Werner Ross: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Sonette an Orpheus I, XXI“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Sonette an Orpheus I, XXI“ aus Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 2. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Sonette an Orpheus I, XXI

Frühling ist wiedergekommen. Die Erde
ist wie ein Kind, das Gedichte weiß;
viele, o viele… Für die Beschwerde
langen Lernens bekommt sie den Preis.

Streng war ihr Lehrer. Wir mochten das Weiße
an dem Barte des alten Manns.
Nun, wie das Grüne, das Blaue heiße,
dürfen wir fragen: sie kanns, sie kanns!

Erde, die frei hat, du glückliche, spiele
nun mit den Kindern. Wir wollen dich fangen,
fröhliche Erde. Dem Frohsten gelingts.

O, was der Lehrer sie lehrte, das Viele,
und was gedruckt steht in Wurzeln und langen
schwierigen Stämmen: sie singts, sie singts.

 

Rilkes Geschenkmanuskript der Sonette an Orpheus

 

Ein Gedicht über Gedichtelernen

Die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus, das Doppelwerk des „späten“ Rilke, gelten als schwierig. Früher näherte man sich ehrfürchtig, auf Zehenspitzen; heute zögert man – zuviel Weihrauch, zuviel Orakelsprüche, zuviel kirchenväterliche Exegese.
Das einundzwanzigste aus dem ersten Teil der Sonette an Orpheus scheint eine glückliche Ausnahme. Es kommt leicht daher, ist sangbar, hat etwas Kindliches. Rilke, in seinen spärlichen Anmerkungen zu den Sonetten, hat diesem einen Kommentarsatz gegönnt: es sei gleichsam die „Auslegung“ einer merkwürdig tanzenden Musik, die er einmal von den Klosterkindern in einer kleinen Nonnenkirche zu Ronda während einer Morgenmesse habe singen hören.

Die Kinder, immer im Tanztakt, sangen einen mir unbekannten Text zu Triangel und Tamburin.

Ein Tanzlied also, ein Frühlingslied, ein Ringelreihen auf der Wiese, in den Farben grün und blau. Der erste Vers so lapidar wie „Der Mai ist gekommen“. Aber schon der zweite biegt das schwebende „Die Erde“ des ersten Verses in eine sehr kühne Metapher um, eine, an die kein Frühlingslied jemals gedacht hat: die Erde ein Kind, das „Gedichte weiß“. Und von nichts anderem ist in dem ganzen Sonett die Rede: Von den Leiden und Freuden der Schulkinder – so könnte es überschrieben sein. Bei einem strengen Lehrer hat das Schulkind Erde seine Gedichte, seine Vokabeln, seine Grammatik gelernt, der Winter war die Lehrzeit, Herr Winter hieß der Lehrer.
Der Frühling ist nicht personifiziert; er ist die Freiheit, die doppelte der Befreiung vom Lernen und der Hinwendung zum Spiel. Er ist der Preis für fleißiges Lernen, der „Spielraum“ für das Fang- und Haschespiel der Kinder. Das Lernen selbst, die Wintermühe, die Monotonie des weißen Bartes, der weißen Buchseiten entpuppt sich als Befruchtungsvorgang: nur wer schwarz auf weiß gelernt hat, kann die Vokabeln grün und blau. Wurzeln und Stämme, die Termini der stirnrunzelnd forschenden Etymologen, werden bei ihrem botanischen Doppel- und Ursinn gepackt. Die Wissenschaft, unverächtlich, notwendig, wird nunmehr beiseite getan. „Sie hätte singen sollen, diese neue Seele“, merkte Nietzsche zu seinem gelehrten Erstlingswerk an. Diese Seele singt.
Die rückerinnerte Kindheit, das „temps perdu“, wird als Fegefeuer und als Paradies erinnert. Damals war sie noch einzufangen, die Erde, das ungebärdige Schulkind, das sich den Erwachsenen verweigert. Die braven kleinen Spanienkinder aus der Nonnenschule, mit ihren Tamburin und Triangel, verwandeln sich in einen himmlisch übermütigen Puttenchor, in ein jagendes Puttengepurzel, „blind und verwildert in des Haschens Hast“.
Die Stirb-und-Werde-Dialektik der „Sonette“ gibt auch der Winterstarre und der Lehrerstrenge ihren sakralen Platz. Rilkes karger Winter hatte immerhin ein Jahrzehnt gedauert. So lange brauchen halt Wurzeln und Stämme. Ohne die Qual des Lernens – und es ist schön altmodisch als Auswendiglernen gemeint – nicht der Jubel des Ausrufezeichens hinter „sie kanns, sie kanns!“. Die Dichtungstheorie Paul Valérys hat hier Pate gestanden: das gelungene Gedicht ist die „difficulté vaincue“, die überwundene Schwierigkeit, die bezwungene Form. Das Schulkind, das seine Gedichte kann, wird zum Sinnbild des Dichters, der das Dichten kann. Schulkindes Leid wird übertrumpft von Schulkindes Triumphgefühl, das Schema läßt sich auf allen Ebenen durchexerzieren, auf der höchsten ist es der singende und preisende Orpheus selbst.
Das Tanzlied hat es geschafft, so leicht zu sein, wie sein Sinn es meint. Es ist leicht, ein Vergnügen, es auswendig zu lernen. Kein Ballast fürs Gedächtnis, sondern eine Lust. Am gleichen Tag, an dem Rilke Takt und Tanz dieser Verse ersann, schrieb er die berühmten Sätze der IX. Elegie:

Erde, du liebe, ich will… Namenlos bin ich zu dir entschlossen…

Werner Rossaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierter Band, Insel Verlag, 1979

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00