Nora Bossong: Zu Helga M. Novaks Gedicht „Betrunkene Dame im Park“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Helga M. Novaks Gedicht „Betrunkene Dame im Park“ aus Helga M. Novak: solange noch Liebesbriefe eintreffen. 

 

 

 

 

HELGA M. NOVAK

Betrunkene Dame im Park

sieben Uhr früh und durch das Westend
stromert eine Dame achtzig hundert oder jünger
hilflos wankend und geht am Stock
wie oft bin ich ihr schon gefolgt und dachte
sie erkannt zu haben ihren Blick

unter der Mütze aus Samt steinfarbene Locken
jetzt fällt sie nein sie fängt sich ab
ein Sturz gebändigt von flatternden Händen
der Wind bläht ihre Jacke aus Tigerfell
zerrauft und gesprenkelt brandige Löcher

wie oft bin ich ihr in den Park gefolgt
habe den Kopf gesenkt wie sie auf der Suche
nach etwas Bemerkenswertem auf dem Weg
bis ich ein Fünfmarkstück dort hinrollte
wo sie vorbeikommen mußte und sie ging vorbei

schwankend schaukelnd wie eine alte Korvette
die morgens betrunkene Dame im Park
vielleicht ist sie meine Mutter
vielleicht meine Schwester meine Tochter
sie sieht mir so ähnlich

 

Stromernde Dame im Stadtpark

Dass die Welt immer wieder unter den Füßen wegrutschen kann, davon vermag Helga M. Novak wie keine Zweite zu berichten. Es schaukelt, es schwankt, als habe man zu viel getrunken. Die Umgebung zieht vorbei, man kann sich an ihr nicht festhalten. Was bleibt? Tapfer anzutrinken, bis das Schwanken nicht nur in den Gedanken und Gefühlen sitzt, sondern auch im Körper, dort greifbar wird, als Gegner oder als Verbündete, als betrunkene Dame im Park?
Eine Begegnung im trüben Morgenlicht, sieben Uhr früh, der Park ist wohl nur von wenigen Menschen bevölkert. Unter ihnen diese bereits alkoholisierte Dame in einer zerrauften Jacke, brandig durchlöchertes Tigerfell, ein Mensch kurz vor dem Abriss. Äußere Zuschreibungen wie das Alter gleiten an dieser Person ab, die zunächst „achtzig hundert oder jünger“ ist und am Ende die Tochter des lyrischen Ichs sein könnte. Auf derlei Äußerlichkeiten kommt es auch nicht an, kommt es nie an, da sie immer nur vermeintliche Sicherheit vortäuschen. Früher oder später stellt man fest, wie falsch man gelegen hat, entpuppt sich, was hinter den Zuschreibungen liegt, allzu oft als böser Fluch. Und so bleibt nur die Einsicht, dass jedes Bezugssystem unzuverlässig ist, das politische, das biographische, die Zustände sind unsicher und schwankend.
Schwankend und unsicher war auch Novaks Lebenslauf. Als uneheliches Kind geboren und zur Adoption freigegeben, erfährt sie wenig über ihre Herkunft. Diese Leerstelle treibt sie ein Leben lang um, wird in ihren Texten umkreist, so auch in diesem. In der Nähe von Berlin und mitten im Krieg aufwachsend, von der ersten Diktatur in die zweite, wo soll sie sich da festhalten, wie lernen, sicher und leichtfüßig zu gehen? Die Natur der Mark Brandenburg war vielleicht das Verlässlichste ihrer Kindheit. Taumelnd also weiter, mit sechsundzwanzig verlässt sie die DDR und zieht nach Island, kehrt zurück, geht wieder fort. Ihre beiden Kinder gibt sie auf einem isländischen Hof in Obhut. Die Haltung zum Sozialismus: torkelnd. „Eine Melancholie, die an Tollwut gemahnt“, fand Michael Lentz in den Gedichten von Helga M. Novak. Dagegen anzuschreiben erfordert eine Portion kraftvollen Irrsinn und ebendie hat dieses Gedicht. Sein Ton ist wild und karg und trotzig. Widersprüche und Abstrusitäten geben den Zeilen ihre Klippen und schroffen Kanten. Samt auf Stein als Beschreibung eines Kopfes, die Mütze das einzig Weiche, und da, wo der Mensch beginnt, setzt die Versteinerung ein. Ein Sturz wird mit „flatternden Händen“ gebändigt, als sei es ein Tier, das der Dompteur zurechtweist.
Der „hilflos wankende“ Wunsch nach Festigkeit, nach Bezügen und Beziehungen liegt schwer und zugleich vergebens über den Strophen. Dabei ist auch die betrunkene Dame „auf der Suche“, darin könnten sie sich begegnen, im Hoffen auf etwas Bemerkenswertes, in der Sehnsucht, ein Gegenüber zu erkennen – und in dem Gegenüber sich selbst, changiert doch dieses Gedicht zuletzt zwischen Fremd- und Selbstporträt, was die Dringlichkeit, den anderen zu erkennen, umso größer macht. Endlich der Versuch einer Kontaktaufnahme, ein über den Weg gerolltes Geldstück, „und sie ging vorbei“.
Was wäre der Stock, auf den sich das lyrische Ich nun stützen könnte, was die flatternden Hände, die den Sturz abfangen? Es ist wohl diese frei von grammatischer wie gesellschaftlicher Interpunktion taumelnde Sprache, und mit ihr gelingt Novak Einzigartiges: im Schwanken zu tanzen.

Nora Bossongaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtunddreißigster Band, Insel Verlag, 2015

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