Ossip Mandelstam: Mitternacht in Moskau

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ossip Mandelstam: Mitternacht in Moskau

Mandelstam-Mitternacht in Moskau

TATAREN, Usbeken, Samojeden,
Ukrainer, und jegliches Land,
Auch Wolgastromdeutsche, ein jeder
Hofft auf Übersetzer-Verstand.

Und vielleicht schon in dieser Minute
Überträgt mich ins türkische Wort
Ein junger Japaner, der gute –
Begriff meine Seele sofort.

 

 

 

Atemluft, Zorn, Requiem

Ich wette, daß ich noch nicht tot bin.
Ossip Mandelstam

I
Ein Neubeginn. Das Wiederauftauchen der Lyrik nach einem mehr als fünfjährigen Schweigen. Vom Frühjahr 1925 bis zum Oktober 1930 hat Ossip Mandelstam keine Gedichte geschaffen. Die ersten Früchte nach der stummen Periode standen zunächst unter dem einfachen Titel: Neue Gedichte.
Die ersten Konflikte mit der Wirklichkeit des Stalinismus lagen bereits hinter ihm – doch auch seine erste Befreiung. Auf die 1928 einsetzende Verleumdungs- und Hetzkampagne gegen den unbotmäßigen Dichter hatte Mandelstam eine Antwort gefunden, hatte seinen zornigen Ausbruch gegen das stalinistische Literaturmarionettentheater und sein Bekenntnis zum eigenen Weg in der Vierten Prosa festgehalten.
Die zweite Befreiung ist einer Reise zu danken. Nach einer Einflußnahme Nikolaj Bucharins (des einzigen Parteivertreters, der dem Dichter nicht feindlich gesinnt war) erhielten Mandelstam und seine Frau die Erlaubnis, von April bis November 1930 eine Reise in den Kaukasus, nach Georgien und Armenien zu unternehmen. Die Reise war Aufschub und Atempause – ein Glücksfall, unvorhergesehen, doch immer schon erträumt, wie Mandelstam später bekannte.
Eriwan, Etschmiadsin, Sewan: wie immer die Namen und Orte lauten mögen, die Mandelstam im Sommer und Herbst 1930 aufsucht – die Reise nach Armenien ist nicht nur geographisch zu orten. Bereits in der Vierten Prosa hatte er die armenische Erde als „jüngere Schwester der judäischen“ bezeichnet, Armenien damit als biblisches Land erkennend und würdigend. In einem der im vorliegenden Band versammelten „Fragmente aus vernichteten Gedichten“ (I) sieht er in der schneebedeckten Spitze des Berges Ararat ein „biblisches Tischtuch“ (gäbe es ein schöneres Bild für sein Geladensein?), sich daran erinnernd, daß nach der Bibel Noah mit seiner Arche an diesem Berg gelandet war und daß ihm dort die Taube das Ölblatt brachte, das den Neubeginn verhieß. Die Armenier halten sich stolz für die ersten Menschen nach der Sintflut, und Mandelstam bestärkt sie darin, bezeichnet (im Gedicht XI des Armenien-Zyklus) ihre Erde als das „Lehrbuch der ersten Menschen“.
Auch sonst gibt Mandelstam zu verstehen, daß Armenien gelesen werden will. Die Töpferlehmebenen werden zur Bibliothek der Töpfer-Autoren, in der alles aufgehoben ist, was das geprüfte Land an geistigen Schätzen hervorgebracht hat. Gleich im darauffolgenden Gedicht (XII) ist der Lehm buchgewordene Erde, höchste Intensität, paradoxal begehrte und quälende („als wäre er – Musik und Wort“). Das Buch der Bücher, im Ur- und Endzustand, eingeschrieben in den Lehm?
Oder hat Mandelstam die Botschaften des Lehms als den Wunsch nach kultureller Kontinuität verstanden, als den Wunsch Armeniens, zu dauern? Armenien war für den selber bereits verfolgten Mandelstam nicht nur das Land einer leidvollen Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Dezimierung (die in den türkischen Massakern 1915 ihren betrüblichen Höhepunkt fand). Das erste christliche Land der Geschichte (um das Jahr 301 wurde unter Tiridates III. das Christentum zur Staatsreligion) galt ihm als ein Stück Europa, als der östliche Vorposten jüdisch-christlicher, abendländischer Kultur. Und die Reise in ein Land mit reichster kultureller Vergangenheit wird ihm zur Reise an den Ursprung der Kultur.
Doch keine Pilgerfahrt zu Stätten und Monumenten: nur Besinnung auf das Elementare, auf die einfachsten Dinge, die schon vor Jahrtausenden auf die Menschen jener Weltgegend gewirkt, sie angeregt und bei ihrer Tätigkeit begleitet haben müssen: Armeniens Luft, Wasser und Erde, Licht und Farbe. Im ersten der „Fragmente aus vernichteten Gedichten“ hält er sich beharrlich bei einer lokalen Quelle auf, bei ihrem ehrlichsten und wahrsten Wasser (selbst das schlichteste Element bekommt ethische Qualitäten). Das Gedicht X des Armenien-Zyklus ist ganz der klanglichen Faszination des fließenden Wassers gewidmet, seiner fast bedrohlich lockenden Musik und Magie.
Es ist, als ob die Reise an den Ursprung der Kultur auch eine Reise in die Ursprünglichkeit sinnlicher Wahrnehmung bedeuten sollte. Der Sommer 1930 wird für Mandelstam zur Zeit der geschärften Sinne und der gesteigerten Wahrnehmung. Als im Oktober, im georgischen Tiflis, die Erinnerung daran festgehalten werden will, ist die Gegenwart bereits durch den Verlust jener Intensität herabgesetzt, bedeutet den Verlust der Sinne schlechthin (im Gedicht III des Armenien-Zyklus):

Ach ich seh nichts mehr, das arme Ohr liegt nun taub…

Armenien heißt für Mandelstam auch: geschärftes Ohr, geschärftes Auge. Neben den Klängen – welche Farben im Armenien-Zyklus! Da wechselt der Ocker (zumeist noch synästhetisch gesteigert als heiserer Ocker) mit Mennigrot und muskatenen Bränden. Das suggestive persische Sonnengold mit der Weiße des Schnees auf dem Sewan. Der Azur mit dem Gelbbraun des Lehms. Der Himmel ist – blindgeborener Türkis.
Armenien ist die Vielfalt: biblisch, byzantinisch, orientalisch. Das Ursprüngliche und Unverbrauchte, Frische, Wildheit. Wilde Kinder (Gedicht I). Wilde Rose (V). Wildkatze (im Gedicht: „Dornige Sprache des Ararat-Tals“). In Mandelstams 1933 als letzte Veröffentlichung zu Lebzeiten in einer Zeitschrift erschienenem Prosawerk „Die Reise nach Armenien“ wird Armenien für Lebensfülle stehen, für die „herrliche Vertrautheit mit der Welt der realen Dinge“.
Armeniens Lektion des Konkreten trifft das Zentrum von Mandelstams Poesie. Auch in dieser Schaffensphase feiert er das Konkrete – um es mit einem reichen kulturellen Hintergrund zu verweben. Schon im ersten Gedicht des Armenien-Zyklus wird mit der Rose des Hafis die ganze persische Poesie aufgerufen. Im Gedicht V wird die wilde Rose im Strauch gepflückt, und zwar mit dem Tuch um die Hand, ist konkreteste Rose, körperlich-greifbar – und zugleich biblisch: Salomos Blütenblatt. Nur das Hohelied ist gut genug, diesen Moment zu sagen. Im Gedicht VIII schließlich („Kalt ist der Rose im Schnee“) ist das Lebens- und Schönheitssymbol der persischen wie der biblischen Poesie von bedrohlicher Kälte umgeben (die für Mandelstam stets auch politische Beiklänge hat, mit dem staatlichen Frost in Verbindung steht), doch kann dieses Leben hier nicht gebrochen werden. „Ich friere. Bin so froh…“
Die in Armenien neu erwachte Sehkraft ist wohl dem konkreten Leben zugewandt, verweilt jedoch nicht an Oberfläche und Gegenwart. Selbst noch in einem späteren Gedicht, in „Kanzone“ (26. Mai 1931), wo in der Erinnerung die Landschaft Armeniens mit der Landschaft Palästinas verschmilzt, zeigt sich nicht nur ein Kult reiner Sehkraft, sondern das Sehen in geschichtlichen Räumen wird gepriesen – Scharfblick ist auch Eindringen in kulturgeschichtliche Tiefen, in alles Vergangene (in dem Gedicht wiederum biblisch: König David, der Psalmist, und griechisch-antik: Zeus) und Andauernde.
Das gelobte Land Armenien hat Mandelstam sehen gelernt – nicht blind gemacht für die Gegenwart. Dies allerdings in einem ganz anderen Sinne, als es sich die Partei- und Literaturfunktionäre 1930 haben denken mögen. In Vernachlässigung des Auftrags verherrlicht Mandelstam nicht die sozialistischen Errungenschaften der Sowjetrepublik Armenien, nicht Traktoren und Kraftwerke, nicht die Kollektivierung und Maschinisierung, sondern sucht nach einem fortdauernden Armenien elementar-sinnlicher Präsenz. Daß die Gegenwart nicht nur von Maschinenherrlichkeit und Fortschrittstaumel bestimmt sein kann, scheint an mehreren Stellen durch. Bereits im Gedicht IV des Armenien-Zyklus wird eine Totenmaske abgenommen. Mandelstam weiß nur zu gut, daß der 1920 als Republik in die Sowjetunion eingegliederte nordöstliche Randteil des alten und geplagten Armenien – nach einer fruchtbaren Aufbauphase – unter Stalin erneut Unterdrückungen ausgesetzt war. Als Mandelstam für den Rest seiner Reise einen Beschatter bekommt, der als Funktionär das neue Regime repräsentiert, beginnt er das Aussehen des von Stalin propagierten „Neuen Menschen“ zu ahnen und setzt in einem Gedicht zu einem zornigen Porträt des Funktionärs an:

Raffer von Scheinchen, Beamter und Schinder,
Alter Gardist, der sich anpaßt und trabt.

Auch die sonst so gefeierte Wildkatze der armenischen Sprache wird im offiziellen Gebrauch zur Qual.

Sammeln wir weiter nun Särge um Särge?

Und doch ist der Sommer 1930 für Mandelstam Atempause gewesen, befreiender Luftstrom nach den ersten erlittenen Zermürbungsversuchen von seiten der Machthaber. Die Besinnung auf den Ursprung der Kultur läßt Mandelstam die Atemluft – die Luft zu lyrischem Schaffen – wiederfinden. Und wird nicht im ersten Gedicht des Zyklus Armenien selber, mit seinen archaischen Kirchen, als ein lebender, atmender Organismus gesehen?

Die Rose des Hafis bewegst du,
Umhegst deine Wildlings-Kinderschar
Und achteckschultrig atmend lebst du
In Stierhauptkirchen, unzähmbar.

Die Luftthematik (das freie Atmen) ist bei Mandelstam steter Verweis auf die Thematik des Dichtens (das freie Schaffen), das sich gegen die Atemnot aufzulehnen hat. Daß dies nicht nur Metaphern sind, sondern physisch-existentiell erfahrene Zustände, läßt der Anfang jener geheimnisreichen Achtzeiler ahnen, von denen noch zu sprechen sein wird:

Ich seh das Gewebe erscheinen,
Wie schön, kommt nach zwei oder drei
Erstickensmomenten der Luftstrom,
Er richtet mich auf, biegt mich frei…

Das lyrische Spätwerk Mandelstams (die Gedichte der dreißiger Jahre), dessen erster Flügel in diesem Band vorliegt, ist aus dem Widerstreit zwischen bedrängender Atemnot und befreiendem Luftstrom zu begreifen. So finden sich in diesem Buch Momente zerrender Trauer neben Momenten des Aufatmens und der Befreiung, als sei der Wechselrhythmus des menschlichen Atmens in den Gedichtband eingeschrieben.
Diese Gedichte sind mehr als nur die simple Illustration einer besonders geschundenen Existenz. Es gehört mit zur Bedeutung des Mandelstamschen Werkes, daß es aus dem Wechsel von Bedrängung und Befreiung seine Spannung bezieht und dadurch die reiche Komplexität eines Lebens besagt. Der Mund des Dichters, die Lippen des Sprechenden werden zum Ort der Universalität (etwa in den „Fragmenten aus vernichteten Gedichten“, IV):

Ich spreche für alle noch mit solcher Kraft,
Daß dieser Gaumen Raum und Himmel werde
Und meine Lippen springen – wie ein rosa Lehm.

II
Die Gedichte der Rückkehr nach Petersburg-Leningrad sind von einer betroffen machenden Direktheit. Die Stadt seiner Kindheit („mir zum Weinen vertraut, / Wie ein kindliches Fieber, wie ein Äderchen, Haut“) ist nun die Stadt seiner Toten. Da mag die Erinnerung an seinen Freund und Dichterkollegen Nikolaj Gumiljow mitklingen, der schon zehn Jahre zuvor, 1921, wegen „konterrevolutionärer Tätigkeit“ erschossen worden war. Mandelstam spricht mit den Toten, mit den bereits Umgekommenen, erwartet sie als seine Gäste, als könnten sie mehr über diese Stadt berichten als alle hochtrabenden Losungen der Gegenwart. Die armenischen Farben Mennigrot und Ocker sind hier verdrängt von den schon im autobiographischen „Rauschen der Zeit“ (1925) als bedrohlich charakterisierten Farben Schwarz und Gelb, verkörpert im Teer und im Eigelb. Und plötzlich der Aufschrei:

Nein, ich will noch nicht sterben!

Die Stadt der „Brände und Fröste“ ist nur schwer mit dem Ort der Kindheit in Einklang zu bringen, und der Abschied von den Legenden und Gestalten kindlicher Lektüre wird zum Abschied schlechthin. „Lady Godiva, leb wohl! Ich erinnere mich nicht“…
Das kürzeste Gedicht dieses Bandes umfaßt nur drei Zeilen und ist Mandelstams allerletztes Petersburger Gedicht, ein schlichtes Gebet:

Hilf mir, Herr, nur durch diese Nacht.

Und dann – „Petersburg: ein Sarg“. Die offizielle Schriftstellerkaste widersetzt sich Mandelstams Niederlassung in seiner Stadt, und das Nomadenleben beginnt erneut.
Wie wenig Worte braucht Mandelstam zum Ausdruck dieses Umgetriebenseins! Ein kurzes und in seiner scheinbaren Einfachheit beinahe untypisch anmutendes Gedicht: „In der Küche setzen wir uns hin“ (Januar 1931). Auf alle Metaphern verzichtend, führt Mandelstam dem Leser hier eine Existenz zwischen Küchenbiwak und erneutem Aufbruch vor Augen. Bemerkenswert sein Beharren auf Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs und die durch den Kerosingeruch sinnliche Präsenz des Küchenbiwaks, der kurzfristigen Wärme. Bei aller Schlichtheit ein beklemmendes Gedicht – gerade deshalb, weil die Gründe für Aufbruch und Gesuchtwerden („Fort zum Bahnhof das Gespann, / Wo uns keiner finden kann“…) ungesagt bleiben. Unbehaustheit regiert das Gedicht, doch der Dichter ist nicht allein: das Wir eines Paares ist da zu spüren, die Gegenwart Nadeschdas, seiner Frau, die mit ihm die Nachtmahre der dreißiger Jahre unter Stalin geteilt und für die Bewahrung der Werke Mandelstams Unschätzbares geleistet hat. Ein Ich erscheint hier nicht. Subjekt des Gedichtes ist jenes Wir, das schon im allerersten Text des vorliegenden Bandes aufscheint:

Die Angst ist bei uns, mit im Bund…

Im selben Monat Januar verlassen die Mandelstams Leningrad und gehen auf der Suche nach Unterkunft und Arbeit schließlich nach Moskau. Das erste der „Fragmente aus vernichteten Gedichten“ zeigt den unguten Geist des Umzugs:

… war ich zurückgekehrt, nein – lies: gewaltsam
Ins buddhahafte Moskau überführt.

Die Stadt mit dem feindseligen Beiwort wird bis zur ersten Verhaftung am 13. Mai 1934 Mandelstams Ort bleiben. Als später, bereits in der Woronescher Verbannung, die bei der Verhaftung beschlagnahmten Gedichte aus dem Gedächtnis neu notiert werden, gelangen sie in zwei einfache Schulhefte, die nach dem Entstehungsort der Mehrzahl der Gedichte die Moskauer Hefte (1930–1934) genannt werden (die in Analogie dazu nach dem Verbannungsort als Woronescher Hefte bezeichneten Gedichtgefäße umschließen die Jahre 1935–1937 und stellen Mandelstams letztes Werk dar).
Gleich zu Beginn der Moskauer Periode schafft Mandelstam eines seiner wichtigsten – und folgenreichsten – Gedichte: „Für den pochenden Mut einer künftigen Zeit“. Das Gedicht auf das Wolfshund-Jahrhundert wird – neben dem Epigramm gegen Stalin – einer der mutmaßlichen Gründe für die erste Verhaftung sein. Weder vom ersten Fünfjahresplan noch von Stalins „Neuem Menschen“ ist hier die Rede, sondern von einem Zeitalter der Gewalt, von Feigheit, Schlamm und blutigen Knochen im Rad, und – von einer Verschickung nach Sibirien (der Dichter als Mütze im Pelz Sibiriens!). Das Gedicht gipfelt – nach zweimal wiederholter Absage ans wölfische Blut des Jahrhunderts – in einem provokatorischen, stolzen Bekenntnis zur menschlichen Würde und wider die wölfische Gesinnung aller Machthaber:

Wer mir gleichkommt, nur der bringt mich um…

Die wölfische Gewalt mag wohl zunächst das Sagen haben, das Leben im Wort jedoch, die Zukunft, wird dem Dichter gehören.
Die erste Zeit in Moskau ist von der großen Stumpfheit der neuen Ära geprägt, vor der es kein Versteck und kein Entrinnen gibt. In einem Gedicht mit russischem Märchenhintergrund, mit der Hexe Baba-Jaga, wird ein Besuch bei der Lüge gezeigt, der allmächtigen Lüge (die durch eine Anspielung auch Stalin heißen kann), die alles durchdringt und deren sich auch der Dichter – noch – nicht erwehren kann. Und beim ersten Auftauchen der Stadt mit dem käuflichen, an die Macht verdingten Wesen bekommt Moskau seinen Namen: die Hure Moskau (in: „Nein ich find kein Versteck…“).
Die da und dort auftauchenden Töne eines – verzweifelt-beharrlichen – Humors („Dir nur sag ich hier inständig; Mein Alexander Gerzowitsch; Ich trink auf soldatische Astern, auf alles, für was man mich rügt“) zeigen ein bitteres Lächeln und stehen unter dem Zeichen eines für Mandelstam ungewohnten – Alles eins! Bedrängende Visionen eines Sträflingsdaseins (im Gedicht: „Wimpernhaar, stechend“) und schließlich einer Hinrichtung durch das Beil („Nun bewahr es, auf immer, mein Wort“) werfen ein wenig heiteres Licht auf die ersten Monate im neuen Ort.
Doch dann geschieht das Wunder, festgehalten im Gedicht vom 7. Juni 1931:

Genug gemurrt jetzt! In den Tisch mit den Papieren!
Ein toller Dämon hat mich heut gepackt…

Und kurz zuvor schon, in „Mitternacht in Moskau“:

Schluß! Kein Gebettel, kein Lamento! Still jetzt!

Gedichte des Aufbruchs – aber auch der Aufsässigkeit. Mandelstam wird zum Moskauer Spaziergänger und verspricht, der neuen Epoche freier zu begegnen. Hatte er 1924 in einem Gedicht noch jede Zeitgenossenschaft abgeleugnet und verweigert („War niemands Zeitgenosse, wars in keiner Weise“), so lautet nun die Antwort darauf lakonisch und schroff:

Zeit, daß ihr wißt: auch ich bin Zeitgenosse.

Und dieser neue Zeitgenosse nimmt sich vor, das in Armenien zurückgewonnene Sehvermögen zu nutzen, die Gegenwart in sich aufzunehmen, sein Auge auch auf Moskau zu richten. Hier ein Schlüssel zum Verständnis dieses gierigen, hungrigen Auges (aus „Fragmente“ III):

Mach keinen Unterschied und knips nur, liebe Kodak,
Solang das Auge Linse, Mundschenk, Vogel ist,
Und nicht ein Stückchen Glas. Mehr Hell-und-Dunkel,
Und mehr noch, mehr!
– Die Netzhaut: sie ist hungrig…

Die Gedichte des Spaziergängers (etwa „Mitternacht in Moskau“; „Und heute könnt man Abziehbilder lösen“; „Mir fehlt noch etliches zum Patriarchen“) zeigen die Offenheit für diese Gegenwart, die in unerwarteten, bizarren Bildern auf die Netzhaut tritt. Noch einmal wird hier Mandelstams Sinn für das Konkrete sichtbar, die Aufmerksamkeit für die unscheinbarsten Gegenstände:

Und denkst du nach, was an die Welt dich bindet,
Du glaubst dir selber nicht: nur kleiner Kram.

Inmitten dieser Gänge durch Moskau gibt es jedoch auch die Atemlosigkeit und das Bewußtsein des Älterwerdens („Mit jedem Tag wird mir das Atmen schwerer“), und es scheint da und dort durch, daß dieses erwachte Auge nicht um jeden Preis wird versöhnlich sein wollen („Mitternacht in Moskau“):

Mit der Epoche sprech ich, doch vielleicht
Ist ihre Seele wie ein Hanfstrick nur, vielleicht
Hat sie sich schändlich an uns angepaßt…

Schon bald nach diesen Spaziergängen des Städters versiegt der Dialog mit der Epoche von neuem. Als er im Frühjahr 1933 wiederauftaucht, ist er gewandelt, kaum mehr als Dialog zu erkennen, und wird diesmal unter dem Zeichen des Zornes stehen. Was war vorgefallen?
In jenem Frühjahr besucht Mandelstam die seit je geliebte Krim und trifft im Süden Rußlands auf die Folgen der im Rahmen von Stalins erstem Fünfjahresplan vorangetriebenen Zwangskollektivierung der Dörfer. Die damit verbundene „Liquidierung der Kulakenklasse“ hatte bereits Millionen von Opfern gefordert. Erschießungen und Deportationen prägten 1930–1932 das Bild nicht nur Südrußlands. Das durch Aushungerung zum Kolchosebeitritt gezwängte Bauerntum bot nach dem Hungerwinter 1932/33 ein erschreckendes Bild, das Mandelstam nicht wieder vergessen kann:

Nicht die Natur kennt mehr ihr eigenes Gesicht,
Wie schrecklich schatten gleich: Kuban, die Ukraine…
Die Hunger-Bauern stehn mit Filzschuhn…

(in: „Ein kaltes Frühjahr. Krimstadt – nur ein Hungergeist“).

Ich kann nicht schweigen, soll Mandelstam zu seiner Frau Nadeschda gesagt haben. Und dann folgen die verhängnisvollen Gedichte vom November 1933. Stalin wird für Mandelstam immer der Verantwortliche für die Morde bleiben. Der Diktator, den er in der Vierten Prosa (1930) als pockennarbigen Teufel bezeichnet hat, den er später, 1937, in den Woronescher Heften, einen Judas nennen wird und in dem im vorliegenden Band zu findenden Gedicht „Der Kutscher“ (Juni 1931) als den Pesthauch-Präsidenten tituliert, wird mit einem Epigramm bedacht. Als die Entlarvung des Seelenverderbers und Bauernabschlächters vollzogen ist, bekennt Mandelstam in einem Gespräch mit Boris Pasternak in selbstmörderischer Offenheit, er hasse nichts so sehr wie den Faschismus, in welcher Form er auch auftreten möge (vgl. zu diesem Gedicht die NOTIZEN).
Kurz zuvor hatten die Mandelstams – nach Jahren der Unrast und des Nomadenlebens – in Moskau eine Wohnung zugewiesen bekommen. Doch Mandelstam mißtraut der neuen „Bleibe“, weiß nur zu gut, daß man dafür Anpassung, literarische Handlangerdienste, Führerlob verlangen würde. Und selten noch war sein Zorn so heftig wie in der rückhaltlosen Beschimpfung dieser Behausung („Die Wohnung: papierene Stille“):

Nur irgendein biederer Wischer,
Ein Hechler von Kolchosen-Flachs,
Ein Tinten- und Blutspurvermischer
Wär würdig des mißratnen Dachs.

Wer die Moskauer Hefte liest, dieses lyrische und zornige Tagebuch eines aufsässigen Zeitgenossen und dichterischen Gesprächspartners aller Epochen, wird sich mit Interesse an Mandelstams Konzept eines literarischen Zorns erinnern, das er im letzten Kapitel des Prosawerkes „Das Rauschen der Zeit“ (1925) entworfen und im polemischen Atem der Vierten Prosa (1929/1930) bereits verwirklicht hatte.

Literarischer Zorn! Wenn du nicht wärest, womit sollte ich dann das Salz der Erde essen? Du bist die Würze zum ungesäuerten Brot der Einsicht, du bist das frohe Bewußtsein des Unrechts, du bist das Verschwörersalz, das mit boshafter Verneigung von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weitergereicht wird, im geschliffenen Salzfaß, auf einem Handtuch!

III
Moskau hat für Mandelstam kaum je Heimat bedeuten können. Dafür macht er sich auch in den Moskauer Heften auf, noch einmal das zu sagen, was seine wirkliche Heimat war: die europäische Kultur. Im ironischen Trinklied vom 11. April 1931 stößt er auf alles an, was sie mir vorgeworfen haben, und zögert noch, welchen Wein er dazu wählen soll:

Asti Spumante oder Châteauneuf-du-Pape?

Kultur hat er in einem Essay über die georgische Kunst mit dem Reifen des Weines verglichen (auch das Traubenfleisch der Gedichte im Batjuschkow-Text dürfte in diesen Zusammenhang gehören), und die charakteristischen Weinsorten in jenem ironischen Lied stehen ganz einfach für die Kulturen Italiens und Frankreichs – Westeuropas insgesamt.
Raffael, Tizian und Tintoretto, Rembrandt. Die französischen Impressionisten. Mozart und Schubert. Goethe. Die italienischen Dichter des Mittelalters und der Renaissance: Dante, Petrarca, Ariosto und Tasso. Und dann auch russische Gäste, Freunde und Vorläufer in den Moskauer Heften: Derschawin, Batjuschkow, Tjutschew.
Freunde und Vertraute, ja. Keine Verehrung starrer Monumente, keine Feier kühlen Bildungsgutes. Mandelstam bleibt auch hier seiner zu Beginn der zwanziger Jahre entworfenen Idee einer kulturellen Häuslichkeit treu, einer kulturellen Intimität, einer Vertrautheit mit dem Angesprochenen. Keine ehrerbietige Distanz, sondern familiäre Nähe, persönliche Beziehung zur Kultur:

eine gallige und liebevolle Vertrautheit, mit edlem Neid, Eifersucht, scherzhafter Respektlosigkeit und vollblütiger Ungerechtigkeit – wie es in einer Familie gang und gäbe ist
(aus: „Das Rauschen der Zeit“).

Die Anrufe und Anreden sind schalkhaft bis respektlos:

Komm Derschawin, setz dich her.

Der klassische russische Odendichter Derschawin ist 1743 geboren und 1816 gestorben.
Distanz wird heiter abgeschafft, die zeitlichen Gräben sind überwunden. So heißt es im Gedicht an den zärtlichen Klassiker Konstantin Batjuschkow (1781–1855), in dessen Dichtung Petrarca, die italienische Renaissance, Torquato Tasso weiterleben:

Nichts gibt’s, so glaube ich, was uns je trennte…

Mit den bei den letzten Versen desselben Gedichtes unterstreicht Mandelstam imperativisch die Notwendigkeit von Batjuschkows Tun, die Notwendigkeit kultureller Kontinuität (in der sich erst die Sinnfülle der Kultur erweisen kann) als einer Reise des Universellen durch verschiedene Gefäße:

Gieße wie Blutproben – ewige Träume
Aus einem Glas in das nächste hinein…

Die Gedichte an Ariosto (1474–1533) zeigen Mandelstams „Sehnsucht nach Weltkultur“ (wie er seine Dichtung, den Akmeismus im selben Jahr umreißt), den Traum von einem brüderlichen, einigen Europa:

Mein lieber Ariost, noch eine Frist, mag sein –
Und wir verschmelzen hin zu brüderlichen Fluten
Das Deine, tiefes Blau, und schwarz mein Meer, das gute.
Auch wir: wir waren dort. Wir tranken Honigwein.

Doch da ist keine europäische Idylle gemalt, und Mandelstam ist sich der Bedrohungen sehr wohl bewußt (um so eindringlicher sein Aufruf!):

Europa ist nun kalt. Italien – Dunkelheit.
Die Macht ist widerlich wie Baderhände

(„Ariosto“ I und II).

Auch im eigenen Land hatte Mandelstam, im Gespräch über das Epigramm gegen Stalin, den Faschismus aufgedeckt. Dem Schwarzhemd-Italien Mussolinis vermag er keinerlei Geschmack abzugewinnen. Auch um Deutschland ist er besorgt, in einem seiner visionärsten Gedichte: „An die deutsche Sprache“. Im August 1932, Monate vor der Machtübernahme Hitlers, sieht er neue Pest und siebenjährige Kriege kommen. Und doch ist in derselben letzten Strophe des Gedichtes Mandelstams Vertrauen in die deutsche Sprache und Kultur für immer festgehalten:

Du aber lebst, und ich – der in dir ruht.

Zuvor ist von einem kühnen Weggang aus der russischen Sprache die Rede, von einer geistigen Reise ins Deutschland des 18. Jahrhunderts und – in die Universalität der Poesie:

Die fremde Sprache wird mir einst zur Hülle,
Und lang bevor ich’s wagte: das Geborensein,
Da war ich Letter, war ich Traubenzeilen-Fülle,
Ich war das Buch, das euch im Schlaf erscheint.

Dichtung ist hier mythische Vor-Existenz, Ur-Buch, Ur-Traum des Menschen, reine Universalität. Die zitierte Strophe weist auf die poetologischen Achtzeiler voraus, wo es im Gedicht V heißen wird, das Flüstern sei schon vor den Lippen entstanden: Dichtung war schon vor dem Dichter da, ist ursprüngliche und fortdauernde Kraft – in seiner Verfügbarkeit für diese Dichtung hat sich der Dichter zu erweisen.
Doch diese Reise in fremde Räume, Sprachen und Kulturen ist kein leichtfertiges Unterfangen. Es handelt sich um bedrohtes Geschehen, das von Vorahnungen einer zwangsläufigen Selbstaufopferung begleitet ist („Wie eine Motte in die Flamme schwankt“, heißt es in der ersten Strophe des Gedichtes an die deutsche Sprache).
Ein Jahr nach diesem Text, im Gedicht „Versuch sie nicht, die fremden Sprachen“ (Mai 1933), sind die Konflikte bereits verschärft: aus dem inneren Widerstreit wird eine Verurteilung von außen, aus der Vorahnung einer Selbstverbrennung die Vorahnung einer Hinrichtung (durch eine Anspielung auf die Kreuzigungsszene: der Essigschwamm am Schluß des Gedichtes!). Die Vision einer vernichtenden Strafe für Hochmut und Verrat ist im Zusammenhang mit der Gleichschaltung der sowjetischen Literatur zu verstehen (Parteierlaß vom 23. April 1932), mit der Vereinnahmung der Literatur durch den Auftrag im Namen des Sozialismus und der Nation. Für den Europäer Mandelstam, für den nicht anerkannten Bruder, den Abtrünnigen in der Familie des Volkes (wie er sich selber im Gedicht „Nun bewahr es, auf immer, mein Wort“ charakterisiert) scheint es keine Rettung geben zu können.
Des Dichters Unverbesserlichkeit wird jedoch in jenem Gedicht „Versuch sie nicht“ ebenso beharrlich prophezeit wie die unausweichliche Hinrichtung. Die Hingabe an die Klänge der fremden Sprache, an die fremde Kultur und Weltkultur war zu stark in das Fundament seines Werkes eingelassen, als daß sie leicht hätte beseitigt werden können. Die Kluft zwischen seiner Dichtung und der „Vaterländischen Literatur“ war längst unüberbrückbar geworden. Doch selbst in diesem Gedicht voller Zweifel und Schuldgefühle wird der Ort der Lautentstehung, des Sprechens gepriesen – und damit die Dichtung als fortdauernde, den Dichter überschreitende Kraft: der Grundgegensatz des Seins lautet bei Mandelstam nicht „sterblicher Leib / unsterbliche Seele“, sondern Leib und – unsterblicher denkender Mund.
Es ist, als hätte sich Mandelstam nach dem Epigramm gegen Stalin und seinen anderen politischen Gedichten beeilen wollen, die Gründe der Poesie sich in Erinnerung zu rufen und in den Achtzeilern (November 1933–Januar 1934) ein poetisches Testament zu schaffen, das die Zusammenhänge ahnen läßt von Dichten und Atmen, von Lebensstoff und lallender Dichtungssprache. Da ist die klingende Vor-Existenz des Gedichtes ebenso angesprochen wie die Berührung mit dem Tod. Das Auge als ein Organ der Erkenntnis und die Suche nach neuen, ungekannten Erkenntniswegen. Die Poesie in ihrer Verwandtschaft mit den Erdschichten. Der Erkenntnisvorsprung des Kindes in einem Universum, das selber kindhafte Züge trägt. Ein Wort für poetische Erkenntnis und wider erstarrtes Kausalitätsdenken. Das Zurücklassen des Raumes und die Kenntnisnahme eines Lehrbuchs der Unendlichkeit. Doch wozu die Schilderung dessen, was nicht resümiert sein will?
Die Zeit der Testamente war gekommen. In den Moskauer Heften nimmt Mandelstam visionär seinen weiteren Schicksalsweg voraus, lehnt sich einmal vehement gegen den Tod auf und schaut ihm an anderen Stellen unverwandt ins Auge. Denn:

Die kommenden Hinrichtungen hab ich geahnt.

Schon zu Beginn der dreißiger Jahre zeigen die Gedichte Mandelstams Vorahnungen von Verfolgung, Hinrichtung, Tod. Im Gedicht „Nun bewahr es, auf immer, mein Wort“ (3. Mai 1931) geht er dem Tod ohne Widerstand entgegen, akzeptiert seine Rolle, sucht gleichsam seine Hinrichtung. Doch den Todesahnungen stehen Manifeste der Aufsässigkeit gegenüber, Ausbrüche reiner Vitalität (Ich wette, daß ich noch nicht tot bin!), und ein ungebrochenes Bekenntnis zum Leben-Wollen durchzieht diese Zeit als ein eindringliches Leitmotiv. Erstickend, und doch will ich leben – bis auf den Tod.
Doch dann, im Februar 1934 (das Epigramm gegen Stalin war geschrieben), soll Mandelstam zu Anna Achmatowa gesagt haben, er sei zum Sterben bereit. Und noch zuvor, zu seiner Frau, als er im Januar auf den letzten großen Symbolisten und Vertreter des silbernen Zeitalters der russischen Dichtung, Andrej Belyj (1880–1934), ein mehrteiliges Requiem geschaffen hatte: es sei auch sein eigenes Requiem.
Nach den Petrarca-Sonetten und den Gedichten auf Andrej Belyjs Tod folgt nur noch ein einziges Gedicht, das letzte Gedicht vor der ersten Verhaftung am 13. Mai 1934 (nur wenige Wochen fehlen noch), das letzte Gedicht der Moskauer Periode und des vorliegenden Bandes: „Meisterin der schuldbewußten Blicke“.
Eines der wunderlichsten, bizarrsten Gedichte Mandelstams überhaupt – und eines der schönsten. Ein Todesgedicht? Ein Liebesgedicht? Ein Gedicht auf den Tod durch Ertrinken? Und wer endet im Wasser, wer ertrinkt? Der Dichter und seine Geliebte? Die Sprache, die Poesie? „Ertrunknes Mädchen: Sprache, spricht nicht mehr“. Doch gleichzeitig Details konkreter weiblicher Schönheit – Blicke, Schultern, ein warmer Körper, Glanz der Augen, die Brauen, die Lippen.
Und wo geschieht dieses Ertrinken: in einem Aquarium mit Goldfischen? In einem Teich? In einem Bett? Das Zusammengehen von Eros und Tod ist kaum poetischer zu sagen. Das blinde Tuch, in dem der Dichter mit der Geliebten eingenäht sein will, ist es ein Leintuch oder ein Leichentuch? Ein einfacher Sack, in dem die zu Tode Verurteilten dem Wasser übergeben werden?
Da die Geliebte auch noch Maria heißt, entstehen plötzlich religiöse Beiklänge. Und der Traum vom Einschlafen, vom gemeinsamen Ertrinken und Tod, vom Ende des warmen Körpers endet mit drei Imperativen:

Geh doch. Geh schon! Bleib…

Es ist ein Gedicht an der Schwelle zum Ende, zum Tod (das Wort findet sich in der letzten Strophe). Doch überschritten wird sie nicht. Es ist, als ob Mandelstam bei allen Todesahnungen ahne, daß sein Werk noch nicht abgeschlossen sei, daß ihm der letzte Flügel fehle, daß er noch bleiben müsse, daß die Gedichte der Moskauer Hefte nicht sein letztes Wort sein würden, sein vorletztes aber gewiß. Geh doch. Geh schon! Bleib…

Ralph Dutli, Nachwort

 

Die hier

– im russischen Original und in der deutschen Übersetzung – versammelten Gedichte Ossip Mandelstams entstanden nach einem fünfjährigen Schweigen des Dichters und liegen zeitlich zwischen seiner Reise in den Kaukasus und nach Armenien (dem Neubeginn, den sie bedeutete) und seiner ersten Verhaftung am 13. Mai 1934. Gründe für diese Verhaftung waren ein Gedicht auf das „Wolfshund-Jahrhundert“ sowie ein Epigramm gegen Stalin, in dem der Diktator als „Seelenverderber und Bauernabschlächter“ bezeichnet wird.
Seit 1928 war Mandelstam Verfolgungen ausgesetzt. In den Moskauer Heften findet er zu seiner Sprache zurück, nimmt das Gespräch mit seiner Epoche auf („Zeit, daß ihr wißt: auch ich bin Zeitgenosse“), registriert auf nächtlichen Spaziergängen durch Moskau („die Hure Moskau“) hellwach die Veränderungen einer vom Totalitarismus Stalins bereits entstellten Zeit, entlarvt und klagt an – und bleibt dennoch immer Lyriker.
Moskau hat für Mandelstam kaum je Heimat bedeuten können. Dafür macht er sich auch in den Moskauer Heften auf, noch einmal das zu sagen, was seine wirkliche Heimat war: die europäische Kultur. 
Von den italienischen Dichtern des Mittelalters und der Renaissance (Dante, Petrarca, Ariosto und Tasso) über die Maler, Raffael, Tizian und Tintoretto, zu Mozart und Schubert und den russischen Gästen, Freunden und Vorläufern in den Moskauer Heften: Derschawin, Batjuschkow, Tjutschew. Freunde und Vertraute, ja. Keine Verehrung starrer Monumente, keine Feier kühlen Bildungsgutes. Distanz wird heiter abgeschafft, die zeitlichen Gräben sind überwunden.
Doch da wird keine europäische Idylle gemalt, Mandelstam ist sich der Bedrohung – mag sie den Namen Hitler, Stalin, Mussolini tragen – wohl bewußt:

Europa ist nun kalt – Italien – Dunkelheit.
Die Macht ist widerlich wie Baderhände.

Die Moskauer Hefte sind ein lyrisches und zorniges Tagebuch voller kühner Bildern und einer ganz eigenen Poesie, in der Mandelstam visionär auch sein weiteres Schicksal voraussieht, sich einmal vehement gegen den Tod auflehnt und an anderen Stellen bereits sein eigenes Requiem anstimmt. Rund die Hälfte dieser Gedichte sind in der Sowjetunion noch immer unveröffentlicht.

Unsere zweisprachige Gedichtsammlung wird in Reihenfolge und Aufbau zum ersten Mal überhaupt nach den Aufzeichnungen Nadschda Mandelstams, der Witwe des Dichters (1899–1980), gestaltet und entsproicht somit wohl am nächsten den Vorstellungen Mandelstams von seinen Moskauer Heften. Kommentare und ein ausführliches Nachwort von Ralph Dutli beschließen dieses außergewöhnliche Gedichtbuch.

Ammann Verlag, Klappentext, 1986

 

Mitternacht in Moskau

– Lyrik des Russen Ossip Mandelstam aus den Jahren 1930 bis 1934. –

Mit der Übersetzung der Gedichte Ossip Mandelstams aus den Jahren 1930 bis 1934 schließt Ralph Dutli eine Lücke. Gedichte der frühen und mittleren Phase, namentlich aus Der Stein und Tristia, waren deutschen Lyrikfreunden seit langem durch Paul Celan und andere nahegebracht worden. Mandelstams Woronescher Hefte (1935 bis 1937), gesellschaftlicher Ächtung und schwierigsten Lebensumständen abgetrotzt, hat Dutli bereits 1984 vorgelegt. So rundet sich, da unterdessen auch das Prosawerk Mandelstams erschlossen wird, hierzulande das Bild des bedeutenden russischen Dichters allmählich ab.
Fünf Jahre, von 1925 bis 1930, hatte Ossip Mandelstam keine Gedichte geschrieben. Erst mit der Reise nach Georgien und Armenien, die ihm dank der Fürsprache Nikolaj Bucharins ermöglicht worden war, setzte die lyrische Produktion wieder ein. Der Armenienzyklus, der den vorliegenden Band eröffnet, verrät eine an südlicher Licht- und Farbenfülle geschärfte Sicht der Erscheinungen, die nicht nur als sie selbst, sondern auch als kulturhistorische Chiffren erkannt und gedeutet werden.
Die Rückkehr nach Leningrad, seiner ureigenen Stadt, wurde Mandelstam auf Intervention ihm feindlich gesonnener Dichterkollegen verwehrt. Erschütternd die Verse, die im Moment der erzwungenen Abreise entstanden:

Hilf mir, Herr, nur durch diese Nacht.
Meine Angst – ums Leben, wie um Deinen Knecht.
Petersburg: ein Sarg. In Särgen lebt man schlecht.

Nicht wenige der nach der Übersiedlung in Moskau entstandenen Gedichte, darunter „Mitternacht in Moskau“, „Der Kutscher“, „Fragmente aus vernichteten Gedichten“ und das Pasquillgedicht auf Stalin, zielen, wenn freilich auch in Mandelstamscher Verschlüsselung, ab auf die finstere Kehrseite, auf Lüge, Terror und Despotie der Stalinzeit.
Mandelstam ist in diesen Versen, die zum Teil bis heute in der Sowjetunion nicht veröffentlicht wurden, eminent politisch: „Zeit, daß ihr wißt: auch in bin Zeitgenosse“, ruft er denen zu, die mit ihm das „Wolfshundjahrhundert“ beleben. Als Ossip Mandelstam im April 1934 auf dem Twerskoj-Boulevard dem vorsichtigen Boris Pasternak begegnete und ihm sein sarkastisches Stalin-Gedicht deklamierte, sagte dieser:

Ich habe nichts gehört, und Sie haben nichts rezitiert. Sie wissen, es gehen jetzt seltsame, schreckliche Dinge vor, Menschen verschwinden; ich fürchte, die Wände haben Ohren, vielleicht können auch die Pflastersteine hören und reden.

Wenige Tage darauf wurde Ossip Mandelstam verhaftet und für drei Jahre verbannt.
Zu der trotzigen politischen Geste, die aus manchen der Moskauer Gedichte spricht, tritt Mandelstams Suche nach der Heimat. Und die findet er nicht im „budhahaften Moskau“, sondern in jenem Netz der europäischen Kultur, in das er sich von Anfang an eingesponnen hat. Mit den russischen Dichtern, Tjutschew, Baratynskij, Lermontow, steht er auf du und du, scherzt mit ihnen:

Komm, Derschawin, setz dich her…

Während Italien in faschistische Dunkelheit gehüllt ist, wendet er sich Ariosto, dem Sänger des „Rasenden Roland“, und seiner Zikadensprache zu. In diesen Rahmen gehören vier überaus eigenwillige, meisterhafte Übertragungen Petrarkischer Sonette. Die Freundschaft mit Andreij Belyj in dessen letzten Lebenstagen (Belyj starb im Januar 1934) hat sich in einigen schönen Gedichten niedergeschlagen: In widriger Zeit fanden die einstigen feindlichen Brüder, der Symbolist und der Akmeist, zusammen.
Die kulturelle Ubiquität erzeugt in dem Dichter einen Sog, der ihn aus der russischen Sprache fortträgt zu fremden Sprachen und Erfahrungen hin. Davon kündet das Gedicht „An die deutsche Sprache“. „So lernen wir denn Ernst und Ehre leichter / Im Westen dort, in fremder Kumpanei“, heißt es hier – zur Unzeit. (Die erste Version dieses Gedichts, ein bemerkenswertes Sonett auf den Dichter Ewald Christi an von Kleist, fehlt unerklärterweise in Dutlis Band.) Was Mandelstam sonst alles mit der deutschen Kultur verbindet, bedarf noch der genauen Erhellung.
Die sperrigen Lautgeflechte dieser Lyrik ins Deutsche zu übertragen scheint ein schier unmögliches Unterfangen. Ralph Dutli bemüht sich redlich, möglichst viel von den poetischen Amalgamen Ossip Mandelstams in die Übertragungen zu retten. Den Platz auf der Bestenliste des Südwestfunks im Dezember des vergangenen Jahres hat er gewiß verdient, zumal er seinen Übertragungen einen soliden Kommentar und ein lesenswertes Nachwort beigegeben hat.

Reinhard Lauer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.1.9187

 

Notizen über Mandelstam

Ich glaube, das erste Gedicht von Mandelstam, das ich gelesen habe, war jenes Gedicht von 1921, das mit dem Vers beginnt: „Nachts, vorm Haus, da wusch ich mich“.

Nachts, vorm Haus, da wusch ich mich –
Grobgestirnter Himmel strahlt.
Auf der Axt, wie Salz, steht Sternenlicht.
Hier die Tonne: randvoll, kalt.

Riegel, vor das Tor gelegt.
Streng die wahre Erde, rauh,
rein die Leinwand, frisch gewebt,
und den Faden sieht kein Aug.

Sternensalz, im Faß zergehend.
Wasser, kalt, muß schwärzer werden.
Reiner nun der Tod und salziger das Elend,
wahrer, furchtbarer die Erde.
Übertragung Paul Celan

Augenblicklich fühlte ich in meinem geistigen Raum, der damals von der Poesie fast verlassen war, wie die Erscheinung eines Meteors (hart und strahlend), Beweis dafür, daß ich nicht unrecht hatte, ihr noch immer einen Wert beizumessen, und Modell, dem ich im übrigen kaum je würde nachtun können. Ich fand in diesen wenigen Worten zunächst den dichterischen Niederschlag realer, der äußeren Welt zugehöriger Dinge, ein Faß, eine Tür mit ihrem Riegel, Salz, eine Axt, Leinwand (daß sie sich nicht unbedingt auf derselben Ebene befanden, spielte keine Rolle). Und dann diese anderen sichtbaren, weiträumigeren, doch durch den lyrischen Gebrauch fast bis zur Unaussprechlichkeit abgenutzten Dinge: Wasser, Nacht, Himmel, Sterne, Erde. Und diese weiträumigen Dinge bekamen nun eine neue Kraft und Wahrheit, einmal deshalb, weil sie mit den ersteren, bescheideneren, häuslichen und konkreten verknüpft waren, und dann auch, weil sie „mit Gewissen“ empfunden und ausgesprochen waren, in ihrer ganzen Rauhheit: das schwarze und eisige Wasser, die groben Sterne, die harte Erde.
Was das Gedicht vorführt – ein Mensch, der sich draußen wäscht, in der Kälte der Nacht – kann als irgendein Ereignis gelten, das irgendeine Hypothese zu erhellen vermöchte (durch die Umstände diktierte oder beliebig gewählte Bedingungen, auch wenn diese Szene für uns, die wir wissen, was noch folgen sollte und welche Schatten bereits auf Mandelstams Leben lagen, eine prophetische und tragische Färbung bekommen kann). Doch es ist auch einer jener Augenblicke eines Lebens, die den Dingen, und gerade den abgenutzten oder vergessenen großen, elementaren Wirklichkeiten, schlagartig ihre Unmittelbarkeit zurückgeben, ihr Gewicht, ihre beinah unendlichen Dimensionen.
Der erste Vers also spricht nichts als, sagen wir: Banales aus (und die mit „im Hof“ übersetzbaren Wörter können ganz einfach „draußen“ bedeuten). Doch bereits im zweiten Vers beginnen zwei Angaben, den Sinn umzubiegen: das russische Wort, das hier für den Himmel steht, bedeutet in Wirklichkeit „Firmament“ (ein Wort, das ich im Französischen an der Stelle für unverwendbar halte), also den festen Himmel, den harten Himmel. Und die Sterne, diese faden Engel allzuvieler Gedichte, werden als „grob“ bezeichnet, mit einem Adjektiv, das wortgeschichtlich vielleicht mit dem deutschen „grob“ verwandt ist. Mehr noch: ihr Licht (ihre „Strahlen“ eigentlich, doch kann man hier „Strahlen“ oder gar „Schimmer“ sagen? Celan übersetzt einfach „Licht“, wie er mit gutem Recht „Himmel“ übersetzt hat), ihr Licht also ist „wie Salz auf der Axt“ (gemäß der bei Mandelstam häufigen Verbindung von Salz und Sternen). Das Gedicht ist erst bei seinem dritten Vers angelangt, doch unter einem harten Himmel gibt es bereits zwei Dinge, das Salz und die Axt, die an eine bestimmte Welt, an eine gewisse Härte der Lebensbedingungen denken lassen und doch auch viel mehr bedeuten, besonders in ihrem Aufeinandertreffen: die Geschmack verleihende Herbe, das, was den Geschmack gibt und auch brennen und leuchten kann, und andererseits das Schneidende, Verletzende und ebenfalls Leuchtende – zwei weiße Dinge, und kalt wie das Wasser im Faß, das gleich darauf erscheinen wird. Nichts von alledem ist kalkuliert, gesucht oder von der bekannten Extravaganz der Träume: alles ist vollkommen miteinander verknüpft, ganz einfach und nüchtern, alles ist sinngeladen und bewahrt seinen Anteil am Geheimnis.
Ein Detail noch – dieser Hof, falls es sich um einen Hof handelt, hat eine Tür, oder ein Tor, doch es ist mit einem Riegel verschlossen (Dinge aus Holz und aus Eisen): die Nacht, das Draußen sind nicht so vertraut und sicher, daß man ihnen freie Bahn gewähren könnte. Und in diesem geschlossenen Raum (geschlossen wie jener des Fasses, welches das kälterwerdende Wasser einschließt), von wo aus man zuerst den harten Himmel gesehen hatte, entdeckt man nun aufs neue – den Erdboden. Wir sind hier nicht im widerlichen Nebel eines bekannten Lyrismus. Der Himmel ist hart, der Hof verschlossen, die Erde „gewissenhaft“, streng und ohne Milde.
Und da kommt nun, mit dem Weitergleiten zu einem neuen Bild, ein Gedanke zum Ausdruck – nämlich, daß es schwierig sei, ein „Gewebe“, oder auch eine „Unterlage“, einen „Grund“ zu finden, der „reiner als die Wahrheit frischer Leinwand wäre. Das Wort „Gewebe“ verweist auf Mandelstams Leidenschaft für „Textilien“, natürliche Metapher für den „Text“, wie man es uns seither nur allzuoft immer wieder eingebleut hat. Doch meiner Ansicht nach handelt es sich hier zuallernächst um das rauhe Handtuch (später wird Mandelstam von „grobkörniger“ Ruhe sprechen, im Gedicht auf Belyjs Tod), um das Handtuch, mit dem der Mann, nachdem er sich gewaschen hat, seinen Körper abtrocknet. Da stellt sich nun heraus, daß dies die Achse war, um welche sich das Gedicht gedreht hat. Die Bewegung, die sich gleich zu Beginn angekündigt hatte und die nur jene des kälterwerdenden Wassers war, pflanzt sich fort und bekommt einen Sinn. Stern und Salz sinken verschmolzen ins Wasser des Fasses, das nunmehr eisige Wasser verstärkt seine Schwärze, der Tod erscheint reiner (weniger vermischt, ganzheitlicher), das Elend bitterer, doch hat es auch mehr Geschmack, und die Erde schließlich, der Grund, auf dem wir gehen und uns aufrecht halten, und aufrecht halten müssen – diese Erde erscheint zugleich wahrer und schrecklicher.
Und so gibt es denn am Schluß keine Besänftigung, keinerlei Harmonisierung der Gegensätze, noch auch diese Schlußfortissimos oder Pianissimos, die Geist und Gehör betören. Ganz im Gegenteil: eine gesteigerte Härte, als ob die Welt – Erdboden, Mauern und Dach – in schwarzes Gestein geworden wäre, doch auch redlichste Materie. Ja, ich habe dieses Gedicht wie einen Block aus Nacht empfunden, hart und kalt, doch gleichzeitig ist diese Härte, diese Kälte eine heftige Taufe, diese Schwärze ist schön wie ein Kohlestück, ja selbst das Elend, selbst der Tod haben eine unmittelbare Kraft, eine Dichte, die ich hier als schön empfinde, vom Herzen ganz und gar gutgeheißen. Und da denke ich an jenen Abschnitt in Simone Weils „Schwerkraft und Gnade“, der von der Lehre des Arbeiters spricht:

Verletzungen: der in den Körper eindringende Beruf. Möge jedes Leiden das Universum in den Körper eindringen lassen.

Dasselbe Gedicht würde ich auch mit einer kurzen, auf den genannten „Themen“ aufgebauten Fuge vergleichen; und diese ist von einer Strenge, die Bachs würdig wäre, Bachs, den Mandelstam in einem Gedicht von 1913 mit den Titeln „herrlicher Streiter“ und „unverträglicher Alter“ beehrte und den er besonders dafür bewunderte, daß er „in die Musik die Gotik eingeführt“ habe, das heißt, laut Mandelstam, jene mit dem Körper des aufrecht gehenden Menschen vergleichbare Architektur. Von da wäre ein Bogen zu spannen zum Gewicht, das Mandelstam dem Skelett, dem Gerüst der Knochen wie auch dem Gestein beimißt; und ein anderer – zu den häufig anzutreffenden, instinktiven Verknüpfungen der Welt des Klanges und des Gebirges (wie auch der Kirche), etwa in einem Gedicht von 1919:

Und welche Linie könnt ihn wiedergeben:
Kristall von hohen Noten hoch im festgefügten Äther…

Doch da ist Vorsicht geboten: wenn das Wort „Fuge“, genau wie „Kontrapunkt“ und „Polyphonie“, sich einem oft aufdrängen, will man die Struktur der Mandelstamschen Gedichte wiedergeben (und was er von Dante gesagt hat: der kraftvollste Dirigent, der je die Chemie eines dichterischen Werkes orchestriert hat, kann dazu nur ermutigen), so ist es doch, wie auch mit Bezug auf Bach, unzulässig, sie als abstrakte oder willkürliche Konstrukte zu verkennen. Ein jedes der Worte dieser Gedichte, die man, seien sie konkret oder bildlich gebraucht, mit Fugen-„Themen“ oder oft gar mit „Leitmotiven“ vergleichen möchte, ist wie ein Gestirn mit Strahlkraft versehen und befrachtet mit tief gelebter Erfahrung oder tief geträumtem Traum. Ein jedes ist intensiv körperhaft – wie die Skulpturen im großen Luftnetz gotischer Kathedralen.

Dies gilt zum Beispiel auch für diese andere, weiter ausgreifende und komplexere Fuge, die „Griffel-Ode“ von 1923, eines der rätselhaftesten und bewundernswürdigsten Gedichte dieser Schaffensperiode.
Auch dieses Gedicht vereint eine ganze Anzahl von Themen, unter denen elementare Gegebenheiten vorherrschend sind, mineralische etwa, wie Feuerstein, Schiefer, Uferkiesel und Eisen, sodann liquide wie das reißende Wasser der Bergbäche oder die Milch (die bei Mandelstam fast immer mit der Welt der Schafe und Ziegen in Berührung steht), und schließlich atmosphärische wie die helle Höhenluft. Und was man da Strophe auf Strophe sich aufbauen sieht mit einer Energie und einer Strenge, die tatsächlich Bachs würdig wäre, ist die unauflösbare Vision einer Sprache, eines neuen Gesanges und einer Landschaft, die gleichsam diese Vision verkörpert – die zugleich reale und geistige Landschaft, auf die sich Mandelstams gieriger Blick mit ganzer Leidenschaftlichkeit zubewegt: abrupte Gebirgslandschaft eben, aus klarer Luft und aus Stein, aus reißendem Wasser und zarter Milch, Nachtlandschaft, Wildnis, wo die Stimme, genau wie der Kiesel, zum „Schüler des fließenden Wassers“ wird. Eine Landschaft, von der wir da und dort in diesem Werk die heftig begehrten Teilstücke wiederfinden.

Weit eher als einer Fuge gleicht das andere große Gedicht desselben Jahres 1923, „Der Hufeisenfinder“, einer großen Fantasie und ist von weiter ausgreifendem, offenerem Klang; eine Fantasie, die, anstatt am Schluß zu sich selber zurückzufinden, sich auffaltet und schließlich in einem langsamen „decrescendo“ sich auflöst.
Es beginnt wie bei Homer mit der Entwicklung eines „klassischen“ Vergleichs (zwischen Wäldern und Schiffen), wo jeder Ausdruck wie spiegelbildlich auf den andern verweist (und da wäre viel zu sagen über Mandelstams Liebe zu Holz und seinen Respekt für die Arbeit des Zimmermannes, an dem er schon 1913 das „räuberische Augenmaß“ lobte, als eine wahre Bedingung für Schönheit), doch dann wird der Schwung des Werkes jäh gebrochen durch die einfache Frage: „Wo beginnen?“, welche die Angst dessen an die Oberfläche des Gedichtes treibt, der neu zu sprechen beginnen muß in einer von Redefiguren bereits überladenen Luft, wo ein Wort das andere aufzuwiegen scheint – in einer Welt, deren „gebrechliche Zeitrechnung sich dem Ende nähert“. So daß nun all die Bilder, die am Schluß sich aneinanderfügen und nicht weniger stark und staunenswert sind (vom Hufeisen, das zur Ruhe gekommen ist und noch die Erinnerung an den freien Lauf bewahrt, vom Mund, der die Form des zuletzt gesprochenen Wortes behält, von der Hand, die noch den vollen Krug zu tragen glaubt, wo doch das Wasser bereits zur Hälfte unterwegs verschüttet worden ist, bis hin zu dem Bild der wie Körner ausgesäten Münzen, die von der Zeit benagt in der Erde ruhen) – so daß nun all diese Bilder nur noch Spuren besagen: alles was da – angegriffen, doch nicht vernichtet – von einer lebendigen menschlichen Präsenz noch übrigbleibt.

Und jener Armenien-Zyklus, von dem, im Oktober-November 1930, in Tiflis, ein fast fünfjähriges Stummsein zerrissen wird wie vom jubelnden Glanz einer Trompete bei Gabrieli? Mir erscheint er wie das taghelle, sonnige Gegenbild zu jenem Nachtstück von 1921, das ich zu Beginn dieser Notizen allzu umständlich zu kommentieren versucht habe: derselbe Zusammenprall, doch diesmal freudig, mit der blendenden Wirklichkeit eines Draußen, mit dem Körper der Welt. Auch hier das Universum, das in den Körper eindringt, doch diesmal als Glück… Und all die Themen verkettet wie zu einem wilden Lobgesang: Blau des Himmels und Ocker des Lehms, Worte und Töpferhandwerk, Löwe und Vogel, Rose und Schnee, Pferde, springendes Wasser, kühle Bergwelt…
Beim Lesen dieses Zyklus wie auch der Prosa der „Reise nach Armenien“ muß ich an das denken, was Rilke in einem Brief vom 27. Oktober 1915 an Ellen Delp geschrieben hat, über Toledo, wo auf wundersame Weise das äußere Ding selbst: Turm, Berg, Brücke zugleich schon die unerhörte, unübertreffliche Intensität der inneren Äquivalente besaß, durch die man es hätte darstellen mögen. Ja, ich glaube, daß Armenien damals für Mandelstam die reale Gestalt jener Landschaft war, die er in der „Griffel-Ode“ erspäht hatte und die an anderen Stellen aufgetaucht war, jene Landschaft, die er so heftig sich wünschte; daher das Jubilierende dieser Begegnung und der beiden Werke, die aus ihr hervorgegangen sind. Es war tatsächlich „Sabbatland“, ja mehr noch, das nur kurz erblickte Gelobte Land, bevor er das unheimlich schwarze und gelbe Leningrad wiederfinden sollte und eine Reihe unheilschwerer Jahre bis zum schlimmsten Tod. Es war zunächst ganz einfach ein sonniges Land, wie jenes Tauris in alten Gedichten, das imstande war, in wenigen Tagen den Arm einer geliebten Frau zu bräunen (und für Mandelstam wie für die alten Griechen galt: „Im Totenreich mußt du ganz ohne / Die sonngebräunten Arme sein“). Ein Land, wo selbst die verhaßte Kälte und der Schnee Freude bescherten. Und dann vor allem und noch einmal ein karges Bergland wie vom Anbeginn der Welt, mit intensiven, lebendigen Farben (wie man sie auf Kinderzeichnungen findet oder bei jenen französischen Malern, die er, kaum aus Woronesch zurück, sofort im Moskauer Puschkin-Museum wiedersehen wollte). Ein Land, wo Kinder zwischen den Grabmälern spielen, ein Land, dessen Sprache mit Krallen versehen und wie Schmiedegerät ist, ein Land der Hirten und der Reiter. Man lese nun die Seiten der „Reise nach Armenien“ wieder, wo Mandelstam von seinem Ausflug zu Pferd auf den Berg Alagös spricht. Sie sind ein Schlüssel zu seinem Werk und verknüpfen nicht zufällig die Bergleidenschaft mit der „Molke der Stille“, die um die Nachtunterkünfte der Herden herum spürbar ist, und jenem stolzen Berauschtsein beim Reiten, das Sprachmodell und Lebensmodell geworden ist:

In welcher Zeit möchtest du leben?
– Ich möchte im imperativen Partizip des Futurums, in der passiven Handlungsart leben – im „Zu-Werden-Haben“.
So kann ich atmen. So will es mir gefallen. Da ist das Ehrgefühl des Reiters, banditisch, aufgesessen. Deshalb gefällt mir ja auch das prächtige lateinische „Gerundivum“ – dieses Verb auf einem Pferderücken.
Ja, der lateinische Genius schuf, als er jung und gierig war, eine Form der imperativen Zugkraft des Verbs als das Urbild unserer ganzen Kultur – und es ist nicht nur die „Zu-Werden-Habende“, sondern auch die „Gelobt-zu-Werden-Habende“ (laudatura est), die mir gefällt…

Mandelstams ganzer Mut, die ganze unnachgiebige Liebe zum Leben eines Dichters, der den als Denkspruch seinem Gespräch vorangestellten Dante-Vers „Cosi gridai colla faccia levata“ auf sich beziehen konnte (doch später wird er – demütiger, fröhlicher – diese Art, den Kopf zu erheben, auch im Woronescher Stieglitz wiederfinden), sind hier in wenigen Worten verdichtet.
Wenn ich aus größerer Distanz dieses Werk betrachte, so scheint mir, daß nicht nur in diesen schönen Gedichten der Jahre 1920 bis 1930, sondern auch in zahlreichen anderen, weniger bekannten (und im Gegensatz zu dem, was ganz zu Beginn des Werkes sich zeigt, der durch die Feinheit des Tastsinns bezaubert: Schaum, Klöppelspitzen, Reif und Dunst), zwischen dem Dichter und der Außenwelt so etwas wie ein Zusammenprall geschieht, der selbst im Schmerz noch eine Quelle der Erfüllung bleibt. Genau wie man sich freut, unter den Füßen den Fels zu spüren, weil man daraus wie einen Beweis und eine Energie bezieht. Und ganz natürlich leben in einer so beschaffenen Welt Hirten und Reiter, die Geduldigen und die Ungestümen.
Doch wenn die Außenwelt mit noch gesteigerter Intensität angreift, wie das „bis zur Stumpfheit grüne Tal“ der Kanzone von 1931 oder der „Schnee, der in den Augen beißt“ von 1922, so denke ich an jenen Hölderlin nach der Rückkehr aus Bordeaux, der in sich die Erinnerung an den Süden aufsteigen spürt (er, der doch als junger Mann so viel Mühe bekundet hatte, zur Wirklichkeit zu stoßen):

… aus der Stadt, wo
Bis zu Schmerzen aber der Nase steigt
Zitronengeruch auf und das Öl, aus der Provence…

Und man könnte sagen, daß dieser Zusammenprall in zahlreichen spätesten Gedichten Mandelstams, jenen aus Woronesch, sich noch verschärft bis zu einer fast erstickenden Vereinigung (doch das Ersticken unter dem „Samt der Sowjetnacht“ und dessen körperliches Abbild, das Asthma, sind schon seit langem spürbar; vom Sommer 1931 stammt der Vers: „Mit jedem Tag wird mir das Atmen schwerer“).
„Nicht ich sing mehr, mein Atem singt an meiner Stelle“, besagt ein Gedicht vom Februar 1937, und Mandelstam fügt dem ein Bild bei, das von einer außerordentlichen Kraft ist und jenes Gefühl einer Vereinigung nur bestätigt:

Der Kopf ist taub, das Ohr: im Berg, im Futteral.

Und in einem all dem noch vorangehenden Gedicht, in den Stanzen vom Mai–Juni 1935, hieß es:

Und in der Stimme, meiner, nach der Atemnot,
Klingt Erde auf, wie eine letzte Waffe nah –
Die trockne Feuchte schwarzen Erdreichs da…

Hatte es im Armenien-Zyklus zwischen dem begehrten Schnee und dem Mund noch jene kühle und wunderbare, „mit der Flöte zu zähmende“ Distanz gegeben, so ist einem nun, im Frühjahr 1937, in Woronesch, wo Mandelstam den „leimigen Eid in den Blättern“ und die „meineidige Erde“ an seine Lippen führt, nicht mehr klar, was hier wohl stärker ist: der Lebenshunger oder die Angst vor dem Ersticken.

In den äußerst herben „Fragmenten aus vernichteten Gedichten“ von 1931 liest man diese Verse:

Die Zunge ist ein Bär – sie wälzt sich taub
Im Mund als ihrer Höhle…

Da ist diese wilde und unbezähmbare Kraft (das „zottige Fell“, das, nach dem griechischen Schildkrötenpanzer, dem Dichter als Lyra dient), diese Kraft, die Mandelstams Holz- und Steinbauten innewohnt und deretwegen er umgebracht wurde – vergeblich umgebracht wurde, denn sein Wort tritt heute neu zutage wie das Wasser von Wildbächen, das einem peitschengleich ins Gesicht schlägt.

Philippe Jaccottet, Revue de Belles-Lettres, 1981
(Aus dem Französischen von Ralph Dutli)

 

Mandelstam. Meine Zeit, mein Tier

3
Die Muttersprache und unbekannte Geräusche

(Petersburger Kindheit 1897–1904)

Vatersprache, Muttersprache. Die Großeltern in Riga. Fremdes Jiddisch, unbekanntes Hebräisch. „Heimatverbundene Reue“, eine hebräische Kinderfibel und seltene Synagogenbesuche. Der fiebrige Lauf der Assimilation. Ein Familienschrein: der Bücherschrank der frühen Kindheit. In den Staub gestürztes „Jüdisches Chaos“. Die russischen Bücher der Mutter. „Puschkin im Alltagskleid.“ Ein Dichter der Muttersprache. „Kindlicher Imperialismus“: Petersburg in Pomp und Paraden. „Nur weglaufen“: die Flucht vor dem „schwarzgelben Ritual“. Der rückhaltlose Drang zum Russischen. Französische Kindermädchen. Bedrücktes Familienleben, der sich absondernde Vater. Die Anstrengungen der Mutter: Theater- und Konzertbesuche. Musik in Mandelstams Werk. Herbst 1900: die liberale, demokratische Tenischew-Schule. Vivisektion und Fußball. Nabokovs Erinnerungen. 

Sucht man Auskünfte über Mandelstams vor-literarische Zeit, ist man auf die Erinnerungen seines Bruders Jewgenij angewiesen, aber auch auf Mandelstams autobiographisches Prosawerk Das Rauschen der Zeit, das eine Fülle präziser, dichter Erinnerungen der frühen Jahre vorführt. Eine gewiß „subjektive“, literarische Quelle, keine dokumentarische. Sie handelt auch vom Weg des späteren Dichters zum Wort. Es ist für den Sprachkünstler Mandelstam bezeichnend, daß er den Gegensatz von väterlichem und mütterlichem Element seines kulturellen Erbes im Kapitel „Jüdisches Chaos“ anhand der Vater- und der Muttersprache skizziert:

Die Sprache des Vaters und die Sprache der Mutter – nährt sich nicht aus dem Zusammenfluß dieser beiden Sprachen unsere eigene das ganze Leben lang, prägen nicht sie ihren Charakter?

Mein Vater hatte gar keine Sprache, es war Sprachgestammel und Sprachlosigkeit. Das Russisch eines polnischen Juden? Nein. Die Sprache eines deutschen Juden? Auch nicht. Vielleicht ein besonderer kurländischer Akzent? Einen solchen habe ich nie gehört. Es war eine völlig abstrakte, erfundene Sprache, die schwülstige und geschraubte Ausdrucksweise des Autodidakten, in der Alltagswörter sich mit altertümlichen philosophischen Termini Herders, Leibniz’ und Spinozas verflochten, die wunderliche Syntax des Talmudisten, künstliche, nicht immer zu Ende geführte Sätze – es hätte alles mögliche sein können, nur keine Sprache, weder Russisch noch Deutsch. (Das Rauschen der Zeit, S. 40f.) 

Vor dem Hintergrund väterlicher Sprachlosigkeit hebt sich das von Bewunderung erfüllte Porträt der Mutter-Sprache kräftig ab:

Die Sprache meiner Mutter war die klare und klangvolle russische Literatursprache, ohne die geringste fremdländische Beimischung, mit etwas breiten und übermäßig offenen Vokalen; ihr Wortschatz war arm und gedrängt, ihre Wendungen einförmig – doch das war eine Sprache, sie hatte etwas Ursprüngliches und Zuversichtliches. Meine Mutter sprach gerne und freute sich an den Stämmen und am Klang der durch den Gebrauch der Intellektuellen etwas verarmten großrussischen Sprache. War nicht sie als erste in unserer Familie zu reinen und klaren russischen Lauten vorgedrungen? (Das Rauschen der Zeit, S. 40)

Jiddisch war für die auf dem Weg der Assimilation weit fortgeschrittene Familie keine Umgangssprache mehr. Jiddisch sprachen nur noch Emil Mandelstams Eltern, der Lederbereiter Benjamin Sundelowitsch Mandelstam und seine Frau Mere Abramowna, die aus dem kurländischen Schtetl Schagory nach Riga umgezogen waren.

In meiner Kindheit habe ich überhaupt kein Jiddisch gehört, erst später konnte ich mich an dieser singenden, immer wieder verwunderten und enttäuschten, eindringlich fragenden Sprache mit ihren starken Akzenten auf den Halbtönen satthören. (Das Rauschen der Zeit, S. 40)

Mandelstam schildert im Rauschen der Zeit einen Besuch bei seinen Großeltern in Riga, der den bereits zurückgelegten Weg der Assimilation und eine tiefe Entfremdung vom traditionellen Judentum zutage bringt. Der kleine Ossip wird eine Weile mit den Großeltern, die kein Russisch sprechen, allein gelassen.

Dann gingen meine Eltern in die Stadt. Mein bekümmerter Großvater und die traurige, umherhastende Großmutter versuchten mit mir zu sprechen und plusterten sich auf wie alte, gekränkte Vögel. Ich bemühte mich krampfhaft, ihnen klarzumachen, daß ich zu Mama wollte – sie verstanden mich nicht. Dann stellte ich meinen Wunsch wegzugehen in der Weise dar, daß ich meinen Mittelfinger und meinen Zeigefinger wie ein Beinepaar über die Tischplatte spazieren ließ.
Plötzlich holte mein Großvater aus einer Kommodenschublade ein schwarz-gelbes Seidentuch hervor, warf es mir um die Schultern und hieß mich Worte nachsprechen, die aus unbekannten Geräuschen bestanden. Unzufrieden mit meinem Gestammel, wurde er sehr bald böse und schüttelte mißbilligend seinen Kopf. Mir wurde eng und ich fürchtete mich. Nur undeutlich erinnere ich mich, wie meine Mutter gerade im rechten Augenblick dazukam und mir heraushelfen konnte
. (Das Rauschen der Zeit, S. 43f.) 

Das „schwarz-gelbe Seidentuch“, das der Großvater dem Knirps um die Schultern legte, war ein Tallit (jiddisch: Talles), der Gebetsumhang der jüdischen Männer, die „unbekannten Geräusche“ aber, die an Fremdheit das Jiddische noch übertrafen, waren hebräische Gebete. Die Farben Schwarz und Gelb werden für Mandelstam fortan die Farben der Fremdheit, der Entfremdung, ja sogar einer unbestimmten Bedrohung bedeuten. Die mit zwei Fingern gestisch auf der Tischplatte dargestellte Bewegung aber war eine Fluchtbewegung: weg von einem dem Kind unverständlichen, von den Eltern nicht mehr lebendig vermittelten Judentum und immer weiter hin zu Rußland, seiner Sprache, seiner Kultur.1
Vor lauter hastigem Assimilationsstreben hatten die Eltern Mandelstam ihre Wurzeln beinah vergessen. Irgendwann jedoch, bereits in der Hauptstadt Sankt Petersburg, bestellten sie in einem „Anfall heimatverbundener Reue“ (Das Rauschen der Zeit, S. 27) doch noch einen Hauslehrer für den Erstgeborenen: Die Sprache der Bibel sollte nicht ganz vergessen gehen. Doch die hebräische Kinderfibel zeigte einen Jungen mit traurigem Erwachsenengesicht, in dem sich der kleine Ossip nicht wiedererkannte. Der Unterricht scheiterte kläglich.
Auch die Synagogenbesuche waren selten, nur zu hohen Anlässen machten die Mandelstams sich auf, wenn die Schriftrollen aus dem Thora-Schrein hervorgeholt und präsentiert wurden. Aber auch dieses Ritual hatte für die entstehende Welt des Kindes keine Aussagekraft mehr:

Von dem, was ich dort sah und hörte, kehrte ich völlig betäubt nach Hause zurück. (Das Rauschen der Zeit, S. 38)

Die jüdische Gemeinde in Sankt Petersburg litt lange Zeit unter diskriminierenden Gesetzen. Erst nach den Reformen Alexanders II. nahm sie einen Aufschwung und konnte sich 1893 eine große Synagoge und ein Kulturzentrum errichten. Die Synagoge im maurischen Stil lag an der Ecke von Offizerskaja und Torgowaja (heutige Adresse: Lermontow-Prospekt 2), unweit des Mariinskij-Theaters.

Die Synagoge mit ihren kegelförmigen Hüten und ihren Zwiebelkuppeln steht wie ein prächtiger, fremdländischer Feigenbaum ganz verloren inmitten von ärmlichen Gebäuden. Samtene Barette mit Wollquasten, abgezehrte Synagogendiener und Chorsänger, Trauben von siebenarmigen Leuchtern, hohe Sammethüte. Das jüdische Schiff mit seinen klangvollen Altchören und erschütternden Kinderstimmen schwimmt unter vollen Segeln dahin, von irgendeinem uralten Sturm in eine Männerhälfte und eine Frauenhälfte gespalten. Ich hatte mich auf die Frauenempore verirrt und schlich mich da wie ein Dieb von Dachsparren zu Dachsparren. Der Kantor schien den löwenstarken Bau einreißen zu wollen wie der Kraftmensch Samson, die Sammethüte gaben ihm Antwort und das wundervolle Gleichgewicht der Vokale und der Konsonanten in den deutlich ausgesprochenen Worten verlieh dem Gesang eine unüberwindliche Kraft. Doch welch eine Kränkung darauf – die garstige, wenn auch korrekte Sprache des Rabbiners, welche Plattheit, wenn er sein „Monarch und Imperator“ ausspricht, welche Plattheit in allem, was er sagt! (Das Rauschen der Zeit, S. 39)

Der Blick ist hier kein vertrauter und inniger, sondern ein Blick von außen. Es ist ein Blick auf ein fremdes, exotisches Ritual. Der Synagogengesang ist für das Kind zwar eindrucksvoll („eine unüberwindliche Kraft“); aber es hört ihn als ein fremder, zufälliger Zuhörer. Die Alibibesuche bewirkten nichts mehr: Der fiebrige Lauf der Assimilation war nicht mehr aufzuhalten. Sein sprechender Zeuge war ein Bücherschrank.
Die Mandelstams besaßen in ihm eine Art Familienschrein, in dem ihre Herkunft und ihr Werdegang von einem orthodoxen Schtetl-Judentum zum Wilnaer Haskala-Judentum und weiter zur russischen Kultur als Buchrücken und Sinnbilder den Söhnen vor Augen standen. Kein Wunder, widmete Mandelstam diesem Schrein der Familiengeschichte in seiner autobiographischen Prosa ein ganzes Kapitel.

Der Bücherschrank der frühen Kindheit ist ein Begleiter des Menschen für sein ganzes Leben. Die Anordnung seiner Fächer, die Auswahl der Bücher, die Farbe der Buchrücken gilt ihm als die Farbe, Höhe und Anordnung der Weltliteratur selber. (Das Rauschen der Zeit, S. 26)

Mandelstam beschreibt die Schichten dieser bescheidenen Familienbibliothek wie ein Geologe, von der untersten Schicht bis zur neuesten, für ihn wirklichsten. Das unterste Fach ist in seiner Erinnerung „das chaotische“, die Bücher standen dort nicht Rücken neben Rücken, sondern lagen da „wie Ruinen“. Es waren Sammlungen des Pentateuchs, der Fünf Bücher Mose, eine Geschichte der Juden und andere väterliche Überbleibsel:

Es war das in den Staub gestürzte jüdische Chaos. (Das Rauschen der Zeit, S. 27)

Auch Ossips Kinderfibel fand schnell dorthin, als der Sprößling sich dem Hebräischunterricht verweigerte.
Über den „jüdischen Ruinen“, fährt Mandelstam im Rauschen der Zeit fort, begann eine gewisse Ordnung der Bücher sich durchzusetzen. Es waren „die Deutschen“, die Vater Mandelstams Flucht nach Berlin und in die deutsche Kultur bezeugten: Schiller, Goethe, Kerner, Shakespeare in deutscher Sprache (wohl die berühmte Übersetzung von Schlegel und Tieck).

Es waren die Bücher meines Vaters, der sich als Autodidakt aus dem Talmuddickicht in die germanische Welt durchgeschlagen hatte. (Das Rauschen der Zeit, S. 28)

Die Apotheose aber kommt den russischen Büchern zu, und unter ihnen – natürlich – dem großen Alexander Puschkin (1799–1837): 

Weiter oben standen die russischen Bücher meiner Mutter – unter anderem Puschkin in der Ausgabe von Issakow aus dem Jahr 1876. Noch heute finde ich, daß das eine herrliche Ausgabe ist (…).
Mein Puschkin hatte ein Gewand, das gar keiner bestimmten Farbe angehörte, er stand da im Kalikoeinband der Schulbücher, in einem schwarzbraunen, ausgeblichenen Gewand mit sandig-erdfarbenem Einschlag; er fürchtete weder Flecken noch Tinte, weder Feuer noch Kerosin. Ein Vierteljahrhundert lang hatte das sandigschwarze Gewand liebevoll alles in sich aufgesogen – und die geistige Schönheit dieses Alltagskleides, die fast körperliche Anmut des Puschkins meiner Mutter ist für mich eine lebendige Empfindung geblieben.
(Das Rauschen der Zeit, S. 28f.) 

„Herrlich“, „nichts fürchtend“, „liebevoll“, „geistige Schönheit“, „fast körperliche Anmut“, „lebendige Empfindung“: Puschkins Eros prägte sich dem jungen Mandelstam tief ein. Sein Leben lang sprach er, wie Nadeschda Mandelstam in ihren Memoiren berichtet, nur wortkarg, mit einer eigentümlichen Zurückhaltung über Dinge und Menschen, die ihm besonders nahestanden:

über seine Mutter zum Beispiel, und über Puschkin…2

Eine sonderbare Scheu und wortkarge Verehrung kennzeichnet ein besonderes Verhältnis zum großen Vorläufer. Anna Achmatowa, die Dichterkollegin und langjährige Vertraute, spricht in ihren Tagebuchblättern von Mandelstams „unerhörter, beinah furchteinflößender Beziehung“ zu Puschkin.3
Im zitierten Abschnitt steht „meine Mutter“ ganz natürlich neben „meinem Puschkin“: die Person, die dem Kind eine Sprache schenkte, seine Muttersprache im doppelten Wortsinn, und der große Dichter. Mandelstam schildert noch andere Bücher der Bibliothek seiner Mutter: Lermontow, Turgenjew, Dostojewskij, Nadson. Keines der Bücher hat eine solche Aura wie „der Puschkin meiner Mutter“. Dieses Buch hatte Flora Werblowskaja in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf dem russischen Gymnasium in Wilna als Preis für ihren Fleiß bekommen. Es war eine Trophäe, ein Zeugnis gelungener Assimilation. Puschkin war eine Chiffre für jene Welt, in die der junge Mandelstam gelangen wollte: die Welt der russischen Dichtung. Sein Lebensplan wird es sein, ein Dichter der Muttersprache zu werden.
Doch vorerst kindliche Spiele und Spektakel. Der prachtvolle Spielplatz von Mandelstams Kindheit war die imperiale Hauptstadt Sankt Petersburg, eine Stadt der grandiosen Feierlichkeiten, der Begräbnisumzüge und Militärparaden, des staatserhaltenden Pomps und Säbelgerassels, die Mandelstam im Kapitel „Kindlicher Imperialismus“ amüsiert schildert. Die Petersburger Straßen erweckten in dem Jungen einen „Durst nach großen Schauspielen“. Doch die Distanz zwischen der prunkenden, selbstbewußt auftrumpfenden Hauptstadt des Zarismus und dem in Aufstiegsbemühungen und Assimilationsängsten befangenen Elternhaus schien unüberwindlich:

Diese ganze schöne Fata Morgana Petersburgs war nur ein Traum, eine über den Abgrund geworfene glänzende Decke, um mich herum jedoch breitete sich das Chaos des Judentums, keine Heimat, kein Haus, kein Herd, sondern ein Chaos, ein dunkler Schoß, aus dem ich hervorgegangen war, eine unvertraute Welt, die ich fürchtete, die ich verworren ahnte und vor der ich weglief, immerzu weglief. (…)
Das kräftige, rotwangige russische Jahr kullerte durch den Kalender mit seinen buntgefärbten Eiern, den Weihnachtsbäumen, den stählernen finnischen Schlittschuhen, seinem Dezembermonat, den glöckchengeschmückten Schlitten zur Karnevalszeit und den Sommerferien in einem Landhaus. Und bei uns nun ging ein Gespenst um – Neujahr im September, unfrohe, seltsame Feiertage, die mein Ohr peinigten mit ihren wilden Namen: Rasch Haschana und Jom Kippur. (Das Rauschen der Zeit, S. 23f.) 

Das jüdische Neujahr (Rosch Haschana) und das Fest der Versöhnung (Jom Kippur) waren nur noch verstörende Laute, der Knirps aber wollte sich Hals über Kopf in das festfreudige russische Kirchenjahr stürzen. Mandelstams Drang in Kindheit und Jugend führte weg vom „schwarz-gelben Ritual“ eines als fremd empfundenen Judentums und rückhaltlos hin zur russischen Kultur. Seine Flucht vor dem Judentum war aber nicht nur eine Auflehnung gegen sein Elternhaus, sondern auch die Fortsetzung der elterlichen Bestrebungen. Endgültig wird der Weggang nicht sein. Und die „Rückkehr des verlorenen Sohnes“ wird Jahrzehnte später über eigentümliche Umwege verlaufen.
Mandelstams Mutter versuchte, für die Söhne – am 30. April 1898 kam noch ein dritter Sohn, Jewgenij, zur Welt – ein Stück Europa und lebendige Fremdsprachen in ihren mittelbürgerlichen Haushalt zu bringen. Französische oder Schweizer Kindermädchen waren nicht nur ein bürgerliches Statussymbol in der Hauptstadt, sie waren auch eine wichtige Quelle für den ersten Kontakt mit fremder Kultur.

Für mich stellte man so viele Französinnen ein, daß all ihre Züge durcheinandergeraten und zu einem einzigen Porträtfleck zusammengeflossen sind. (Das Rauschen der Zeit, S. 22)

Vermittelt wurden die jungen Mädchen im Pfarrhaus der katholischen Katharinenkirche am Newskij-Prospekt. Die jungen Französinnen schwärmten von Hugo, Lamartine, Napoleon und Molière, und der kleine Ossja fragte sie über Frankreich aus. Die Vorstellung, „daß es ein herrliches Land sei“ (Das Rauschen der Zeit, S. 23), war das einzige Ergebnis dieser Verhöre. Die Neugier war geweckt. Mandelstams lebenslanger „Dialog mit Frankreich“, mit französischen Dichtern vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, nahm hier seinen Anfang.4
Der Vater sonderte sich schon bald mürrisch von der Familie ab, wurde immer schweigsamer, kränkelte oft und lebte fast gänzlich in seinem Arbeitszimmer, „das scharf nach Leder roch, Glaceleder und Kalbleder“ (Das Rauschen der Zeit, S. 19). Für seinen Erstgeborenen wird der Ledergeruch immer „Joch und Arbeitsmühe“ bedeuten (Das Rauschen der Zeit, S. 26). Die vom Gerbstoff geschwärzten Hände des Lederwarenhändlers wollten nicht mehr zu seinen früheren literarischen und philosophischen Höhenflügen passen. Die Flucht aus dem Schtetl nach Berlin lag weit zurück, Schiller, Herder und Spinoza waren ferne Träume. Vielleicht war ein mürrisches Schweigen nur die Reaktion auf das Scheitern seines Lebensplans.
Eine frühe Abkühlung der Beziehung der Eltern trug dazu bei, daß das Familienleben bald einen unfrohen Charakter annahm: „Immer seltener wurde gelacht, noch seltener erklang Musik“, erinnert sich Ossips Bruder Jewgenij. Im Kapitel „Julij Matwejitsch“ der autobiographischen Prosa schildert Mandelstam einen Freund der Familie, Julij Rosenthal, der bei den zahlreichen Streitigkeiten beigezogen wurde. Diesen guten Geist und Schlichter hatte die Familie Mandelstam, „die besonders schwierig und verworren war“ (Das Rauschen der Zeit, S. 65), offenbar nötig. Joseph Brodsky äußerte die Vermutung, Mandelstams beharrlicher Versuch einer Überwindung des „Jüdischen Chaos“ habe wenig mit dem Judentum zu tun gehabt: Er sei nur die Flucht aus einer bedrückten, erstickenden Familienatmosphäre gewesen.5
Die Mutter fühlte sich einsam und allein gelassen bei der Erziehung der Kinder, in der sie ihre Lebensaufgabe sah. Fast trotzig bemühte sie sich, den Kindern möglichst viel zu bieten. Vor allem ihr Erstgeborener verdankte ihr alles. Ossip war ihr Lieblingssohn, seine Wünsche hatten Vorrang. Er habe früh seine eigene Begabung erkannt, erinnert sich sein Bruder Jewgenij, und einige egozentrische Züge entwickelt:6 die Vorstellung, alle Menschen seiner Umgebung hätten ihm und seinem Talent zu dienen.
Flora Mandelstam wollte den drei Söhnen außer Fremdsprachen auch Theater und Musik näherbringen. Das Rauschen der Zeit zeigt diverse musikalische Erlebnisse der Kindheit und der Jugendzeit, vom „Tschaikowskij-Fieber“ in den Sommerferien am Rigaer Strand bis zur Uraufführung von Skrjabins sinfonischem „Feuer-Poem“ Prometheus.7 Schon das erste Kapitel „Musik in Pawlowsk“ beschwört die Pilgerfahrten zu den berühmten Bahnhofskonzerten im ersten russischen Wohnort der Mandelstams: 

Mitte der neunziger Jahre eilte ganz Petersburg nach Pawlowsk wie in irgendein Elysium. Pfiffe von Dampflokomotiven und die Klingelzeichen vor der Abfahrt der Züge mischten sich mit der patriotischen Kakophonie der Ouvertüre auf das Jahr 1812, und ein besonderer Geruch stand in diesem riesigen Bahnhof, in dem Tschaikowskij und Rubinstein regierten. Feuchtende Luft modriger Parks, der Geruch fauliger Warmbeete und Treibhausrosen, und ihm entgegen – die schweren Ausdünstungen des Büfetts, beißender Zigarrenrauch, brandige Bahnhofsluft und die Kosmetika einer vieltausendköpfigen Menschenmenge. (Das Rauschen der Zeit, S. 10) 

Noch in seinem Gedicht „Bahnhofskonzert“ von 1921, über zwei Jahrzehnte nach jenen prägenden musikalischen Erlebnissen, kehrt Mandelstam – zu einem Zeitpunkt, als die Musik zu verstummen drohte („Zum letzten Mal für uns erklingt Musik“) – zurück in den gläsernen Bahnhof von Pawlowsk und zu den musikalischen Ritualen seiner Kindheit:

Der Riesenpark. Das Glas der Bahnhofskugel.
Die Eisenwelt erneut verzaubert vom Gesang.
Und fort in ein Elysium von Nebel trugen
Die Räder den Waggon, zum Fest des Klangs.
Der Schrei des Pfaus, in den Klaviere schlugen.
Ich kam zu spät. Ein Traum nur? Meine Angst
. (Tristia, S. 121) 

Die Mutter hegte vielleicht auch musikalische Berufspläne für den erstgeborenen Sohn. Das Kapitel „Die Konzerte Hofmanns und Kubeliks“ der autobiographischen Prosa legt es verhalten nahe. Die Petersburger Triumphe der beiden Musiker fanden in der Wintersaison 1903/1904 statt. Der zwölfjährige Mandelstam wurde damals ins Hotel Europa geführt, um Kubelik vorgestellt zu werden.

Kubelik schlenkerte nervös seine kleine Hand, hatte schon gefürchtet, der Junge da wolle ihm etwas auf der Geige vorspielen, doch beruhigte er sich gleich wieder und gab mir sein Autogramm: das war alles, was von ihm verlangt wurde. (Das Rauschen der Zeit, S. 49f.)

Die Stelle erscheint wie ein ironischer Wink auf Isaak Babels Erzählung „Das Erwachen“. Die Musik bedeutete in jüdischen Familien nicht nur Odessas einen wichtigen Weg zur gesellschaftlichen Anerkennung. Die Hoffnung auf ein mögliches Virtuosentum des Sprößlings lastete auf mancher Kindheit. Wie wunderbar für die russische Prosa des 20. Jahrhunderts, daß Isaak Babel den Geigenunterricht schwänzte! Die Flucht vor der familiären Vorherbestimmung ist auch das Thema in Marina Zwetajewas autobiographischem Text „Mutter und die Musik“ (1935). Sie hatte in der Kindheit ihre dichterische Berufung gegen die mütterlichen Wünsche durchsetzen müssen. Sie sollte Pianistin werden, also die Begabung der Mutter fortführen. Und die Folge:

Ich aber liquidierte die Musik, schweigend und hartnäckig.

Bei Mandelstam setzte sich die dichterische Bestimmung leichter, ohne Kampf durch. Die Wünsche der Mutter, der er so viele kulturelle Anregungen zu verdanken hatte, waren nicht tyrannisch und eigensüchtig wie im Falle Marina Zwetajewas. Zu „liquidieren“ brauchte er die Musik nicht. Die Versöhnung mit dem mütterlichen Wunsch spiegelt sich im ganzen Werk, von den frühen Gedichten „Bach“ (1913) und „Ode an Beethoven“ (1914) über „Bahnhofskonzert“ (1921) und die „Notenblatt“-Fantasie in der Ägyptischen Briefmarke (1928) bis hin zur „Violonistin“ (1935) der Woronescher Verbannungszeit. Musik durchdringt Mandelstams Werk. Als ob der mütterliche Wunsch auf Umwegen, in der Sprachkunst, doch noch erfüllt werden sollte.
Die wichtigste Entscheidung, nach den französischen Kindermädchen und den Konzertbesuchen, trafen die Eltern bei der Wahl einer Schule. Sie ermöglichten Ossip den Besuch der fortschrittlichen, liberalen Tenischew-Schule. Ab September 1899 besuchte Mandelstam in Petersburg die Allgemeinbildende Schule am Sagorodnyj-Prospekt, ab dem folgenden Schuljahr die neu eröffnete Tenischew-Lehranstalt an der Mochowaja 33. Die von dem Fürsten Wjatscheslaw Tenischew im Sinne der Wohltätigkeit gegründete Schule orientierte sich an englischen Vorbildern, bot ein pragmatisches, wirtschaftliche und naturwissenschaftliche Fächer betonendes Programm und war eine der besten russischen Schulen ihrer Zeit. Sie war demokratisch ausgerichtet, machte keine Klassen-, Rassen- oder Glaubensunterschiede, förderte den Gemeinschaftsgeist und die Idee des gegenseitigen Respekts zwischen Schülern und Lehrern.
Es war ein Glück für Mandelstam, in diese wenig autoritäre und liberale Schule zu gehen, auch wenn sie seine künstlerischen Anlagen nicht unbedingt fördern mochte. Fürst Tenischew war ein typischer Positivist des 19. Jahrhunderts: Messen, Tabellisieren, Statistik waren zentrale Punkte des „modernen“ Bildungsprogramms. Klassische Bildung im Sinne eines humanistischen Gymnasiums, schöngeistige Literatur und dergleichen wurden als marginal angesehen. Aber die Zöglinge hatten wenigstens die Freiheit, sich das Reich der Fantasie und der Fabel selber zu erschließen.
Die Schule sollte später noch andere prominente Absolventen haben. Auch Vladimir Nabokov ging dort ab Januar 1911 zur Schule. Schon die Tatsache, daß der Sproß einer liberalen aristokratischen Familie, der von einem livrierten Chauffeur im Automobil zur Schule gefahren wurde, und der Erstgeborene des jüdischen Lederwarenkaufmanns in dieselbe Schule gingen, sagt einiges über den offenen, sich über gesellschaftliche Schranken hinwegsetzenden Geist dieser Institution. Nabokov in seiner Autobiographie Erinnerung, sprich:

Da er sich dafür entschieden hatte, der großen klassenlosen Intelligenzija Rußlands anzugehören, hielt mein Vater es für richtig, daß ich eine Schule besuchte, die sich durch ihre demokratischen Prinzipien, ihren Grundsatz, keine Klassen-, Rassen- und Glaubensunterschiede gelten zu lassen, und durch ihre modernen Erziehungsmethoden auszeichnete. 8 

Auch Mandelstam räumte dieser Schule ein ganzes Kapitel in Das Rauschen der Zeit ein. Der quirlige Text zeichnet Porträts der bunt gemischten Mitschüler, des schrulligen Schuldirektors Ostrogorskij und anderer bizarrer Vertreter des Lehrkörpers. Er berichtet von der „grausamen und nutzlosen“ Vivisektion im Naturkundeunterricht und von allerlei politischen Versammlungen. Das prachtvolle Auditorium der Schule samt gläserner Decke war unter anderem Tagungsstätte der „Konstitutionell-Demokratischen Partei“. Feierstunden und Gedenkrituale des 1859 gegründeten Literaturfonds rhythmisierten das Schuljahr. Zum Alltag gehörte nicht zuletzt das besonders gepflegte – eben englische! – Fußballspiel, das Mandelstam zu zwei amüsanten Gedichten anregte (Die beiden Trams, S. 107/109):

Ein bißchen plump und ungelenkig
In diesem kleinen Jungenchor
Tritt der den Ball samt seinen Ecken,
Hütet der andere sein Tor.

Die beiden entscheidenden Anregungen seiner Schulzeit aber, eine literarische und eine politische, spart sich Mandelstam für zwei andere Kapitel seiner autobiographischen Prosa auf. Sie verdankten sich einem politisch agitierenden Mitschüler. Und einem dichtenden Lehrer.

Ralph Dutli, aus Ralph Dutli: Mandelstam. Meine Zeit, mein Tier. Eine Biographie, Ammann Verlag, 2003

 

Michael Borrasch: Dem lichten Andenken Ossip Mandelstams

 

Für Ossip Mandelstam

O wie gewürzt der Atem der Nelke,
Die mir dort im Traum erschien,
Wo Eurydiken sich drehn, wo auf Wellen
Der Stier Europa entführt;
Dort, wo unsere Schatten fliegen
Überm Fluß, überm Fluß, überm Fluß;
Wo die Newa schwappt ans Granitene –
Zur Unsterblichkeit dein Propusk.

Anna Achmatowa
Übersetzung: Rainer Kirsch

 

OSSIP MANDELSTAM

Ich verneig’ mich, wie vor dem Pokale,
Vor den Sprüchen, die zahllos hier stehn,
Unsrer Jugendzeit blutige Male
Lassen dunkel und zärtlich sich sehn.
In der Luft dieses Abgrunds, der gleichen,
Hab’ ich nächtlich geatmet dereinst,
In den eisernen Nächten, den bleichen,
Wenn vergeblich du rufst oder weinst.

Unsre Schatten, sie fallen und fallen
Immer neu in die alte Newa,
Deren Wellen die Stufen umwallen,
Und du kommst der Unsterblichkeit nah,
Und die Schlüssel der häuslichen Türen
Über die nun kein Laut zu dir dringt,
Und die Stimme der mystischen Lyren,
Die auf Fluren des Jenseits erklingt.

Anna Achmatowa
Übersetzung: Dietrich Gerhardt

 

WORONESCH
Für O. M.

Und diese Stadt ist ganz zu Eis erstarrt.
Wie unter Glas ruhn Bäume, Firste, Schnee.
Unsicher ist des bunten Schlittens Fahrt,
Trägt der Kristall, auf dem ich zögernd geh’.
Woroneschs Dom ein Krähenschwarm umgellt,
Und Pappeln und das Patinagewölbe,
Verwaschen, trüb, von Sonnenstaub getönt,
Und einen Hauch der Schlacht vom Schnepfenfeld
Verströmt das Land, machtvoll und sieggekrönt.
Und jäh wie die erhobenen Pokale
Klirrn Pappeln über uns mit ihren Ästen,
Als feierten auf unserm Hochzeitsmahle
Die Freudenstunde Tausende von Gästen.

Jedoch in des verbannten Dichters Zimmer
Stehn wechselnd Angst und Muse ihre Wacht.
Nun kommt die Nacht,
Und einen neuen Morgen kennt sie nimmer.

4. März 1936

Anna Achmatowa
Übersetzung: Uwe Grüning

 

Frank Diamand: Die Jahrhunderte umgeben mich mit Feuer. Osip Mandelstam, 1976.

 

Joseph Brodsky spricht über Mandelstam.

 

Zum 70. Todestag des Autors:

Olga Martynova: Eine Streichholzflamme im Wind
Frankfurter Rundschau, 29.1.2019

Fakten und Vermutungen zum Autor + Dichterstimmen+
KLfGIMDb + Internet Archive 1 & 2 + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Paul Celan liest Ossip Mandelstam: „Diese Nacht, nicht gutzumachen“.

 

Johann-Heinrich-Voß-Preis 2006 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für Ralph Dutli mit der Laudatio von Jochen-Ulrich Peters, der Dankrede von Ralph Dutli und dem Urkundentext.

Preis der LiteraTour Nord 2014 für Ralph Dutli mit der Laudatio von Martin Rector und der Dankrede von Ralph Dutli.

Deutscher Sprachpreis der Henning-Kaufmann-Stiftung zur Pflege der Reinheit der deutschen Sprache. Dankesrede von Ralph Dutli: Die unreine Poesie

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer
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Antrittsrede + Johann-Heinrich-Voß-Preis
Porträtgalerie: Autorenarchiv Susanne Schleyer + Keystone-SDA +
Autorenarchiv Isolde Ohlbaum

 

Ralph Dutli liest aus dem Buch Fatrasien.

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