Walter Hinck: Zu Horst Bieneks Gedicht „Berlin, Chaussestraße 125“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Horst Bieneks Gedicht „Berlin, Chaussestraße 125“ aus Hans Werner Richter (Hrsg.): Berlin, ach Berlin. –

 

 

 

 

HORST BIENEK

Berlin, Chaussestraße 125

Man muß die Schuhe abstreifen,
noch einmal, bevor man eintreten darf.
Der strenge Blick der Aufseherin,
die auch in Bautzen
Dienst tun könnte. Wer fünf Minuten
später kommt, wird nicht mehr eingelassen.
Überhaupt, nur Gruppenführungen. Im Kollektiv.

Dann: die Räume,
aus denen die Zeit entflohen ist.
Hier also hat er gelebt. Hier also
soll er geschrieben haben. Briefe.
Die Bearbeitung des Coriolan. Nichts
Neues mehr. Die Elegien in Buckow, draußen,
unter Sandkiefern.
Dämmerlicht, von einem Raum zum andern.
– Wo er doch die Klarheit liebte!
Der wuchtige Schreibtisch, leer,
kahl, abweisend. Das Holz ist das einzige,
was hier noch atmet.

Leben des Galilei schrieb er auf den Knien
in engen, stickigen Hotelzimmern.

Früher ging der Blick auf den
Dorotheenstädtischen Friedhof. Hegels Grab.
Fichtes Gedenkstein. Früher.
Jetzt verwehrt das eine dicke graue Gardine.
Aus konservatorischen Gründen, sagt die
Aufseherin. Aus was?

Nichts erinnert an ihn. Nicht einmal
die amerikanischen Krimis, oben im Regal,
die er gelesen haben soll.
Nur im Schlafzimmer seine Mütze, die schwarze,
verschwitzte, am Haken, hinter der Tür,
beweist, daß er einmal hier gewesen ist.

 

Die verschwitzte Mütze

Gedichte über Dichter sind oft lyrische Telegramme des Autors an ein Vorbild, die vom Leser geöffnet werden. Sie verraten ebensoviel über den Absender wie über den Adressaten. Sie sind das Dokument einer Beziehung. Horst Bienek war im Jahre 1951 für kurze Zeit Schüler Bertolt Brechts in Ost-Berlin. Nur für kurze Zeit, weil er noch im Herbst desselben Jahres verhaftet und als politischer Gefangener für vier Jahre in Haftanstalten und sibirischen Arbeitslagern festgehalten wurde. Seit seiner Entlassung lebt er in der Bundesrepublik. Das Gedicht beschreibt einen Besuch in der einstigen Wohnung Brechts.
Es gibt noch ein anderes Gedicht gleichen Titels, von Kurt Bartsch, einem Schriftsteller der DDR. „Brecht sitzt wie eh und je / Im Schaukelstuhl“, so beginnt die naiv sich gebende Huldigung. Bieneks Gedicht handelt nicht nur von Brecht, sondern auch von der Verwaltung seiner Hinterlassenschaft.
Noch immer erweist sich Bienek als Schüler Brechts. Nicht nur in der sprachlichen Form, in der Weiterbildung einer „reimlosen Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“. Bienek hat sich den „verfremdenden“ Blick bewahrt, die Fähigkeit, das scheinbar Selbstverständliche nicht einfach hinzunehmen, das scheinbar Logische merkwürdig zu finden, Widersprüche zu entdecken. Solchem verfremdenden und das heißt erkennenden Blick fällt die Gemeinsamkeit zwischen der Aufseherin und Wärterinnen der Haftanstalt Bautzen auf – in diesen Dingen kennt sich der Autor aus –, so daß unversehens auch die Gruppenführung zu einem Rundgang unter Bewachung wird.
In den Räumen die Stimmung einer Gruft. Der erste Gedanke, „Hier also hat er gelebt“, wird sofort zurückgenommen: „Hier also soll er geschrieben haben“. Das Beste aus jener Zeit, die „Buckower Elegien“, hat ohnehin mit dem hier Gezeigten nichts zu tun. Große Werke wie das Galilei-Schauspiel entstanden im Exil, unter Entbehrungen. Am „wuchtigen“ Schreibtisch saß ein Dichter mit geschmälerter Produktivität. Schüler Brechts bleibt Bienek auch als dessen Kritiker.
Brecht liebte die Wohnung wegen ihrer Nähe zum Dorotheenstädtischen Friedhof, er liebte den Blick auf das Grab Hegels, des großen Lehrers der Dialektik. Dem Besucher wird dieser Blick verwehrt. „Aus konservatorischen Gründen, sagt die / Aufseherin. Aus was?“ In dieser knappen Frage spitzt sich das Befremden des Besuchers zum baren Erstaunen zu. Nicht nur, daß das Dämmerlicht eine Atmosphäre schafft, die dem Geist eines Künstlers widerspricht, der um der Klarheit willen alle Lichtmystik von der Bühne verbannte – konservatorische Maßnahmen stellen die Form des Andenkens, die Brecht sich erhoffte, geradezu auf den Kopf. „Ich benötige keinen Grabstein!“ Er wünschte sich das Weiterleben, die bleibende Wirkung seiner Fragen.
An die Mühen des Alltags, der künstlerischen Arbeit, an den lebendigen Brecht erinnert nur die Mütze. Bezeichnend, daß sie auch in Bartschs Gedicht zum auffälligen Gegenstand wird. Aber was Bartsch bei dem Hang zur Beschönigung, der aller affirmativen Kunst innewohnt, übersieht, hier wird es wahrgenommen: der Schweiß. Die „verschwitzte“ Mütze – ein Bild, ganz würdig der Erinnerung an einen Dichter, dessen Kunst immer dort wahr wurde, wo sie sinnlich war und konkret.
Ist Bieneks Gedicht übertragbar auf andere Gedenkstätten der DDR? Auf das Weimarer Goethe-Haus am Frauenplan sicherlich nicht. Dort schienen mir die Aufseher und Aufseherinnen freundlich. Dort kann man mit einiger Phantasie Goethe noch heute die repräsentative Treppe herunterschreiten und Christiane durch die kleinen hinteren Räume springen sehen. Die DDR hat es offensichtlich leichter mit den großen „bürgerlichen“ Dichtern der Vergangenheit.

Walter Hinckaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebter Band, Insel Verlag, 1983

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