Max Kommerell: Gedichte Gespräche Übertragungen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Max Kommerell: Gedichte Gespräche Übertragungen

Kommerell-Gedichte Gespräche Übertragungen

DER TOD DES BUCKLIGEN

Der Bucklige,
Der fünf gerade Söhne zeugte,
Ging solang schief,
Bis sein Rücken waagrecht lief
Wie bei einem Roß.
Aber aufrecht sprach
Sein Gesicht,
Das eisenfarbene, das klargeäugte,
Mit dem Licht:
Groß, heiter,
Tief
An Güte.
Den Händen nach,
Wenn er goß,
Oder beim Mähen,
Schien er ein Koloß.
– – – – –
Der Kirschbaum vor dem Schuppen steht in Blüte.
Sein Weib hält die Leiter.
Er steigt, schaut.
Zwei Krähen
Flattern träge
Aus dem weißen Versteck.
Er lacht laut,
Steigt, ist hinweg.
Nur ein Rand noch
Vom Holzschuh, nur die Hand noch
Mit der Säge.
Er ist blind
Vor Weißem.
Blüten, mehr Blüten neigen
Sich über ihn im Takt
Wehenden Geruchs
Und mit dem Hauch
Von etwas Schnellem, Heißem,
Küssen ihn, haben
Nie genug.
Er ist ein Knabe, schön, nackt.
Andere, auch schöne, auch nackte Knaben
Werfen sich im Flug
(Er sieht das zwischen Zweigen)
Aus blauem Wind in blauen Wind.
„Siehe, so!
Versuch’s!“
„Jetzt – Ich – Auch –
Oh!…“
Sie denkt: „Spricht er eigen!“
Sie ruft. Ein Fall. Im Liegen
Lächelt er,
Als würf’ er eine Last ab.
„Keine Leiter mehr!
Ich kann fliegen.
Säge wer
Anderes den Ast ab!“

 

 

 

Zur Lyrik Max Kommerells

– Ein Versuch in Hermeneutik. –

Der Anfang ist Erinnerung. „Entwürfe sind sicher Erinnerungen.“ Ohne Erinnerung würde es diesen Anfang nicht geben. Nicht wirklich kann ich etwas sagen über etwas, das nicht auch mit Erinnerung verbunden ist. Um so mehr hier, wo wesentlich Sprache in Erinnerung und Vorerinnerung, Vorerinnerung und Rückerinnerung verläuft. Ich erinnere mich, wie ich in Berührung gekommen bin mit. Ich erinnere mich, daß ich zu einer bestimmten Zeit einen Roman gelesen habe mit dem Titel Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern. Ich erinnere mich, daß ich den Namen des Autors, Max Kommerell, kannte, aber nur von Titeln her, von Mitgeteiltem, Zitiertem. Ich erinnere mich, daß ich etwa ein Jahr später einen Gedichtband von Max Kommerell las mit dem Titel Mit gleichsam chinesischem Pinsel und daß ich diese Gedichte abschrieb, mit der Hand (diese Abschrift besitze ich noch heute). Ich erinnere mich, daß dies in dieser Zeit (neben anderem, das mir in dieser Zeit begegnete) etwas bedeutete.
Noch als Soldat und dann nach der Entlassung habe ich (Sommersemester 1942 bis Sommersemester 1943) in Dresden Architektur und (Wintersemester 1943/44 bis Zwischensemester März 1945) in Leipzig Germanistik, Literatur, Kunstgeschichte, Philosophie, Psychologie studiert. In Dresden vermittelte mir ein Buchhändler, der eine Leihbücherei hatte (neben Gärten und Straßen von Ernst Jünger oder Der Mann von Asteri von Stefan Andres) den Lampenschirm aus den drei Taschentüchern. Was mich beeindruckte, war das, was an diesem Buch ungewohnt war, was den offiziellen und zu diesem Zeitpunkt schon sehr eng begrenzten Regelungen widersprach. Was mich beeindruckte, war die Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit, mit der die offiziellen Eingrenzungen übersprungen wurden, und schon ein solches Wort wie: übersprungen erscheint mir jetzt zu grob, es war einfach eine andere Vorstellung von Welt, die da wirkte, die für sich da war. Und erst heute vermag ich abzuschätzen, daß es nicht nur Befremden war, was ein solches Buch im allgemeinen bewirken mußte, sondern Nichtwahrnehmen, Blindheit für das, was da gesagt wurde. Und das galt ja nicht für die, die halb oder ganz, zustimmend, zögernd oder widerstrebend der Doktrin der NS-Kultur folgten, ihrer nationalistisch-chauvinistischen Verdummung zumindest das halbe Ohr liehen, das galt auch für die Opponenten, die gutmeinenden Anhänger wahrer und altehrwürdiger Werte. Der Brief, den Rudolf Alexander Schröder auf den Roman schrieb, wirkt heute zwar komisch, komischer als es der Briefschreiber sich hätte je ausdenken können, aber er war damals Zeugnis fundamentalen Mißverständnisses.
1944 habe ich den Gedichtband abgeschrieben. Es muß kurz vor dem Tod Max Kommerells gewesen sein. Ich erinnere mich, daß Hans-Georg Gadamer eine Vorlesungsstunde in eine Gedenkstunde für Max Kommerell verwandelte, daß ein Seminar (über Rilkes Duineser Elegien) ausfiel, weil er zur Beerdigung fuhr, erinnere mich aber nicht mehr, in welcher Reihenfolge das geschah. Wohl aber, daß mir die Gedichte geläufig waren, auch der Titel des Theaterstücks Die Gefangenen, das ich aber nicht zu lesen bekam. Erinnere mich auch deshalb an die Gedichte, weil von da an über einen Zeitraum von 10 Jahren eines davon zu meinen Standardgedichten gehörte:

LEBENSLAUF

Weiß wie sie
Ist der Pflaumenblüte
Das Tödliche.
Ihr zartes Haften
Am schwarzen Zweig wird dünn,
Wenn Flocke kommt um Flocke
Aus einem Himmel, den sie nicht mehr kennt;
Selbst Flocke, gleitet die Gelöste
Durch die schon heitre Luft
Und ruht,
Weiß auf Weißem.
Aber unter ihr
Am vollen Strahl
Schmolz das Verderbliche,
Und eine Weile scheint sie
Der Blumen eine
Auf grünem Grund.

Vielleicht kann ich schon hier andeuten, was, wie ich mich erinnere, mir an diesem Gedicht einging, damals. Das war zuerst die Überschrift. Daß der Vorgang eines von Aprilschnee abgelösten Pflaumenblütenblattes als Lebenslauf bezeichnet wurde. Welch eine Art von Lebenslauf konnte das sein? Ein metaphorischer? Weiß der Blüte, Weiß des Schnees, Schwarz des Zweiges, Zerschmelzen des Verderblichen am vollen Strahl? Eine Weiß-in-Weiß-Metaphorik? Das Positive im Weiß nicht unterscheidbar vom Negativen im Weiß? Das Wort Schnee kommt nicht vor. Es wird ersetzt durch das Wort Flocke. Dieses aber wird ebenso auf das Blütenblatt bezogen: Flocke um Flocke, selbst Flocke. Vokabulärer Gleichklang, heißt das, hält der metaphorischen Unterscheidbarkeit die Waage. Ich will nicht behaupten, daß mir solche Beobachtungen 1944/45 geläufig und formulierbar waren, aber ich weiß, daß es dies Dazwischen war, das mich beschäftigte. Es war die Schlüsselzeile, in der gesagt wird, daß der Blüte das Verderbliche kommt „aus einem Himmel, den sie nicht mehr kennt“. Dieses Wort: Himmel war Metapher für mich und zugleich nicht; zugleich nur Vokabel für etwas, das so am kürzesten zusammengefaßt schien; das, was oben war, Werte, Überlieferung usw.; und die Feststellung, daß man das nicht mehr kennt, bestätigte das. Solange Himmel Metapher war, konnte man von ihm nicht sprechen als von etwas, das man nicht mehr kennt. Was man nicht mehr kennt, ist aus seiner Bedeutung, seiner Bedeutsamkeit herausgefallen. Wer sagt: Gott ist tot, hat im Toten noch den vollen metaphorischen Bedeutungskreis, wenn auch als Negativ, bewahrt. Der Himmel, den ich nicht mehr kenne, ist als Metapher nur noch eine Erinnerung an eine Metapher, ist, in dieser Erinnerung bereits bloße Vokabel, nicht sinnleer, aber renominalisiert, aus seinen vielfältigen Bedeutungsbezügen zurückversetzt in ein Wörterbuch, in dem alle Wörter gleich in ihrem sachbezogenen Benennungswert sind.
Das sind Andeutungen. Sie geben Hintergrund. Vielleicht. Hintergrund war zu jener Zeit etwas anderes, Handgreifliches, Finsteres, tatsächlich Bedrohendes. Hintergrund? Unser Leben wurde eingeengt in einem Maße das heute nur schwer noch vorzustellen ist, jedenfalls für den, der darüber hinweg gekommen ist. War das immer gegenwärtig? Wer zu der Zeit Anfang zwanzig war, war zu der Zeit Anfang zwanzig. Der Spielraum, der noch vorhanden war, wurde wahrgenommen. Der Wechsel zwischen Bombenangriffen und Serenadenabenden vorm Gohliser Schlößchen ohne Frage hingenommen. Der stärker spürbar werdende Druck von Partei und SS mit nur geheimem Widerspruch ertragen. Es gab schöne Tage auch im Sommer 1944 oder im Frühjahr 1945. Was beunruhigte, was die tödliche Unausweichbarkeit des Verhängnisses ins Bewußtsein brachte, in den Rand des Bewußtseins zumindest, das war etwas, das sprachlich vermittelt wurde; nichts Widerständlerisches auch, nichts Gewaltsames, nichts Revolutionäres, sondern Rede, die sozusagen von selbst anders war; die die andere Möglichkeit selbstverständlich aufschlug, wie ein Buch, an das man gar nicht mehr gedacht hatte. Das war meine Berührung mit der Literatur Max Kommerells und das ist die Erinnerung, ohne die ich nicht anfangen kann, etwas zu den Gedichten Max Kommerells überhaupt zu sagen.
Mein persönliches Zeugnis, wenn es denn eines ist, zeigt einen Kontrast. Im Kontrast kam das zur Wirkung, was ganz und gar aus der Besinnung auf das Eigene, die subjektive Erfahrung, die individuelle Formulierung dieser Erfahrung stammte. Was an Kommerells späten Gedichten so selbstverständlich anders wirkte, war das unbeirrt Eigene, das sich darin aussprach. War es das in jedem Fall? Ist es das heute noch? War es das vielleicht nur im Zusammenhang mit der anderen historischen Situation, im Kontrast dazu, aber doch davon nicht lösbar? Wie stehen diese Gedichte im historischen Bezug?

*

Ich kann hier nicht im einzelnen Biographie und Entwicklung Max Kommerells nachzeichnen. Stichworte müssen genügen. Um aber auch nur die Andeutung eines klaren Bildes vom Autor Kommerell zu bekommen, ist es notwendig, zuerst einmal dem eingefahrenen Urteil zu begegnen, das sein Werk von der Position aus sieht, die er in den frühen und mittleren Jahren eingenommen hat. Die ausführliche und in mancher Hinsicht dankenswerte Diskussion dieser Position durch Hans Egon Holthusen (die im Spätwerk die Konsequenz des Frühwerks sieht, in der Untersuchung über „Lessing und Aristoteles“ die erfüllende Modifizierung des Erstlings Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik) nimmt das Werk für einen sozusagen überzeitlichen, restaurierbaren Konservativismus, genannt Humanismus, in Anspruch. Wenn man das tut, verkennt man aber das Problem, das da eingeschlossen ist. Was als Position erscheinen könnte, wenn man nur das nimmt, was der „Dichter als Führer“ (1928) und das Jean-Paul-Buch (1933) mit der Lessing-Untersuchung oder einzelnen Aufsätzen gemein hat (als Entwicklung), ist in Wahrheit eine Problematik, die es aufzudecken gilt, wenn man Kommerells Werk verstehen will, insbesondere die Gedichte, die Kasperlespiele und den letzten Romanentwurf. Einen ersten Hinweis dafür soll hier das geben, was Kommerell in seinem Brief vom 30.11.1943 an Hans Carossa über Jean Paul geschrieben hat:

Jean Paul ergreift mich (aus Anlaß meines Kollegs) neu und wunderbar, und es kommt mir zugut, daß ich mein dickes Buch über ihn vollkommen vergessen habe. Erst wollte ich mich nicht mehr in ihn verstricken lassen; ein gewisser Un-Ernst im Wirklichen, das bloß als freie Setzung der Phantasie, bloß als Maschinerie der Seelenzauberei behandelt wird, und gerade auf dem Gipfel der Situationen das Wort, die riesige Geste, der Zusammenklang statt der nicht glänzenden, aber überzeugenden Möglichkeit, daß ein lebendiger Mensch sich so und so verhalte – das störte mich, da ich eine sichere Aussicht auf das Wesen des Romans gewinnen wollte… Es fiel mir auf, daß meine neue Liebe zu ihm erst entstand, als ich mir, für die Zuhörer, bewußt Rechenschaft geben mußte. Daraus entnehme ich manches. Gestalten und Verläufe in seinen Romanen werden mir dann fascinierend, wenn ich in ihnen teils die Seelengeschichte Jean Pauls, teils die von ihm großartig anticipierte Pathologie des modernen Menschen dechiffriere… was dann freilich kein naives, sondern sehr reflectiertes Genießen ist… Des fernem habe ich damals vielleicht etwas verabsäumt, was sich mir jetzt stärker aufdrängt. Es ist Jean Paul der ,ausländische‘ Blick auf die Erdeszene, dem die Erde als ein Stern von Sternen aus erscheint, angeboren – und zwar steht er dabei auf keiner Christuswolke der Transfiguration, sondern er nimmt diese Ferne aus individueller Vollmacht des Geistes ein, und sie bedeutet gar nicht nur Sinn, Enträtselung und Entzücken, sondern die moderne Verlorenheit ist auch schon gefühlt, das Zurückgewiesensein auf sich selbst, und freilich, in den Humoristen, auch die tragische, die königliche Rückkehr des freien Geistes zu sich: das – erst zu dichtende – Schicksal der philosophischen Seele, das die Philosophen selbst niemals beschrieben.

Die Stichworte dieser Briefpassage sind: „… die großartig anticipierte Pathologie des modernen Menschen…“; „… die moderne Verlorenheit…“; „… das Zurückgewiesensein auf sich selbst…“; „… das – erst zu dichtende – Schicksal der philosophischen Seele…“. Solche Stichworte werden jedoch erst sinnvoll, wenn man hinzufügt, wogegen sie sich absetzen. Und da komme ich auf das andere Stichwort, das ich ein wenig umgangen habe bisher, weil es natürlich nicht nur ein Stichwort, sondern zugleich auch ein Schlagwort ist: Stefan George. Max Kommerell war früh in den Bannkreis Georges gekommen; eines George, der bereits seine Lehre und sein Werk ausgebreitet hatte, der nicht länger Mitstreiter benötigte, sondern Erben. Vielleicht war Kommerell der Letzte, den der Alternde sich als Erben vorstellen konnte. Jedenfalls sind die, die dann in Wahrheit dieses Erbe betreut haben, eher zu Gruftwächtern geworden. George verlangte zwar blinde Solidarität zur Botschaft, zu allem, was über literarische Aspekte hinaus an weltanschaulicher und politischer Lehre eingeschlossen war; aber er war sich offenbar ebenso bewußt, daß eine Fortsetzung nur da möglich sein würde, wo sein Werk in individueller Selbständigkeit aufgenommen werden. konnte. Er wünschte sich einen Jünger, der den Ansatz in Anverwandlung vollenden konnte.
Es ist schwer zu entscheiden, welche Komponente die Beziehung des jungen Kommerell zu George so eng machte, daß solche Vorstellungen überhaupt sich artikulieren konnten. Zweifellos spielte die Faszination durch das Werk eine große Rolle, ebenso aber auch die durch die Person, die Persönlichkeit Georges; weit weniger, beeindruckte, das zeigen Briefstellen, Kommerell die Lehre selbst, das politische Gebäude, die Hierarchie des Kreises. Die ersten Widersprüche ergaben sich in der Kritik an Friedrich Wolters, der am starrsten die Hierarchie verkörperte, der sie unerbittlich verfocht. Sieht man in George allein den Vertreter der Restauration, der Wiedereinsetzung von Tradition, die erst zum Akt dieser Wiedereinsetzung konstruiert worden war (eine Rolle, wie sie etwa Rudolf Borchardt in übersteigerter Form einnahm), so kann man seine Anziehungskraft nicht voll verstehen. Obwohl auch hier (und ich erinnere mich an den Eindruck, den mir selber die Lektüre des Briefwechsels George-Hofmannsthal 1943 machte), etwas Verführerisches lag: in der Gewißheit, in der Sicherheit, Unbeirrbarkeit des Bescheidwissens (etwas, das sich dann auf veränderter Basis bei allen denen wiederholte, die durch Ernst Jünger fasziniert waren und sind; und auch das für mich eine Erfahrung der Jahre 1943 bis 1945). Es war das Bewußtsein der Eingeweihtheit, der Initiation. Doch ebenso wichtig war alles, was unmittelbar an Wirkung vom Gedicht Georges ausging: Für diese unmittelbare Wirkung war zwar der restaurative Gedanke, war das Programm der Restauration die Basis, aber die Realisation des Gedichts geschah nicht als Erfüllung des Programms, sondern hatte Inhalt wie Überzeugung weit mehr aus der Situation des Abschieds, des Vorbei, der melancholisch-düsteren Abendmetapher, wie sie offener bei Hugo von Hofmannsthal formuliert wird:

Was frommts, dergleichen viel gesehen haben?
Und dennoch sagt der viel, der ,Abend‘ sagt,
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt
Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.

Und es war kein Zufall, daß sich die Abkehr Kommerells von George im Namen von Hofmannsthal vollzog.
Zweifellos kann man sagen, daß die Loyalität Kommerells George gegenüber stärker war, als es die blinderen Anhänger des Meisters je haben wahrhaben wollen. Bis in die späteste Zeit, bis in die Gegenentwürfe der Kasperlespiele und der Gedichtbände Die Lebenszeiten und Mit gleichsam chinesischem Pinsel hinein läßt sich die wahre Loyalität Kommerells ablesen. Der kritische Punkt in seinem Verhältnis zu George wurde erreicht in dem Augenblick, in dem er, von der Hierarchie des Kreises aus gesehen, seine Prüfung bestehen, das heißt, in die Politik des Kreises aktiv und mit bestimmtem Stellenwert einbezogen werden sollte. George ernannte Kommerell zu einem seiner Nachlaßverwalter. Diese Rolle lehnte Kommerell ab. Vermittlung nützte nichts. Der Bruch war vollzogen. Er konnte aber zugleich nur vollzogen werden, weil Kommerell angefangen hatte, selbständig und unabhängig seine Einsichten zu artikulieren.
Kommerell kam 1921 mit dem Georgekreis und mit George selbst in Kontakt, er selbst 19 Jahre alt, George 53. Der Bruch war vollzogen im August 1930, als Kommerell 28, George 62 Jahre alt war. Das Alter Kommerells und der Altersunterschied zu George sind bei der Beurteilung der Beziehungen nicht unwichtig. Die Anhängerschaft hat personal etwas von verlängerter Jünglingszeit. Die Abkehr fällt zusammen mit dem Bewußtsein von Mannesalter, wie es sich deutlicher dann in der Summe des vierten Lebensjahrzehnts, der „Ode auf die männliche Lebenszeit“ (in dem Band Die Lebenszeiten von 1941) artikuliert. In einer Tagebucheintragung, die am 3.10.1930 begonnen wurde, heißt es:

Ich war 28 Jahre alt und der Entschluß, von niemanden, sei er so groß er sei, meine Selbstachtung antasten zu lassen, wurde aller Hemmungen Herr. Ich sah mich und andere gedemütigt, und der Gedanke: daß eine höhere Altersstufe dergleichen von selbst ausschließe, wurde als irrig überwiesen sowohl durch das was ich erfuhr als durch das was ich beobachtete…

Mit der Abwendung von George war nun nicht unmittelbar eine Veränderung des Vorstellungsbereichs und der gewohnten Gedankengänge verbunden. Diese Umorientierung vollzog sich erst allmählich. Man kann das Jean-Paul-Buch, das 1933 erschien, durchaus noch der Frühstufe zurechnen. Auch die Michelangelo-Übertragungen von 1931, der Gedichtband Das letzte Lied von 1933 sind in den Bannkreis Georges zu rechnen. Aber während die 1929 noch im Verlag der Blätter für die Kunst gedruckten Gespräche aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt (großangelegte Dialoggedichte in der Art von Georges Dialoggedichten in dem Band Das neue Reich und zu lesen auch als ein poetisches Gegenstück zu dem Prosawerk Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik) eindeutig und bewußt zur Georgeschule zu rechnen sind, müßte man in den Gedichten im Band Das letzte Lied von Anklängen sprechen, haben die 1931 veröffentlichten Leichten Lieder wiederum nur sehr entfernt mit der früheren Faszination zu tun. Erst mit dem Dichterischen Tagebuch von 1935 und den Calderon-Übersetzungen bezeugt sich eine Wende, die in eine ganz andere Richtung führt.
Diese Wende steht unter dem Namen Hofmannsthals. Sie bedeutet Einsicht in die dem historischen Moment angemessenere poetische Reaktion. Hofmannsthal erschien wahrer als George. Diese Einsicht bedeutete nicht Hinwendung zu aktuellen und praktischen historischen Erscheinungen, zur Politik, im Gegenteil, sie bedeutete eine verstärkte Vertiefung in das Geschick der Individualität, in die Phänomenologie der subjektiven Verhaltensweise in dieser Zeit. Die späten Dramen Hofmannsthals, vor allem der Turm, spielten bei der Hinwendung zu Calderon eine Rolle. Der Begriff der Verwandlung, der Metamorphose wurde zu einem Schlüssel. Das zeigt wie in einem Brennpunkt zum Beispiel das zitierte Gedicht „Lebenslauf“; das zeigen, auf andere Weise, die Kasperlespiele und das Romanfragment.
Will man aber, in einer notwendigerweise nur stichwortartigen Skizze, noch einen Schritt weitergehn, so könnte man an die Stelle des Schlagworts Stefan George ein anderes Schlagwort setzen, das freilich Mißverständnisse provoziert, wenn man nicht sofort sagt, daß es lediglich dazu dienen kann, eine Richtung anzugeben. Dieses Schlagwort heißt: Martin Heidegger. Heideggers Werk wurde Kommerell vermittelt durch den Heidegger-Schüler Hans-Georg Gadamer; die Bekanntschaft mit dem Philosophen, der unmittelbar positiv auf den Jüngeren reagierte, ebenfalls. Aber Kommerell trat Heidegger selbständig entgegen. Er begriff, wo die Problematik lag, die der Existenzphilosophie Heideggers zugrunde liegt; aber er machte sich diese Philosophie nicht zu eigen, sondern nahm sie als das bestätigende Indiz für das, was er selbst zu artikulieren versuchte. Das Schlagwort: Heidegger ist berechtigt lediglich, weil es deutlicher macht, wie die Linie der Kommerellschen Entwicklung vorläufig auszuziehen ist.

*

Der Umkreis des lyrischen Werks von Max Kommerell ist bereits abgesteckt worden. Es handelt sich, in der chronologischen Reihenfolge ihrer Veröffentlichung um folgende, zumeist sehr schmale und in sehr niedriger Auflage gedruckte Bände:

Gespräche aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt (1929);
Leichte Lieder (1931);
Das letzte Lied (1933);
Dichterisches Tagebuch (1935);
Mein Anteil (1938);
Die Lebenszeiten (1941);
Mit gleichsam chinesischem Pinsel (1944).

Dazu kommt als Einzelveröffentlichung:
Die von einer jungen Frau gebrochene und geküßte Schlüsselblume spricht (1936); der von Kommerell selbst geänderte Titel heißt: Monolog der von einer jungen Frau gebrochenen und geküßten Schlüsselblume vor dem Tod zwischen weißen Briefblättern. Dazu kommen zwei Gedichte in der von Vittorio Klostermann 1954 veranstalteten Sammelausgabe: Rückkehr zum Anfang; Eine Geschichte aus Gefühlen, einzeln veröffentlicht 1960; sowie einige ungedruckte Gedichte.
Dazu kommen die Michelangelo-Übertragungen und, wenn man so will, die Lieder und Couplets aus den Kasperlespielen für große Leute, die 1948 veröffentlicht wurden und in bestimmter Weise kennzeichnend sind für die letzte Phase auch des lyrischen Werks von Max Kommerell.
Die acht Gespräche aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt sind heute weniger ihres Eigenwerts als ihres symptomatischen Charakters wegen lesenswert, am fruchtbarsten vielleicht eben in der Wechselwirkung zum Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Das Georgesche Muster scheint deutlich überall durch. Inhaltlich heroisieren sie in Einzelszenen die Zeit der deutschen Klassik. „Winckelmann in Triest“ heißt das erste, „Hölderlin auf der Heimkehr von Bordeaux“ das letzte Gespräch. Im Georgeschen Werk stehen vielleicht am nächsten „Goethes letzte Nacht in Italien“ und „Hyperion“. Dennoch zeigen diese am meisten und eindeutigsten George verpflichteten Gedichte Kommerells schon sehr deutlich eine Grenze, immer da nämlich, wo der heroisierende Ton ins Leichtere, Offenere hinübergleitet, wo das Normative ins Individuelle aufgelöst wird. Andeutungsweise schon in „Winckelmann in Triest“, etwa in solchen Versen:

Dort sah mit augen, tastete mit händen
Ich stündlich greifbar wachsend aus dem schutt
Hüfte und haupt des gottes des geliebten,
Ging neben manchem jüngling dieser zeit
Kaum mindrer anmut als je bildner formten,
Und summte sorglos durch das fenster reime
Verschrobner einfalt in mein abend-Rom.

Oder Carl-August zu Goethe in „Quartier zu Niederrossla“:

Als wir nach toller schweifung hingedehnt
Auf würzige nadelstreu gleich braunem wild
Den Zwillingsstern durch wedel schwarzer fichten
Uns winken sahn und deine hand mein stets
Steilsträubiges hellhaar streichelnd innehielt,
Weil du besannst, wie so abgründige lust
Niemand der ringsum schlafenden ermesse,
Nur du und ich und ER der auf uns blinkt –
Gestandest du daß oft du so wie jetzt
Gefällt zu werden bätest: mit mir eins.
Nun will’s der Stern. Lös ein dein wort. Zieh mit.

Gegenüber dieser doch immer entschiedenen Modifizierung des Georgeschen Tons wirken die zuerst außerhalb des Bannkreises publizierten Gedichte, die Leichten Lieder blaß. Es sind Gedichte traditioneller Art, traditioneller Thematik, und ich denke, man kann sie nur dann einsehn, wenn man sie als Kontrastentwürfe sieht, als Dokumentation der Loslösung aus der Norm des Kreises, der Überhöhung ins stilisierte Wahrbild, der gewichtigen Metaphorik. Stattdessen leichter Ton, beiläufige Bilder, anspruchslose Reime, Eingehn aufs Persönlichste, auf Gefühl, Regung von Nuancen usw. Das Motto dazu ließe sich in dem letzten Brief, der den Freund Hans Anton vor dessen Selbstmord erreichte, finden (geschrieben am 7.12.1930), in dem Kommerell sich auf einen Ausspruch Georges bezieht:

Den Satz D. M.s: „Geistbücher sind Politik“ weis’ ich zurück. Ich habe nichts damit zu schaffen.

Persönliches wird fast unverwandelt in den Vers hineingenommen:

Weiterleben will ich zwar…
Ob ich es vermag, bleibt offen.
Zwischen kaum gewagtem Hoffen
Und Verzweiflung welches Jahr!

Im Konzept eines Briefes an Stefan George vom 29.12.1930 wird die Entstehungszeit der Leichten Lieder für den Sommer 1930 bezeugt. Die Gedichte des Bandes Das letzte Lied, der 1933 publiziert wurde, gehen dagegen nach dem handschriftlichen Zeugnis Kommerells bis ins Jahr 1926 zurück. Es sind Balladen und Lieder, die anknüpfen an die letzte Gruppe in Georges Das Neue Reich: „Das Lied“. Als Vorbilder könnte man ansehen etwa: „Schifferlied“, „Seelied“, „Die törichte Pilgerin“, „Der letzte der Getreuen“, „Die Becher“. Aber wiederum, wie in den „Gesprächen“ sind die hierarchischen Formeln differenziert, die vorgeprägte Metaphernsprache umgewendet in etwas, das ihre einsinnige Bedeutung merkwürdig hintergeht. Als Beispiel zitiere ich die Mittelstrophe von „Die sonderbare Heilige“:

Mit dem Monde läuft die Frist
Meiner Nähe. Wen ich maß
Mit dem ewig letzten Blicke,
Geht, ob er im Tal ersticke
Seine Schwermut. Ich besaß
Jeden. Keiner mich. Dies wißt.
Aber welch ein Morgen! Schnellend
Trägt der Boden euch. Ihr spürt
Kühle Ströme in euch quellend
Riesenhafter Ungebärde
So als hättet ihr der Erde
Feuchte Hüfte angerührt.

Was sich in solchen Versen zeigt, ist der Versuch, die Sprechweise Georges zu benutzen zum Ausdruck von Erfahrung, der über deren historischen Ort hinausreicht, sie gleichsam auszuweiten in den konkreteren, unmittelbareren Erfahrungsbereich, das antiquisierende restaurative Element in sich selbst auszuscheiden. Das ist im deutschen Sprachbereich nur bei Rudolf Borchardt so konsequent durchgesetzt worden, aber bei Borchardt war eine ganz andere, von Sprachbesessenheit diktierte Kraft am Werk. Kommerell hat sich nie so ganz von der Sprache leiten lassen, sie blieb Instrument, Erfahrung zu fassen. Was man sonst vergleichen kann, Friedrich Georg Jüngers frühe Gedichtbände, etwa Der Taurus, bleibt hinter Kommerell zurück.
Daß diese Gedichte nach den Leichten Liedern veröffentlicht wurden, kann man noch einmal als einen Akt der Loyalität gegenüber George auffassen. Kommerell wollte nicht verleugnen, was er von dort hatte. Dennoch bleiben die Gedichte auch auf dieser Stufe noch symptomatisch. Symptomatisch für eine Auseinandersetzung, die weit tiefer ging als in den bloß personalen Konflikt, Auseinandersetzung innerhalb der überlieferten poetischen Redeweise mit dieser Redeweise und mit den Voraussetzungen ihrer Berechtigung. So gesehen, kann man die Gedichte der Sammlung Das letzte Lied auffassen als den Versuch, Bilder des Psychischen im Gedicht zu entwerfen, Untergründe der Seele aufzudecken, Unbewußtes in archaisierenden Metaphern zur Sprache zu bringen. Anklänge davon sind auch bei George schon zu finden, etwa in so schlichten Versen aus dem „Seelied“:

Was hat mein ganzer tag gefrommt
Wenn heut das blonde kind nicht kommt.

Freilich ließ sich ein neuer Weg finden erst dort, wo es nicht mehr um Sagenhaftes, Erhabenes, Großartiges, Raunendes ging, sondern um den Ausdruck unmittelbarerer Erfahrung. Das zeigt der nächste Band mit dem programmatischen Titel Dichterisches Tagebuch. Wort und Begriff Tagebuch wären im Bereich Georges nicht denkbar gewesen; es führt, von dort aus gesehen, aus dem Bezirk des Poetischen hinaus ins Unpoetische. Umgekehrt versucht Kommerell im gereimten Tagebuch aus Liebesgedichten eben ein konkret Poetisches zurückzugewinnen:

Wenn wir uns so nahe sind
Daß vor Nähe wir erzittern
Wird dein Auge plötzlich blind
Weil die Tränen es vergittern,
Und der Bruder, den dein Mund
Eben noch getröstet hatte,
Scheint dir plötzlich ferne und
Unerreichbar wie ein Schatte.

nehmen den ersten Teil des Bandes ein, der zweite umfaßt Oden und Legenden. An ihnen ist der Weiterweg zu erkennen, vor allem an den Elegien, die an den Freund Hans Anton erinnern, auch dies ein Akt stillschweigender Loyalität, ohne jedes Aufsehn, wie von selbst. Als Beispiel zitiere ich eine Passage aus „Der Allzubereite. Elegie“:

Redetest du mit
Einem, dem keine der Sprachen vom
Pfeifen des Birkhahns zum Unkengeläut
Abging – stets huschte
Dem vor der Antwort ein Zögern durchs Auge, wie es mich überraschte,
Jüngst, als aus hüfthohem Gras mit dem Ausdruck unfehlbaren Wissens
Mich anäugte ein Reh. Vorbei sind die Märchen. Schon floh es –
Tot sind, auch deine ist tot, die Verständigungen des Weltalls.
Damals erriet ich: gejagt warst
Du – von welchen Gedanken gejagt!
Denn viel weiser als Weisheit scheint
Heut es, zu rasen.
,Bettler um Blut‘ ist
Dies das Schicksal der Könige jetzt,
Die, was die Dienenden dumpf-
Lebend ersehnten,
Heiter auf Thronen und funkelnden Böden jahrtausendelang
Spielten mit weithin nickenden Häuptern, daß froh seines Anteils

Ward der Pflügende und der Befahrer des Meers, weil ihr Fest,
Weil ihres Daseins geheime Ergänzung war und geschah –
O Weltalter des Abschieds!

In diesen Gedichten ist Kommerell ganz bei sich selber. Hier auch wird eingelöst, was Hofmannsthal in den letzten Ansätzen vor seinem Tod offen lassen mußte. „Tot sind die Verständigungen des Weltalls“. Schon fast ironisch wird in der Metapher der Könige das alte erhabene Reich der poetischen Verbindlichkeit angesprochen. Sie betteln um Blut, diese Könige. Später noch sollten sie sich in etwas verwandeln, das den nun vollends unpoetischen Namen Dallifax trägt (im Kasperlespiel „Die rote Hand“).
Wenn ich bis hierher den Gedichtpublikationen Kommerells chronologisch gefolgt bin, so geschah das, um die Entwicklung und Wende im lyrischen Werk anschaulich zu machen. Mit dem 1936 einzeln gedruckten Schlüsselblumengedicht, für das schon die Titeländerung charakteristisch ist, beginnt die letzte Phase. Ihr gehören zu die drei Bände Mein Anteil (1938), Die Lebenszeiten (1941), Mit gleichsam chinesischem Pinsel (1944), die später publizierten und die unveröffentlichten Gedichte. In dieser Phase würde ich das ganz eigene, standhaltende lyrische Werk Kommerells sehen. Er hat seine eigene Sprache und seine eigene Thematik gefunden. Unterschiede sind von geringerem Gewicht als vorher. Man könnte sagen, daß die Gedichte aus „Mein Anteil“ unentfalteter sind als die unmittelbar vergleichbaren in Mit gleichsam chinesischem Pinsel. Man könnte sagen, daß in der „Ode an die männliche Lebenszeit“ Fortsetzung und Vollendung findet, was schon in den „Oden und Legenden“ ausgebreitet war. Man könnte Die Spiele im Garten (ungeachtet der Gedichte „Plötzlich zugewehtes Andenken“, „Der Tod des Buckligen“ oder „Der Heilige während eines Erdbebens“) als den Höhepunkt im lyrischen Werk Kommerells bezeichnen. All das wären interne Differenzierungen, die die gemeinsame Charakterisierung nicht aufheben würden.
Anlässe für das Gedicht, Themen, Bilder finden sich immer mehr im unmittelbar Naheliegenden, spielende Kinder im Garten, in konkreter, zeitgenössischer Umwelt, Blumen, Landschaft, Begegnungen. Konkrete Umwelt bedeutet dabei Umwelt, wie sie sich in privater Erfahrung darstellt. Sie bedeutet zunächst nicht Bezug auf zeitgeschichtliche, gesellschaftliche, politische oder kulturpolitische Aktualität. Die Konkretion der Kommerellschen Gedichte, ihre Abwendung von der hochgeladenen Metapher Georgescher Dichtkunst zum fast beiläufigen Alltagsbild geschieht im Namen des Arguments, mit dem er sich von George getrennt hatte, dem schon zitierten Satz aus dem Brief an Hans Anton vom 7.12.1930:

Den Satz D. M.s.: „Geistbücher sind Politik“ weis’ ich zurück. Ich habe nichts damit zu schaffen.

Dennoch bedeutet die Konkretion des Kommerellschen Gedichts nicht die Flucht und die Einkapselung in eine private Innerlichkeit. Im Konkreten alltäglicher Erfahrung und alltäglichen Umgangs spiegelt sich vielmehr das übergreifende Geschick. In diesem Prozeß ist das Charakteristikum zu sehen, das für die Gedichte des späten Kommerell entscheidend ist. Man kann das erkennen etwa, wenn man nach Auswahlprinzipien für den Band Mit gleichsam chinesischem Pinsel fragt und vergleicht, welche Gedichte nicht aufgenommen wurden. Im gedruckten Band stehen allein Gedichte, die Konkretion auf der einen und Spiegelung des Allgemeinen auf der anderen Seite in einer bestimmten Spannung halten.
Das Gedicht „Der Tod des Buckligen“ zeigt, wie die Elemente verteilt sind. In einem Brief von der Bühlerhöhe an Erika Kommerell vom August 1942 beschreibt Kommerell den Buckligen, er umkreist ihn in Details der Beobachtung und analysiert ihn als Figur. In die Beschreibung fließen mythologische Anklänge ein. Am Schluß steht der Entwurf einer Phantasmagorie vom Tod des Buckligen:

Er glaubt, während die weichen weißen duftigen Blütenbüschel seinen uralten Leib in sich baden lassen, ein nacktes geflügeltes Kind zu sein und wirft sich kichernd in die Luft hinaus… das ist dann sein Tod…

Aus diesem Ansatz entwickelt sich das Gedicht. Die Unterschiede bestehen darin, daß konkrete Züge eindeutiger gefaßt werden, daß Andeutungen von Mythologie verschwinden, das Vokabular sich vereinfacht, die Formulierungen so weit wie möglich zurückgeholt werden. Und eben durch diese Begradigung, durch das Vermeiden poetischer Sprache im traditionellen Sinne gewinnt das Gedicht Bildcharakter. Wenn der Bucklige in der Beschreibung unverheiratet ist und Kommerell sich vorstellt, wie er dennoch erotisch-sexuelle Reize auslösen könne und wenn er umgekehrt im Gedicht fünf Söhne hat und vor seiner Frau in den Baum steigt, so geschieht das nicht im Sinne einer metaphorischen Überhöhung, sondern um der Eindeutigkeit des Sprache gewordenen Buckligen willen.

Den Händen nach,
Wenn er goß,
Oder beim Mähen,
Schien er ein Koloß.

Dieses Wort: Koloß, ist das Äußerste, was Kommerell sich gestattet. Man könnte sagen, die Formulierungen sind zurückgenommen auf die Bezeichnung des eindeutig Existentiellen. Die Konkretion der persönlichen Erfahrung ist zugleich Konkretion des Vokabulars wie der Formulierung. Konkretisierte Sprache bildet einen Vorgang und einen Fortgang aus, sagt etwas so, daß es in der äußersten Einfachheit exemplarisch wird. In dieser Konzentration auf das Einfache und Exemplarische wird das Gedicht zum Bild. Zum Bild von was?
Für den späten Kommerell gewinnt ein Begriff immer mehr Bedeutung, den er von Hofmannsthal übernommen hatte, der der Metamorphose und der Verwandlung. Die späten Gedichte stellen Bilder der Verwandlung dar. Während der Bucklige in den Baum hinaufsteigt, verwandelt er sich in den Träumenden, der seine eingeschränkte Existenz als Buckliger ergänzt; während er zum Träumenden wird, beginnt er zu fliegen; fliegend überschreitet er den Bereich des Lebendigen. Dies alles geschieht als Fortgang, ist aber zugleich eins im anderen enthalten. Verwandlung im Sinne dieser Gedichte ist nicht Umwandlung von einem Zustand in einen anderen, beide Zustände als etwas Definitives oder ineinander über Gehendes gedacht, Verwandlung ist Innehalten im Zustand der Verwandlung, des Bewahrens von einem im andern, vom Vorahnen des andern im einen.
Am 4.3.1940 schreibt Kommerell an die kleine Tochter Hans-Georg Gadamers einen Brief, der in manchem für ihn sehr viel aufschlußreicher ist als Briefe an Erwachsene. Er dankt unter anderem für eine Zeichnung, die Jutta Gadamer zum Kasperlespiel „Kasperle wird Einsiedler“ gemacht hat und sagt:

… mit der Zeichnung hast Du meine Vorstellung vom verwandelten Biribi zum Erstaunen getroffen. Du hast Dir eine sehr schwere Aufgabe gestellt: eine Verwandlung zu malen. Man kann entweder das Schon-Biribi oder den Noch-Prinzen zeichnen, aber schwer den Prinzen im Übergang zum Biribi. Ein Biribikopf auf einem Prinzenrumpf, ein Prinzenkopf auf einem Biribirumpf wäre auch unbefriedigend für einen geläuterten Geschmack; und dann würde man doch wieder meinen, das wäre halt so, halb das eine halb das andre, und nicht, daß es eben in der Verwandlung begriffen ist. Ich glaube, daß es dem Prinzen da ähnlich zu Mut ist wie einem Menschen, der sich das Hemd über den Kopf auszieht und mit den Händen hängen bleibt – das ist mir oft passiert, und ich dachte: hab ich nun eigentlich ein Hemd an oder nicht?

Hab ich ein Hemd an
oder hab ichs nicht?
Ich seh mich so fremd an!
Ist das mein Gesicht?

Der scherzhafte, auf ein Kind eingestellte Ton dieses Briefes darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Kommerell vollkommen ernst spricht. An keiner anderen Stelle findet sich eine so korrekte Beschreibung dessen, was er unter Verwandlung verstand. Und erst wenn man das eingesehen hat, kann man erkennen, was die späten Gedichte zu sagen haben. So im „Lebenslauf“; so in „Spiegelung der Sonne zwischen Seerosenblättern“:

Schon glänzt von Wolkenrändern
Ein tröstliches Verändern.
Und zwischen Blatt und Blatt
Als Spiegelbild von oben

Der Feuchte eingewoben
Vertraulich winkend hat
An der Seerose statt
die Sonne sich geschoben.

Das Verändern ist „tröstlich“. Im Zustand der Verwandlung findet sich der Ort, an dem der Zusammenstoß des Personalen mit dem Allgemeinen aufgehoben wird, an dem ein neuer Ansatz möglich scheint. „Der Gelehrte“ sagt:

Nacht. Die Lampe. Wo ihr gelber
Lichtkreis schwebt auf dem Papiere,
Reden mich die Lettern an:
Tote, die ihr Schweigen brechen.
Meine Lippen ahmen ihre
Sprache leise nach. So kann,
Ach wie bald gestorben, selber
Mit den Lebenden ich sprechen.

Dieses Stillgestelltwerden in der Verwandlung nun, das muß man sich auch deutlich machen, reicht von Gedichten wie „Der Heilige während eines Erdbebens“ bis zu den Kasperlespielen und ist in beiden gleich wirksam, im offen Parodischen wie im Gedicht. Und es bestimmt auch die Entwürfe zu einem Roman im Stil einer spanischen Schäfererzählung aus dem 17. Jahrhundert. Unter dem Begriff der Verwandlung aber wird auch die Literatur des späten Kommerell fähig, das zu spiegeln, was sich immer stärker auf alle personale Erfahrung auswirkte und immer unaufhaltsamer in sie eindrang, das allgemeine Geschick, das nun zwar in dieser Spiegelung gesellschaftlich-politische Züge annahm, aber doch verstanden wurde als epochales Schicksal.

*

In der Elegie „Der Allzubereite“, die 1935 veröffentlicht wurde, heißt es:

Tot sind, auch deine ist tot, die Verständigungen des Weltalls.

Wenn es so ist, dann kann man entweder, wie es der Schluß dieses Gedichts sagt, die Klage über diesen Tod als das Einzige gelten lassen:

Hätte ich Stimme (kein Linoslied klang dir entfesselter Frauen,
Aber heidnisch mit dir mich vereinender Weihen ein Beispiel
Schien mir die Hand deiner sterblichen Mutter, die Erde dir nachwarf
Wie der Gruß der Natur an dich!) Ja, hätte ich Stimme,
Dann, wie dem Ruf des
Löwen die Wüste gehört und die Nacht,
Müßte die Zeit gehören dem dich
Rufenden Wehruf.

Oder aber es kommt darauf an, neuen Grund zu suchen, eine Basis zu finden oder zumindest das Verlorene als gleichsam negative Basis auszuhalten. Dieser Gedanke war es, der Kommerell in den letzten Jahren vor seinem Tod in die Nähe Heideggers brachte. Bei Heidegger heißt es in dem 1946 zum Andenken an Rainer Maria Rilke gehaltenen Vortrag „Wozu Dichter“:

Der Grund ist der Boden für ein Wurzeln und Stehen. Das Weltalter, dem der Grund ausbleibt, hängt im Abgrund. Gesetzt, daß dieser dürftigen Zeit überhaupt noch eine Wende aufbehalten ist, sie kann einst nur kommen, wenn die Welt sich von Grund auf, und das heißt jetzt eindeutig, wenn sie sich vom Abgrund her wendet. Im Weltalter der Weltmacht muß der Abgrund der Welt erfahren und ausgestanden werden. Dazu aber ist nötig, daß solche sind, die in den Abgrund reichen.

Der Tod der „Verständigung des Weltalls“, den Kommerell erfahren hatte, bezog sich auf den Versuch Stefan Georges und seiner Schule, solche Verständigung heroisch, gewaltsam, restaurativ zu erzwingen. Davon kehrte er sich ab. Wohin? In der „Ode auf die männliche Lebenszeit“, die 1941 veröffentlicht wurde, heißt es:

Doch nennt mich mit Namen ein Leben
Aus vielen Leben, und ruft mich, gestuft
In Jahren und Stimmen,
Und schließt, mir mit Bitten
Befehlend, mich ein
Im Ganzen; auch ich bin ihm Stimme,
und hör’ mich zugleich, und lächle, wenn Nachdruck
Und Mark ich mir gebe, den andern zulieb – und blieb doch
Mir selber das Kind,
Jahrzehnte verleugnend;
Nicht Scham ist’s, nein, Freude. Ach immer
Begann ich mir neu,
Und Eile des Werdens stieß mich, verstieß
Mich selbst aus mir selbst, und kaum das Gefühl,
Das ,ich‘ sagt in Freude und Schauer,
Enträtselt mich mir im Gewesnen!
Herauf nicht, nein,
Ich muß hinab, muß tiefer hinab,
Hinab zu mir selber!

Diese Verse sind einmal autobiographisch gemeint, Ausdruck einer Selbstbefragung im ganz persönlichen Bereich. Zugleich aber reichen sie über diesen Bereich hinaus: „ich“, „selbst“, „tiefer hinab“ heißt, daß etwas gemeint ist, das sich auch ganz allgemein auf das Schicksal des Subjekts bezieht. Das „in den Abgrund reichen“, von dem Heidegger spricht, wird hier umgedeutet in das Tiefer-hinab-Steigen ins Selbst, in das Suchen nach Gründen in sich. Die Antwort, die im gleichen Gedicht gegeben wird, ist vorläufig: „Nicht Held bin ich, singe nicht Helden.“ Das ist die definitive Absage noch einmal an die Epoche der „Gespräche aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt“. Als Gegenbild wird Natur, wird Landschaft aufgerufen. Dennoch:

Da ich, o Landschaft!
Im Busen ein
Unheilbar Jahrhundert
Zu dir kam,
Tröstetest du nicht
Wie die Mutter, welche
Alles weiß.
Sondern dein Trost
War: nichts wissen von alldem.

Dieses besondere „nichts wissen“ wandelt sich in der Trilogie Der Gefangene in das Bild dessen, der existenziell auf seine Innerlichkeit zurückgeworfen worden ist. Die Welt wird Bild für den, der gefangen ist im nichtgewollten, auferlegten Zwang. Bild der Welt ist das Bild dieses Bildes. Ist die Annahme dieser Situation als der äußersten Situation, die zu ertragen ist. Abgeschnitten von allen Bezügen sich abfinden mit dem Rückzug in die reduzierteste Position des Ich:

… austilgend jede Spur,
Die noch mit lieber Lüge
Ein Draußen lügt, vollendet es das Ur-
Gegebene. Ich füge
Mir alles zu, verhänge diese Enge
Mir selbst, wie ich zerspringend selbst sie sprenge.

Die Einlösung dieser Position, ihres Entscheidungszwangs, ihrer Unausweichlichkeit führt nun, und das erscheint überraschend und erlösend von Anfang an, in die Verwandlung, in die Metamorphose, in der die Gegensätze stillgestellt erscheinen. Dafür steht zuerst das dritte große Gedicht des Bandes Die Lebenszeiten: „Die Spiele im Garten.“

Der Garten wartet. Er entbietet seinen
Ankömmlingen Gerüche durch die noch
Verschloßnen Läden. Und es scheint dem einen,
Daß er im Halbschlaf Heu und Honig roch;
Ein anderes hört einen Atem gehen,
Der sonst nicht ging, und einem war’s, als lallte
Der Brunnen ihm ins Ohr. Dann, welch Verstehen!

Der vom Draußen ausgesperrte Gefangene hat gleichsam durch eine innere Volte alles wieder gewonnen. Die Erfahrung des Gefangenen gilt für ihn weiter. Aber er hat zugleich das, wovon er ausgesperrt war, neu.

Denn hier geht’s, wie man denkt. Kein ödes Feiern,
Wie bei den Alten, die schon siebzig sind,
Von denen man erwarten darf als Kind,
Daß ihre Pflicht sie tun und sterben,
Statt ihren Lebenslauf hinauszuleiern…

Die Kinderspiele sind das Bild, unter dem die Verwandlung sich ausdrückt, so wie deutlicher später im Band Mit gleichsam chinesischem Pinsel das Gedicht: „Kinder spielen Ball – Ein Großer schläft“ die vollendete Übereinstellung ausdrückt. Zarter, verletzbarer noch, so könnte man sagen, probieren die „Spiele im Garten“ die Schwebe:

Inzwischen wird der Garten ein Gemüt,
Das von sich weiß, und spielt mit Wohlgerüchen
Von Phlox und feuchtem Gras und lockrer Erde
Sich die Nachbilder zu von jenen Psychen.

Die Antwort auf Heideggers Mahnung: „Dazu aber ist nötig, daß solche sind, die in den Abgrund reichen“ liegt für das Gedicht Max Kommerells in der Aufhebung der Gegensätze und der Entscheidung in der stillgestellten Verwandlung. Eines erscheint im anderen. Das ganz andere wird im einen, eigenen sichtbar. Das bedeutet nicht Flucht in die Innerlichkeit, das bedeutet auch nicht die bei Rilke oft berufene Rückkehr zu den Dingen. Es ist ein Akt der sprachlichen Neubenennung, Sprache als das menschlich Nennende dessen, was da ist und dessen, was dem Menschen entgegensteht, ist der Träger der Verwandlung. Da Sprache allein dieser Träger der Verwandlung ist, erfaßt sie das Subjektive und das Allgemeine zugleich. In den Gedichten des Bandes Mit gleichsam chinesischem Pinsel wird die Verständigung des Weltalls, die tot ist als eine, so könnte man sagen, definierende, theologische, philosophische, idelle Verständigung, zurückgenommen in den Akt der sprachlichen Benennung. Darin ist, wie in dem Gedicht „Der Heilige während eines Erdbebens“ das allgemeine, das politische Schicksal mitgesagt.

Felsstühle wanken unter Berg-Asketen.
Sie prophezein
Aus Feuern, die wie Wasser
Übertreten.
Aber er
Wird sich selber zum Zeichen
Und lernt
Das neue, leisere Sein.

*

Die Frage der Verwandlung läßt sich nun auch erkennen und in bestimmter Weise handgreiflicher darstellen in einem speziellen Bereich. Die Absage an den Einfluß Stefan Georges hat für den Autor Kommerell erst die eigene Entwicklung in Gang gebracht. Sie ist jedoch in diese Entwicklung nicht einfach untergegangen. Gedichte wie „Der Heilige während eines Erdbebens“ können auch als späte und vollkommen gelöste Repliken auf die George-Erfahrung aufgefaßt werden. Im „Heiligen“ etwa als Antwort auf und Verwandlung von Georges „Der Dichter in Zeiten der Wirren“. Spielerisch werden auch Georgesche Versformen aufgenommen, dringt Zitathaftes ein. Am stärksten jedoch zeigt sich diese Umwandlung der George-Erfahrung in der Parodie der Kasperlespiele. Das große Lied der Hand in dem Spiel „Die rote Hand“ nimmt ein Versmaß auf, das für George in „Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod“ oder im „Jahr der Seele“ charakteristisch ist:

Die niemals zu rasche,
Die Hand in der Tasche,
Durchmißt er die Menschen gegebene Frist,
Die ihm im Nicht-Machen
Zu machender Sachen
So lang wie uns Geistern die Ewigkeit ist.

In der Drastik gerade dieses Liedes erweist sich die Umwandlung als Kontrafaktur zur Georgeschen Feierlichkeit. Auch das Lied Biribis, des in ein krokodilartiges Wesen verwandelten Prinzen, aus dem gleichen Stück kann als Kontrafaktur zu George gelesen werden:

Ich bin die ewige Schönheit,
Ich bin sie in Prosa und Vers,
Ich bin die ewige Schönheit,
Geboren im Schoße des Meers.

Und:

Die Menschen kennen als männlich
Und weiblich das Schöne – doch ich
Bin beides zugleich unzertrennlich –
Denn ich bin das Schöne an sich.

Mir, der ich mich niemals zu viel seh,
Ist manchmal so weh und so wund,
derweil ich mich nie im Profil seh!
Mein langgezogener Mund,

Der wär im Profil eine Mischung
Von Schwermut und Philosophie.
Doch diese ersehnte Erfrischung
Wird leider, leider mir nie!

Zugleich spielt in den Kasperlespielen in die Parodie und Kontrafaktur Georgeschen Geistes das existenzielle Thema auf spielerische Weise hinein. In der ersten Szene des „Verbesserten Biribi“ fragt der Polizist das Biribi: „Was tun Sie hier?“ und das Biribi antwortet: „Ich wese“. Und in „Kasperle wird Einsiedler“ kommen im Monolog des Biribi alle Elemente der Literatur des späten Kommerell auf merkwürdig ungezwungene Weise zusammen:

Jetzt red’ ich wieder mit mir selber. Ich bin das einzige Wesen, das mich versteht. Ich bestehe ja eigentlich auch aus zwei Leuten: Mensch und Krokodil in einer Person. Was ich als Krokodil nicht verstehe, erkläre ich mir als Mensch, und über das, worüber ich als Mensch weine, lache ich als Krokodil… Wenn dieser ungewisse Zustand noch lange dauert, gewinnt das Krokodil die Oberhand in mir. Das hängt mit der Ernährung zusammen. Man schluckt als Krokodil so viel Sumpf in sich hinein, daß man auch im Innern ganz sumpfig wird. Man versumpft zum Stumpfsinn einer dumpfen Zufriedenheit mit sich selber.

Die stillgestellte Verwandlung selbst wird hier in die Parodie gewendet, gewiß kein Zeichen von Ausweglosigkeit, sondern im Gegenteil der Beweis für die Souveränität, mit der Kommerell in den letzten Jahren seines Lebens seine Mittel zu handhaben wußte. Die Erwähnung der Parodie und Kontrafaktur in den Kasperlespielen soll an dieser Stelle auch nur andeutungsweise den Spielraum zeigen, den Kommerell für sich gewonnen hatte. Dazu kommt noch eins: die Rolle des indirekten Zitats. Man kann in den Gedichten hier und da Anklänge finden. Kommerells Kasperlespiele haben Anklänge an die anderen von Franz Pocci. Poccis Rollenverteilung, seine Art der politischen Parodie, seine Unterwanderung der hohen Sprache der Poesie durch volkstümliche Gegenreden, all das findet sich, ganz ins Eigene umgewendet, bei Kommerell wieder, der in einem Brief an Werner Krauss vom 19.1.1942 (Briefe S. 436) sagen konnte:

Gestern Nacht habe ich ein neues Kasperle-Stück beendet, in welchem Genre ich allmählich die volle Prägnanz der Selbstdarstellung erlange.

Das Element des indirekten Zitats als eines der sprachlichen Mittel, Verwandlung, Metamorphose zu zeigen, spielt auch in dem letzten Romanentwurf und seinen eingestreuten Gedichtparodien eine Rolle. Ein wenig zugespitzt könnte man sagen, daß hier zum ersten Mal Möglichkeiten sichtbar werden, wie sie etwa in den Zitatromanen des Amerikaners John Barth in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts benutzt wurden.

*

Ich möchte nicht weiter gehn. Was als Erinnerung anfing, hat sich zu einem hin und her wandernden Weg entwickelt durch die Lyrik eines Autors, dessen dichterisches Werk zwar einer Gruppe von Kennern geläufig ist, das aber immer noch nicht den Platz im öffentlichen kritischen und im historischen Bewußtsein von der deutschsprachigen Literatur im 20. Jahrhundert einnimmt, der seinem Rang entspräche. Dabei ist es erst kurze Zeit her, daß dieser Autor schrieb und wirkte. 1972 wäre er 70 Jahre alt geworden. Schüler und Freunde von ihm sind an verschiedensten Stellen tätig. Möge dies, was ich an gewiß unbeholfenen Anmerkungen zusammengetragen habe, einen Anstoß geben, dies Werk neu zu lesen, vielleicht auch den Lampenschirm aus den drei Taschentüchern und die letzten Romanentwürfe vollständig zu veröffentlichen! Enden kann ich nicht, ohne doch zum Schluß einen Blick zu werfen auf die Person, die dieses Werk getragen hat. Nicht in fremder Schilderung oder Analyse, sondern so, wie er selber unversehens seiner selbst ansichtig wurde. In seiner letzten großen theoretischen Arbeit, die übrigens auch das Thema der Verwandlung behandelte, in „Lessing und Aristoteles, Untersuchungen über die Theorie der Tragödie“ hat Kommerell ein Bild von Lessing entworfen, das ich gern als ein Selbstporträt lesen möchte:

Vollends zeigen ihn seine Dichtungen in zartester Beweglichkeit, Sinnlichkeit und Empfindlichkeit, zeigen ihn auf jeden Eindruck schnell, fein und zulänglich antwortend, zeigen ihn aufmerksam auf alles, was Beruf, Stand, Ort, Sitte, Denkweise in ihrer Besonderheit angeht. Ja, er darf es sich wie kaum einer erlauben, das Gelesene als erlebt zu behandeln, weil seinem leidenschaftlichen Begreifen das Gelesene Leben wird, und sich so seine Weltkenntnis um den Umfang des Gelesenen erweitert. Soviel dieser Begabteste aller Leser dem Lesen verdankt, nie wirkt etwas bei ihm angelesen im Sinne von lebensdünn. Lebensnähe ist bei ihm nebenbei da… (S. 10).

Und in dem schon erwähnten Brief an die kleine Jutta Gadamer sagt Kommerell, sich auf Juttas Puppen beziehend:

Das Wollbäckchen ist aber ein Charakter für sich; er könnte mein Sohn sein. Er lacht ganz über die gleichen Sachen wie ich (wenn nämlich die Leute zu ernsthaft sind), er kann die gleichen Sachen wie ich nicht leiden (Herings-Salat; und wenn man mit einem Messer auf Glas oder Eisen kratzt; und den Lohengrin von Richard Wagner!), und ist auch so strebsam und entwicklungsfähig wie ich. Du wirst noch viel Freude an uns beiden erleben. Allerdings mußt du sehen, daß wir nicht in den Himmel wachsen. Wir nehmen beide den Mund etwas voll. Auch äußerlich sind wir uns wie aus dem Gesicht geschnitten. Sieh nur Wollbäckchen einmal im Profil an, wenn er etwas in die Luft guckt, schief zum Fenster hinaus – da möchte man gleich ,Kommerel‘ zu ihm sagen!

Helmut Heißenbüttel, Vorwort

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

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