gerade dies Gefüge von Ideal und Kritik ändert sich in der späteren nachrevolutionären Fassung des „Neuen Orpheus“. Die Klage über die unerlöste Menschheit bleibt erhalten, bei neuer Zeiterfahrung aber muß mit Konsequenz das religiöse Sendungsbewußtsein unter scharfer Kritik stehen. Berufung erscheint als gutdotierter Beruf in Sachen Menschenliebe, und die Einsicht in die Folgenlosigkeit seiner Kunst treibt den Poeten von der Selbstkritik zur tragikomischen Selbstdarstellung und zur Groteske über die ausbleibende Erlösung. Hier wie dort steht Goll, und das ist durchaus kein individuelles Problem, vor dem gleichen Widerspruch, dessen unterschiedliche Auswirkung sich aus der Ernsthaftigkeit ergibt, mit der er auf die veränderte objektive Situation reagiert. Angestrebt wird eine Überwindung sozialer Erscheinungen und ihrer moralischen Wirkungen, deren Grund und Zusammenhang nicht begriffen werden kann. Als seine Schuld bezeichnet Goll an anderer Stelle: „Schicksal bracht ich, nicht Gesang / Der die Sehnsucht erst befreit“ – Schicksal als Chiffre für Ohnmacht des Menschen, Gebundensein durch undurchschaute Gesetze, wodurch Arbeit zur Knechtschaft und Freizeit zur Betäubung der Sehnsucht wird. Es ist Chiffre also für Erscheinungen und Wirkungen der Entfremdung, gegen die ein Paradies gesetzt werden soll, das durch eine Erlösung im Muster religiöser Absolution Befreiung bringt; der notwendige Prozeß realer Befreiung wird illusionär übersprungen, er kann als geschichtliche Bewegung nicht begriffen werden.

Wir gelangen hier an einen Punkt, von dem aus sich die Frage beantworten läßt, weshalb die Lyrik im Expressionismus (wie in der zeitgenössischen Literatur überhaupt) einen wesentlichen Platz einnahm und ästhetisch bedeutende Zeugnisse menschlichen Selbstverständnisses hervorbrachte – über Schwächliches und Ungeformtes, Übersteigertes und Modisches hinaus, das in dieser Strömung vielleicht mehr als zu anderen Zeiten zu finden ist.
Es war zu Beginn bereits dargestellt worden, wie der Expressionismus wesentlich stärker als die Literatur vor ihm auf die sozialen Grundvorgänge der Epoche reagierte, auf die Widersprüche von möglicher Produktivität des Menschen, Beherrschung seiner Umwelt und der Fesselung durch die Sozialbeziehungen und Ohnmacht gegenüber den geschaffenen technischen, sozialen und politischen Verhältnissen. Die sich ankündigende und durch Krieg und Revolution voll hervorbrechende allgemeine Krise des kapitalistischen Systems ermöglichte es den Schriftstellern, diese allgemeine Lage des Menschen, auch über den engen Lebens- und Erfahrungskreis hinaus, mehr oder weniger spontan literarisch zu erfassen. Die Lyrik nun kann unmittelbar poetische Aneignung auch sogearteter Verhältnisse des Individuums zu der ihn beherrschenden Gesellschaftswelt sein. Sie wird es besonders in einer Welt, die dem Menschen in gesteigertem Maße verwehrt, Herr seiner Beziehungen, also gesellschaftliches Subjekt seiner Verhältnisse zu werden, und in der zugleich die Lösung aus solcher Entmachtung sich allgemein ankündigt, in der Protest spürbar wird und der Mensch den Anspruch anmeldet, seine Verhältnisse neu zu regeln.
Wir sprachen von Ankündigung: Druck brachte Gegendruck hervor, aber noch war das Feste nicht im Fluß, noch waren nicht große geschichtliche Bewegungen bestimmend. Das trat erst gegen Ende des Krieges ein, in einer Zeit, die durch Aktion und Explosion auch die literarischen Verhältnisse verschob, jetzt, stärker als vor dem Weltkrieg, das Drama als Spiegelung geschichtlicher Kollisionen und Handlungen trug und hervorbrachte.
In all dem können wir objektive Gründe für die hervorragende Rolle der Lyrik erkennen, aber wesentlich ist noch anderes. Wenn behauptet wurde, daß die Lyrik durch die allgemeine gesellschaftliche Situation befördert wurde, besagt das nicht, daß etwa der Roman – abstrakt gesehen diese Situation nicht auch hätte darstellen können, im Gegenteil. Eine differenzierte Vermittlung der Zusammenhänge, in denen der moderne Mensch steht, der Kräfte und Gesetze, die auf ihn einwirken und die er beherrscht oder denen er unterworfen bleibt, eine Analyse also seiner Beziehungen könnte der Roman auch und sogar umfassender leisten, solche Verhältnisse verlangten eigentlich den Roman. Dazu hätte es aber eines größeren Maßes an Geschichtsverständnis bedurft, als der Literatur jener Zeit – bis auf ganz wenige Ausnahmen – möglich war. Erst in den folgenden Jahrzehnten konnte sich die Literatur zu einem solchen Niveau heraufarbeiten. Bei einer noch weitgehend spontan bleibenden Reaktion, spontan im Erleiden und in der Abwehr, konnte die epische Gestaltung das nicht bewältigen, wohl aber konnte das Gedicht, das viel eher in der Unmittelbarkeit subjektiver Reaktionen verbleibt und darin zu bedeutenden Aussagen gelangen kann, fruchtbar werden. Denn auch die weltanschaulichen Begrenztheit, idealistischen Interpretationen geschichtlicher Konnexe, die schon nicht mehr heroischen, aber doch noch vorhandenen bürgerlichen Illusionen der Dichter wirkten in der Lyrik weniger einschränkend, als es bei einer analytischen und objektive Vorgänge reproduzierenden Prosa der Fall war. Das ist besonders für den Expressionismus eine Problematik von weitreichender Bedeutung, für eine literarische Bewegung, in der idealistische Denkmodelle und Subjektivismus weithin wirksam waren, wirksam nicht nur für die Auffassung der Welt, sondern auch für die Sehweise, die poetische Methode ihrer Aneignung. Diese Wirkungen können hier nur an einigen Beispielen angedeutet werden.
In Trakls Gedicht erscheinen Verfall und Untergang als allgegenwärtige Bedrohung, der Mensch ist verstrickt und leidend ausgeliefert an eine kranke Welt, ein Entrinnen wird ihm unmöglich. Auch bei Trakl gibt es den Versuch, sich aus dem Bann zu lösen, befreite und befreiende Gegenbilder zu entwerfen. Aber mehr und mehr wird aus der Melancholie, die seine Landschaft überschattet, die verzweifelte Klage über eine heillose Welt. Der Dichter verliert die Fähigkeit zu kritischer Distanz, seine Düsternis färbt sein Bild von der Welt ein, seine Empfindungen und Gesichte fließen mit der Außenwelt untrennbar zusammen, durchtränken die Bilder. Dabei wollte Trakl offenbar – Selbstzeugnisse besagen es – mehr geben als das „begrenzt persönliche“, er wollte „unpersönlich“ objektiv gestalten, aber der Verlust an innerer Freiheit machte Objektivität unmöglich. Die Grenzen zwischen Innen und Außen verwischen, und so wird die Wirklichkeit dämonisiert, der Mensch scheint an eine anonyme, unabwendbare Macht ausgeliefert – die äußere Welt wird subjektiviert. (Ähnliches trifft auch auf wesentliche Bereiche in Georg Heyms Werk zu, wenn auch dessen Empfindungen und Widerstandswillen im Charakter von denen Trakls verschieden sind.) Auf solche Weise kann zwar das Zerstörerische der Gesellschaft überdeutlich hervortreten, aber es bleibt unfaßbar bedrohlich. Die Atmosphäre der entworfenen Natur, der Bewegungen und Gesichte der Menschen in ihr erhält dadurch etwas Zwingendes, Suggestives, zieht in den Bann, aber die Symbole und Chiffren können kaum noch entschlüsselt werden, der Bann ist nur als Bann begreifbar.
Durch solche Gedichte kann das Gefühl, in einer kranken Welt zu leben, bestärkt oder hervorgerufen werden, aber Ratlosigkeit wird bleiben, wie sie zu heilen, wie sie menschlich zu ordnen sei. Wer sich allerdings von solchen Fesseln frei machen konnte, für den kann zur Erschütterung über Zerstörung menschlicher Kraft und menschlichen Widerstandes, die sich hier äußern, ein Begreifen und historisches Verstehen treten. Einem historischen Verstehen wird der Subjektivismus solcher Poesie nicht bloß als Willkür erscheinen, aber auch nicht als das notwendig Gemäße. Wenn der Dichter nicht mehr die Kraft aufbringen kann, seine Empfindungen zu gestalten, so daß sie uns als ausgelöst und bewirkt durch die Wirklichkeit und auf sie gerichtet entgegentreten, sondern nur noch Bilder einer Wirklichkeit gibt, die ihn sich untertan gemacht hat, in der er auch nicht mehr Ich sein kann und Ich sagen kann, so werden wir das erkennen als Ausdruck tatsächlicher Entindividualisierung, tatsächlicher Entfremdungsverhältnisse, die spontan und ohnmächtig reproduziert werden.
Ebenso werden wir uns bemühen müssen, eine extrem andere Reaktion auf die gleiche Grundsituation, die auf andere Weise subjektivistische Methodik hervortreibt, historisch zu begreifen – Gedichte, in denen sich das Ich wehrt gegen seine Zerstörung und sich einen poetischen Raum schafft, in dem es die Wirklichkeit beherrscht, ein mächtiges und bewirkendes Ich sein kann.
Franz Werfel dichtet vom „Guten Menschen“:

Sein ist die Kraft, das Regiment der Sterne,
Er hält die Welt, wie eine Nuß in Fäusten,
Unsterblich schlingt sich Lachen um sein Antlitz,
Krieg ist sein Wesen und Triumph sein Schritt.

Und wo er ist und seine Hände breitet,
Und wo sein Ruf tyrannisch niederdonnert,
Zerbricht das Ungerechte aller Schöpfung,
Und alle Dinge werden Gott und eins.

Der Wunsch nach dem Menschen, der kraftvoll das Gute tut, ungehemmt durch Widerstände, treibt die Verkündigung hervor, daß ein solch „guter Mensch“ möglich und siegreich sei. Die realen Beziehungen werden dabei übersprungen, die tatsächlichen Widerstände erscheinen nichtig, das Ideal wird als Wirklichkeit gesetzt. Wer das liest, soll geläutert werden, bestärkt im Willen „gut“ zu sein – die moralischen Normen bleiben dabei ebenso abstrakt wie die Predigt der Perspektive. Vielfach wird in Werfels Lyrik das Ich auf solche Weise zum Zentrum einer Bewegung und Wandlung der Wirklichkeit im Gedicht. „Das Maß der Dinge“ verkündigt die Maxime:

Alles ist, wenn du liebst!
…..
In deinem Aufschwung, Mensch, wird alles groß!
In deinem Abschwung alles hoffnungslos!

Der Autor will die realen Verhältnisse, die Gesetze der gesellschaftlichen Realität, die ihn umgibt, an der er Menschen leiden und zerbrechen sieht, nicht annehmen, sie wird als ungemäß abgelehnt und soll durch den Menschen verwandelt werden. Durch ein leidenschaftliches dringliches Zureden soll der einzelne aufgerufen werden, sich zur Wehr zu setzen, er wird durch den Dichter zum Alleinherrscher seiner Welt gemacht, seiner Verantwortung, seinem Willen wird es anheimgestellt, in einer guten Welt schon zu leben. Wir erkennen, wie das Bestreben, Impulse des Widerstandes und der Aktivität des Ich, einen Appell an die moralische Verantwortlichkeit zu vermitteln, mit einer illusionären Darstellung der Möglichkeiten des Subjekts verbunden ist, wie der Entwurf einer Wirklichkeit, die dem Ich untertan, deren allmächtiges Zentrum das Ich werden soll, den Bezug zur realen Welt und ihren Abläufen verliert.
Solche weltanschauliche Position wirkt nun auf vielfältige Weise in der poetischen Methode expressionistischer Lyrik. Wir begegnen ihr häufig in Form predigthafter Verkündigung, sei es wie bei Werfel im Zeichen einer frommen Zuversicht auf die Macht des Geistes der Liebe, sei es – wie etwa in Paul Zechs „Neuer Bergpredigt“ – in der Darstellung eines Jüngsten Gerichts, das durch die Macht des Dichters bewirkt wird und das den gequälten Unterdrückten Gerechtigkeit und Erlösung bringen soll. Auf andere Weise wirkt solcher Subjektivismus, insbesondere in den lyrischen Reaktionen gegen den Krieg und in den Wunschbildern von einem endlichen Frieden, in den plötzlichen Wandlungen und Umschwüngen im Gedicht. Da wird eine starre, furchtbare Welt plötzlich in Bewegung gebracht, die Bedrohung schwindet, die Feindlichen umarmen sich, Gewalt weicht friedlicher Gewaltlosigkeit; und das alles wird durch die Leidenschaftlichkeit einer Seele, durch das Wollen des Subjekts hervorgebracht.
Am tiefgreifendsten wird eine solche Haltung und Methode für Bechers Werk strukturbestimmend. Anders als etwa bei Werfel, bei dem die Wirklichkeitsverwandlung durch das wollende Subjekt mehr gepredigt und beschrieben als gestaltet wird, gerät in Bechers Gedicht dieser Subjektivismus in die Form des Gedichts, in seinen Aufbau und vor allem seine Sprachbehandlung. Die Gestalt des Ich wird hier zum absoluten Zentrum des lyrischen Gefüges, durch sie wird Bewegung erzeugt, in den Bildern das Fernste mit dem Nahsten verquickt, wird ein gewünschtes Zukünftiges als gegenwärtiger Ablauf dargestellt. Dem Glauben von der Macht des Geistes über die Wirklichkeit entspricht ein poetisches Verfahren, durch das – mit anderer Inhaltstendenz als am Beispiel Trakls skizziert, ihm aber in der Methode verwandt – die innere Welt des Subjekts Dimensionen des Realen erhält, die äußere Welt als Spiegel der Subjeklivität erscheint. Das verlangt vom Leser, die inneren Bewegungen des lyrischen Subjekts ständig nachzuvollziehen, um überhaupt dem Wirbel von Aufrufen folgen und die herangewälzten Metaphern erschließen zu können. Aufschrei, Appell und ekstatische Imagination der Utopie können im Leser die Bereitschaft fördern, sich von dem Bild einer verwandelten Welt bewegen zu lassen, das wird aber nur möglich sein, wenn das Weltbild des Dichters auf ähnliche Vorstellungen trifft, wenn der Leser bereits für solchen Appell disponiert ist. Die subjektive Aktivität und befeuernde Rhetorik, die das Gewünschte als real behandelt, wird jedoch weder ein Verstehen befördern, wie solche Reaktionen auf die Welt bedingt sind, noch wird sie Begreifen und Impulse vermitteln, wie die Bedingtheit des Menschen, seine realen Bindungen ändernd überwunden werden können. Wenn der Leser den Glauben an die vorgeführten seelischen Aufschwünge nicht aufzubringen bereit ist, kann sich nicht nur Ratlosigkeit über die maßlosen und illusionären Projektionen einer Zukunft in die Gegenwart, sondern auch ein ungewollt komischer Effekt einstellen – das entworfene Bild emotional-geistig überwundener Wirklichkeit wird als nicht gemäß empfunden. Erst in dem Maße, wie Wirklichkeit nicht mehr poetisch überspielt, sondern wie in den inneren Kämpfen des Subjekts und seinen Wünschen nach Verwandlung des Wirklichen die realen Kämpfe, Widerstände und Möglichkeiten zur Veränderung durchscheinen, wie sie nicht durch idealistische Antinomien zugedeckt, sondern durch die innere Arbeit des Dichters erhellt werden, kann auch die Wirkung des Gedichts eine andere sein. In Bechers Revolutionsdichtungen aus dem Band An Alle werden gerade auch in dieser Hinsicht neue Ansätze gewonnen, die dann später fruchtbar gemacht werden konnten.

In beiden Varianten, die hier skizziert wurden, in der Ohnmacht des Subjekts, in der Entmachtung des Ich, der Verdüsterung der Welt und in der visionären Übermacht des Subjekts, der Übersteigerung des Ich und illusionären Verwandlung der Welt, in beiderlei Hinsicht verweist diese Lyrik darauf, wie tatsächlich in kapitalistischer Welt Kraft zu Ohnmacht wird und sich der Mensch gegen eine unwürdige Wirklichkeit zu behaupten sucht. Untergang und Erlösung, Verfall und Triumph, Tod und Auferstehung, Unterwelt und Paradies – das sind die Pole, zwischen denen sich Klage und Hoffnung, Trauer und Zuversicht, Schrecken und Imagination bewegen, die aber, wie immer unterschiedlich, letztlich in einem anderen Zustand des Menschen überwunden werden sollen. Symptome einer Gesellschaft, in der der Mensch sich selbst und der Menschheit entfremdet und in der er Objekt eines Geschehens wird, werden leidend vorgewiesen und eine Überwindung solcher Entfremdung gesucht. Es bleiben jedoch Überwindungsversuche, die sich noch nicht von der Basis der Entfremdungsverhältnisse lösen können, die in ihrem Bann verbleiben. Daß das mit Vergeblichkeit und Verzweiflung, mit religiöser Beschwörung und Illusionen einherging, kann uns nicht den Blick verstellen für die große humane Anstrengung und die erschütternd bleibenden Zeichen poetischer Selbstverwirklichung in einer Zeit des Umbruchs. Der Expressionismus zielte auf Weiterschreiten – in der Gesellschaft allgemein wie in der Dichtung. Wenn auch nur wenige selbst den Weg neu fortzusetzen vermochten, so waren doch Forderungen aufgestellt und poetische Erfahrungen gemacht, die fruchtbar werden konnten. Freilich nur mit Neubesinnung, Polemik und Revision. Wenn Bertolt Brecht zehn Jahre nach der gläubigen Beschwörung des „guten Menschen“ durch Werfel seine Johanna, die auszog, um in Frömmigkeit die Welt zu verbessern, erkennen läßt:

Denn nichts werde gezählt als gut, und sehe es aus wie immer, als was
Wirklich hilft, und nichts gelte als ehrenhaft mehr, als was
Diese Welt endgültig ändert: sie braucht es.
….
Sorgt doch, daß ihr die Welt verlassend
Nicht nur gut wart, sondern verlaßt
Eine gute Welt!

so spüren wir deutlich, wie gegen eine Gläubigkeit und einen nur moralischen Rigorismus polemisiert wird, die uns im Expressionismus begegneten. Aber ebenso deutlich erkennbar ist, wie hier der Aktivismus fruchtbar gemacht wird, wie der Wunsch nach Veränderung der Welt, der Wille nach einer wirkenden Kunst aufbewahrt werden.
Diese Polemik hat eine gänzlich andere Basis und Richtung als in bürgerlicher Expressionismusbetrachtung, in einer modernistischen Interpretation von Benn oder Sokel. Dort wird der Aktivismus in seinem humanen Anspruch als nur illusionär erklärt; als schöpferisch produktiv, weiterwirkend für die Entfaltung des modernen Gedichts soll nur noch das Zerbrechen des Subjekts und seiner lyrischen Welt, nicht aber sein Protest und seine Aktivität gelten. Wendung an ein Du und ein Ihr, Evokation einer erneuerten humanen Welt kann nicht als Erbe bewahrt werden. Unfähigkeit zu produktiver Fortsetzung und echt historischer Betrachtung gehen da Hand in Hand. Entgegen solcher Zurücknahme ist unser Blick freier. Für uns ist beides möglich: historische Kritik und anerkennendes Fortschreiten.

Silvia Schlenstedt, Nachwort

Zu dieser Anthologie

Die vorliegende Anthologie erscheint genau fünfzig Jahre nach der Menschheitsdämmerung, jener Lyrik-Sammlung, die man allgemein als das Dokument der expressionistischen Epoche bezeichnet. Über das Anliegen der Menschheitsdämmerung schrieb der Herausgeber, Freund und Mitstreiter der Expressionisten, Kurt Pinthus 1919:

… Dies Buch nennt sich nicht nur Sammlung, es ist Sammlung: Sammlung der Erschütterungen und Leidenschaften, Sammlung von Sehnsucht, Glück und Qual einer Epoche – unserer Epoche. Es ist die gesammelte Projektion menschlicher Bewegung aus der Zeit in die Zeit. Es soll nicht Skelette von Dichtern zeigen, sondern die schäumende, berstende Totalität unserer Zeit…

Dem entsprach die Anordnung der Gedichte: Pinthus strebte „keine mechanische, historische Folge“ an, „sondern dynamisches, motivisches Zusammenklingen: Symphonie!“ Unter den großen Komplexen „Sturz und Schrei“, „Erweckung des Herzens“, „Aufruhr und Empörung“, „Liebe den Menschen“ ordnete er die Gedichte von Becher, Benn, Däubler, Ehrenstein, Goll, Hasenclever, Heym, Heynicke, Hoddis, Klemm, Lasker-Schüler, Leonhard, Lichtenstein, Lotz, Otten, Rubiner, Schickele, Stadler, Stramm, Trakl, Werfel, Wolfenstein, Zech. Ihre Entstehungszeit berücksichtigte er nicht. Pinthus’ Menschheitsdämmerung entstand noch aus dem unmittelbaren Kontakt zur expressionistischen Bewegung, „Totalität“ war für ihn das Zusammenklingen verwandter Motive zu einer „Symphonie“, unabhängig von historisch bedingten Unterschieden. Heute, aus der kritischen Distanz von fünfzig Jahren zu jener Epoche und aus der Kenntnis der weiteren Entwicklung der Protagonisten heraus, scheint jene von Pinthus 1919 verworfene Historisierung bei der Zusammenstellung einer Anthologie expressionistischer Lyrik vonnöten, und die Totalität jener Epoche darzustellen heißt jetzt, sie aus ihren geschichtlichen Wurzeln heraus als Bewegung zu erfassen.

Diesen Versuch unternimmt unsere Anthologie. Ihr Hauptproblem lag darin, über der Historisierung das spezifisch Lyrische nicht zu vernachlässigen, die Lyrik nicht zu einem Demonstrationsobjekt der Historie zu machen, die Symphonie von Pinthus nicht zu verwerfen, sondern neu zu komponieren, sie „aufzuheben“. Eine Verbindung von Historischem mit Motivisch-Thematischem schien uns der für dieses Anliegen gemäße Weg.
Gliederungsgerüst sind die u. E. für die Entwicklungen innerhalb der expressionistischen Lyrik wesentlichen historischen Perioden: Die Jahre vor Ausbruch des ersten Weltkrieges, 1908-1914; der erste Weltkrieg, die Auswirkungen der Oktoberrevolution und die Novemberrevolution in Deutschland, 1914-1918; die revolutionäre Nachkriegskrise in den ersten Jahren der Weimarer Republik, 1918-1923.
Innerhalb dieses großen historischen Rahmens haben wir nach den für die jeweilige Epoche wesentlichen Themen und Motiven gegliedert. Im Aufnehmen, Fallenlassen, an der Veränderung bestimmter Themen und Motive soll die Bewegung in ihrer „Totalität“ erfaßt werden; Entwicklungen sollen sichtbar werden, die die Dichter, die Wahl und Gestaltung ihrer Themen unter dem Einfluß bestimmter historischer Erfahrungen genommen haben. Dabei sind wir in einigen Fällen über die allgemein übliche Zeitgrenze von 1920 hinausgegangen, weil gerade in der Periode nach 1920 wichtige in der Hauptzeit des Expressionismus angebahnte Entwicklungen ihre weiterweisende Ausprägung finden, die Leistungen dieser literarischen Bewegung von da aus schärfer akzentuiert werden können.

Programmatisch für dieses Anliegen unserer Anthologie steht der einleitende Abschnitt „Euch grüßt der Dichter“. Er dokumentiert in einer Auswahl die dichterischen, mythologischen, historischen Vorbilder und Leitbilder der neuen Dichtergeneration. Anhand ihrer Leitbilder wird die neue Generation vorgestellt, an der sich verändernden, auch kritischen Rezeption innerhalb der einzelnen Phasen deutet sich die Entwicklung der Gesamtbewegung an. Am Beginn steht Bechers Kleist-Hymne von 1911, „Der Ringende“, am Schluß Bechers „Gruß des deutschen Dichters an die Russische Föderative Sowjet-Republik“ von 1919. Dazwischen liegt die ganze Erfahrungsbreite der Vorkriegszeit, des ersten Weltkrieges, der Oktoberrevolution, der deutschen Revolution von 1918 und ihrer Niederlage. Die Reaktion der Autoren auf diese Ereignisse spiegelt sich partiell in den Rezeptionswandlungen und deutet auf die Differenzierungen innerhalb der expressionistischen Bewegung ebenso wie auf eine bestimmte Kontinuität in der Entwicklung.

Der erste Hauptabschnitt („Die Straßen komme ich entlanggeweht“) erfaßt die Gedichte von zirka 1910 bis 1914. Für sie ist u. E. das Spannungsverhältnis von Aufbruch- und Weltende-Stimmung charakteristisch. Wir haben deshalb an den Beginn und an das Ende dieses Komplexes die programmatischen Motivkomplexe „Aufbruch der Jugend“ und „Weltende“ gestellt, gleichsam als das Ganze umfassende Klammern. Hier sind die Gedichte aufgenommen, in denen sich das neue ästhetische und, vage, „politische“ Programm der jungen Generation und die alles wieder in Frage stellende von der Kriegsahnung und dem unbefriedigenden Zustand der Gesellschaft bedingte Weltende-Stimmung am „reinsten“ und die Gesamtheit des Möglichen andeutend formuliert sind. Dazwischen liegen die u. E. für diese Periode wesentlichen Motive: Großstadt, Technik, Natur, Liebe, die Verfemten. Innerhalb dieser Motivbereiche wiederholt sich die Konstellation Aufbruch-Weitende und wird am einzelnen Sujet konkretisiert. Entsprechend sind die Gedichte angeordnet. Am Beginn des Großstadtkomplexes steht die hymnische Feier auf das Stadterlebnis bei Schickele, Becher, Wegner, am Ende die Vernichtung der Städte in Heyms „Dämonen der Städte“. Das ist nicht mechanisch zu sehen, als ob eine saubere Scheidung zwischen Aufbruch und Weltende möglich wäre. Viele Gedichte reflektieren in sich dieses Spannungsverhältnis. Die programmatischen Aufbruch-Gedichte weisen insbesondere mit den letzten Gedichten dieses Abschnitts, Lichtensteins „Sommerfrische“, Bechers „Beengung“ und Stadlers „Aufbruch“, hinüber zu den Weltende-Gedichten. In ihnen klingt, bei Stadler zumindest in der Bilderwahl, das Motiv des Krieges als Befreiung vom bedrückenden Zustand der Gegenwart an: Was dann in den großen Visionen vom Untergang der bestehenden Ordnung wieder aufgenommen wird.

Im zweiten großen Abschnitt („Was jubelt ihr…“) sind die Gedichte von Kriegsbeginn 1914 bis 1918 zusammengestellt. Es kam darauf an, die entscheidende Bedeutung des Kriegserlebnisses für die überlebende expressionistische Generation zu dokumentieren. Am Beginn steht die Klage über die Toten. Sie wird abgelöst von einer neuen Aufbruchsstimmung, die sich entweder in menschheitlichen, vorwiegend pazifistisch bestimmten Utopien äußert oder auf Aktion drängt. Dieser Entwicklung entspricht die Gliederung dieses Abschnittes in die drei Motivbereiche „Mein armer Bruder, warum tat man das?“, „Das himmlische Licht“, „Auf Wiedersehen Brüder! ,Auf den Barrikaden!!‘“ Auch hier ließ sich keine „saubere“ Trennung, weder zeitlich noch auf den einzelnen Dichter bezogen, durchführen. Bechers Gedicht „Barrikade“, dem die Überschrift für den letzten Abschnitt entnommen ist, entstand zum Beispiel schon 1915 und ist in der Aussage klarer als manche Gedichte der unmittelbar vorrevolutionären Phase, die voller allgemeiner Utopismen sind. Hasenclevers pazifistisches Gedicht „Der politische Dichter“ entsteht zur gleichen Zeit wie sein Revolutionsaufruf „Die Mörder sitzen in der Oper“, und selbst bei dem sonst völlig auf Gewaltlosigkeit abgestimmten Wolfenstein findet sich 1917 ein Gedicht wie „Am Bau“. Wir meinen mit dieser Gliederung – von der Elegie zur Utopie, zur Aktion – die wesentlichen Momente dieser Epoche erfaßt zu haben, wenn man dabei wieder die Verzahnung untereinander beachtet und keine Exemplifizierung der Historie erwartet.

Der dritte große Abschnitt („Ewig im Aufruhr“) erfaßt die Gedichte von 1918 bis zirka 1923. Er bereitete die größten Schwierigkeiten bei der Gliederung. Revolutionäres Pathos, elegische Reflexion über die verlorene Revolution und satirische Auseinandersetzung mit der Weimarer Republik liegen in dieser Phase dicht beieinander. Zum anderen war zu berücksichtigen, daß sich hier bei einigen Lyrikern der Übergang auf sozialistische Positionen abzeichnete. Anfang und Abschluß dieses Komplexes bilden deshalb jene Gedichte, in denen sich die unmittelbare Bejahung der „Gegenwart der Revolution“ und die satirische Auseinandersetzung mit der nachrevolutionären Situation manifestiert. Dazwischen liegt die elegische Phase mit all ihren thematischen Differenzierungen. So wird deutlich, daß es sich hier um Übergangserscheinungen handelt. Ein Verharren in elegischer Haltung ist ebenso möglich wie ein neuer „Aufbruch“. Bei denen, die weiterschreiten, ist das aber nicht mehr die verschwommene Ahnung einer „Menschheitsdämmerung“, sondern die Erkenntnis von den realen Möglichkeiten, zu einer besseren Gesellschaft zu kommen. Aber jene Aufbruchsstimmungen, Utopien, Revolutionsahnungen, jene Hinwendung zu den Erniedrigten und Verfemten und das Bemühen um neue ästhetische Gestaltungsformen, die die expressionistische Lyrik bis 1920 bestimmten, bereiteten den Boden für diese Entwicklung und sind darin „aufgehoben“.

Bei der Textgestaltung sind Besonderheiten der Orthographie und Interpunktion, wenn sie inhaltlich bedingt waren, beibehalten worden. Auf eine Vereinheitlichung der Anfangsschreibung haben wir verzichtet. Probleme bei der Textgestaltung ergaben sich nur dort, wo mehrere Fassungen eines Gedichtes vorlagen. Der Gesamtkonzeption der Anthologie entsprechend haben wir uns für die spätere Fassung eines Gedichtes dann entschieden, wenn sie in der Frühfassung angelegte Tendenzen stärker hervortreten ließ. Wurde die Aussagerichtung in der späteren Fassung wesentlich verändert, diente die Erstfassung als Textgrundlage. Albert Ehrensteins „Der Ober“ erscheint deshalb in der späteren, Iwan Golls „Panamakanal“ in der ersten Fassung.
Schwierigkeiten bereitete die Datierung und Einordnung einzelner Gedichte. In einigen Gedichtbänden z.B. geben die Autoren relativ große Zeiträume für die Entstehung an, ohne daß die Gedichte einzeln datiert werden. Zechs „Feuriger Busch“ enthält den Entstehungsvermerk: 1912–1917, Däublers „Der sternhelle Weg“: 1909 und 1915, Werfels „Einander“: 1913–1914. In den meisten Fällen war es durch Hinweise der Archive, der Nachlaßverwalter oder der Autoren selbst möglich, die genauen Datierungen zu ermitteln. Unsicherheiten bestehen bei Ehrensteins Gedicht „Auf!“ aus dem Band Den ermordeten Brüdern von 1919. Da sowohl „Stimme über Barbaropa“ als auch „Ode“ während des Krieges geschrieben worden sind, schien uns das auch für „Auf!“ wahrscheinlich.
Bei der Einordnung einzelner Gedichte sind wir mitunter vom chronologischen Prinzip abgewichen. Für Else Lasker-Schülers Gedicht auf Theodor Däubler ließ sich als Erstdruck das Zeitecho 1915–1916 (Heft 14) ermitteln. Da Däubler aber von Beginn an für die expressionistische Bewegung eine bedeutsame Rolle gespielt hat und das Gedicht keinerlei Reflexion auf die Kriegsproblematik enthält, haben wir es vorgezogen. Ähnliches gilt für Heynickes Gedicht auf Strindberg. Dagegen sind Zechs Verhaeren-Gedicht, Bechers Gedichte auf Werfel und Hasenclever chronologisch genau in den Kriegsabschnitt eingeordnet worden, da sie unmittelbar mit der Kriegssituation zusammenhängen.

(…)

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Internet Archive +
Kalliope

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