Ursula Krechel: Jäh erhellte Dunkelheit

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ursula Krechel: Jäh erhellte Dunkelheit

Krechel-Jäh erhellte Dunkelheit

MODERIEREND

Der Hund ist die Summe aller menschlichen
Möglichkeiten, der Hund ist so stumm wie
Er schnüffelt, leckt, wie er seinesgleichen
Erkennt, wie er Hundsein so selbstverständlich
Nimmt wie Nichthundsein, wie Bäume, Düfte
Aber das weiß er nicht so genau, was auch ein
Fehler wie innere Nacht, Herrenlosigkeit oder
Wölfisches. Vollkommen freiluftig fliegend
Auf einer Wolke, atemgeschwächt, kopfüber.

 

 

 

Inhalt

„Mitschrift des Sommers“ heißt der schöne geduldige Zyklus, der diesen Band abschließt und der entstanden ist während eines längeren Aufenthalts der Autorin in einem Frauenstift. Ihn durchziehen die Wärme und das Blühen der Jahreszeit, die gesteigert sind durch die Stille, wie die Klosterregel sie will. Sie führt zu einem gelassenen Für- und Bei-sich-Sein, das zugleich aufmerksam macht für die Geschichte des Ortes, die auch die Geschichte jener Frauen ist, die dort zuhause waren, bis sie im Klosterfriedhof ihre endgültige Ruhe fanden.
Ursula Krechel, die zuletzt mit dem großen historischen Roman Shanghai fern von wo ihr episches Können vorgeführt hat, kehrt in diesem Buch einstweilen zurück zum Gedicht. Zwischen winterlichen Bildern der Erstarrung und Tagen, „als hätte jemand / du vielleicht oder ein  schüchterner Glückspilz / mit einem großäugigen Würfel die richtige Zahl getroffen“, entfaltet Ursula Krechel mit kluger und hellwacher Aufmerksamkeit – und bisweilen nicht ohne hintersinnigen Humor – ihr Wissen darüber, wie das, was einst „Erdenwandel“ genannt wurde, dahingeht.

Der Dichterin Ursula Krechel wird für ihr lyrisches Gesamtwerk der erstmals vergebene, mit 10.000 Euro dotierte Orphil Preis verliehen; diese Auszeichnung erhält sie insbesondere für die beiden zuletzt erschienenen Gedichtbände Stimmen aus dem harten Kern (2005) und Jäh erhellte Dunkelheit“(2010).
In Stimmen aus dem harten Kern unternimmt Krechel das Wagnis, eine Geschichte der Gewalt durch die Epochen zu schreiben, quasi als einen weiblichen Gegenentwurf zur Ilias. Krechel arbeitet sich durch die Mythen; ihr gelingen gerade durch die Verweigerung alles Modischen Gedichte, die auf bestürzend zeitgemäße Art aufrüttelnd wirken.
Der Band Jäh erhellte Dunkelheit beschwört die Epiphanie, erfüllte Augenblicke, die sich im Gedicht ereignen. Krechel beherrscht den Gestus metaphysischen Fragens ebenso wie das Genrebild der Familienszene, welche Lebensgeschichte auf heitere Art und Weise erfahrbar macht. Die Autorin beharrt eigenwillig auf dem Poetischen; selbst die Paradoxie des Verstummens ist ihr ein Thema, das Schweigen und die Stille. Im Gedicht „Frage“ heißt es, in einer schönen ironischen Wendung,  zum Schluss: „Zu Ende mit dem Latein war erst der Anfang.“
Diesen Gedichten zu begegnen, ist ein Erlebnis; man erinnert sich nachdrücklich an die Stimme einer Dichterin, der es mit ihren Versen gelingt, die Materialität der Sprache, ihre Laute, ihre Schrift, so freizulegen, dass sich ein feines Leuchten über die Dinge legt.

Jung und Jung Verlag, Ankündigung

 

Der Glaube ist eine pikierte Pflanze

– Wie Buchstaben sich entzünden: In ihrer Lyrik vollzieht Ursula Krechel eine Wende zur metaphysischen Poesie. Der Aufenthalt in einem Frauenstift veranlasst sie zu der Frage, ob Gedichte eigentlich schweigen können. –

Für Shanghai fern von wo, ihren Roman, der die Schicksale deutscher Juden im Shanghaier Exil beschreibt, hat Ursula Krechel allseitige und verdiente Aufmerksamkeit gefunden. Sechs Literaturpreise gingen an die Autorin, darunter der renommierte Breitbach-Preis. Wenn dessen Jury die „lyrische Evokationskraft“ des Romans lobte, dann erinnerte sie dar an, daß Ursula Krechel vor allem Dichterin ist, Lyrikerin.
Ihr Gedichtband Jäh erhellte Dunkelheit rückt das erneut in den Blick. Sein Titel evoziert das epiphanische Moment von Poesie, nämlich ihre Fähigkeit, die Welt in unserem Bewußtsein aufleuchten zu lassen. Er markiert eine neue Station in der Entwicklung dieser Autorin. Vielleicht zu dem, was die Engländer „metaphysical poetry“ nennen. In ihren frühen Gedichtbüchern sympathisierte Krechel mit dem Projekt einer radikalen Aufklärung. Jetzt, dreißig Jahre später, spricht sie lieber von Zweifel und Skepsis. In ihrer Breitbach-Dankrede fragte sie:

Gibt es einen Weg, der kein rhetorischer ist, aus der Dunkelheit des Wissens zum Kern des Poetischen? Gibt es Erkenntnis aus der Dunkelheit, gibt es Verstehen?

Man spürt das Tastende dieser Fragen und begreift, daß ihre neuen Gedichte auf Antworten verzichten, die nur rhetorisch sein könnten.
Krechel setzt sich als Wegmarke Zeilen von Genadij Ajgi:

Und dort, wo wir standen,
bleibe ein Leuchten
zurück – unsrer
Dankbarkeit.

Ihr Buch beginnt mit Erkundungen des Terrains, mit Texten, die man Essay-Gedichte nennen möchte, weil sie Schilderung und Diskurs miteinander verbinden. So handelt „Winterkampagne“ von Krieg und Rückzug und den Schrecken der Kälte. Obwohl es Hitler zitiert, ist es kein historisches Gedicht über den Rußlandfeldzug. Es sucht jene Wahrheit, die in der Sprache beschlossen ist. Intertextuell erinnert es an Brodskys „Verse von der Winterkampagne“. Ähnlich verweist „Schneepart Hoffart“ auf die späte Lyrik Paul Celans. Manchmal verdichten sich die Anspielungen zu veritablen Zitat-Collagen. So in „Dramatische Praxis, Theorie mit Pelzbesatz“, darin sich Szondi, Diderot und andere in ernste Theatermotive verstricken.
In einer Folge heiterer Gedichte erleichtert sich die Autorin in Pastiches, die Huldigungen an Kollegen sind. In „Kantilene, Abschiedsszene“, einem Gedenkgedicht für Oskar Pastior, spielt sie sich mit kecken Reimen ins Freie:

wie Buchstaben sich entzünden
wie sie sich finden, Ströme münden
Wasser füllt kein Sieb aus guten Gründen.

Hier nimmt sie Motive auf, mit denen sie einst in den Kinder- und Nonsense-Gedichten von Kakaoblau entzückte.
Krechel hat Sinn für die Zerbrechlichkeit. Sie setzt auf das Paradox: Zersplittern ist Gelingen. Sie vertraut – mit einem Kalauer – auf „Grammaire – ma mère“. Von ihr angeleitet, beugt sie ihre Knie vor einer Vaterfigur wie H.C. Artmann. „Artmann, Artista“ ist – wieder mit einem Wortspiel – ein Art-Man, ein Mann der Kunst. Ihm erweist sie Reverenz:

Es spricht niemand, die Gedichte schweigen
Nein, wiederum, man muß sich tief verneigen.

Wie können Gedichte schweigen? Ursula Krechel kennt das Chandos-Problem, kennt die Verführungen der Sprache. Doch sie wählt nicht das Schweigen, sondern die „ausgehaltene Sprachlosigkeit“. Diese hat ein meditatives, ein metaphysisches Moment. Es scheint im dritten, dem schönsten Teil ihres Buches auf.
Der Zyklus „Mitschrift eines Sommers“ ist das Resultat eines Aufenthaltes in einem Frauenstift. „Vorläufig der Welt entzogen“, wird ihr dieser hortus conclusus zu einer epiphanischen Sphäre. Das ausgeruhte und erfrischte Sehen verspricht „Geistausgießen, so überwach hell / Meine vergrößerte Wahrnehmung“. In der klösterlichen Ordnung empfindet das lyrische Ich ein „Übermaß von Ewigkeit, dem / Keine Gegenwart standhält“. Ja, das meditative Hinhören auf den eigenen Atem scheint die Möglichkeit einzuschließen, daß aus dem Schweigegelöbnis „nahrhaftes Gedichtbrot“ entsteht.
Wie nahrhaft ist dieses Brot? Es kann nur Metapher sein: Gleichnis. „Mitschrift eines Sommers“ ist nicht religiöses Bekenntnis – der Zyklus ist das Protokoll einer Erfahrung. Ursula Krechel, die Agnostikerin, hat eine Erfahrung gemacht: Die Dunkelheit kann sich jäh erhellen. Sie versucht, die Augen offen zu halten, davon zu sprechen. Sie weiß: Chorfrauen und Stiftsdamen haben ein verschwiegenes Erbe. „Auch ich schwiege“, bekennt sie, „wenn ich nicht schriebe“. Aber sie schreibt ja, und wir lesen es. Schreibend erscheint ihr die Religion weiterhin als eine prekäre, der Geschichte unterworfene Sache. Der Glaube – versichert uns der Schluß nicht ohne Ironie – ist „eine pikierte Pflanze / Die andere Blüten treibt“. Blüten der Poesie, die in der Dunkelheit aufleuchten.

Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.8.2010

Der Poesie auf den Fersen

– Der neue Gedichtband von Ursula Krechel leistet Widerstand gegen die Ohnmacht der Sprache. –

„Das Gedicht muss keinen Gegenstand haben, es ist selbst ein Gegenstand“, behauptet Ursula Krechel in ihrem schönen poetologischen Buch In Zukunft schreiben (2003). In den Gedichten, die sie in mehr als dreißig Jahren veröffentlicht hat, ist dies eine Konstante: die Bemühung, nicht von einem Gegenstand auszugehen, sondern einen Gegenstand zu „erdichten“. Das leistet schon das erste Gedicht in ihrem ersten Band Nach Mainz (1977). Es heißt „Meine Mutter“ und besteht aus zwei Blöcken. Der erste Block beschreibt ein Mutterschicksal, das man als biographisch real lesen darf:

Als meine Mutter ein Vierteljahrhundert lang
Mutter gewesen war… fraß sich ein Krebs
in ihre Gebärmutter, wuchs und wucherte
und drängte meine Mutter langsam aus dem Leben.

Der zweite Block beginnt:

Zehn Tage nach ihrem Tod war sie im Traum plötzlich
wieder da.

Das ist ein altes Klischee und ein poetisches Fundstück: Es gibt der Mutter das Leben, diesmal ein eigenes, erotisch getöntes: Sie fährt lachend zwischen zwei Jungen sitzend in einem alten Auto davon. Als wollte sie verschämt eine Träne der Rührung über diesen Traum aus den Augen wischen, fügt die Dichterin eine Pointe an:

An der Haustür könnte ich mich ohrfeigen.
Nicht einmal die Autonummer habe ich mir gemerkt.

In einer Sammlung der besten Gedichte feministischer Inspiration dürfte dieses nicht fehlen!
Im neuen Gedichtband Jäh erhellte Dunkelheit begegnen wir wieder dieser Mutter. Sie „liebte die weißen Männer…“, den Tennisspieler Gottfried von Cramm und den Nuntius Pacelli in der Wochenschau. Kein Traum kommt diesmal dem Sinn zu Hilfe. Das Weiß des umschwärmten Sportlers und das Weiß des verklärten Würdenträgers mischen sich; formelhafte Fragmente dringen ein, die Syntax zerfällt:

nieder
kniete meine Mutter hielt ihren gläubigen
Blick hielt den Segen aus und weiter
Weiß sie Schwarzes blieb schwarz und
Schweiget o mein Vater das Geröll aus
Den Wiesen steiget und blieben immerdar
Im verschlossenen Gemüt und die Sieger
Unter sich

Solche zerriebenen Motive und Zitate ergeben keine resümierbare Botschaft, sie schicken ihre Leser in eine Gedicht-Welt, die konstruiert werden möchte.
Auch die „Winterkampagne“ mit dem Refrain „Das sind ganz normale Verluste“ erinnert an Früheres, an den Kriegszyklus „Stimmen aus dem harten Kern“ von 2005. Poetische Stilmittel haben hier noch eine traditionelle rhetorische Funktion. So fächert sich das Bedeutungsspektrum des Verbs „schlagen“ auf: „Flügelschlagen. Mit den Armen um sich schlagen. Geschlagen.“ Alliteration und Gleichklang unterstreichen Bilder: „Krähen krächzen, kreisen um den Spähtrupp“, „Nasenrot. Lippenrot. Ohrenrot. Tot.“ Die Materialität der Sprache, ihr Lautmusik- und Schriftbildcharakter hat die Lyriker des vorigen Jahrhunderts fasziniert, auch Ursula Krechel, die schon 1985 „Unica Zürn zu Ehren“ und nun „Kantilene, Abschiedsszene“ Oskar Pastior zum Gedenken geschrieben hat – beide haben wie besessen zu ergründen versucht, „wie Buchstaben sich entzünden / wie sie sich finden“.
Darum geht es auch immer in diesem Band: Sätze werden abgebrochen, die Zeichensetzung setzt aus, Reime erklingen, aber nicht am Versende. Wörter zu setzen, weil sie alliterieren, weil sie sich reimen, ist riskant, denn es führt an die Abgründe des Kalauers:

Auch wenn dein Fuß, dein Spann, die Ferse
Was schmerzt, darüber wirst du dich nicht
Äußern, und allzu viele Sorgen machen sich
Perverse, auch wenn du glaubst, du sprichst
In Versen

Es ist heute schwerer geworden, so zu dichten. Ursula Krechel sucht das Wagnis, und es gelingt in dem Gedicht auf den Tod des Dichters Gennadij Aijgi, der zuerst tschuwaschisch, später auf Anregung Pasternaks vor allem in Russisch gedichtet hat. Mit einem Wort-Crash an der Grenze des Erträglichen tritt das Ich neben die Trauerszene, verfremdet sie gewaltsam und erhebt sie auf die abstrakte Ebene des Bildes:

der Dichter Gennadij Aijgi
wird begraben
wie weiß ist der Schnee
leis die Schritte

Leichnam in Tücher gehüllt
den Leichnam gebettet
weißer als weiß, blendend
tschuwaschisch gewaschen

und die das Tuch halten
im einträchtigen Gleichgewicht
niedergerlegt, das Bild schneit ein
verblasst nicht

So haben Sie es erzählt

Das Gedicht heißt „Mit dem Blick, allein – Für Felix Philipp Ingold“ (er hat sich um die Übersetzung von Aijgis Gedichten verdient gemacht).
In der gewaltsamen Instrumentalisierung von Stilmitteln in diesem Gedichtband wird man nicht mehr eine Verstehenshilfe suchen, sondern den Ausdruck eines „Beharrens auf dem Poetischen“, wie die Dichterin es selber ausgedrückt hat. Es gelingen ihr Seite um Seite eigenwillige, intelligente, manchmal auch humorvolle oder sarkastische Gedichte, die ihren Lesern wie Personen begegnen: körperlich gegenwärtig, einladend, zurückhaltend oder abweisend, offen oder geheimnisvoll, aber nie einfach als dekodierbare Botschaft.
Am Schluss des Bandes finden wir einen kleinen Zyklus mit dem Titel „Mitschrift des Sommers“. Er besteht aus 16 Gedichten, die von einem Aufenthalt der Autorin in einem evangelischen Damenstift handeln. „Die Gräber im Klosterhof schweigen / … / Auch ich schwiege, wenn ich nicht schriebe“. Was die Autorin mit den stummen Schatten teilt, über die Jahrhunderte hinweg, ist das Frausein. Auch diese Gedichte suchen nach ihrem eigenen Gegenstand; sie verbreiten einen manchmal beißenden Hauch von Idylle. Im Vergleich mit allen anderen Gedichten spürt man hier jedoch eine fremde und bedrohliche Kraft, die der Dichtung entgegenarbeitet und das lyrische Ich vereinnahmt, selbst wenn es sich wehrt. Zwischen die Gedichte sind dokumentarisch einige Grabinschriften verstreut, welche die Aufmerksamkeit auf die historische Wirklichkeit lenken.
Das letzte Wort im buchstäblichen Sinne hat denn auch die Autorin, nicht die Dichterin, in einer Prosa-Passage: Sie würdigt jene Elisabeth von Brandenburg, die als 15-Jährige mit dem vierzig Jahre älteren Herzog Erich I. von Braunschweig-Lüneburg verheiratet wurde, den neuen Glauben annahm und 1542 die Calenberger Klosterordnung erließ – und also dafür sorgte, dass Obernkirchen bis heute als Stift erhalten blieb. Dafür und für andere fromme Werke mag sie Lob verdienen – und doch ist sie dieselbe, die einen Inquisitionsprozess gegen die Mätresse des Herzogs, Anna von Rumschottel, erzwang, der mehrere andere Frauen, dann wohl auch sie selber das Leben kostete. Elisabeths Sohn Erich II. wurde zwar gegen den Willen seiner Mutter katholisch, machte ihr aber alle Ehre, indem er jener frommen Fleischeslust frönte, die darin bestand, Hexen erst „mit glühenden Zangen reißen“ zu lassen, ehe sie ihre satanische Körperlichkeit auf dem Scheiterhaufen verrauchen lassen durften.

Hans-Herbert Räkel, Süddeutsche Zeitung, 1.2.2011

Schattenspiele in der Finsternis

Der Titel des Buches von Ursula Krechel spielt darauf an, dass plötzlich einfallendes Licht den Menschen einen Schrecken einjagt. Bereits veröffentlichte Gedichte aus den Jahren 2000 bis 2009 geben unter anderem Einblicke in Winterkampagne, Schwanengesang, Balladenkrise, Hirschdunkel und Skriptease. Im letzten Viertel des Buches begibt sich die Autorin auf Spurensuche in einem evangelischen Damenstift am Rande des Weserberglandes und schaut dabei hinter die Kulissen.
Schon in der Winterkampagne läuft es einem eiskalt über den Rücken, wenn es heißt:

Eine Flasche Frostschutzmittel ex getrunken (voll, warm, weite Sicht) und dann hinein ins feuchtkalte Weißnichtmehr…

Im Schwanengesang geht eine Stadt den Bach herunter:

Schrumpfende kleine Stadt: zuerst sterben die Gasthäuser
Goldener Ring, das Gasthaus vom Komponistenvater
Geführt, Rufen & Schreien, Trunkenheit auf der Treppe

Zwischendurch wird eine Weisheit über das Einfache eingeschoben:

Der Schwierigkeitsgrad des Einfachen wird oft unterschätzt und ihn zu kennen, heißt nicht ihm gewachsen zu sein. Dieser Eindruck entsteht bei dem Gedicht

GRAMMAIRE – MA MÈRE

Das Ob-Gemach, das Wie-und-Was-Gemach
das Zimmer des Seitdem im Infinitiv: erhellt
der Korridor des Entweder-Oder, disjunktive
Konjunktionen, Kongruenzen unter Altstenzen
hineingeschlüpft eine Dennoch-Klammer

Dennoch habe ich weitergelesen bis zur Balladenkrise, die mir ein wenig Bauchschmerzen bereitet mit folgenden Versen:

Wispern von Stimmen aus alten Büchern
Einschlagen von schwitzigen Händen
Kalte Tücher, wäre Pfarrer Kneip gekommen
Help! Help! Oder: Krawitt! Ein Vogelbad im See.

Krampfhaft versuche ich die Verse über das Hirschdunkel zu verstehen:

Reine intellektuelle Leidenschaft, kein Dunkel. Und dennoch zeitversetzt unter der Lampe im nächtlichen Zimmer ein Nachdenken über Hirschdunkel.

Der Mitschrift des Sommers im Damenstift entnehme ich schließlich:

Ungeborene Süße, abgestorbene Föten
Tot geborene Seelen, Ungenügen an sich selbst
Im Schoß versenkte kristalline Qual, Bild
von einem Kind, dass keine Segenshand hebt

Schlussfolgerungen: Schreiben kann ein heilsames Mittel sein, um sich Kummer von der Seele zu schreiben. Es bereitet mir allerdings Bauchschmerzen, wenn Kummer in die Seelen der Leser hinein geschrieben wird. Auch wenn ich nur einzelne Verse aus den Gedichten herausgerissen habe, so rufen diese doch Bilder hervor, die eher niederdrücken. Das Leben ist gewiss nicht nur ein Zuckerschlecken und es gibt bittersüße Pillen, die wir schlucken müssen. Aber der Anteil dunkler Visionen ist mir hier zu hoch. Ich spreche der Autorin nicht ab professionell zu Dichten, sie verdichtet jedoch vielfach düstere Bilder, in denen kein Fünklein Licht vordringen mag.

Sobota, amazon.de, 12.10.2012

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Katrin Schuster: Ursula Krechel: Jäh erhellte Dunkelheit
literaturinnen.de, 11.6.2010

 

 

Silke Scheuermann: Wortfindungslust pur. Laudatio auf Ursula Krechel zum Orphil-Preis, gehalten am 6. Juni 2012 im Literaturhaus Villa Clementine, Wiesbaden.

Alltagskultur und Teetisch. [1], [2] und [3]. Ein Interview von Konstantin Ames mit der Dichterin Ursula Krechel über Dichter, Lesungen, Lyrikwettbewerbe und andere Pathosformen.

 

 

 

Ein Gedicht und sein Autor: Ursula Krechel und Jan Wagner am 17.7.2013 im Literarischem Colloquium Berlin moderiert von Sabine Küchler.

 

Zum 70. Geburtstag der Autorin:

Andreas Platthaus: Keine Magermilch, und bloß keine Kreide
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.12.2017

Landesart: Ursula Krechel zum 70.
SWR, 2.12.2017

Fakten und Vermutungen zur Autorin + KLGIMDb + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde OhlbaumGalerie Foto Gezett +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDA
shiyan 言 kou 口

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Ursula Krechel

 

Ursula Krechel – Neue Dichter Lieben, Komposition und Klavier: Moritz Eggert, Bariton: Yaron Windmüller, Expo 2000 Hannover.

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