Stephan Milich: Fremd meinem Namen und fremd meiner Zeit

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Stephan Milich: Fremd meinem Namen und fremd meiner Zeit

Milich-FFremd meinem Namen und fremd meiner Zeit

DAS KOLLEKTIVE SPIEGELT SICH IM PERSÖNLICHEN – ZU LEBEN UND WERK VON MAHMUD DARWISCH –

Die Biographie
Die hier behandelte Thematik von Identität und Alterität/Fremdheit und den damit verbundenen Exilerfahrungen in der Dichtung von Mahmud Darwisch ist ohne die Einbeziehung seiner Biographie sowie der wichtigsten zeitgeschichtlichen Ereignisse und Entwicklungen in Palästina und Israel kaum angemessen zu verstehen. Zwar könnte man die Haltung vertreten, eine biographische Interpretation würde sich reduzierend auf den poetischen Wert und die Bedeutungsvielschichtigkeit der Gedichte auswirken.
Seine Interviews, die Aufschluss sowohl über Darwischs Selbstverständnis als auch über entscheidende biographische Ereignisse vermitteln, zeigen demgegenüber deutlich, wie sehr sich die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen auf die in den Gedichten durchscheinende Selbst- und Fremdwahrnehmung auswirkten. Das Werk ist demnach „als Antwort auf die Lebenswirklichkeit und existenzielle Not der Palästinenser zu verstehen.1 Aus diesem Grunde sind an dieser Stelle ein Überblick über das Leben und die unterschiedlichen Phasen des dichterischen Schaffens unseres Protagonisten geboten.

Mahmud Darwisch wurde am 13. März 1941 in dem galiläischen Dorf Barwa in der Nähe von Akka im Norden des damaligen britischen Mandatsgebiets,2 heute Israel, geboren. Als Zweitältester von vier Brüdern und drei Schwestern einer Bauernfamilie verbringt er dort die ersten Jahre seiner Kindheit. In einigen Interviews lässt der Dichter seine persönliche Geschichte jedoch mit dem einschneidenden Ereignis der Geschichte Palästinas beginnen. Gemeint ist das Jahr 1948, das Jahr der Gründung des Staates Israel und dem von den Israelis so bezeichneten „Unabhängigkeitskrieg“, dem Jahr der Katastrophe (nakba) und Vertreibung aus Sicht der Palästinenser.3 Für Darwisch, der damals gerade sieben Jahre alt war, stellt dieses Geschehen ebenso wie für das gesamte palästinensische Volk den Beginn des Leidens, der Vertreibung von ihrem Land und des für manche bis heute währenden Flüchtlingsdaseins dar. In seinen Erinnerungen kommt die Nakba einer Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit gleich:

Ich weiß heute, dass diese Nacht [der Vertreibung; Anm. d. Verf.] meine Kindheit brutal beendete. Die Jahre der Unbeschwertheit waren vorbei, und ich fühlte auf einmal, dass ich jetzt Teil der Welt der Erwachsenen geworden war.4

Wie zahlreiche andere Palästinenser flüchtet die Familie in den Libanon, wo der Junge zum ersten Mal die Bekanntschaft mit Worten wie Flüchtling (lāği’), Heimat (waṭan), Exil (manfan) und Krieg macht, die ihn dann zeitlebens begleiten sollten.5 Während für die meisten Palästinenser von nun an ein Leben in Flüchtlingslagern beginnt, und es für sie keine Rückkehr in die Heimat mehr gibt, verläuft Darwischs Weg anders. Knapp ein Jahr nach der Vertreibung beschließt die Familie trotz des israelischen Rückkehrverbots, in ihr Heimatdorf Barwa zurückzukehren. Dort angekommen, müssen die Darwischs aber feststellen, dass das Dorf vollständig zerstört und an dessen Stelle zwei israelische Siedlungen errichtet worden sind.6 In einem Gespräch mit dem libanesischen Autor ‘Abbās Baydūn fügt der palästinensische Dichter hinzu:

Der erste Ort meines Lebens ist gleich nach unserer Abreise beseitigt worden. Das ist der Grund, weshalb ich, wenn ich meine Geschichte erzähle, zwangsläufig eine kollektive Geschichte wiedergebe.7

Diese Worte machen nur zu deutlich, wie sehr sich das persönliche Schicksal des Dichters mit der kollektiven Erfahrung und dem Schicksal des palästinensischen Volkes überschneidet.
Nach der Entdeckung des zerstörten Heimatdorfes findet die Familie Unterschlupf im Dorf Dayr al-Asaad, so dass Darwisch die Schule besuchen kann.
8 Trotz ihres Status als illegal Zurückgekehrte kann sich die Familie Darwisch dank der Unterstützung der dortigen Bevölkerung niederlassen.9 Nun ist der junge Mahmud jedoch ein Fremder im eigenen Land:

Die Dinge waren im Grunde einfach. Der Flüchtling, der ich war, hatte nur seine Adresse getauscht. Ich war ein Flüchtling im Libanon und ich fand mich als Flüchtling in meiner eigenen Heimat wieder.10

Von den israelischen Behörden wird die Familie als „Anwesende Abwesende“11 kategorisiert, zwei Worte, die sich zu einem wichtigen Motiv in seiner Poesie entwickeln.12
Der Großvater spielt in Darwischs Kindheit eine wichtige Rolle. Er ist es, der dem kleinen Mahmud lesen und schreiben beibringt. Und so beginnt Darwisch schon in der Schulzeit mit seinen ersten Gehversuchen in der Dichtung, um, wie er später sagt, „eine Heimat in der Sprache“ zu finden. Zwar liebäugelt er für eine kurze Zeit mit dem Malen und Zeichnen, entscheidet sich dann aber aus Papiermangel gezwungenermaßen für das Dichten.
Während der Zeit auf der Sekundarschule in Nazareth erlernt Darwisch das Hebräische so gut, dass sich ihm die Literaturen fremder Länder vor allem in der hebräischen Sprache erschließen. Ist sein Verhältnis zum israelischen Staat unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes sicherlich als alles andere als gut zu bezeichnen, so verbinden den jungen Palästinenser doch auch entscheidende positive Beziehungen mit jüdischen Israelis:

Aber die beste unter meinen Lehrern war eine jüdische Lehrerin. Und natürlich war auch mein erster Gefängniswärter Jude. (…) Die Frau, die mich liebte, war Jüdin. Die Frau, die mich hasste, ebenfalls.13

Nach der Schulzeit folgen Jahre des politischen Engagements. Trotz der Warnungen und Diskriminierungen von Seiten der israelischen Behörden – über die palästinensische Minderheit in Israel herrschte seit 1950 die israelische Militärherrschaft14 – widmet sich der junge Darwisch zunehmend ernsthaft dem poetischen Schreiben und dem Journalismus. 1960 zieht er nach Haifa, wo er als Herausgeber der Zeitschriften al-Ittihād, der Parteizeitschrift der Rakah,15 und deren Literaturbeigabe al-Ġadid 16 tätig ist. Er steht Monate lang unter Hausarrest, darf Haifa nicht mehr verlassen. Wie zahlreiche andere linke palästinensische Intellektuelle wird er, weil er ohne Aufenthaltsgenehmigung „erwischt“ wird, zwischen 1961 und 1967 insgesamt sieben Mal verhaftet und eingesperrt. Sein journalistisches Engagement und die Aktivitäten in der Kommunistischen Partei (Rakah) mögen auch ihren Teil dazu beigetragen haben.
Nachdem ihm das Studieren in Israel verwehrt bleibt, geht er 1970/71 mit einem von der Rakah finanzierten Stipendium nach Moskau, um dort Kurse in „Politischer Ökonomie“ zu besuchen. Enttäuscht von den in der Sowjetunion herrschenden Bedingungen bricht er das Studium nach einigen Monaten jedoch ab und entschließt sich unter anderem aufgrund des schon jahrelang erfahrenen, politischen Drucks und der Diskriminierungen von Seiten der israelischen Behörden nicht mehr dorthin zurückzukehren, sondern ins „Exil“ aufzubrechen.
17 Für diese Entscheidung wird er von vielen Kollegen und kommunistischen Parteigängern heftig attackiert: „It was the most difficult decision in my life,“18 sagt er Jahre später in einem Interview und fügt hinzu, dass die Lust auf das im Ausland wartende Abenteuer auch eine Rolle gespielt haben könnte. Dennoch scheint immer wieder in Darwischs Worten durch, dass ihm dieser Entschluss alles andere als leicht gefallen sein muss.19
Er geht zunächst nach Kairo, arbeitet dort bei der renommierten Tageszeitung Al-Ahram, lässt sich aber schließlich in Beirut nieder. Dort übernimmt er die Leitung der wissenschaftlichen Zeitschrift Šu’ūn filastīnīya (Palästinensische Angelegenheiten), wird Direktor des PLO-Forschungszentrums und gründet dann 1981 die mittlerweile schon legendäre Literaturzeitschrift Al-Karmil,20 deren Herausgeber er bis heute ist.
1982 sieht er sich angesichts der mehrere Wochen andauernden israelischen Offensive auf Beirut abermals zum Aufbruch in ein neues Exil gezwungen.
21 Diese traumatische Zeit verarbeitet er 1987 im Pariser Exil literarisch in seinem berühmtesten Prosatext „Ein Gedächtnis für das Vergessen“, in welchem er – verschiedene literarische Genres verbindend – die Tage des israelischen Bombardements beschreibt.22 Nach einer Zeit rastlosen Umherziehens, bei dem sein Koffer (ḥaqība) zum Symbol seines Lebens im Exil wird, lässt er sich eine Weile in Zypern, dann in Paris und Tunis nieder, wo er 1986 Mitglied des Palästinensischen Parlaments, 1987 sogar in das Exekutivkomitee der PLO gewählt wird.23 Einen Tag nach Unterzeichnung des Friedensabkommens 1993 verlässt er jedoch aus Protest gegen die Art der Verhandlungsführung und der gemachten Zugeständnisse (nicht aus Protest gegen den Frieden, wie er sagt) wieder das Exekutivkomitee.24 Als offiziellen Grund für seinen Rücktritt führt er die innere Notwendigkeit an, sich wieder ganz seiner Dichtung widmen zu wollen. Viele haben in jener Phase der Konsolidierung in ihm eine Art palästinensischen „Kulturminister“ gesehen, denn Ende der 1980er Jahre übt er mehrere bedeutende politische Funktionen aus, reist 1988 beispielsweise für die PLO zu Verhandlungen nach Schweden, verfasst sogar den „Aufruf für einen palästinensischen Staat“, der 1988 von Arafat in Algier vorgetragen wird. Nach diesem politischen Intermezzo wendet er sich wieder der Dichtung zu, trägt seine poetische Sprache zu neuen Ufern und öffnet bisher unbekannte ästhetische und thematische Horizonte.
Nach Verhandlungen mit dem israelischen Staat kann er 1995/1996 endlich in den Nahen Osten zurückkehren, um seinen Wohnsitz in Amman/Jordanien sowie in Ramallah/Westjordanland einzurichten.
Zwischen diesen zwei Städten lebt er bis heute und gibt die in der arabischen Kulturlandschaft nicht mehr wegzudenkende Literaturzeitschrift Al-Karmil heraus. Mahmud Darwisch gilt als einer der herausragenden Vertreter palästinensischer und arabischer Dichtung, er ist zu einem der wichtigsten „Kulturbotschafter“ der Palästinenser geworden. In der arabischen Welt und in Frankreich ist er zudem einer der meistgelesenen Poeten.
Im Jahre 2001 wurde er mit dem Preis der Lannan Foundation for Cultural Freedom (USA) ausgezeichnet, 2003 mit dem Erich-Remarque-Preis der Stadt Osnabrück und 2004 erhielt Darwisch aufgrund der humanistischen, Frieden suchenden Dimension seiner Gedichte den Sultan Al-Owais-Preis (Dubai). Er wird seit einigen Jahren auch als Anwärter auf den Nobelpreis für Literatur gehandelt, was vielleicht am ehesten seiner literarischen Bedeutung auf internationaler Ebene entspricht.
Im Folgenden werden wir uns seinem dichterischen Werk zuwenden und einen Überblick über die verschiedenen Phasen seines Schaffens geben.
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Die dichterischen Schaffensphasen

Die Phase der revolutionären Widerstandsdichtung

Seinen ersten Gedichtband „Vögel ohne Flügel“ (‘Aṣāfīr bi-lā Aǧniḥa), von dem er sich allerdings im Nachhinein vollständig distanzierte, und der noch größtenteils der romantischen und klassisch-arabischen Poesie26 verpflichtet bleibt, veröffentlicht Darwisch 1960.27
1964 erscheint dann der zweite Dīwān (Gedichtband) mit dem Titel „Ölbaumblätter“ (Awrāq az-zaytūn), der ihn innerhalb Palästinas bekannt macht. Der Band besingt

den Duft der Erde, das Leiden der Menschen, die Heimat, den Kampf, die Ablehnung der bestehenden Tatsachen und die Sehnsucht der Verstreuten nach ihrer Heimat. Er ist ein Versuch, den Widerstand im Menschen gegen das Leid zu wecken.28

In dieser frühesten Phase setzt der Dichter seine Gedichte in den Kontext des internationalistischen, kommunistischen Kampfes zur Befreiung der vom Imperialismus unterdrückten Völker. Diese ideologische Ausrichtung ist folglich deutlich in den Versen zu spüren, doch lässt sich auch schon in den ersten Poesiebänden des Palästinensers mitunter eine sehr poetische und über den politischen Slogan hinausgehende Lyrik finden.
Seine Fähigkeit, Dimensionen des palästinensischen Alltags mit „mythen- und symbolschöpfender Kraft“ zu vermengen, fasziniert die arabischen Leser und wird von der arabischen Literaturkritik hoch gelobt.29 Inspiriert durch die Dichtung Abū Salmās, einem der drei großen palästinensischen Dichter der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, entwickelt er eine sehr persönliche Symbolik, in der die Frau als Geliebte oder Mutter zum Symbol der Heimat Palästina wird, mit der sich der Dichter durch den Märtyrertod zu vereinigen sucht.
Dieses Motiv entwickelt sich schließlich zu einem der wichtigsten Leitmotive der Dichtung Darwischs, dem mit dem Dīwān Ein Liebender aus Palästina von 1966 der Übergang von einem direkt politischen zu einem komplexeren und unsentimentaleren Stil gelingt.
Diese erste Phase, in der Darwisch als palästinensischer Widerstandsdichter auch in anderen arabischen Ländern bekannt wird, findet um 1970 mit dem Dīwān „Meine Geliebte erwacht aus ihrem Schlaf“ (Ḥabībatī tanhaḍu min nawmihā) ihr Ende. In ihr ist der Versuch zu erkennen, die Dichtung zur „Bestimmung und Manifestation der palästinensischen Identität angesichts von permanenter Marginalisierung, Heimatlosigkeit und physischer Bedrohung“30 einzusetzen.

 

Die Phase der neuen Ästhetik

Einen Übergang markiert der ebenfalls 1970 erschienene Band „Die Vögel sterben in Galiläa“ (Al-‘aṣāfīr tamūtu fī l-ǧalīl), in dem die politische Ausrichtung der eigenen Dichtung, die zuvor beschworenen Märtyrergedichte mit ihrer nationalistischen Tendenz, hinterfragt wird. Darwisch versucht nun, aus der ihm zu eng gewordenen Rolle des Widerstandsdichters auszubrechen und mit neuen und modernen Formen des poetischen Ausdrucks zu experimentieren. In dem Gedichtband „Ich liebe dich oder ich liebe dich nicht“ (Uḥibbuki aw lā uḥibbuki) und den darauf folgenden Veröffentlichungen – besonders zu erwähnen sind „Jenes ist ihr Bild und dies der Selbstmord des Liebenden“ (Tilka ṣratuhā wa hāḏā intiḥār al-‘āšiq) von 1975 und „Hochzeitsfeiern“ (A‘rās) von 1977 – gelingt es Darwisch, verschiedene Genres und Formen des lyrischen, dramatischen und epischen Schreibens miteinander zu verbinden. Der Band „Am Ende der Nacht“ (Āḫir al-layl) enthält Gedichte, die dem Drama ähneln und dem Rollengedicht verwandt sind. Schon in dieser spannungsgeladenen Phase, in der mächtige Feindbilder zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern auf beiden Seiten das Denken beherrschen, tritt der Dichter in einen dichterischen Dialog mit der jüdischen Gesellschaft. Er ist einer der wenigen arabischen Autoren jener Jahre, welche die jüdisch-israelische Seite mit einem menschlichen Antlitz versehen.

 

Die lyrisch-epische Phase

Beginnend mit dem Dīwān „Es ist ein Lied, es ist ein Lied“ (Hiya uġnīya, hiya uġnīya) von 1984, dem zwei Jahre später „Weniger Rosen“ (Warḍun aqall) folgt, widmet er sich seit Mitte der 1980er Jahre wieder vermehrt seiner seit der Beiruter Belagerung unterbrochenen Suche nach neuen ästhetischen Formen, insbesondere der Umsetzung musikalischer Kompositionen in dichterische Strukturen.31 Doch bedrängen und quälen den Palästinenser, dessen einzige Sehnsucht ein menschenwürdiges Leben in Frieden ist, weiterhin existenzielle Fragen. Zum ewigen Umherwandern verurteilt, sucht der Exilierte nach einem möglichen Standort in der Welt. Die Idee der Rückkehr zur heimatlichen Erde wird allerdings im Laufe der 1980er Jahre größtenteils ihrer konkreten, realen Bedeutung entkleidet und auf eine metaphysisch-sprachliche Ebene, „ein Land aus Worten“, gehoben.
In der darauf folgenden Zeit fügt der Poet seinen Gedichten epische Elemente und Mythen vergangener Kulturen (Troja, indianische Völker Amerikas) hinzu. Die oft den Chiasmus als Stilmittel nützende Verschränkung von Mythos und Alltagsbildern gibt seiner Poesie wie beispielsweise in „Ich sehe, was ich will“ (Arā mā urīd) von 1990 und „Elf Sterne“ (Aḥada ‘ašara kawkab) von 1992 ihre eindrucksvolle Kraft und Tiefe. Mit dem durch die Beschäftigung mit verschiedenen Geschichtsschreibungen gewonnenen neuen – und wie er selbst sagt – ironischen Verhältnis zur Historie kann Darwisch die eigene nationale Geschichte in einem neuen Licht sehen. Dies erlaubt ihm, die Sorge und Angst um seine Existenz und die seines Volkes besser zu ertragen.32 Der Dichter trachtet danach, seine „Themen zu vermenschlichen und vom Objekt, Palästina, zum Subjekt, dem Palästinenser, über( zu )gehen.“33

 

Die Phase der poetologisch-autographischen Dichtung

Darwisch hat es sich zum Ziel gesetzt, immer wieder neue Formen der Dichtung zu entwickeln, wie er im Vorwort der auf Französisch erschienenen Anthologie aus dem Jahre 2000 sagt.34 So trägt der 1995 veröffentlichte Gedichtband „Warum hast du das Pferd allein gelassen“ (Limāḏā tarakta al-ḥiṣān waḥīdan) einen auffallend autobiographischen Charakter. In dem Band verwoben sind die „Biographie des Ortes und seiner Geschichte und die Geschichte einer poetischen Kultur.“35 Darwisch hat in diesem Band vom „Wir“ zum „Du“ gefunden. Seine Dichtung erfährt eine neue Ausrichtung, indem sie zum persönlichen, vermehrt metapoetischen Ausdruck der persönlichen Erfahrung, Erinnerung und Identität des Dichters wird.
Nach vierjähriger Pause erscheint 1999 der Dīwān „Bett der Fremden“ (Sarīr al-ġarība), Liebesgedichte, die vom „Exil der Frau im Mann und dem Exil des Mannes in der Frau“ erzählen. In den Gedichten kommt eine weibliche Stimme zu Wort, auf dessen Wortrücken der Dichter die Fremdheit zwischen sich selbst und einer Fremden aufheben und überwinden kann und zum ersten Mal die poetische Kraft des Exils für sich entdeckt. Ein Jahr später folgt der Band „Wandgemälde“ (Ǧudārīya), in dem sich Mahmud Darwisch dichterisch mit dem Tod auseinandersetzt, nachdem er sich in Paris einer äußerst schweren Herzoperation unterziehen musste.
In den knappen, bisweilen ins Prosaische abgleitenden Texten des „Belagerungszustand“ (Ḥālat Ḥisār) aus dem Jahr 2002 ist die Wirkung, die die zweite Intifāḍa auf den seit 1996 wieder in der angespannten Gewaltsituation lebenden Dichter ausübt, nicht zu übersehen, so dass den Dīwān sehr direkte, unmittelbar auf die Konfliktsituation bezogene Verse beherrschen. Die Kurzgedichte (qaṣīda qaṣīra) gewinnen ihre politische Bedeutung aber gerade dadurch, dass sie die den Konflikt dominierende Politik zu überwinden trachten, um das unter Schmerz und Verzweiflung verloren gegangene Leben wieder zum Leben zu erwecken. Sie setzen sich einer kollektiven Repression zur Wehr, indem sie die Freiheit, die Liebe und das Leben im möglichen Frieden besingen und somit der tödlichen Gewalt eine rein persönliche, dichterische Revolte entgegenstellen. Darwisch sieht sein Schreiben nun als „writing the self“, die Dichtung als Möglichkeit, seinem Selbst dichterisch lebendige Worte zu verleihen:

Das Gedicht, besonders das musikalisch-lyrische, ist ein autographisches Gedicht. Das heißt, es ist Ausdruck des Selbst des Dichters in seiner Beziehung zur Welt, zu den Dingen, Phänomenen und dem Sein.36

Eine postmodern zu nennende Haltung, die die Idee der traditionellen Autorschaft nicht mehr akzeptiert, begleitet auch den jüngsten, im Januar 2004 publizierten Dīwān des Palästinensers „Entschuldige dich nicht für das, was du getan hast“ (La ta ‘taḏir ‘ammā fa ‘alt). Der Band vereint viele der bisherigen Themen, Motive und Formen, blickt in die eigene Vergangenheit zurück und bejaht aus ganzem Dichterherzen die vielen Verwandlungen und Wandlungen, den eingeschlagenen Weg, der durch Exil und Verlust der Kindheit hervorgerufen wurde. Darwisch nennt ihn einen Besuch von biographisch bedeutenden Orten und einen Besuch des eigenen Selbst.37 Er verwebt darin ähnlich wie in dem neun Jahre älteren Band Warum hast du das Pferd allein gelassen die Geschichte palästinensischer Orte, Personen und Ereignisse mit seiner persönlichen Geschichte. So haben auch für diesen Gedichtband Darwischs Worte Geltung:

Das Wesentliche ist, dass ich (…) eine größere lyrische Fähigkeit und einen Weg vom Relativen zum Absoluten gewonnen habe; einen Ausgangspunkt, um sprachlich das Nationale ins Universelle zu transformieren, damit Palästina sich nicht auf Palästina beschränkt, sondern seine ästhetische Legitimation in einem viel weiter gefassten, menschlichen Raum begründet.38

 

 

 

Vorwort

„Einer der größten Dichter der Gegenwart ist bis heute unentdeckt“ stellt Stefan Weidner, Übersetzer und einer der besten Kenner der Dichtung von Mahmud Darwisch, noch 2002 fest. Dabei wird Darwisch, geboren 1942 in Israel, mit heutigem Wohnsitz in Ramallah und Amman, bereits seit einigen Jahren unter den Kandidaten für den Nobelpreis genannt. Was Weidner als unentdeckt beklagt, ist auch nicht der große Name oder das poetische Schaffen Darwischs, sondern seine neue, in den achtziger Jahren erreichte Ausprägung als Dichter des Exils. Diese „neue“ Dichtung Mahmud Darwischs ist bisher – von einigen verstreuten Aufsätzen abgesehen – noch nicht Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung gewesen. Mit ihr hat Stephan Milich Neuland betreten, ja man darf sagen, er hat Darwisch als Exildichter für das deutsche Publikum erst richtig entdeckt.
Gewiss, Mahmud Darwisch hatte schon als junger Dichter in den siebziger Jahren mit ersten übersetzten Gedichten in Europa Aufmerksamkeit erregt. Er wurde vor allem im Ostblock als „Widerstandsdichter“ gefeiert, denn in der Tat ließen sich seine Gedichte – in einer Zeit in der antikoloniale Befreiungsbewegungen weltweit Erfolge errangen und später sich in den USA eine Antikriegsbewegung gegen den Vietnamkrieg formierte – lange mühelos in die Literatur des antikolonialen Kampfes einordnen. Darwisch war zu dieser Zeit bereits – zusammen mit Adonis – der gefeierteste Dichter der arabischen Welt. 1970 hatte er unter politischem Druck Israel verlassen, wo er in Haifa in der Redaktion einer kommunistischen Literaturzeitschrift tätig gewesen war. Doch blieb ihm auch im Exil der Rang erhalten, den er sich in seiner Heimat bereits als junger Dichter erworben hatte: die Stimme Palästinas zu sein, ja seine Bedeutung steigerte sich noch weiter; nicht zuletzt durch seine Dichtung sollte die – in Israel ebenso wie in der jordanischer Herrschaft unterstehenden Westbank – entrechtete und in ihrer Existenz bedrohte palästinensische Gesellschaft ihr kollektives Selbstbewusstsein wieder erlangen. Nicht dass Darwisch selbst ganz in dieser Rolle aufgegangen wäre, vielmehr standen immer persönliche Gedichte – während seiner Zeit in Haifa u.a. Liebesgedichte auf ein jüdisches Mädchen, später Trauergedichte auf Freunde – neben seiner politischen Dichtung. Vor allem war ihm selbst die zunehmende Vereinnahmung seiner Dichtung durch die politische Propaganda zuwider. Denn nicht nur wurde seine Mythisierung des Landes Palästina als einer weiblich vorgestellten Geliebten als Chiffre eines territorialen Anspruchs auf das gesamte Land missbraucht, auch seine Schöpfung eines palästinensischen Helden mit Erlöser-Aura, des Märtyrers (shahid), oder des sich aufopfernden Kämpfers (fida’i) wurde zum Propaganda-Instrument, eine Entwicklung, gegen die sich Darwisch in seiner Dichtung selbst immer wieder zu wehren versuchte.
Es ist bemerkenswert, dass gerade diese beiden Darwischschen Kreationen, die weibliche Figur der Heimat und der männliche Erlöser, die bei ihm eine erotische Verbindung eingehen, indem die Heimat zur Braut ihres Erlöser-Helden wird, letztendlich auf Sinnfiguren zurückgehen, die seiner israelischen Bildung verdankt sind. Darwisch fand das umstrittene Land Palästina/Israel bereits mit einem Text verschmolzen vor, es war nach zionistischer Konzeption „beschrieben“ mit einer Schrift, die nicht mehr auszulöschen war, der hebräischen Bibel, vor allem dem Buch Genesis. Darwisch musste, um die palästinensische Verwurzelung in der Heimat erkennbar zu machen, diese mythische Eintragung mit einer Gegen-Schrift kontern. Er musste dem jüdischen Bund zwischen Israel und seinem Gott in das Land einen Gegentext, einen palästinensischen Treuebund entgegenstellen, der seiner Gesellschaft Kraft zum Fortbestand verlieh. Darwisch blieb diesen Text nicht schuldig; in einem seiner berühmtesten Gedichte, „Ein Liebender aus Palästina“, formulierte er einen expressiven Treueschwur zum Land. Es ist bemerkenswerterweise ein Bund, den nicht Gott, sondern Darwischs lyrisches Ich mit dem Land schließt. Ein gewagter Schritt – der seine Gesellschaft ermutigen sollte, Darwisch bis heute als ihren geistigen Vorkämpfer zu beanspruchen.

Auch mit seiner zweiten Schöpfung, dem Märtyrer, ist ein jüdisches Ideal beschworen, das – obwohl ursprünglich der Endzeit zugehörig – der zionistischen Ideologie zufolge aber bereits in der Gegenwart verwirklicht werden soll: die Vereinigung der Verbannten, der Verstreuten. Wie die Zionisten dieses in der frommen Vorstellung dem Messias vorbehaltene Werk selbst in die Hand nehmen, so tritt auch Darwischs messianischer Held bereits vor der Endzeit in die katastrophale Wirklichkeit ein. Es ist der Märtyrer, der die Verunsicherten und Eingeschüchterten zu einem Kollektiv zu vereinen vermag, indem er seine unverbrüchliche Treue mit seinem freiwillig auf sich genommenen Opfertod bezeugt. Der shahid ist ein messianischer Held, oder auch eine Refiguration des Mose, der sein Volk durch den Exodus in die Freiheit – im palästinensischen Fall die Freiheit der Selbstbehauptung – führt, selbst aber stirbt, ohne den Boden des Gelobten Landes zu betreten.
Mit der Adaptation zweier ursprünglich im Zionismus realisierter Positionen zu Land und Geschichte: der Einschreibung eines Bündnis-Textes in das Land und des selbst in die Hand genommenen Erlösungswerks, hat Darwisch vermocht, seiner Gesellschaft wieder Halt in ihrem Land und das Bewusstsein kollektiver Würde zu vermitteln. Nach der erneuten Katastrophe, die die palästinensische Befreiungsbewegung 1982 mit ihrer Vertreibung aus Beirut traf, erlosch der lange vorherrschende Elan des Aufbruchs. Was blieb war die nüchterne Einsicht, die über lange Zeit verfolgten Ziele nicht erreichen zu können. Das Offenbarwerden der Schwächen der eigenen Führung, der versperrten Auswege aus dem politischen Engpass, ließ keine Illusionen mehr zu. Mahmud Darwisch war 1982 ins Pariser Exil gegangen – wie sich herausstellen sollte, nicht mehr in ein nur territoriales, sondern nun in ein existentielles Exil. In Paris wurde er mit dem Werk des großen Exildichters Paul Celan bekannt, mit dem er, wie er vor kurzem in einem Gespräch formuliert hat, sich verwandt fühle, da er mit ihm nicht nur den Pariser Aufenthalt, sondern vor allem auch die Hebräische Bibel gemeinsam habe. In Paris und später nach seiner Rückkehr in die arabische Welt, in Ramallah und Amman reflektiert Darwisch sich selbst als Dichter des Exils. 1996 heißt es:

„Eine Wolke zog von Sodom nach Babel“
vor hundert Jahren, doch ihr Dichter, Paul
Celan, brachte sich heute um in der Seine

Wer bin ich? Wer bin ich nach deiner Nacht,
der letzten Winternacht?

Mit dem Verlust des Mythos wird auch der Erlöser-Held überflüssig. Der Märtyrer selbst fordert den Dichter in einem Gedicht aus dem Jahr 2002 auf:

Gib die Worte, die du mir schenktest, zurück an das Lexikon
erlöse die Schlafenden von dem störenden Echo!

Gleichzeitig wird das Land Palästina „exterritorialisiert“, die Heimat wird nun zu einem „Land aus Worten“. Was Celan für sich beanspruchte, einer Welt aus Sprache zuzugehören, das spricht ihm Darwisch nach; ein jüdischer Dichter leiht einem palästinensischen Dichter die Worte – nicht mehr zur Formulierung einer palästinensischen Gegenposition, sondern zu einer gemeinsamen Aussage: der Feststellung des existentiellen Exils.
Darwischs neueste Dichtung ist weitgehend Neureflektion seiner früheren Position, der einstige ,Madjnun Palästinas‘, der ,von seiner leidenschaftlichen Liebe zu Palästina Besessene‘ ist zu einem nun verhalten sprechenden intimen Freund geworden, der seine früheren Ekstasen seiner einstigen Jugendlichkeit zugute hält. Was bleibt ist nicht der Dichter als Repräsentant einer Idee, sondern allein die Dichtung selbst, in der alles Verlorene aufgehoben ist:

Am Ende werden wir uns fragen: War Andalusien
Hier oder dort? Auf der Erde oder im Gedicht?

Es ist Stephan Milichs Verdienst, die neue Dimension der Darwischschen Dichtung luzide sichtbar gemacht zu haben. Seine – in der Arabistik immer noch seltene – literaturwissenschaftliche Kompetenz, erworben nicht zuletzt in Zusammenarbeit mit einem der intimsten Kenner gegenwärtiger arabischer Dichtung, Asaad Khairallah, hat ihn zu dieser wichtigen Leistung befähigt. Milich hat sich dem Dichter in Augenhöhe gegenübergestellt, er präsentiert sein Werk, ohne jedes Interesse an orientalisierender Exotik. Das vorliegende Buch ist das erste Buch, das Darwisch als Exil-Dichter der Weltliteratur würdigt.

Angelika Neuwirth, Vorwort

 

Einleitung

Was vermag Sprache mehr, als ihre Kultur, ihr kollektives Gedächtnis, ihren auseinandergebrochenen Ort, ja ihre Identität zu verteidigen.
(Mahmud Darwisch)
39

There was no such thing as Palestinians. (…) They did not exist.
(Golda Meir)
40

Im April des Jahres 2002 erschien der Gedichtband „Belagerungszustand (Ḥālat Hiṣār) des auch außerhalb der arabischen Welt bekannten, palästinensischen Dichters Mahmud Darwisch. Der im „Zustand der Belagerung“ verfasste Band, der mit politisch-konfrontativen Versen einsetzt und mit dem Besingen des ersehnten, im gegenwärtigen Konfliktzustand zwischen Israelis und Palästinensern jedoch in weite Ferne gerückten Frieden endet, lässt zugleich die lange gedankliche Entwicklung des arabischen Dichters Revue passieren.41 So erzählen Mahmud Darwischs Gedichte und Prosawerke seit vier Jahrzehnten von dem durch Vertreibung und Unterdrückung hervorgerufenen Leid der Palästinenser, von ihrem Exil und Ausgeschlossensein, aber auch vom palästinensischen Traum der Rückkehr in die eigene Heimat. Die Gedichte sind Ausdruck kultureller Selbstbehauptung und betonen eindringlich die Existenz eines palästinensischen Volkes mit eigener nationaler Identität und Geschichte, das von Israel und einigen arabischen Staaten lange Zeit nicht anerkannt wurde.
Hierbei ist wesentlich, dass sich palästinensische Identität vor allem mittels zweier unterschiedlicher Faktoren herausbildete. Einerseits übten die durch die Vertreibung hervorgerufenen Exil- und Fremdheitserfahrungen einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das palästinensische Selbstverständnis aus, andererseits formierte sich palästinensische Identität paradoxerweise gerade durch die Auseinandersetzung mit dem „Feind“, der israelischen Gesellschaft und ihrer jüdischen Bevölkerung.
Rashid Khalidi beschreibt die aufgrund der engen historischen Verflochtenheit mit Israel besonders schwierige Problematik der palästinensischen Identitätssuche so:

However, unlike that of the other Arab peoples – indeed, perhaps uniquely – the Palestinians case is further complicated by the intimate intertwining over the past century (…) of the Palestinian narrative with one of the most potent narratives in existence, that of Israel and the Jewish people.42

Die Poesie Mahmud Darwischs kann als Ausdruck dieser kollektiven Identitätssuche gelesen werden. Waren seine frühen Gedichte durch ihre kämpferische Verteidigung der nationalen Identität noch der politischen Widerstandsdichtung im engeren Sinn verpflichtet, wendete sich der Poet seit den 1980er Jahren zunehmend persönlicheren, allgemein menschlichen Themen zu, die Darwisch zu einer Dichtung des „tieferen Widerstandes“ führten, die er seitdem von politischen Elementen fern zu halten versucht.43 Mit diesem Wandel veränderte sich auch das seinen Gedichten zugrunde liegende Identitätskonzept.
Die Poesie Darwischs richtet sich nicht allein an die palästinensische und arabische Leserschaft, sondern ist besonders in jüngster Zeit durch den Versuch gekennzeichnet, in einen poetischen Dialog mit der israelischen Seite zu treten, in welchem kraft des Erzählens der eigenen Geschichte die Überwindung der allgegenwärtigen Gewalt und Unterdrückung möglich werden soll. Im Zentrum des Dichtens Mahmud Darwischs steht somit die dialogische Suche nach der eigenen Identität.
Aus der angedeuteten Problematik der palästinensischen Identitätsfindung und -bildung ergibt sich die zentrale Fragestellung dieser Arbeit. Gedichte zweier Schaffensphasen (1960–1970 und 1992–2002) von Mahmud Darwisch sollen unter dem Aspekt der Identität (huwīya) und den damit verbundenen Erfahrungen des Exils (manfan) und der Fremdheit (ġurba) gelesen werden.44 Welche Funktion spielte die Erinnerung (ḏikrā) zum Aufbau einer kollektiven palästinensischen Identität? Wie haben sich die Konzepte und Vorstellungen von Identität, Fremdheit und Exil in den Gedichten des palästinensischen Dichters gewandelt und gegenseitig beeinflusst? Welche Wirkung übten Liebes- und Fremdheitserfahrungen auf die poetische Entwicklung von Mahmud Darwisch aus?
Von Beginn an standen Themen wie die eigene kollektive Identität, die Beziehung zu Israelis und anderen der eigenen nationalen Gruppe gegenüberstehenden Alteritäten im Mittelpunkt der Poesie.45 In seinen Gedichten werden palästinensische Selbstbilder thematisiert und reflektiert, so dass Darwischs Lyrik als „Laboratorium eines neuen palästinensischen Selbstverständnisses“ und als „Seismograph der palästinensischen Befindlichkeit“ zugleich gelesen werden kann.46
Die Grundthese meiner Studie lautet: Die anfänglich monolithisch, essentialistisch und primordial geprägten Identitäts- und Alteritätskonzepte, welche die Gedichte der 1960er Jahre weitgehend dominieren, haben sich durch Fremdheits- und Exilerfahrungen von Grund auf gewandelt und zu neuen Sichtweisen des Eigenen und der Anderen geführt. Dieses sich bereits in den 1960er Jahren andeutende, in den 1990er Jahren vollendende „multiple“ Verständnis von Identität zeichnet sich durch erstaunliche Offenheit gegenüber dem Fremden aus. Es erlebt den Anderen nicht mehr als feindliche Bedrohung, sondern als Bereicherung der eigenen Person auf individueller, der palästinensischen Kultur auf kollektiver Ebene. Die humanistische Grundhaltung, welche den Gedichten zugrunde liegt, rückt die allen Menschen gemeinsamen Wesenszüge in den Vordergrund, um Unmenschlichkeit und Unterdrückung zu überwinden. Dass Fremdheitserfahrungen dabei eng mit dem Leben im Exil verbunden sind, gilt keinesfalls nur für Darwisch, sondern ist charakteristisch für viele, wenn nicht alle palästinensischen Literaten, versteht man Exil im weitesten Sinne:

Palestinian writers have to spend their lives either as exiles in other people’s countries, or, if they have remained in their own ancestral homeland, either as second class citizens in Israel proper or lacking any citizenship at all under Israeli military rule in the West Bank and Gaza.47

Die Aufgabe einer starren und sich vom Feind klar abgrenzenden Identität und Subjekthaltung führt den palästinensischen Dichter jedoch in ein Dilemma, das auf den ersten Blick unüberbrückbar zu sein scheint:48 Einerseits ist für die Bildung und Verteidigung der nationalen wie kulturellen Identität sowie für die Durchsetzung politischer Ziele wie der Gründung eines autonomen Staates eine monolithische, essentialistische und die Anderen als Feinde betrachtende Auffassung der eigenen Identität Voraussetzung, andererseits erkennt der Dichter schrittweise die kulturelle Konstruiertheit und dynamische Wandelbarkeit seiner eigenen Identität, so dass er, angestoßen durch diese Erkenntnis, auch sein Selbstbild hinterfragen und neu definieren muss. Zudem spricht der Dichter selbst in späteren Jahren einer offenen Identität eine größere dichterische Schöpferkraft zu. Die Arbeit versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, welche dichterischen Pfade Mahmud Darwisch einschlägt, um für dieses Dilemma einen Ausweg zu finden. Die vorliegende Arbeit geht also der Frage nach, auf welche Weise die komplexen Themenfelder Identität, Alterität/Fremdheit und Exil in der Poesie von Mahmud Darwisch aufgegriffen und dargestellt werden. Dabei soll das Augenmerk auf Wandel und Entwicklung der konstruierten Konzepte und Vorstellungen von „Eigenem“ und von „Fremdem“ in ausgewählten Gedichten liegen. Das Verständnis der Poesie Mahmud Darwischs wird durch eine Einbeziehung biographischer und zeitgeschichtlicher Hintergründe vertieft. Die Poesie erschließt sich zudem mit Hilfe theoretischer Ansätze zu Identität und Fremdheit/Alterität. Die sehr unterschiedliche Natur der frühen und späten Dichtung des Palästinensers erfordert jedoch auch unterschiedliche methodische Herangehensweisen. Für die Analyse der frühen, stärker von kollektiven „Denkmustern“ geprägten Gedichte bietet die „Theorie des kulturellen Gedächtnisses“ von Aleida und Jan Assmann49 eine ausgezeichnete Referenz, da sie das Verhältnis von Erinnerung, Sprache und kollektiver Identitätsbildung nicht nur zu rekonstruieren hilft, sondern die untersuchten Texte auch zu deuten erlaubt.
Im Gegensatz zu der sich an die Diskursanalyse anlehnenden Herangehensweise des ersten Teils wird für den zweiten Teil eine eher interpretativ-hermeneutische
50 Annäherung an die Gedichte gewählt, welche sich dennoch weiterhin kontext-analytisch sowohl identitätstheoretischer Ansätze als auch zeitgeschichtlicher Hintergrundinformationen bedient.
Dabei wird besonders die Untersuchung der späten, zunehmend hermetischen Lyrik Mahmud Darwischs, welche sich einem Verständnis stellenweise zu entziehen versucht, von der Überzeugung geleitet, dass sich die Interpretation von Poesie entsprechend dem zeitlichen und kulturellen Kontext und Erfahrungshorizont des Lesers verändert. So soll kein dem Text „ewiger“ Sinn herausgearbeitet werden, welcher Gedichte als bloße Träger von Ideen reduziert.
51 Vielmehr ist diese Arbeit ein Versuch, die vielfältigen und vielstimmigen Bedeutungswelten der Gedichte unter dem Aspekt der Identität und Alterität/Fremdheit neu zu lesen.
Die Tatsache, dass dieser Arbeit Übersetzungen aus der arabischen Sprache zugrunde liegen, erfordert eine weitere Ausführung. Die vorliegende Studie geht von der These aus, dass die fremde Kultur und Sprache, aus welcher die Gedichte übersetzt sind, nur relativ fremd sind und somit auch verstanden werden können.
52 Dies gilt besonders für Mahmud Darwischs späte Lyrik, da sich in ihr einerseits zahlreiche intertextuelle Bezüge zu Texten aus europäischen Literaturen feststellen lassen, andererseits das westliche Exil auf die Dichtung des Palästinensers seinen spezifischen Einfluss ausgeübt hat. Gerade aus der angesprochenen Fremdheit der Gedichte ergibt sich die Möglichkeit des Verstehens und Interpretierens:

Nur weil zwischen dem Verstehenden und seinem Text keine selbstverständliche Übereinstimmung besteht, kann uns am Text eine hermeneutische Erfahrung zuteil werden.53

Die Distanz zwischen Text und Leser, der „Zwischenraum“, ermöglicht erst die Interpretation.
Angemerkt sei schließlich, dass die ausgewählten Gedichte in Anbetracht des überwältigenden Umfangs des dichterischen Werks Mahmud Darwischs nur bedingt einen repräsentativen Einblick gewähren können. Des Weiteren ist die Form bzw. künstlerische Ausgestaltung besonders dann von Bedeutung, wenn sie dem Verständnis inhaltlicher Fragen dient. Gleichwohl kann die ästhetische Komponente der Lyrik von Darwisch nicht unbeachtet bleiben, stellt sie doch aus Sicht des Dichters die Wichtigere dar.54

Zu Mahmud Darwisch, der als einer der prominentesten palästinensischen und arabischen Dichter gilt, sind bereits zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen erschienen. Mit Blick auf unser Thema haben sich folgende Beiträge in arabischer und in westlichen Sprachen verfasster Sekundärliteratur über den Palästinenser als besonders relevant erwiesen. Die Anthologie palästinensischer Dichtung aus dem Jahre 1966 des bekannten palästinensischen Schriftstellers und Literaturkritikers Ġassān Kanafānī55 mit dem Titel Al-adab al-muqāwim fi Filasṭīn al-muḥtalla 1948–66 (Die Widerstandsdichtung im besetzten Palästina 1948–66) machte die damals junge Generation palästinensischer Dichter in der arabischen Welt bekannt. Neben Samīḥ al-Qāsim ragte vor allem Mahmud Darwisch mit seiner originellen, bilderreichen Lyrik hervor, welche schon früh ein breites arabisches Publikum begeisterte. Zwei Jahre später ergänzte Kanafānī seine Anthologie mit einer spezifischen Analyse und Beschreibung der schon im ersten Band vorgestellten Dichter unter dem Titel Al-adab al-muqāwim taḥt al-iḥtilāl 1948–68 (Die Widerstandsliteratur unter der Besatzung 1948–66). Damit war die Bezeichnung für Darwisch gefunden: Dichter des palästinensischen Widerstandes. In der Folgezeit erschienen zahlreiche Studien zu seinem Werk, die sich in erster Linie mit Darwisch als Vertreter der Engagement-Literatur56 und als Dichter des palästinensischen Kampfes auseinander setzten und somit seine Verse vorwiegend in den politischen Kontext des israelisch-palästinensischen Konfliktes stellten.
Stellvertretend sei die Studie von Raǧā’ an-Naqqās (1971) erwähnt: Mahmud Darwisch, Šā‘ir al-arḍ al-muḥtalla (Mahmud Darwisch, Dichter des besetzten Landes). Obwohl sie nur die Gedichte der ersten zehn Jahre einbezieht, bietet sie umfangreiche und gründlich recherchierte Informationen zu Leben und poetischen Grundthemen Darwischs.
In den 1980er Jahren entstanden weitere Arbeiten, die Einzelaspekte der Dichtung herausgreifen und detailliert bearbeiten. Erwähnenswert sind vor allem zwei Monographien, die 1987 erschienen: Zum einen die ausführliche Studie von an-Nābulsī mit dem vielsagenden Titel Maǧnūn at-Turāb, Dirāsa fi fikr wa-š-ši‘r Maḥmūd Darwīš (Der von der Erde Besessene, Studie zu Dichtung und Denken Mahmud Darwisch), zum anderen die sich auf das Langgedicht „Lob des hohen Schattens“ beziehende Arbeit von Afnān al-Qāsim von 1987 mit dem Titel Mas‘alat aš-ši‘r wa-l-malhama ad-darwīšīya, Maḥmūd Darwīš  fi madiḥ aẓ-ẓill al-‘ālī. Dirāsa susiyū-bunyawīya (Das Problem der Dichtung und das darwischische Epos, Mahmud Darwisch in „Lob des hohen Schattens“, Sozio-strukturalistische Studie).
In den letzten zwei Jahrzehnten gewann das Werk des palästinensischen Dichters auch in der westlichen Welt an Bekanntheit. Dies führte zu einer intensiveren, wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Mahmud Darwischs Dichtung. Folgende Arbeiten sind für unser Anliegen von besonderem Interesse:
Der erste ausführlichere Beitrag in deutscher Sprache, 1979 in Ostberlin erschienen, umfasst ausgewählte Gedichte und Prosatexte aus den Jahren 1960 bis 1975 mit aufschlussreichen Auszügen eines 1968 in der libanesischen Zeitschrift aṭ-Ṭarīq veröffentlichten Interviews.
Die erste ausführliche Monographie in deutscher Sprache ist jedoch die von Abu Hashhash 1994 erschienene Dissertation Tod und Trauer in der Poesie des Palästinensers Mahmud Darwisch. Hierin wird die Bedeutung der dichterischen Leitmotive Tod, Trauer und Märtyrertum in den Gedichten bis 1986 hinsichtlich kultureller und poetischer Traditionen untersucht.
Einen ersten Gesamtüberblick liefert der 1997 im Kritischen Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur erschienene Beitrag von Stefan Weidner, der anhand ausgewählter Gedichte und biographischer wie zeitgeschichtlicher Hintergrundinformationen einen wertvollen Einblick in die Dichtung von Darwisch bis zum Jahre 1995 gewährt.
Eine ähnliche Herangehensweise wählten die Autorinnen des im Sammelband der Beiruter Texte erschienenen Survey der Modernen Palästinensischen Dichtung, der den aktuellsten Beitrag zu Leben und Werk des Dichters mit ausführlicher Bibliographie und Werkliste darstellt. Zudem wurden in den letzten Jahren zahlreiche Artikel und Aufsätze zu bestimmten Teilaspekten der Dichtung von Mahmud Darwisch publiziert, von denen drei, die für unser Thema wesentlich sind, abschließend genannt seien. Issa Boullata untersucht in seinem Aufsatz „Mahmud Darwish: Identity and Change“ einige, zwischen 1964 und 1986 erschienene Gedichte von Darwisch und geht der Frage nach, inwieweit sich das Konzept der Identität in aufeinanderfolgenden Phasen gewandelt hat.57 Der zweite, von Richard van Leeuwen verfasste Aufsatz analysiert die beiden Prosatexte „Yawm‘īyāt al-ḥuzn al-‘ādī (Tagebuch der alltäglichen Traurigkeit) von 1973 und „Dākira li-n-nisyān“ (Ein Gedächtnis für das Vergessen) von 1987 unter dem Aspekt des Verhältnisses von Raum, Zeit und Text sowie der Funktionalisierung von Erinnerung für die Bildung der palästinensischen Identität.58 Der dritte Beitrag „Mahmoud Darwich: Rita et la poétique du couple“, geschrieben vom libanesischen Romancier Elias Khoury, legt den Schwerpunkt seiner Analyse auf den Themenkomplex von Identität und Fremdheit in Mahmud Darwischs Liebesgedichten und setzt sich mit der herausragenden Bedeutung des Exils für Leben und Werk des Dichters auseinander.59 An die letztgenannten Arbeiten knüpft die vorliegende Studie an.
Es erschien mir sinnvoll, einen chronologischen Aufbau zu wählen und die Identitäts- und Alteritätskonzepte der frühen Gedichte den in der späten Poesie Mahmud Darwischs auftauchenden „Identitäten“ und „Alteritäten“ gegenüberzustellen. Den Ausgangspunkt für den ersten Teil bieten, nach einer kurzen Vorstellung von Leben und Werk des palästinensischen Dichters, Ausführungen zu unterschiedlichen Identitätstheorien. Daran anknüpfend wird ein Überblick über die palästinensische Geschichte und Identität im 20. Jahrhundert gegeben, bei dem das Augenmerk auf der herausragenden Bedeutung der palästinensischen Dichtung für den Aufbau einer nationalen und kulturellen palästinensischen Identität liegt.
Auf Grundlage des identitätstheoretischen und zeitgeschichtlichen Hintergrundes beschäftigt sich das darauf folgende Kapitel mit dem Verhältnis von Identität, Erinnerung und Körper in ausgewählten Gedichten aus der Frühphase Mahmud Darwischs.
Daran fügt sich eine detaillierte Analyse der verschiedenen, in den Gedichten konstruierten Konzepte palästinensischer Identität, in deren Zentrum der kämpferische Einsatz für die geliebte, aber verlorene Heimat Palästina steht. Beschränkt sich die Studie bis dahin auf die poetischen Selbstbilder und Konzepte der eigenen Identität, werden dann die in die Gedichte eingewobenen Bilder der „Anderen“ rekonstruiert. Die Gedichte sind auf der Suche nach dem Fremden zwischen Freund und Feind und bieten ein für diese frühe Phase erstaunlich differenziertes und komplexes Panorama an Fremdwahrnehmungen. Sodann rückt die Funktion von Dichtung als verschriftlichte Erfahrung für die Formierung der sich weiterhin auf die Erde beziehenden palästinensischen Identität in den Mittelpunkt, welche sich dem israelischen Anspruch auf das Land durch eine eigene, auf palästinensischer Erfahrung beruhende Erzählung zu widersetzen versucht. Schließlich runden abschließende Bemerkungen zu Schrift und Identität den ersten Teil des Buches ab.
Nachdem ein kurzer Überblick über den Wandel der dichterischen Identitätskonzepte der 1970er und 1980er Jahre gegeben wird, veranschaulicht das den zweiten Teil einleitende Kapitel „Identitäten zwischen Fremdheit und Exil“ die poetische Selbstdefinition des Dichters in den 1990er Jahren.60 Auch die Funktion von Dichtung als Waffe im Kampf um die gültige Version von Geschichte wird im spezifischen Kontext der 1990er Jahre anhand zweier ausgewählter Gedichte erhellt. Daran anschließend entfalten sich die vielfältigen Sichtweisen Mahmud Darwischs auf Exil und Fremde, der ausgehend von einer verzweifelten und leidvollen Wahrnehmung von Exil die in der Fremde entstehenden Fremdheitserfahrungen zunehmend als Bereicherung und Quelle poetischer Schöpferkraft begreift. Dabei kommt der heilenden und Heimat schenkenden Liebe zu einer Fremden besondere Bedeutung zu. Das letzte Kapitel beleuchtet dann die als Prozess verstandenen und somit dynamischen Durchmischungen des „Eigenen“ und des „Fremden“ sowie die daraus entspringenden Konsequenzen für ein radikal neues Verständnis von Identität. Dass Darwisch in seiner späten Lyrik zu Leben und Werk jüdischer Lyriker wie z.B. dem Paul Celans intertextuelle Bezüge herstellt, wird als Anlass genommen, über Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen zwei Dichtern nachzudenken, deren poetische Revolte in ihrer sprachlichen Radikalität nicht die einzige Gemeinsamkeit darstellt. Das neue Identitätskonzept der späten Lyrik, das in einer liebenden Grundhaltung wurzelt, hat jedenfalls das „Fremde“ im „Eigenen“ entdeckt und erlebt aufgrund der daraus entstehenden schöpferischen Kraft von nun an das Fremde dichterisch und menschlich als Bereicherung und Stärke.
Der Untersuchung liegt die These zugrunde, dass moderne palästinensische Dichtung, als deren prominentester Vertreter Mahmud Darwisch gilt, gesellschaftliche und politische Entwicklungen durchleuchtet und somit einen wichtigen Mosaikstein für das Verständnis sowohl der inneren Entwicklungen der palästinensischen Gesellschaft als auch des israelisch-palästinensischen Konflikts liefert.
Allerdings ist hier Vorsicht geboten. Besonders poetische Texte sind nicht unmittelbar und vorschnell „als realistische Repräsentationen herrschender Mentalitäten oder gar mentaler Zustände“ zu deuten.61 Dichtung ist im Gegensatz zu politischen oder wissenschaftlichen Texten mehr oder weniger Träger eines ästhetischen Projekts, unterliegt demnach maßgeblich künstlerischen Gesetzen und Traditionen und ist Ausdruck einer sehr persönlich gefärbten Sichtweise der Wirklichkeit. So darf von Dichtung höchstens bedingt und vorsichtig auf kollektive Denkweisen, Weltbilder und Mentalitäten geschlossen werden.
Dennoch kann ein Großteil palästinensischer Poesie nach 1948 als „gebrochener Spiegel“ der Wirklichkeit gelesen werden. Dichtung bietet ein Experimentierfeld für neue Gedanken und Lösungsvorschläge, möchte zugleich aber auch die kulturelle und nationale palästinensische Identität mitgestalten.62 Eine weitere, dieser Arbeit zugrunde liegende Annahme ist, dass der Dichter sich mehr oder weniger im Geflecht seines sozialen Umfeldes befindet.63 So kann, wenn man das Gesellschaftliche an der Lyrik als wesentlich begreift, eine Dichtung und Gesellschaft verbindende Lesart ein tieferes Verstehen von Dichtung ermöglichen.64 Aus dieser Perspektive lässt sich Poesie als Bestandteil sozialer Diskurse mit politischen Implikationen und Beziehungen lesen, deren Analyse Denkstrukturen und Weltbilder rekonstruieren und enthüllen kann. Dass Dichtung umgekehrt auch gesellschaftliche Denkmuster und kollektive Selbstverständnisse zu prägen vermag, hat der im amerikanischen Exil lebende palästinensische Schriftsteller Fawaz Turki folgendermaßen ausgeführt:

Die Kunstfertigkeit der Dichter hat den Tenor und die Mythologie des Lebens unserer Gesellschaft so sehr geformt, neugeordnet und wiederbelebt, dass sie sich in unsere existenzielle Geistesverfassung, unsere zeremoniellen Lebensgewohnheiten tief eingegraben hat (…)65

Stephan Milich, Vorwort

Schlusswort – Dichten in den Zeiten der Belagerung

Mahmud Darwischs frühe Dichtung repräsentiert durch die Darstellung persönlicher Erfahrungen, Erinnerungen, Wünsche und Träume die Stimme eines Volkes ohne politische Stimme und trägt auf diese Weise zum Aufbau einer palästinensischen Identität bei.66 Wie im ersten Teil deutlich wurde, ist palästinensische Identität in jener frühen dichterischen Phase noch eng mit der heimatlichen Erde verbunden. Der sich aus Liebe aufopfernde, heimatlose Dichter trägt die Spuren seines verlorenen Ortes, seine palästinensische Identität, in seinen Körper eingeschrieben wie eine Wunde stets mit sich. Mit den ersten Fremdheits- und Liebeserfahrungen beginnt dann die allmähliche Öffnung gegenüber dem Fremden, welche im libanesischen und schließlich im französischen Exil dazu führt, den Menschen und seine in ihm tief verwurzelte Fremdheit in den Mittelpunkt der Poesie zu stellen.
So geht es in den Gedichten seit den 1990er Jahren weniger um die Stärkung der palästinensischen Identität, als um die dichterische Umsetzung einer sehr persönlichen Sichtweise. Indem die späten Gedichte aber auch Aufschluss über das Selbstbild des Dichters, über seine Gesellschaft sowie über seine Sicht des Anderen und des Fremden geben, reflektieren sie bis zu einem gewissen Grad immer noch die kollektive Identität der Palästinenser.
67 Die schon in der frühen Dichtung auftauchenden Metaphern werden in den späten Gedichten ihrem politischen Kontext enthoben und auf eine persönliche Ebene transzendiert: Rückkehr bedeutet nun nicht mehr nur Rückkehr in die verlorene Heimat, sondern auch Rückkehr zum Menschsein. Die Mauer zwischen den verfeindeten Völkern wird zur Mauer zwischen den sich als Fremde begegnenden Menschen. Dennoch klingt die politische und kollektive Dimension der Poesie in den Gedichten weiterhin mit.
So ist nicht zu übersehen, dass sich Mahmud Darwischs Dichtung auch noch in den letzten Jahren intensiv mit der palästinensischen Realität auseinandersetzt, da sie – und dies noch mehr seit Darwischs Rückkehr nach Ramallah – ihre Quelle im palästinensischen Alltag hat, der zutiefst von der politischen Situation geprägt ist. Der palästinensische Dichter drückt dies so aus:

Das Lyrische existiert nicht innerhalb eines Gedichtes. Poesie entspringt dem Leben. Es ist das Leben, das einem das Lyrische liefert. (…) Die Aufgabe des Dichters besteht darin, das lyrische Moment des Lebens in ein Gedicht zu übertragen.68

Mahmud Darwischs jüngste Poesie versucht, eine Brücke zwischen den Konfliktparteien zu schlagen, indem sie an die Menschlichkeit des „Feindes“ appelliert und den Frieden als menschlichen Idealzustand dichterisch antizipiert. Daraus stellt sich dem Dichter die Aufgabe, die Geschichte(n) der Palästinenser und ihren Kampf für Gerechtigkeit und nationale Rechte aus einem ästhetischen Blickwinkel aufzunehmen. Indem sich der palästinensische Dichter von der direkten, politischen Widerstandsdichtung der 1960er und 1970er Jahre verabschiedet und die Liebe besingt, lenkt er das Augenmerk des Lesers auf die Möglichkeiten des zukünftigen Glücks und Friedens, selbst zwischen Menschen, die sich bisher befeindeten. Dies stellt gewissermaßen auch eine Antwort auf die in der Einleitung aufgeworfene Frage dar, ob es dem Dichter gelingt, zwischen den Erfordernissen der Politik, welche eine tendenziell starre und monolithische Identität fordert, und denen der Dichtung und Menschlichkeit mit ihrer offenen, pluralen Identitätsvorstellung eine verbindende Brücke zu schlagen.
Mahmud Darwisch hat sich von einem Stein, der Widerstand leistete und mit der Erde identisch war, in der grenzenlosen Sprache einmal in eine fruchtbare Wolke, ein anderes Mal in einen umherwandernden Vogel verwandelt, um im Spiel der Pronomina einen Dialog mit dem Fremden zu führen, ohne die politische Dimension verstummen zu lassen. Ein Celan-Vers aus dem Gedicht „Am letzten Tor“ (1945 entstanden) lautet:

Lass den Stein die Wolke, mich den Kranich sein.69

Hier hat ein jüdischer Dichter zuvor schon ähnliche Worte wie der palästinensische Dichter heute gewählt.
Erstaunlich ist hierbei, dass sich Darwisch in entgegengesetzter Richtung zu seinem früheren Dichtervorbild Nizār Qabbānī70 entwickelte, der lange Zeit nur Liebesdichtung schrieb und erst in späteren Jahren politische Poesie verfasste. So mag in der Liebesdichtung ein viel größeres Potential des Widerstandes verborgen liegen als in direkter politischer Lyrik, welche die Fronten zwischen den Menschen doch nur vergrößern würde. Mahmud Darwischs Poesie hat sich von einer eng gefassten politischen Betrachtung der Welt weitgehend gelöst, denn es scheint, dass der Fremde in der Politik den Status des potentiellen Feindes beibehält.71
Mahmud Darwisch gelingt es auch im „Zustand der Belagerung“, der während der noch immer andauernden zweiten Intifada herrscht, seine poetisch-liebende Identität zu bewahren und den Frieden herbeizusehnen, denn allein in ihm kann die Liebe gedeihen. So schreibt er in seinem 2002 erschienenen Dīwān „Belagerungszustand“ (Ḥālat Ḥiṣār):

Friede ist, wenn ein Trauergedicht einem Jüngling gewidmet wird,
dessen Herz
von dem Schönheitsfleck einer Frau durchbohrt wurde,
Nicht von einer Gewehrkugel
Und auch nicht von einer Granate.
72

Solange jedoch der Krieg die Menschen voneinander trennt, ist weder für die israelische noch für die palästinensische Seite die Erfüllung menschlicher Träume und Sehnsüchte erreichbar.
Abschließend sei noch einmal der Dichter selbst zitiert. Am Ende des 20. Jahrhunderts findet Mahmud Darwisch, auf sein Leben zurückblickend, folgende Worte, um seine Identität zu bestimmen:

Haben wir uns unseren ersten Träumen oder den Erfüllungen unseres ersten Ortes würdig gezeigt? Vielleicht kann ich darauf gar nicht antworten, doch trete ich all diese Fragen an meine einzige persönliche Identität ab: meine Dichtung.73

Welchen Weg Darwischs dichterische Identität in Zukunft einschlagen wird, bleibt eine offene und spannende Frage.

 

Inhalt

Danksagung

Vorwort

Einleitung

– Das Kollektive spiegelt sich im Persönlichen – Zu Leben und Werk von Mahmud Darwisch –
• Die Biographie
• Die dichterischen Schaffensphasen

– Identitäten und Alteritäten
• Zum Begriff der Identität
• Der zeitgeschichtliche Hintergrund

– Am Anfang war die Erinnerung – Identität und Erinnerung in den frühen Gedichten –
• Erinnerung und Exil
• Erinnerung und Widerstand
• Palästina auf den Körper geschrieben

– Palästinensisch ihr Name, palästinensisch ihre Augen – Die Identitätskonzepte der frühen Gedichte –
• Die liebende Identifikation mit der Heimat
• Die verschiedenen Gesichter palästinensischer Identität

– Der Auftritt der Fremden
• Der Feind
• Die Liebe
• Der Freund

– Schrift und Identität – Vorbereitungen auf das endgültige Exil – Die 1970er und 1980er Jahre –

– Identitäten zwischen Fremdheit und Exil – Die 1990er Jahre –
• Eine Standortbestimmung
• Dichtung als „Gegentext“
• Zwischen Exil und Fremdheit

– Das Fremde im Eigenen, das Eigene im Fremden
• Die Sehnsucht nach dem Verborgenen
• Die Liebe und das Verborgene
• Im Dialog der Fremden
• Vom Land zum Körper
• Der Feind, der Gast und der Fremde
• Selbsterkenntnis im Spiegel der Fremden
• „Fremd meinem Namen und fremd meiner Zeit“
• „Da gibt es eine Liebe…“

– Schlusswort – Dichten in den Zeiten der Belagerung

– Anmerkungen

– Anhang
• Ausgewählte Gedichte Mahmud Darwischs
• Werkverzeichnis Mahmud Darwisch
• Literaturverzeichnis

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Linkedin

 

Ibrahim M. Abu-Hashhash: Tod und Trauer in der Poesie des Palästinensers Maḥmud Darwīš

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Nachrufe auf Mahmud Darwisch: Quantara ✝ FAZ ✝ Der Spiegel ✝
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Mahmoud Darwish – Algerie 1983 (Eloge de l’ombre).

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