Paul Valéry: Zur Theorie der Dichtkunst

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Paul Valéry: Zur Theorie der Dichtkunst

Valéry-Zur Theorie der Dichtkunst

VORREDE

Mein Titel ist einigermaßen irreführend. Gewiß vereinigt dieser Band verschiedene hier und da erschienene (und auch einige unveröffentlichte) Versuche, die mit dem Dichterberuf und der Verskunst zu tun haben; aber es wird hier fast nichts zu finden sein, das aus der Absicht käme, die Poesie zu erklären.

Poesie, ein zweideutiges Wort, meint einmal: Gemütsbewegung, die zum Schaffen strebt; und ein anderes Mal: Leistung, die danach strebt, unser Gemüt zu bewegen.
Im ersten Falle handelt es sich um eine Erregung, deren seltsame Wirkung darin besteht, daß sie sich in uns und durch uns eine Welt bildet, die ihr entspricht.
In der zweiten Bedeutung versteht man unter diesem Wort ein bestimmtes Gewerbe, über das man vernünftig reden kann. Es bemüht sich, in andern Menschen jenen schöpferischen Zustand, von dem ich eben gesprochen habe, zu erzeugen und wiederzuerzeugen, und zwar durch die besonderen Mittel der artikulierten Sprache. Zum Beispiel versucht es, die Vorstellung einer Welt heraufzurufen, die so beschaffen ist, daß sie zum Anlaß der eben erwähnten Erregung wird. Das höchste Ziel dieser Kunst in Beziehung auf einen gegebenen Leser ist dann erreicht, wenn dieser Leser keinen anderen vollkommenen und notwendigen Ausdruck für die Wirkung, die ein Werk auf ihn ausübt, finden kann als dieses Werk selbst.
Der erste Sinn jedoch bezeichnet uns eine Art Mysterium. Die Poesie ist die eigentliche Gelenkstelle zwischen Geist und Leben, diesen beiden undefinierbaren Wesenheiten.
Die Menschen, in denen dieses Mysterium sich vollzieht, begnügen sich meist mit der Empfindung, die sie davon haben. Sie empfangen, wie es gerade kommt, dieses schöne Geschenk: bis zum Erfinden erregt zu sein.
Als passive oder aktive Poeten erleben oder erstreben sie die Freude ohne Erkenntnis. Ja, man lehrt sogar gemeinhin, daß die beiden Seinsweisen einander ausschließen; daß eine Gefahr darin liegt, und vielleicht eine Pietätlosigkeit, sie in einem Kopf vereinigen zu wollen. Im Bereiche des Empfindungsvermögens ist diese Meinung unbestreitbar – vorausgesetzt, man nennt ,Empfindungsvermögen‘ genau das, was unvernünftig und göttlich sein soll.
Aber wo gäbe es Gefahren, die niemand anlockten?
Manche Leute, wenn auch ziemlich wenige an Zahl, begnügen sich also nicht damit, durch eine bestimmte ursachlose Gabe lediglich von der Natur Begünstigte zu sein. Nicht ohne Verdruß, nicht ohne Widerstreben lassen sie es zu, daß Anwandlungen und Lustgefühle von so hoher Art nicht in die geistige Betrachtung eingehen und in ihr aufgehen sollen.
Weit davon entfernt, die klaren und deutlichen Verfahren des Geistes in einen Gegensatz zur Poesie zu stellen, behaupten diese Unentwegten, daß der Ehrgeiz, die poetische Leistungskraft zu analysieren und womöglich zu begreifen, nicht nur an sich selbst der allgemeinen Tendenz unseres Willens zur Einsicht entspreche und den ganzen Umfang unserer Denktätigkeit beanspruche, sondern darüber hinaus auch wesentlich sei für die Würde der Muse – oder vielmehr aller Musen, denn ich spreche jetzt ganz allgemein von allen unseren Fähigkeiten, ideale Gegenstände zu erfinden.
In der Tat, mag die Poesie auch noch so sinnenhaft und leidenschaftlich sein, gänzlich untrennbar von bestimmten Entzückungen, mag sie manchmal bis zur Ordnungslosigkeit vorstoßen, so verträgt sie sich dennoch mit den genauesten Fähigkeiten der Intelligenz. Das ist leicht zu zeigen. Denn wenn sie auch im Prinzip eine Art Erregung ist, so ist sie doch eine sehr besondere Art von Erregung, nämlich eine, die sich Formgleichnisse schaffen will. Der Mystiker und der Liebende können im Unsagbaren verharren; aber die Schau oder die Gefühle des Dichters streben danach, sich einen exakten und dauerhaften Ausdruck in der realen Welt zu gestalten.
Leidenschaftliche Erregungen erstaunen uns im Innersten und verändern uns durch Überraschung. Bald entfesseln sie verborgene Kräfte in uns, die uns plötzlich aus unserer Fassung bringen; bald schütten sie uns maßlos aus, in ordnungslosen Bewegungen, die sich nur durch die Überfülle des Augenblicks erklären lassen; bald nötigen sie uns zu mehr oder weniger verständlichen und verständigen Handlungen, die irgendein Ding zu erreichen suchen, dessen Besitz oder dessen Vernichtung uns den früheren Frieden und die Freiheit für die folgenden Augenblicke wiederbringen soll.
Aber es kommt auch vor, daß solche besonders tiefen Verwirrungen oder Erregungen irgendwelche Ausdruckskräfte in Tätigkeit setzen. Als deren unmittelbare Wirkungen entstehen dann im Geiste Formen und Rhythmen, unerwartete Beziehungen zwischen verborgenen Orten der Seele, die bisher weit entfernt voneinander waren, gewissermaßen ohne Kenntnis voneinander im gewöhnlichen Lauf der Zeit, jetzt aber plötzlich wie dazu geschaffen, einander als Teile eines harmonischen Gefüges oder eines vorherbestimmten Ereignisses zu entsprechen. Dann ahnen wir, daß wir irgendein Ganzes in uns verschließen, von dem uns die gewohnten Umstände nur Fragmente abverlangen. Auch beobachten wir nun, wie die ursprüngliche Ordnungslosigkeit des Bewußtseins Anfange von Ordnung hervorbringt, sich mit Entwürfen und Verheißungen durchdringt; wie tausend mögliche Vollkommenheiten im Unvollkommenen erwachen, wie die Zufälligkeiten die Wesensformen hervorlocken, – und wie eine ganze Schöpfung aus Kontrasten, aus Symmetrien, aus Maßverhältnissen sich unserem Denken enthüllt, sich durchsetzt, auch wohl sich verweigert, so deutlich sie auch immer zu spüren bleibt.

Wenn ich aber in bezug auf die Poesie von Erregungen spreche, so kann ich hier vielleicht eine Bemerkung einflechten, die mit der allgemeinen Absicht meiner Überlegungen zusammenhängt.
Die Dichter – ich meine damit Personen, die von poetischen Empfindungen weitgehend beherrscht werden – sind nicht sehr verschieden von den andern Menschen, was die Intensität der Erregungen angeht, die sie dort erleben, wo sich jedermann erregen läßt. Von allem, was jedermann stark ergreift, werden sie nicht viel tiefer ergriffen – wenn sie es auch durch ihr Talent recht oft glauben machen können. Sondern sie unterscheiden sich ganz im Gegenteil von den meisten Leuten dadurch, daß sie von Dingen, die keinen sonst aufregen, im höchsten Grade erregt werden können, und dadurch, daß sie fähig sind, sich selbst eine Menge Leidenschaften, wundervolle Stimmungen und lebhafte Gefühle zu geben, denen der geringste Vorwand genügt, um aus dem Nichts zu entstehen und sich in die Höhe zu steigern. Sie besitzen gewissermaßen in sich selbst unendlich vielmehr Antworten als das gewöhnliche Leben ihnen Fragen vorzulegen hat; und darin liegt ihr stets bereitgestellter, überfließender und gleichsam überreizter Reichtum, der einem Nichts zuliebe Schätze, ja sogar Welten zur Entfaltung bringt.

Aber ist dies nicht überhaupt der eigentümliche Charakter unseres Nervensystems? Die Herausbildung der greifbaren Erscheinung an Stelle der unfaßbaren, unüberwindlichen und mit sich selbst unvergleichbaren Wirklichkeit, ist sie nicht die hervorstechende Besonderheit dieses Systems? Denn dieser Energieträger, dieser geheimnisvolle Apparat des Lebens, hat die Aufgabe, alles Verschiedene zur Einheit zusammenzufügen, das was nicht mehr ist, auf das was ist, wirken zu lassen, Abwesendes gegenwärtig zu machen und mit unbedeutendem Kraftaufwand unermeßliche Wirkungen zu erzielen; darum bietet er uns endlich alles, was nötig ist, um die Poesie in ihr Amt einzusetzen.
Ein Dichter ist letzten Endes ein Individuum, das die Beweglichkeit, die Subtilität, die Allgegenwart, die Fruchtbarkeit dieses allmächtigen Kräftehaushalts im höchsten Grade verkörpert.
Wenn wir davon etwas mehr wüßten, könnte man versuchen, sich eine hinreichend genaue Vorstellung von der dichterischen Leistungskraft zu machen. Aber wir sind sehr weit davon entfernt, im Besitz dieser zentralen Wissenschaft zu sein. Jene Liebhaber der Analyse, von denen ich vorhin sagte, daß sie sich nicht damit begnügen, lediglich die Spielbälle ihrer Begabungen zu sein, sie erfahren es bald, daß das Problem der Erfindung der Formen und der Ideen eines der heikelsten ist, die eine geübte spekulative Vernunft sich stellen könnte. Auf diesem Forschungsgebiet wäre alles ganz neu zu erschaffen nicht etwa nur die Mittel und die Methoden, die Worte und die Begriffe, – sondern darüber hinaus, und vor allem andern, müßte man erst einmal den eigentlichen Gegenstand unserer Wißbegierde definieren.
Etwas Metaphysik, etwas Mystik, viel Mythologie werden noch lange Zeit genügen, um in diesem Problembereich die Stelle von positiven Erkenntnissen zu vertreten.

 

 

 

Für das moderne Verhältnis zur Dichtung

ist kennzeichnend, daß dem Dichtungsprozeß, der Herstellung eines Gedichtes eine immer größere Bedeutung zugemessen wurde. Paul Valéry, bei dem diese Gewichtsverlagerung zum ersten Mal prinzipiell und radikal vollzogen ist, hat die Ära einer neuen Auffassung von Dichtung eröffnet, die noch heute nicht abgeschlossen ist. Entsprechend den beiden Polen seines Wesens: der äußersten Sensibilität und der höchsten Bewußtheit, sind Poesie und Reflexion bei Valéry nicht zu trennen. Über eine Spanne von 40 Jahren, von 1898, der Zeit seiner frühen Gedichte, bis 1939, sechs Jahre vor seinem Tode, reichen die Vorträge, Aufsätze und Notizen, die in diesem Band vereinigt sind.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1987

 

Technik statt Inspiration

Im Insel Verlag sind, von Kurt Leonhard übersetzt, fünfzehn Aufsätze und Vorträge von Paul Valéry, in einem Band versammelt, herausgekommen, der also eine Poetik enthält. Eine Poetik, in der technische und architektonische Elemente ihre Stelle haben, während heute punktuelle Impressionen in der Lyrik vielfach die nach Zufällen locker gereihten Assoziationen und Metaphern bestimmen, jeden Augenblick den gefürchteten Notwendigkeiten eines folgerechten Bauzwanges ausweichend, als wäre der Autor von ihm bedroht und musste die dichterische Freiheit wahren, während er längst aus dieser Sphäre herausgetreten ist. Ein neuer lyrischer Weltprozess ist im Gang, in dem oft scheinbare Modernismen nichts anderes als Abkömmlinge aus Zeiten vor dem bewusst gelenkten Stilwillen von Poe, Baudelaire, Mallarmé, Valéry sind, der romantischen Inspirationslehre näher als den seitherigen Lehren vom Gedichtbau.
Die Inspiration: Kaum einer hat sich über diesen der Romantik noch heiligen Begriff so lustig gemacht wie Valéry; er hat ihn weniger als Einhauchung göttlich dichterischen Geistes in den Menschen aufgefasst, denn als Selbstaufblasung des Menschen. Aus ist es da mit dem Glauben der Mystiker an die göttliche Einwohnung im Enthusiasmus oder an eine Verschmelzung mit Gott im Aussersich der Ekstase, ein Glaube, der sich auch in verweltlichter Gestalt erhalten hatte, und der gerade bei uns, als ein sehnsüchtiges oder nur noch süchtiges Glauben an irgendwelche Formen von irrationalem Genie immer wieder Verehrer auch trüber Tiefen betört.
In einem Zeitalter, dessen Unternehmungen auf Erden und im Himmel subtilste Berechnungen erfordern – denn wer wollte sich schon einer nur mit Inspiration oder Intuition erschaffenen Weltraumkapsel anvertrauen – in unserm Zeitalter hat die Lehre von der dichterischen oder, wie man so gern sagt: schöpferischen Inspiration etwas beinahe Herausforderndes erhalten. Ist es nicht, als würde die persönliche Uebervernunft, oder Unvernunft, im Rang erhoben über die Vernunft, namentlich über den Allgemeincharakter der Vernunft? Ein Gebiet der Innerlichkeit, das als besonders persönlich galt, wurde beinahe vergöttlicht, seit der Aufklärung freilich immer mühsamer, seit den Forschungen der Tiefenpsychologie auf eine oft bizarr überanstrengte Weise. Und doch hat die Inspirationslehre, von Valéry sosehr gering geschätzt, eine vornehme Herkunft: wir finden ihre ehrwürdige Vorform bei Platon, im Phaidros, wo er von der Manie spricht, was die Wörterbücher mit Wahnsinn, Raserei, Verzückung, Begeisterung übersetzen. Es heisst da:

Die Besessenheit und der Wahnsinn, wenn sie eine zarte und verschlossene Seele ergreifen, wecken diese auf und versetzen sie in einen schwärmerischen Zustand, und indem sie in Liedern und den andern Arten der Dichtkunst tausend Taten der Alten verherrlicht, bildet sie die nachwachsenden Geschlechter. Wer aber ohne den Wahnsinn der Musen den Toren der Dichtkunst sich naht, in der Einbildung, seine Fertigkeit werde hinreichen, ihn zum Dichter zu machen, der bleibt ein Stümper, und seine verstandesmässige Kunst wird völlig verdunkelt von der Kunst des im Wahn Verzückten.

So Platon, dessen Auffassung in unserer Literatur grössten Einfluss gewann.
Punkt für Punkt hat sich Valéry in Gegensatz zu dieser Lehre gestellt. Auf Kosten der verzückten Eingebung erhebt er die ordnende Verstandeskraft, die Technik des Machens, zähe Arbeit, möglichste Einschränkung des Zufalls, der dem Dichter wohl einzelne Juwelen hinwerfen mag. Er sagt, kein Gedanke sei tiefer als eine beliebige Konvention, und er hält nichts vom Willen zur Originalität, da heutzutage was morgens originell war, noch am selben Abend bis zur Unerträglichkeit der Effekte reproduziert wird. Noch in einem Punkt ist er mit Schärfe Anti-Platoniker, in diesem: Platon erwartet, dass die durch Dichtung in einen „schwärmerischen Zustand“ versetzte Jugend den Ruhm von Taten der Väter vernehme, die gesteigerten Worte beherzige, dadurch gebildet werde, im platonischen Sinn von staatsbürgerlicher Erziehung. Das ist die Erhebung der Geschichte zum inspirierten Gesang, gross tritt sie an die Seite des Mythos, der Dichters Lande ursprünglich fast ausschliesslich besetzt hielt. Bei Valéry ist die Geschichte unteren Ranges, ohne Erkenntniswert, beliebig in ihren national oder sozial oder sonstwie begründeten Konstruktionen, die als Konstruktionen allenfalls schön sein können, wenn sie von einem grossen Schriftsteller stammen. Die Abwendung von der Geschichte ist bei Valéry leidenschaftlich, wie bei Gottfried Benn, auch höhnisch wie bei diesem angesichts ihrer „Sinnlosigkeit“, deren Theoretiker Valérys Altersgenosse Theodor Lessing wurde. Die analytische Psychologie Freuds sah in jedem Menschen den Mythos vom vaterfeindlichen, mutterliebenden Oedipus als Geschichte mit Konstanten und Varianten sich entfalten; das ist wohl die totalste Historisierung des Menschen, gleichzeitig mit dem von Nietzsche her weitergetragenen Aufstand gegen die Historie, die immerhin als göttliche Beschützerin die schreibende Muse, Klio, auf ihrer Seite hat. Bei Leibniz, den Valéry mit einiger Freude an der leichten Herausforderung in einem Vortrag in Berlin „den grössten Deutschen“ genannt hat, bei Leibniz war alles noch unverzwistet beisammen; seine Gaben mathematischer Erfindung – die Differential- und Integralrechnung – haben es ihm in aller Güte gestattet, auch das Amt eines Historikers zu übernehmen. Das Werden der menschlichen Dinge, die durch Willen, Leidenschaften, aber doch auch Intelligenz entstehen oder weiterentwickelt werden, war Leibniz weder verhasst, noch gleichgültig; vom ersten, höchsten Werfen, vom Ursprung der Welt freilich spricht er als Mathematiker: „Dum Deus calculat, fit mundus“; indem Gott rechnet, entsteht die Welt, oder: dadurch dass Gott rechnet, entsteht die Welt. Die Schöpfung, in die der Mensch gesetzt wurde, ist das Werk des allerhöchsten Weltmathematikers, der sie auf Zahlen gegründet hat und der mit der mathematischen Analysis zu Werke gegangen ist. Der Augenblick musste kommen, wo ein nicht platonisch, sondern aristotelisch ausgerichteter Dichter sich diese Vorstellung zu eigen machte. Wie schon Baudelaire, wie Mallarmé geriet auch Valéry an den Einfluss namens Edgar Poe; diesem ihn beschenkenden geschichtlichen Vorgang war er dankbar wie seine Vorgänger, denn sie bildete in ihm Epoche. Mochte die Geschichte sinnlos sein, diese Begegnung mit einer geschichtlichen Grösse war es nicht.
Ist es darum, weil er in einem Volk mit Jugendgefühlen und vorläufiger Uninteressiertheit an aller Geschichte aufwuchs, dass Poe wie ein Städtebaumeister alles Ingenieurmässige in den Vordergrund stellte, ein Pionier, der beständig bereit war, zu entwerfen und zu bauen? Er verlegt das Gewicht von der Mania, der Verzückung, auf die von Platon verächtlich behandelte „Fertigkeit“, auf das Poiein, das Komponieren eines Verskörpers und die Techniken des Gedichtbaus. In drei Abhandlungen hat er die Gedanken zu seiner Theorie der Dichtkunst niedergelegt: 1. The Poetic Principle, 2. The Philosophy of Composition, 3. The Rationale of Verse, also 1. Das Wesen der Poesie, 2. Philosophie, oder eher: Lehre vom Gedichtbau, 3. Vernünftige Erklärung des Verses. Am berühmtesten ist die „Lehre vom Gedichtbau“ geworden, deren Einfluss in Frankreich mächtig, auf deutschem Sprachgebiet, soviel ich sehe, beinahe null war. Unsere Romantische Schule um 1800 in Jena hat mit ihren Forderungen der romantischen Ironie, dem Bewusstsein der Bewusstheit, dem vernunftmässigen Erzeugen und Aufheben dichterischer Gefühlswirkungen wohl einen hohen allgemeinpoetischen Bewusstseinsstand geschaffen, jedoch in der Absetzung gegen die Kunsttheorien der Klassiker hatte sie ein grosses Wesen mit der Freiheit der Phantasie, bis zu jeder Willkür, gemacht, das Schweifende, Unstete, Improvisierte hoch erhoben. Etwas Nomadisches blieb da in zu enger Bürgerwelt ungebändigt, während die Dichter in Paris vom Geist imperialen Städtebaus erfasst wurden. Fichtes Wissenschaftslehre war ein Grundbuch unserer Romantik, nach ihm gehörte es zum Wesen der Intelligenz, „sich selber zuzusehen“, mithin den selbstreflektierten Standort der romantischen Ironie einzunehmen; als Jahrzehnte später französische Dichter diese idealistische Position einnahmen, wandten sie sich damit gegen ihre Romantik der Chateaubriand, Lamartine usw., gegen ihre unreflektierte, von Gefühlen geschwellte Rhetorik. Mit Waffen, welche die romantische Schule in Jena und Berlin bereitet hatte, kämpften sie gegen ihre eigene, die französische Romantik. Unschätzbar war ihnen die Hilfe, die ihnen in dem Prozess künstlerischer Bewusstwerdung von seiten Poes zuwuchs.
Poe hat in der Philosophy of Composition an den achtzehn Strophen seines Raben – 1845 – den modus operandi, das Verfahren in seinem Dichten entwickelt. Manches hat Valéry in die eigene Theorie eingebaut oder hat es theoretisch bekämpft, aber praktisch angewandt. So etwa einen Hauptpunkt bei Poe, die Originalität, namentlich in den Versmaassen und im Strophenbau. Unbedingt strebt er Originalität an, überzeugt davon, dass die Kombinationen der Metren und verschieden gebauten Strophen an Zahl unbegrenzt seien. Infinite, sagt er und fügt hinzu, seit Jahrhunderten habe kein Mensch auf dem Gebiet der Verse mehr etwas Originelles unternommen oder auch nur an einen Versuch dazu gedacht. Valéry, das sei hier gleich eingefügt, wandte sich gegen den Originalitätswillen, wenigstens theoretisch, als Dichter jedoch hat er, alte, untergegangene Versmasse neu belebend, etwa in der Jeune Parque und im Cimetière marin, mit einer Kraft der Originalität gewirkt wie keiner unter seinen Zeitgenossen, um nur dieses eine zu erwähnen. – Poe fährt dann weiter: Originalität werde einem nicht durch Intuition oder poetischen Aufschwung geschenkt. Nur in sorgfältig suchender Forschung werde sie gefunden; solche Forschung laufe weniger aufs Erfinden hinaus als auf Weglassung, Ausscheiden des Ungemässen, folglich Unbrauchbaren. Die unterscheidenden, d.h. die kritischen Fähigkeiten des Dichters werden hier hoch erhoben, der Verstand in seiner Tätigkeit, insoweit er Kunstverstand ist. Max Liebermanns Ausspruch „Zeichnen heisst weglassen“ ist die knappste Formel für diese Art von kritischem Vermögen. Auch Stéphane Mallarmé hat Poes Kunstabsicht im Aussparen am Werke erkannt, sogar in den weissen Flächen zwischen den Strophen; auch sie, ausser der Kenntnis von Poes Biographie, haben ihn die blitzartigen Gewalten im Leben eines so mächtigen Dichters ermessen lassen. Stille tritt da zwischen Worten, ja am Worte selbst lautlos auf; sie zu errichten, sagt Mallarmé, sei nicht weniger schön als der tönende Bau des Gedichts, dessen Schönheit aus Klang und Stille und den genau bemessenen Proportionen zwischen ihnen besteht. Die Rhethorik wird zerschlagen, das Pathos gebrochen, die Langrede zerhackt, alles Flüssige eingedickt – die Stunde dieser Gedichtelemente war vorbei; sie wird immer wieder einmal kommen, aber anders jedesmal.

M. R., Die Tat, 30.3.1963

 

„Ich denke, also bin ich nicht“

− Paul Valéry und seine Cahiers. −

Als Paul Valéry im Juli 1945 mit einem von Charles de Gaulle verordneten Staatsbegräbnis die letzte Ehre zuteil wurde, da schien es vielen, als trage man den letzten Statthalter des europäischen Geistes zu Grabe. Wenn es nach Goethe und Victor Hugo überhaupt noch einen Klassiker zu Lebzeiten gegeben hat, dann war das Paul Valéry, der einmal klagte: „Was gäbe ich dafür, wenn mir mein Ruhm dazu verhülfe, ohne ihn auszukommen!“ Valéry hätte einen Großteil seiner Lebenszeit damit verbringen können, die Lobeshymnen zu lesen, die auf ihn angestimmt wurden, hätte Lob ihn nicht fast ebensosehr gelangweilt – wie Lesen, dem er das eigene Schreiben entschieden vorzog. Als 1921 über 3000 von der Zeitschrift La Connaisance ausgewählte Geistesgrößen Valéry zum „größten Dichter der Zeit“ kürten, mokierte sich darüber niemand außer Valéry selbst, der an einen Freund schrieb: „Sie haben mich mit 3145 Stimmen zum größten Dichter gewählt… Nun bin ich aber weder groß noch Dichter, und sie sind auch nicht 3000, sondern wohl 4 in irgend einem Café.“
Allerdings huldigten Valéry uneingeschränkt auch jene unter seinen schreibenden Zeitgenossen, die alles andere als Caféhausliteraten waren und mit Lob sonst eher knauserten. Selbst der strenge Musil konnte Neidgefühle gegenüber dem französischen Kollegen nicht verhehlen. Auf T.S. Eliots Schreibtisch stand die Fotografie Valérys, und W.H. Auden, der doch geradezu als Antipode Valérys wirken könnte, bekannte noch im Alter, er habe Valéry „öfter als jeden anderen Dichter um Hilfe angerufen“. Sogar noch die beängstigend gescheite Gottsucherin Simone Weil ging vor dem Agnostiker Valéry in die Knie – und rügte seine Ansichten für ihre Verhältnisse mehr als milde. Daß Paul Valéry für den Nobelpreis zu groß war, versteht sich fast von selbst. Dafür machte ihn Frankreich, obwohl er nur zur Hälfte Franzose war – Valérys Mutter stammte aus einem alten Genueser Geschlecht, der Vater war Korse −, früh zum Ritter der Ehrenlegion und nahm ihn noch früher in die Académie der Unsterblichen auf, wo er in seiner Antrittsrede das Kunststück fertigbrachte, den Namen Anatol France, dessen Nachfolger er doch war, nicht ein einziges Mal zu erwähnen. Auf seinen Akademikerdegen ließ er die Worte „Tel quel“ eingravieren, ein bezeichnendes Motto für diesen scharfen, wendigen und blitzschnell zustoßenden Geist, der an der gleichnamigen Zeitschrift, die nach seinem Tode einmal intellektuell tonangebend werden sollte, wohl wenig Freude gehabt hätte, denn einer seiner erklärten Grundsätze lautete: Verabscheue alles Vage!
Nicht nur dies und die Statur zum Repräsentanten, nicht nur die verwirrende Vielseitigkeit der geistigen Interessen und das virtuose Geschick, Intuition und Intellekt, Dichten und Denken miteinander kühn in Übereinklang zu bringen, hatte Paul Valéry mit Goethe gemein, sondern auch die Zugehörigkeit zu zwei einander sehr fremden Jahrhunderten. Als der im Jahr der Niederlage und der Kommune 1871 in Sète an der französischen Mittelmeerküste geborene Valéry seine geistige Geburt erlebte, da zeichnete Degas noch seine Tänzerinnen und Cézanne malte Mal um Mal die Monte Sainte-Victoire, Massenet komponierte seine Manon und Wagner seinen Parsifal, Flaubert und Zola waren die führenden Romanciers, in der Poesie beherrschten Baudelaire, Verlaine und Rimbaud das Feld, und auf dem Altar seines Abgotts Mallarmé brachte der neunzehnjährige Paul Valéry seine frühen Verse dar, die schon so unerklärlich vollkommen waren wie die eines drei Jahre jüngeren deutschsprachigen Dichters, der sich Loris nannte – und als Hugo von Hofmannsthal bald schon zur erlauchten Schar der Valéry-Verehrer zählen sollte. Als Valéry starb, da las und diskutierte man Céline, Sartre, Camus, hörte Arnold Schönbergs Überlebenden aus Warschau, in den Galerien wurden Fautrier, Dubuffet und Wols ausgestellt, der Surrealismus war bereits passé – und passé war auch jede ungebrochene Geistgläubigkeit, hatte sich doch der Ungeist als unendlich überlegener Sieger in den Kämpfen und Katastrophen der Epoche erwiesen.
1896 hatte Valéry in seiner Schrift Eine methodische Eroberung im disziplinierten und generalstabmäßig durchorganisierten Deutschland, das er als ein einziges großes Laboratorium bewunderte, die mächtigste Tendenz des Zeitgeists am Werk gesehen. In seinen letzten Lebensjahren mußte Valéry nicht nur mitansehen, wie diese Tendenz seine Heimat Frankreich versklavte, sondern wie sie ganz Europa verwüstete und schließlich zu den Gaskammern von Auschwitz führte. Derselbe Valéry, der einmal gemeint hatte, es fehle ihm nur „ein Deutscher, der meine Gedanken zu Ende denken würde“, dachte nun im hohen Alter das größte Werk des größten deutschen Dichters weiter und kam in seinem Faust, den er auch verwegen Mon Faust nannte, zu dem schockierenden Schluß, daß in unserer modernen Welt nicht nur der Teufel total harmlos und also überflüssig geworden sei, sondern auch der Geist gründlich ausgespielt habe – jener Geist, dem Valéry ein Leben lang bedingungslos gedient hatte, ja der sein einziger Gott gewesen war, dem er früh sogar die Gabe seiner Dichtung zum Opfer gebracht hatte.
Bereits im Spätherbst 1892, in der berühmten Gewitternacht von Genua, die er später als die Hauptzäsur in seinem Leben bezeichnen sollte, beschloß Paul Valéry nämlich, nicht nur die Liebe, sondern auch die Literatur zu „guillotinieren“. Sowohl in der Liebe wie in der Literatur glaubte er, seiner Gefühle nicht vollkommen Herr werden zu können. Gefühle aber galten ihm als vulgär: „Ihretwegen werden wir von Männern, von Frauen, von Umständen beherrscht.“ In der Sphäre des Geistes, wie sie ihm vorschwebte, sollten Gefühle nur bis zu dem Grade ihrer Vermessungsmöglichkeit zugelassen sein, diese Sphäre sollte von allem Irrationalen befreit sein. Der junge Paul Valéry, der „im Grunde wütend darüber (war), ein Mensch zu sein, in diese Affäre des Daseins verwickelt zu sein“, verkündete: „Weder das Neue noch das Geniale verlocken mich, sondern die Herrschaft über sich selbst“, und als das Wesentliche betrachtete er nicht länger „das Werk“, sondern „die Erziehung des Urhebers“.
Entsprechend galten ihm nicht seine Gedichte, Dialoge und diversen anderen literarischen Produkte als sein „wahres Œuvre“, sondern seine Cahiers, in denen er ab 1894 bis zu seinem Tode nahezu täglich im Morgengrauen diese Erziehung des Urhebers betrieb. In insgesamt 261 Heften, die faksimiliert 28.000 Folioseiten umfassen, machte sich Valéry zu Goethe und Eckermann in einer Person: „Mein ewiges Heft ist mein Eckermann. (Man braucht nicht Goethe zu sein, um sich einen treuen Gesprächspartner zu leisten.)“, notierte er noch 1945. – Man hat Valéry in Deutschland allzu lange nur als den Dichter – und auch noch durch die Brille seines allzu preziösen und dazuhin noch unpräzisen Übersetzers Rilke wahrgenommen, in Wahrheit nahm Valéry eine an Verachtung grenzende Distanz zu seinen eigenen literarischen Hervorbringungen wie zur Literatur insgesamt ein. War Valéry vielleicht einfach zu intelligent, um auf die Dauer Dichten nicht zu dumm zu finden? Die Romanfabrikation kam für ihn ohnehin nie in Betracht, er glaubte, dieses ganze Genre erledigt zu haben mit seinem ironischen Diktum, er brächte es nicht über sich, einen Satz niederzuschreiben wie: „Die Marquise ging um 5 Uhr aus.“ Erstaunlicherweise überlebte der Roman diesen Giftpfeil aber ziemlich mühelos und schickt bis zum heutigen Tag immer neue und doch altbekannte Helden aus ihren Häusern.
Zumindest einen Helden hat allerdings auch der junge Valéry geschaffen, genauer: den ersten Anti-Helden der modernen Literatur, denn wir erfahren nichts über seine Herkunft oder seine Gefühle, und Valérys Bericht über ihn beginnt mit einem Satz wie einem Fanfarenstoß: „Dummheit ist nicht meine Stärke.“ Dieser selbstbewußte Anti-Held namens Monsieur Teste, der auf dem Kampfplatz des Kopfes gegen den Rest des Leibes und gegen alles zu Felde zieht, was ihn daran hindern könnte, die perfekte Personifizierung des Denkens zu sein, verwandelt sich in den Cahiers wieder in jenen Helden, der ihn schuf: Paul Valéry. Es ist, bezeichnenderweise, ein Held der Frühe. Nicht in der Mittagsschwüle, nicht in der Dämmerung, erst recht nicht in der Nacht ist der Kopf so unangefochten vom übrigen Körper wie in der Frühe. Ein solches Bollwerk gegen das Leben, wie die Cahiers es darstellen, läßt sich nur errichten, solange das Leben noch nicht zu sich erwacht ist, solange noch Ereignislosigkeit herrscht. Ereignisse, hat Valéry einmal gesagt, langweilten ihn, sie seien nur der Schaum der Dinge, ihn aber interessiere das Meer. Aus der Tatsache, daß der junge Valery einmal hatte Seeoffizier werden wollen, leitete Walter Benjamin später Valérys „durch und durch mathematisch gerichtetes Denken“ ab, „das sich über die Sachverhalte wie über Seekarten beugt und ohne im Anblick von ,Tiefen‘ sich zu gefallen“.
Was aber passiert nun auf diesem Meer der Möglichkeiten, das Paul Valéry all morgendlich in seinen Cahiers befuhr? Wo sind dessen Tiefen und Untiefen, welche Meeresungeheuer mußte Valéry bezwingen, welche Sirenen lagen ihm in den Ohren? Die Klatsch- und Meinungsmonster, von denen es sonst in den Aufzeichnungen diverser Dichter und Denker nur so wimmelt, tummeln sich in den Cahiers nirgends; vor Meinungen, politischen oder moralischen, grauste es Valéry, dessen Urteil über Politik entsprechend scharf ausfiel: „Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht.“ Valéry war, wie Max Rychner formuliert hat, „nicht sittlicher, sondern geistiger Moralist, nicht gegen das Böse gewandt, sondern gegen das Dumme“. Nicht einmal die beiden Gegner, die er ausdrücklich als seine beiden Hauptfeinde bezeichnete, nämlich das Herz und der Körper, vermochten es, ihn zu Bekenntnissen oder gar Geständnissen zu verführen – oder nur so ausnahmsweise, daß man dann wahrlich wie über den berühmten Blitz aus heiterem Himmel erschrickt, wenn einmal plötzlich ungeheuer nackt der Satz dasteht: „Ich liebe mich nicht.“ Dabei ist dies zum Verständnis Valérys zweifelsohne ein Schlüsselsatz, der überhaupt erst zu erklären vermag, warum sich Valéry so entschieden weigert, den Blick aufs eigene Ich freizugeben oder, genauer, warum er so strikt wie nur noch der ihm in so vielem verwandte Portugiese Fernando Pessoa darauf insistiert, nicht der zu sein, der er ist: „Welcher ich auch sei, ich weise ihn zurück“, notiert Valéry in den Cahiers, was ihn nicht daran hindert, sich gleich darauf wieder narzißtisch über das eigene Spiegelbild zu beugen, um sich als intellektuelle Hydra – wenn schon nicht zu bewundern, so doch zu studieren. „Sich daran gewöhnen, die Schlange zu denken, die sich selbst verschlingt“, so könnte ein Motto dieses unentwegten Selbststudiums lauten, das so völlig ohne Seelendramen abzugehen scheint und sich nur in Ideendramen abspielt, in intellektuellen Kämpfen, die den Vorzug haben, daß es dabei weit weniger Verwundungen gibt als bei den verachteten Gefühlskriegen, wie sie etwa in den Tagebüchern André Gides ausgetragen werden.
André Gide, mit dem Valéry eine lebenslange Freundschaft verband, die – wie der 50 Jahre währende Briefwechsel zwischen beiden zeigt – im wesentlichen aus Irritationen übereinander bestand, Gide war in Wahrheit wohl der absolute Antipode Valérys. Da es leider viel leichter ist, zu sagen, was Valérys Cahiers nicht sind, als was sie sind, so ließe sich zumindest dies mit Sicherheit sagen, daß sie in allem das Gegenteil von Gides Tagebüchern sind. Nach deren Lektüre stellte Valéry Anfang der vierziger Jahre mit gut gespieltem Entsetzen fest, das Gide „keine Ahnung“ von ihm habe:

Er lebt in einer ganz anderen Welt – einer Welt, in der die emotionalen Fragen beinahe die einzigen sind, die es gibt, und in der der Wille zur Macht nur jene Macht meint, die Gefühle anderer zu erschüttern, und nicht jene Macht, zu dem zu finden, was man vor sich selbst sein möchte… Es gibt in diesem dicken, durchaus fesselnden Buch nichts, das zu schreiben ich mir die Mühe gemacht hätte.

Gide war neugierig auf Individuen, also auf alle Arten von Abweichungen, Valéry aber war versessen auf die Gesetzmäßigkeiten der Gattung. Für ihn zählten nur die Spezialisten, zu denen er merkwürdigerweise die Frauen rechnete (was Gide auch nicht gerade begeistert haben dürfte). Gide wollte erregen und selbst erregt werden, er mußte deshalb gefallen, was ihn in Valérys Augen zur „Kokotte“ machte. Valéry aber wollte erkennen und selbst nicht erkannt werden, er hatte das „Bedürfnis, inkommensurabel zu sein und mich so zu erhalten“, und er verbarg sich deshalb unter dem Dach eines Denkens, dessen Ziel nicht – wie bei Gide – absolute Aufrichtigkeit, ja Entblößung war, sondern gerade das Gegenteil, Sich-Verbergen, Askese, Abstand – jene Art von Abstand, den Simone Weil einmal „die Seele des Schönen“ genannt hat, der aber für Gide vor allem Ausdruck für Hochmut war. Bereits 1901 notierte er in seinem Journal mit Blick auf den Freund Valéry:

Der Verstand scheint mir nicht mehr die teure Perle zu sein, für die man alles Übrige verkauft. Die Eitelkeit, alles zu verstehen, ist ebenso lächerlich wie jede andere Eitelkeit und gefährlicher als jede andere. Nach kurzer Zeit versteht man sich selbst am wenigsten.

Genau 40 Jahre später aber gab Gide sich geschlagen und seufzte: „Wenn man Valéry liest, erwirbt man jene Weisheit, sich ein wenig dümmer zu fühlen als zuvor.“ Als Gide dies 1941 schrieb, konnte er die Cahiers noch nicht kennen, in denen Valérys Intelligenz erst ihre wahren Triumphe feierte.
Den jungen Valéry, der der Dichtung abgesagt hat, den an ihr nur noch das WIE und nicht das WAS interessiert, der also die Poetik über die Poesie stellt, beschäftigt als Denker in seinen Cahiers zunächst auch einmal weit mehr das WIE als das WAS des Denkens. Im Bemühen, die Bedingungen des Denkens, das Bewußtsein des Bewußtseins zu ergründen, stößt er dabei rasch an die Grenzen jenes Mediums, dessen er sich als Dichter doch so sicher war, an die Grenzen der Sprache. Valéry wird zum Sprachkritiker, der streng deklariert: „Die Sprache hat das Denken nie zu Gesicht bekommen.“ Valerys Fazit: „Es ist wichtig, sich im Denken ohne Sprache zu üben!“ Doch wie macht man das? Die Antworten darauf fallen bei Valéry kaum weniger widersprüchlich aus wie später bei Wittgenstein, dessen Einsichten der Franzose freilich in vielem vorwegnahm. Doch die Differenz zwischen dem Denken und der Sprache, die Differenz zwischen dem Denken und dem Denkenden vermag auch Valéry nicht auszuloten, auch wenn er Hilfe sucht bei der Mathematik und den Naturwissenschaften, die ihm so viel verläßlicher als die Sprache scheinen – wobei man den Verdacht nicht los wird, daß er sie vor allem deshalb so sehr bewunderte, weil er von ihnen nichts oder doch weniger als von der Sprache verstand.
Über die eher triviale Erkenntnis, daß ein Mensch „komplizierter – unendlich komplizierter – als sein Denken“ ist, landet Valéry bei dem, was ihn vor allem auszeichnete, bei der Sensibilität: „Die Sensibilität ist das wichtigste Faktum von allem – es umfaßt alle anderen, ist allgegenwärtig und allkonstituierend. Das, was man Erkenntnis nennt, ist nur eine Komplikation dieses Faktums.“ Woher aber kommt die Sensibilität? Darauf weiß auch Valéry nichts Verläßlicheres zu sagen als dies: „Ihre Rolle ist ebenso wunderbar wie die des Blutes auf der unteren Ebene der Lebensordnung.“ Auf der Suche nach dem Wesen des Denkens, dem Wesen der Intelligenz stößt Valery also sehr bald wieder auf einen seiner erklärten Hauptfeinde, den Körper, der offensichtlich alles Denken dominiert: „Der Geist ist ein Moment der Antwort des Körpers auf die Welt.“ Wie peinlich aber für den Geist, daß er von den geringsten Störungen des Körpers, etwa von ein bißchen Husten – Valéry litt zeitlebens unter nervösem Reizhusten – oder von Zahnweh so gräßlich blamiert werden kann!

Es sieht ganz so aus, als sei ein heftiger Zahnschmerz das Wichtigste von der Welt. Er bringt das Universum zum Verschwinden, die Leidenschaften – man könnte sich umbringen, man ruft nach der Zerstörung seiner selbst und alles anderen.

Daß dieses ewige Mißverhältnis von Empfinden und Intelligenz die Intelligenz des Autors der Cahiers empfindlich beleidigen mußte, versteht sich; es bringt ihn aber auch zu der überraschenden Einsicht, daß „alles Intensive, das wir über uns ergehen lassen müssen,… keinerlei universelle Bedeutung“ hat, und veranlaßt ihn, auch die Bedeutung der Intelligenz entsprechend zu relativieren: „Die Aufgabe der Intelligenz… ist die Relativierung dessen, was Sinne und Körper für absolut erklären.“ Daß die Intelligenz auch bei dieser Aufgabe zumeist versagt und die Differenz zwischen Geist und Körper letztlich unaufhebbar ist, erhellen zwei Sätze, die wie Grabsprüche für den fehlkonstruierten Menschen in den Cahiers stehen: „Manchmal denke ich, und manchmal bin ich“, so lautet der eine Satz – und der andere, ihn ergänzende, der Descartes’ Cogito ergo sum auf den Kopf stellt: „Ich denke, also bin ich nicht!
Eine Schlußfolgerung wie diese, die des Tragischen wahrlich nicht entbehrt, hätte einen anderen als Valéry vielleicht nach Gott rufen lassen, zum Metaphysiker gemacht. Doch Valéry, der Metaphysikern gern das Etikett „unpräzise“ verpaßt, ging nie in die Gottesfalle. Gegen Pascal, der für ihn offenbar alles das verkörperte, was seinen Intellekt bis zur Weißglut provozierte, führt Valéry sein geistiges Idol Leonardo ins Feld, ein Leonardo, der allerdings so gut wie nichts mit dem wirklichen Leonardo zu tun hat, sondern ein von Valéry erfundener Übermensch ist. Wo Pascals metaphysische Angst schaudernd den Abgrund wahrnahm, hätte Leonardo – laut Valéry – eine Brücke gebaut oder versucht, „mit einem großen mechanischen Vogel“ diesen Abgrund zu überwinden. Valérys Leonardo fragt nicht: was ist der Mensch?, sondern: was kann der Mensch? Wenn es gegen Pascal und die Metaphysiker geht, versinkt selbst ein Valéry, der sich doch stets als Gegner des common sense gerierte, gelegentlich im Abgrund eines allzu gesunden Menschenverstandes. Dann nennt er das Evangelium „Tausend und eine moralische Nacht“, Glaube ein „Sich-die-Augen-Ausstechen, um klarer zu sehen“, und den Christen-Gott verwirft er nicht nur, weil er „einen Gott, der möchte, daß ich ihn lobe“, ein bißchen lächerlich findet, sondern auch weil dieser Christus ihm zu wenig denkt und zu viel leidet – und noch dazu freiwillig. Der Christen-Gott provoziert Valéry zu Ausfällen, die geradezu von dem Krakeeler Céline stammen könnten: „Was ist das für ein Gott, der imstande ist, für dieses Sauvolk von Menschen seinen Sohn zu opfern?“
Ob seine Irreligiosität vielleicht gerade daher rühre, daß er den Menschen und sich selbst verachtet, fragt sich Valéry in den Cahiers einmal, ohne eine Antwort darauf zu geben. Man wird allerdings den Eindruck nicht los, daß auch Valéry im Grunde ein Homo religiosus war, der mit Novalis wußte, daß „jede absolute Empfindung religiös“ ist. Seinen Doppelgänger Monsieur Teste hat Valéry wohl nicht von ungefähr einen „Mystiker ohne Gott“ genannt. „Man glaubt immer an etwas. Wer zweifelt, glaubt an sich, den Zweifelnden“, verkünden die Cahiers – und verstärken nur noch die Vermutung, daß auch Valérys Fixierung auf den reinen Geist bloß ein Glaube an den Geist war, ein Glaube, der endlich ja auch nachhaltig erschüttert wurde.

Die Liebe der Zeit um 92 – ist vergangen. Die Formel jedoch, wie sie mittels des Intellekts auszutreiben sei, hat sich gehalten und ist zu einem der Hauptwerkzeuge meiner Denkweise geworden – ich halte mich seit nunmehr 50 Jahren daran:

Als Valéry sich 1942 in seinen Cahiers so geistessicher gab, war in Wahrheit sein intellektuelles Hauptwerkzeug längst ziemlich stumpf geworden, war ihm schon zum zweitenmal aus der Hand geschlagen worden – von einer Frau. War es zwischen 1920 und 1928 die ebenso exzentrische wie intelligente Schriftstellerin Cathérine Pozzi, in der nicht nur Valérys Geist seinen Meister fand, so war es von 1937 an eine junge Rechtsanwältin, Jean Voilier, die seinem Geist gewaltig zusetzte. In den mehr als 1000 Briefen, die Valéry ihr zwischen 1937 und 1945 schrieb, läßt sich verfolgen, wie die Liebe auch einen so scharfsinnigen Geisteshelden wie Valéry allmählich zum Schwachsinnigen – und zum Menschen macht: „Je weiter ich komme, desto größer wird mein Bedürfnis nach Zärtlichkeit. Im Grunde gibt es nur noch das auf der Welt. Wie scheußlich, würdelos, dumm und nichtig ist alles andere. Selbst der Geist…“, so bekennt Valéry in einem der letzten dieser Briefe. Aber hatte er nicht schon in dem 1942 verfaßten Faust-Fragment eigentlich alles das zurückgenommen, was er einst propagiert und was ihn überhaupt erst dazu bewegt hatte, das gewaltige Werk der Cahiers zu beginnen? In Valérys Mon Faust baut nur noch Fausts Sekretärin, Fräulein Lust, auf die Macht des Geistes. Faust selbst erklärt:

Alles was wirklich und wesentlich ist, wird durch das Denken beeinträchtigt, ja zerstört; wenn aus dem Sinnlosen durch Zufall zuweilen das Vollkommene geboren wird, so geschieht dies ohne Zutun des Verstandes, der sich umsonst bemüht, eine Erklärung für dieses Wunder zu finden. Wenn das Herz Verstand hätte, wäre es tot.

(Der Schlußsatz berührt doppelt merkwürdig, weil er sich nahezu wörtlich im Buch der Unruhe des 1935 gestorbenen Portugiesen Fernando Pessoa findet, das Valéry unmöglich kennen konnte.)
Daß Valérys Herz, vor dem er sich so sehr fürchtete, nie tot war, und diesen Propagandisten eines hellwachen Bewußtseins immer auch die Ungeheuer des Unbewußten ritten, davon zeugt auch die verräterische Metaphorik, mit der er sich in den Cahiers zu jenen Mächten bekennt, die ihn doch gerade vor den Gefühlen und dem Herzen schützen sollen. Derselbe Valéry, der Liebe und Erotik gern als Trunkenheit und Flucht vor der Klarsicht des Geistes denunzierte, bekennt hier, „trunken, berauscht von Physik“ zu sein, er nennt Ideen sein Laster, die Mathematik sein Opium, Reinheit seinen Dämon und Sensibilität gar seine Stute!
Cioran, der mit Valérys „Kult der Hellsichtigkeit“ so unbarmherzig wie niemand zuvor ins Gericht ging, meinte einmal, Valéry habe sich „nie vom Staunen erholt, in welches ihn das Schauspiel seines eigenen Geistes versetzte“. Sosehr man bei der Lektüre der Cahiers immer wieder geneigt ist, Ciorans Urteil zu unterschreiben, sosehr frappiert gleichzeitig doch, daß nahezu jedes Argument, das man gegen Valéry anzuführen beabsichtigt, irgendwann von ihm selbst in selbstkritischer Absicht formuliert wird. Möchte man etwa Valérys fehlendes Naturverhältnis für eine gewisse Anämie seines Denkens verantwortlich machen, stößt man alsbald auf Valérys Klage darüber, „daß meine Themen und Modelle immer nur intellektuelle Gegenstände sind“, und auf eine Selbstbezichtigung wie diese: „Die, die schnell gehen, sehen nichts. Meine Natur war für schnelles Gehen. Die nachteiligen Folgen habe ich alsbald bemerkt…“
Sowenig nachteilig Valérys Immunität gegen jede Art von Tiefsinn gerade hierzulande erscheint, wo die Denker gern vor Tiefsinn triefen, sosehr auch Valérys von Cioran beklagte „Untauglichkeit zur Utopie“ im Lichte der jüngsten geschichtlichen Erfahrungen eher als ein Plus seines Denkens zu Buche schlägt – und sosehr Valérys Stil, der niemals schwitzt, sondern von vollkommener Klarheit ist, einen in Entzücken zu versetzen vermag, sowenig läßt sich aber doch auch das übersehen, was Valérys Freund Paul Léautaud einmal „die Langeweile, die von der Vollkommenheit ausgeht“ genannt hat. Die „ununterbrochene Eleganz“ verleiht Valérys Werk, darin hat Cioran sicher recht, „etwas Schales“. Valéry fehlt das Vermögen, aus der Rolle zu fallen, die Kontrolle über sich auch einmal zu verlieren. Im Gegensatz etwa zum Denken Nietzsches (den Valéry verächtlich einen „philosophierenden Zigeuner“ nannte) oder auch dem eines Bataille entbehrt das Valérys ganz des Skandalösen. Seine Cahiers wirken insgesamt auf eine Weise wohltemperiert, die verständlich macht, warum Valéry sich einmal „das Temperament eines Berufssoldaten“ attestierte. Auch wenn Valéry darunter litt, daß er seinen Lebensunterhalt stets mit Auftragsarbeiten bestreiten mußte und er aus den Geldsorgen nie wirklich herauskam, war der Habitus des Großbürgers ihm doch angeboren. Zur heiligmäßigen Raserei war ihm der Weg ebenso versperrt wie zu jener Art heiligmäßiger Weisheit, die jenseits des Intellekts angesiedelt ist. Der alte Goethe rühmte sich einmal, er habe es deshalb so weit gebracht, weil er nie über das Denken nachgedacht habe. Vielleicht berührt dieser Satz erst das eigentliche Defizit Valérys, der lebenslang über das Denken nachdachte und dabei doch nie jene Weltfrömmigkeit besaß, die Goethe erst dazu befähigte, Kopf und Herz miteinander zu versöhnen.

Peter Hamm, Der Spiegel, 7.1.1991

Gratwanderung zwischen Sprache und Sein

Paul Valéry, der gesagt hat, ein Gedicht sei ein Fest des Intellekts, war nicht am fertigen Kunstwerk interessiert, auch nicht am existentiellen Substrat, ja nicht einmal an der definitiven Form, um die er lange rang. Ihm, diesem Technologen der Sensibilität, ging es allein um den Prozeß des Schreibens: um die offene Szene, das werdende Produkt. Das abgeschlossene Poem hing seiner Ansicht nach nur noch mit Literatur zusammen – das Arbeiten am Text jedoch mit dem Leben, zumindest mit einer reflexiven Einstellung zum Strom des Lebendigen.
Valéry war Magier und Rationalist in einer Person. Denn wenn er einerseits auch sagte „Der Künstler wäre wenig, wäre er nicht der Spielball dessen, was er macht“, so war ihm andererseits das Gedicht nichts als „eine Art Maschine, die aus Wörtern den dichterischen Zustand hervorbringen soll“. Die Inspiration erschien ihm als etwas Suspektes, wie er überhaupt wenig Vertrauen in die äußere und innere Natur setzte:

,Natur‘ – das heißt das Gegebene. Nichts weiter: Alles Uranfängliche. Jeder Beginn; die ewige Grundlage jeder geistigen Tätigkeit, wie immer Grundlage und Tätigkeit auch seien. Dies – und nur dies – ist Natur.

Schon der Neunzehnjährige hatte die Ratio als eine Instanz eingesetzt, die ihm, dem noch von den rituellen Schönheiten des Katholizismus Faszinierten, den Weg aus inneren Konflikten bahnen sollte:

Die plumpeste aller Hypothesen ist die, zu glauben, daß Gott tatsächlich existiere… Gewiß, er existiert, er und der Teufel, aber in uns!… Gott ist unser eigenes Ideal, Satan das, was uns entfernen möchte von ihm.

Das Postulat des poiein, des Machens, das Valéry im dichterischen Bereich von Edgar Allan Poes Philosophy of Composition und im wissenschaftlichen Bezirk von Leonardo da Vinci ableitete, trug von Anfang an viele Merkmale einer fixen Idee. Denn die Illusion vom Primat des Geistes und dessen zuverlässigem Funktionieren ließ sich nur durch eine verengende Problemstellung, ein Ausklammern vieler Tatsachen und Aspekte, bewerkstelligen.
Der störende Faktor in Valérys Innen- und Eigenwelt war der konkrete Mitmensch, der die Vorstellungen des Dichters in Frage stellte und dessen ohnehin identitätsschwaches Ich zu einer Confessio zu sich selber zwang.

Offen gestanden, ich glaube mehr denn je, daß ich aus mehreren Menschen gemacht bin! Heute zum Beispiel bin ich nicht ich.

So meldete der junge Valéry seinem Freund Pierre Louis unterm Datum vom 30. August 1890 einen Zustand der Gespaltenheit, den er an sich wahrnahm.
Diese Persönlichkeitsdissoziation, die zwei Jahre später zu einer – in ihren Details nie genau bekannt gewordenen – seelisch-geistigen Krise führte, erklärt Valérys spätere Entschlossenheit, mit Hilfe der (für die eigenen Zwecke zurechtgestutzten) Gestalt Leonardos und der fiktiven Figur des Herrn Teste sein Leben vom abstrakten Denken her zu beherrschen.
Besonders in den Kapiteln seines Monsieur Teste umkreiste Valéry die eigene zergrübelte Individualität, und dies aus der Perspektive staunender fiktiver Beobachter, in die sich der Autor zusätzlich versetzte, um so, durch personale Auffächerung, in die Lage zu gelangen, mehrere Ich-Scherben als Spiegel zu verwenden:

Wie behaglich ist die Einsamkeit! Nichts Zärtliches lastet auf mir… Dieselben Träumereien hier wie in der Schiffskabine… Wenn die Arme einer Bertha Bedeutung gewinnen, werde ich bestohlen…

Es ist sonderbar, daß Herr Teste in dem kleinen Roman zwar unentwegt als ein Gehirn von geradezu beispielloser analytischer Schärfe gerühmt wird, daß wir jedoch selten etwas über seine Denkresultate erfahren.
Ob jener Erzähler, der von einem Abend mit Herrn Teste berichtet, oder der Freund, der Herrn Teste einen Brief schreibt – alle sind geistig weitaus tätiger als der bewunderte Geistesheroe, der seinen Körper als bloßen Adnex seiner zerebralen Eigentlichkeit betrachtet und sich die Mahlzeiten einverleibt „wie man ein Abführmittel nimmt“. Es ist auffällig: diejenigen, die sich mit Herrn Teste beschäftigen und ihr Auge auf seinen Gewohnheiten und seinem Intellekt ruhen lassen, sind ihrerseits von der gleichen zerebralen Kälte, die sie am Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit so befremdlich finden.
Da sagt zum Beispiel der Schreiber einer Epistel:

Ich fürchte sehr, mein alter Freund, daß wir aus vielen Dingen bestehen, die uns nicht kennen. Und in ihnen kennen wir uns selbst nicht. Gibt es deren eine Unendlichkeit, so ist alles Denken eitel…

Diese Überlegung, die das Skalpell der Deduktion gegen das logische Recherchieren selber richtet, ähnelt einer Eintragung, die Valéry 1910 in eines jener Tagebuchhefte machte, in denen er sein Leben lang Rechenschaft über seine intellektuelle Existenz ablegte:

Denken? Denken! das heißt den Faden verlieren…

Sogar die Sprache, diese Sicherheitsleine des Geistes, war für Valérys Protagonisten wie auch für ihn selber trotz der Bemühungen, die er zu ihrer Erforschung unternahm, kein Garant für ein Gelingen der Operationen:

Ich mißtraue allen Worten, denn die geringste Überlegung erweist es als sinnlos, darauf zu trauen. Ich bin, leider, so weit gekommen, die Worte, auf denen man so unbekümmert die Weite eines Gedankens überquert, leichten Brettern über einem Abgrund zu vergleichen, die wohl den Übergang, nicht aber ein Verweilen aushalten…

Hier wird deutlich, warum für Valéry jedes Gedicht, das er zu einem dauernden Abschluß gebracht hat, aufhört, wichtig zu sein. Das vollendete Kunstwerk kann, selbst wenn es das vollkommene Kunstwerk ist, dem Poeten nicht länger helfen, sich zu entwickeln. Es läßt ihn aus seiner Höhe, die somnambules Voranschreiten erfordert, abstürzen. Denn:

… man fände bald heraus, daß die klarsten Wortgespinste aus dunklen Ausdrücken gewoben sind.

Valérys Maximen sind in ihrer Substanz nicht erkenntnistheoretischer, sondern vitaler Natur. Und in gewisser Weise ähneln sie sogar der élan-vital-Philosophie seines Freundes Henri Bergson, die davon ausgeht, daß das Leben nichts als Übergang, Handlung, ewiges Werden ist.
Valéry hat sich im Monsieur Teste und in Introduction à la Methode de Léonardo da Vinci intellektuell gerettet, doch emotional abgesondert, affektiv isoliert. Das ist ihm selber im Lauf der Jahre nur zu bewußt geworden, denn beide Arbeiten, die mit strikter Gesetzmäßigkeit den Unbilden des Zufalls und des Gefühls zu begegnen versuchten, wurden später ergänzt und – wenigstens intentional – von ihrer eisigen Logik befreit.
Besonders die Figur des Herrn Teste erschien dem Autor aus zeitlicher Entfernung als eine Art intellektueller Dämon, den es ,abzuschwächen‘, aus seiner transsozialen Sphäre zurückzunehmen galt.
So ließ denn Valéry, der inzwischen geheiratet hatte, Herrn Teste aus der Sicht seiner Ehefrau ein wenig menschlicher werden. Außerdem distanzierte er sich selber von seinem alter ego als einer unheilvollen Inkarnation gehirnlicher Hypertrophien:

Teste wurde erzeugt – in einem Zimmer, wo Auguste Comte seine ersten Jahre verbracht hat – während einer Epoche der Trunkenheit meines Willens und unter sonderbaren Ausschweifungen der Selbsterkenntnis.

In Erinnerung an jene Mitte der neunziger Jahre, als sein Ich Beistand brauchte und deshalb zum pseudo-vernünftigen Mittel der psychologischen Rationalisierung griff, befand sich Valéry quasi außerhalb seiner selbst:

Ich war von dem akuten Leiden Präzision befallen. Ich drängte zum Äußersten der sinnlosen Begierde nach Verstehen…

Valéry war also gar nicht ein Dichter reiner Luzidität und spielerisch gehandhabter Geisteskräfte. Vielmehr hatte er, der schon frühzeitig seine Abneigung gegen die ordnenden Größen Geschichte und Philosophie bekundete, Schwierigkeiten, die äußeren und inneren Vorkommnisse seines Lebens zu koordinieren.
Der Wunsch, Gedichte zu machen (und zwar solche, die an Poe und Mallarmé anknüpften), war Ausdruck einer besonderen Disposition, die, weil sie dem Gefühl nicht traute, die Mittel des Intellekts verfeinerte, um sie ebenso erhellend wie hermetisch einzusetzen.
Paul Valéry, der aus seiner Heimatstadt, dem am Mittelmeer gelegenen Hafenort Sète, nach Montpellier gegangen war, um Jura zu studieren, wußte anfangs noch nicht, ob er seine (als nicht eben gering eingeschätzten) Fähigkeiten der Muse oder dem Abt eines Klosters zur Verfügung stellen sollte; und, gerade erst dem Militär und dessen Dressuren entkommen, schrieb er:

Verwünscht seien alle Verse und alle Prosa und alles, was Kunst ist und Denken! Das hat mir den Geschmack an der ehrlichen täglichen Arbeit verdorben, die dem Geist Ruhe bringt, dem Leib Geborgenheit… Ich, der ich immer zufrieden scheine, ich bin im Grunde sehr unglücklich und immer außer Atem. Du wirst mich noch in irgendeinem Winkel oder bei einem Orden enden sehen.

Valéry, der bei allem Aufwand, den er in Essays, Aphorismen und Tagebüchern betrieb, ein unsystematischer Denker war und blieb, hat auch als Künstler letztlich kein anderes Problem gekannt als die (jeweils befristete) Behauptung des Ich gegen die Welt, die ihm sogar in der Gestalt der Geliebten nicht zu etwas Vertrautem, Belebendem werden wollte:

INTERIEUR

Das lange Aug voll weicher Ketten, eine
Sklavin, der Blumen Wasser wechselnd, meine
Spiegel durchwandelnd, und mit reiner Hand
des Bettes Rätsel rührend; so befand
sich eine Frau bei mir, und hat doch nicht
gebrochen mein abwesendes Gesicht,
ist wie ein Glas, das man durch Sonne schwang,
und setzt das reine Denken nicht in Gang.

In „Interieur“ wird die Frau als Antipode des männlichen Intellekts aufgefaßt, ähnlich wie Frau Teste, des intellektuellen Gatten unzulängliche Ergänzung, die sich selber niedrig einzustufen hat:

Ich wußte wohl, daß die großen Seelen nur aus Zufall einen Haushalt gründen; oder aber sie tun es, um sich ein warmes Zimmer zu halten, worin das, was an Weiblichem in ihr Lebenssystem eingehen kann, jederzeit faßbar und miteinbeschlossen sei. Den zarten Schimmer einer ziemlich makellosen Schulter zwischen zwei Gedanken aufleuchten zu sehen, ist nicht unangenehm!…

Die Frau demnach als bloßes bürgerliches und erotisches Requisit, das dem Mann zwischen zwei tiefen Nachdenklichkeiten zur Verfügung zu stehen, ansonsten aber beiseite zu treten hat; setzt es doch „das reine Denken nicht in Gang“.
Das reine Denken – hier haben wir es mit einer Schlüsselmetapher zu tun. Der Begriff ist bei Valéry ein Synonym für das unbedingte Verlangen nach narzißtischer Selbstverwirklichung. Die Eigenliebe, die den anderen nicht oder nur bedingt zuläßt, ist ein zentrales Thema dieses Dichters:

Ich!… Das heißt das dauerndste, das gehorsamste Du, das erste, das erwacht, und das letzte, das sich zur Ruhe legt.

Valéry verweist alle Menschen an die Peripherie seines Ego. Doch diese Aussperrung des Fremden, die zugleich eine Verarmung und Vergletscherung des Eigenen bewirkt, führt zwangsläufig dazu, daß die Lebenskräfte, denen jede Gelegenheit zur außerpersonalen Aktivität genommen wird, nur noch in und um sich selber kreisen, weswegen sie nicht mehr Reales, sondern lediglich Wortmünzen des Realen, abstrakte Begriffe, zum Gegenstand haben.

Bei Valéry wird alles Substantielle der Geisteswelt in pure Methodologie aufgelöst. Sein Denken ist die äußerste Entwicklung des Seins.

So befand Ernst Robert Curtius.
Paul Valéry versuchte, sich in eine Art schicksalsautarke Zone zu retten, in der allein die Regeln seines Denk- und Sprachkultes galten. Doch auf die Dauer erwies sich diese hochmütige Spiritualität als lebensfremdes Prinzip. Und als der Autor 1917, nach seiner zwei Jahrzehnte dauernden Existenzkrise, wieder zu dichten begann, geschah dies in einer wärmer getönten Sprache, deren melodische Gliederung zu tun hatte mit dem Beschwichtigungsgeraune vergessener Wiegenlieder:

Es fiel mir auf, daß ich von neuem für das empfänglich wurde, was beim Reden Klang ist. Ich verweilte gern dabei, die Musik der Sprache aufzunehmen. Die Worte, die ich hörte, brachten irgendwelche harmonischen Zusammenhänge, irgendeine innerlich angelegte Präsenz unmittelbar auftauchender Rhythmen in mir zum Schwingen.

Eine korrespondierende Äußerung machte Valéry in seiner „Betrachtung zum ,Friedhof am Meer‘“:

Was nun den „Cimetière marin“, anbelangt, so war diese Absicht zuerst nur eine leere oder von eitlen Silben ausgefüllte rhythmische Form, von der ich eine Zeitlang besessen war.

Gerade weil er sich in der dünnen Höhenluft seiner Teste- und Leonardo-Welt verloren fühlte, hatte Valéry ein Verlangen nach der Rückkehr in humanere Bereiche, und der Wunsch nach Kommunikation gab ihm die poetische Stimme wieder. Wobei es unübersehbar ist, daß er, einer der ,männlichsten‘ aller französischen Geister, nicht etwa (gott)väterliche Embleme oder transzendentale Prinzipien verwandte, sondern vielmehr Weiblichkeitssymbole – Vegetabilisches wie die Platane, die Palme und den Granatapfel.
Sogar das Meer, diese ins Gigantische vergrößerte ,Quelle‘, in der Narziß sich spiegelt, lockt und droht als etwas Elementar-Feminines, das ebenso gedankenlos verschlingt, wie es hervorbringt. Da fällt der stolze, in seiner Intellektualität scheinbar so gesicherte Mann unversehens einem Atavismus anheim, in dem er sich nicht mehr auf sein Wissen und seine Erkenntnisse verlassen kann, sondern den Zwang verspürt, aus der rationalen Ordnung herauszutreten und sich nur noch auf die bannende Wirkung eines Sühneopfers zu verlassen:

DER VERLORENE WEIN

Einmal hab ich (ich weiß nicht mehr unter
welchen Himmeln), als Opferung
an das Nichts, in das Weltmeer hinunter
Wein geschleudert in einem Schwung…

Wer verlangte deinen Verlust,
Tropfen? Hieß es ein Seher gut?
Oder hat nur mein Herz so gemußt,
meint ich, den Wein vergießend, Blut?

Gleich und schon wieder wie immer
klärte durchscheinender Schimmer
vor mir das Meer, drin es rötlich verrinnt…

Weg der Wein, doch die Wellen sind trunken!…
Und da sah ich den herberen Wind
von Gestalten der Tiefe durchwunken…

In diesem Sonett, in dem Valéry das Unbewußte als die größere, alles Dasein erspürende Kategorie erkennt, wird, der ebenso vergebliche wie notwendige Akt des Beschwichtigens durch Mächte ausgelöst, deren Existenz er auch sonst nicht leugnet, sondern – denkend – nur auszusperren versucht… ganz im Sinn einer Eintragung in sein Cahier:

Vorteil des Mysteriums. Was klar ist, vermag der Angst keinen Widerstand zu leisten. Dunkle Formeln allein lassen in den Wirrsalen der Hoffnung Raum, wenn alles Klare nur erschreckend oder nichtig ist. Man verzweifelt, weil man nicht weiß, was tun, aber ein magisches Wort erlaubt uns zu handeln, wenn wir es aussprechen, ohne zu wissen, ob es nützen wird.

Valéry spürte, daß unter seinem linguistisch-analytischen Laborieren prälogische und vorsprachliche Schichten existierten. Und so recherchierte er, weil nicht „alles in der Dimension der Sprache“ zu verstehen und zu bewältigen war, auch in den Bereichen des Somatisch-Psychischen, wobei er (um aus seiner Sicht alle Aspekte des Seins erfassen zu können) in seinen Tagebüchern die Formel CEM benutzte: C für corps, Körper, E für esprit, Intellekt, M für monde, Welt. Freilich glaubte er weder an einen göttlichen Schöpfer noch an die Möglichkeit einer philosophischen oder naturwissenschaftlichen Deutung des Kosmos:

Niemand kann mehr ernsthaft von Universum reden. Dieses Wort weiß seine Bedeutung nicht mehr. Auch der Name Natur wird seltener. Das Denken überläßt ihn dem Wort. Alle diese Wörter sind für uns, mehr und mehr, nur noch Wörter.

Hier ist wieder die Trennung von Name und Ding, Sprachetikett und Sache, wieder das Zurückfallen des männlichen Denkens auf die Mutter Sprache. Und so bleibt Philosophieren, wo es sich als unvermeidbar erweist, nichts als (C) ein augenblickliches und stimmungsgefärbtes Reflektieren – heraus aus einer bestimmten körperlichen, organischen und nervlichen Disposition.

Die Welt, M, le monde, ist etwas, über das E, l’esprit, der Geist nichts Definitives aussagen kann, denn es existieren längst so viele philosophische Systeme und Erkenntnisse, wie es menschliche Subjekte und Situationen von entsprechender Beschaffenheit gibt oder gegeben hat.
Valéry hält der unbestimmbaren Größe ,Welt‘ mittels seines autonomen (seines als autonom gedachten) Geistes die idealistisch-transzendentale Größe des Moi pur, das narzißtische Maß des Reinen Ich entgegen:

Ich habe mich niemals auf etwas anderes berufen als auf mein Reines Ich, worunter ich das absolute Bewußtsein verstehe, welches das einzige und immer gleiche Mittel ist, sich automatisch vom Ganzen zu lösen, und in diesem Ganzen spielt unsere Person ihre Rolle, mit ihrer Geschichte, ihren Eigentümlichkeiten…

Es ist begreiflich, daß André Gide, Valérys lebenslanger Freund und Widerpart, spöttisch festgestellt hat:

Valéry fehlt etwas, weil er nicht zu gewissen Zeiten morgens quasi idiotisch aufwacht.

Die Krise, durch die Valéry hindurchgegangen war, hatte ihn, nachdem sie überstanden war, nur bedingt emotional aufgelockert, im Grunde galt für ihn immer noch, was er im Monsieur Teste den Beichtvater von Frau Teste sagen läßt:

Ich habe niemals ein derartiges Fehlen von Unruhe und Zweifeln in einer sehr tief durchgearbeiteten Geistigkeit beobachtet. Er ist furchtbar ruhig!

Gide geriet über die ungeheuerliche Gefaßtheit und intellektuelle Sicherheit Valérys stets aufs neue in einen Zustand der Irritation:

Die Unterhaltung mit Valéry stellt mich vor die schreckliche Wahl: entweder absurd zu finden, was er sagt, oder absurd zu finden, was ich mache. Vernichtete er in Wirklichkeit alles, was er im Gespräch vernichtet, hätte ich keine Existenzberechtigung mehr. Übrigens diskutiere ich nie mit ihm; er würgt mich einfach, und ich sträube mich.

In Valérys Altersdrama Mein Faust wird der schwindende Einfluß des Teufels in der modernen Welt bedauert, und die Titelfigur, die kaum noch an Goethes Konterfei erinnert, sagt mit sachlichem Sarkasmus:

Bis jetzt waren die Hilfsmittel des Menschengeistes so schwach, daß dieser bloß die Oberfläche der Dinge berührte und sich an der Substanz des Lebens noch kaum vergriff. Der größte Herrscher konnte nur töten und bauen. Alles, was der Meinung nach die engen Schranken seiner Macht überstieg, galt bereits als übernatürlich… Von Tag zu Tag streift der Mensch nun diesen berühmten alten Adam mehr ab… Das Schicksal des Bösen selbst steht auf dem Spiel… Weißt du, daß dies vielleicht das Ende der Seele bedeutet?… Das Individuum liegt im Sterben. Es ertrinkt in der Zahl. Die Unterschiede verschwinden vor der Anhäufung der Lebewesen. Laster und Tugend sind nur noch unmerkliche Unterschiede, die in der Masse dessen verschwimmen, was sie ,das Menschenmaterial‘ nennen. Der Tod ist bloß noch eine statistische Eigenschaft dieser gräßlichen lebenden Materie. Er verliert seine Würde und seine… klassische Bedeutung…

Valéry, ein Gegner des Massenmenschen und der Industriegesellschaft, wünschte sich ein verachtungsvoll abweisendes Kürzel als Grabspruch:

Hier ruht P. V., getötet von den anderen.

Die Worte, die tatsächlich auf seinen Stein gelangten, als er 1945 auf dem Friedhof von Sète ein von General de Gaulle verordnetes Staatsbegräbnis erhielt, sind die Schlußverse der ersten Strophe seines Gedichts „Der Friedhof am Meer“:

O, die Belohnung, nach dem langen Denken
ein langes Hinschaun auf der Götter Ruhn!

Valéry, Erbe der Machbarkeitsvorstellungen Poes, Schüler Mallarmés und verdeckter Anreger sowohl des dogmatischen Surrealismus als der konkreten Poesie, hat zeitlebens der Frage nach der „dichterischen Mechanik“ eine derart vorrangige Bedeutung gegeben, daß sich Motivisches in seinem Werk nur gelegentlich, nur spurenweise, abgelagert hat – anders als bei Rimbaud, dem großen metaphysischen und gesellschaftlichen Rebellen, der den Inhalten, den anthropologischen Impulsen, ebensoviel Bedeutung einzuräumen vermochte wie der strukturierenden Form; weswegen Apollinaire mit kritischem Nachdruck an Breton schreiben konnte:

Ich glaube, Rimbaud hat mehr von moderner Kunst gewußt, als Valéry und andere feinsinnige Künstler ahnten. Von diesem grandiosen Herkules emporgehoben, blieben sie einfach in der Luft hängen und konnten keine neuen Kräfte durch Berührung des Bodens gewinnen.

Verschiedene Übersetzer: Rilke (Gedichte), Max Rychner (Herr Teste), Friedhelm Kemp (Mein Faust), Wolfgang A. Peters (Briefe) u.a.

Hans-Jürgen Heise, Erstpublikation in Hans-Jürgen Heise: Das Profil unter der Maske. Essays. Claassen Verlag 1974. Hier in Hans-Jürgen Heise: Rangierbahnhof fremden Lebens. Essays über 33 Schlüsselfiguren der Moderne, Wallstein Verlag, 2008 erheblich revidiert.

 

T.S. Eliot: Von Poe zu Valéry, Merkur, Heft 34, Dezember 1950

Max Rychner: Paul Valéry: Dichtung und Theorie der Dichtung. Teil I, Merkur, Heft 189. November 1963

Max Rychner: Paul Valéry: Dichtung und Theorie der Dichtung. Teil II, Merkur, Heft 190. Dezember 1963

Wolfram Mauser: Eugen Gottlob Winkler und Paul Valéry

 

VALÉRY
(Collège de France)

Er schien sich zu langweilen
Du fehltest ihm o Zigarette
die er vielleicht bei Mallarmé
gelernt hatte zu drehen
Wir saßen da wie Roboter
hörten ohne richtig zu verstehen
Er sprach sehr schnell und oft
verirrte er sich in Gegenden
die uns ausweglos erschienen
Seine Frau schnarchte bisschen wie
auch seine Schwägerin Einmal war
Pius Servien geladen neben dem Meister
Platz zu nehmen und uns von der
hermetischen Dichtung zu berichten
die man damals rein nannte
Das Publikum war gering
Um die zwanzig alte Schönheiten
drei oder vier Studenten und ich
Manchmal lese ich in Zeitschriften
dass diejenigen sie wertschätzen
die ich nie sah bei diesen Vorlesungen
und ich verpasste in jenen Kriegszeiten
keine einzige Wo waren sie versteckt?
Doch genügt es dass einer stirbt
damit sogleich wenn er berühmt war
eine Meute bellt Ich hab ihn gesehen
ich hab ihn gekannt ihn überrascht
in seinen intimsten Momenten

(Was mich angeht so hab ich den
Valéry mal im Pissoir gesehen
und direkt neben ihm gepinkelt
dem leisen Chanson lauschend
das aus seiner Blase drang)
fraglicher Mann ist nicht mehr da
um den Deppen zu widersprechen
die es genial fanden die fünf Finger
eines zerstreuten Mannes zu drücken

Ich hatte das Glück eine ganz
besondere Berühmtheit zu kennen
ich wohnte bei seiner Frau und ihm
und wir waren wie Geschwister
Aber sehr häufig traf ich jemanden
der am Vorabend bei meinen Freunden
gegessen hatte Ich staunte denn ich auch
– Wie nett er ist – Ja wirklich! –
– Eine Freude die beiden zu kennen
Sie sind ganz und gar wie man sein muss
Sie sind doch ein wenig bekannt mit ihnen
glaube ich Ich werde das Nötige tun damit
Sie einmal eingeladen werden – Danke
Sie sind zu liebenswürdig
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSo kommts
dass einem das Lachen aus dem Fäustchen
springt vor Übermaß an Ironie
Doch müsste in jenen Momenten der
Donner uns zu Hilfe kommen um dem
Gebrüll in dem unsere Stummheit sich
verkriecht eine Stimme zu geben.

Georges Perros

 

DER VERLORENE WEIN
nach Paul Valéry

Seit Jahr und Tag, unter weiß Gott welchem
Himmel, bringe ich dem Ozean ein Opfer
im Namen von nichts dar – ein Glas Wein.

Womöglich auf Geheiß einer Wahrsagerin.
Vielleicht stelle ich mir um meines Herzens willen
Blut vor, wenn ich den Wein verschütte.

Ich liebe seine Transparenz; sie läßt mich
an eine rauchgetönte Rose denken, die gereinigt
den Strömungen des Meers entrissen wird.

Der Wein ist verloren, die Brandung betrunken,
und wogen sah ich hoch zur bitteren Luft
Gesicht um Gesicht, von tiefem Sinn erfüllt. 

Matthew Sweeney
Übersetzung Jan Wagner

 

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Jakob Bachmann: Paul Valéry zum 100. Geburtstag
Die Tat, 16.10.1971

Zum 150. Geburtstag des Autors:

Christoph Vormweg: Paul Valéry und die Suche nach dem reinen Geist
Deutschlandfunk, 30.10.2021

Christian Marty: Die Moderne ist ein Abenteuer ohne Ende: Kein Denker räumte so konsequent auf mit allem, was nach Gewissheit aussieht, wie Paul Valéry – darin liegt seine Aktualität
Neue Zürcher Zeitung, 30.10.2021

Rudolf Bretschenider: Paul Valéry – Verwalter der vagen Dinge
Wiener Zeitung, 30.10.2021

Ingo Ebener: „Ich mache meinen Geist“
fischerverlage.de

Nikolaus Halmer: „Ich existiere, um etwas zu finden“
ORF.at, 29.10.2021

Nikolaus Halmer: „Die anderen machen Bücher, ich mache meinen Geist“
furche.at, 26.1.2022

 

 

Fakten und Vermutungen zum AutorIMDbArchiv +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Paul Valery: Die Tat 12 ✝︎ Merkur ✝︎ Tumba

 

Paul Valéry: „Un siècle d’écrivains“, Nummer 131, ausgestrahlt am 3. September 1997 in Frankreich unter der Regie von Pierre Dumayet und Robert Bober.

1 Antwort : Paul Valéry: Zur Theorie der Dichtkunst”

  1. Markus Hödl sagt:

    Vielen Dank für diesen erhebenden Beitrag. Ich fühlte mich von der Vorrede Valérys – Wie könnte ich es anders formulieren? – psychologisch ergriffen. Mein innerstes dichterisches Wesen versteht sich nun definiert und erkannt (obwohl ich mit meinem laienhaften Verständnis für Poesie nicht jede seiner Aussagen begriff); dafür möchte ich mich herzlichst bedanken.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00