Alexander Block: Kreuzwege

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Alexander Block: Kreuzwege

Block-Kreuzwege

TOTENTÄNZE

2

Nacht, Laterne, Apotheke –
Gedankenloses trübes Licht.
Und wenn du ein Jahrhundert lebtest –
Davon kein Ende. Nichts ändert sich.

Stirbst du, fängst du von vorne an
Es wiederholt sich, wie vor Jahren:
Nachts, eisige Dünung des Kanals
Apotheke, Laterne, Straße.

Übersetzung Sarah Kirsch

 

 

 

Erinnerungen an Alexander Blok

Im Herbst 1913, am Tag der Feiern für Verhaeren, der Rußland besuchte, fand in Petersburg bei den Bestushew-Kursen ein großer geschlossener Abend (das heißt nur für die Kursistinnen) statt. Eine der Veranstalterinnen war darauf gekommen, mich einzuladen. Ich sollte an sich Verhaeren feiern, den ich zärtlich liebte, nicht wegen seines berühmten Urbanismus, sondern wegen eines kleinen Gedichts – „Auf einer hölzernen Brücke am Rande der Welt“.
Ich sah die Pracht der Petersburger Restaurantfeiern vor mir, die immer irgendwie einer Totenfeier gleichen, Frack, guter Champagner und schlechtes französisch, und Toaste – und entschied mich für die Kursistinnen.
Zu Gast waren an diesem Abend auch die Patronessen, die ihr Leben dem Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen gewidmet hatten. Eine dieser Damen, die Schriftstellerin Ariadna Wladimirowna Tyrkowa-Wergeshskaja, die mich von Kind an kannte, sagte, nachdem ich gelesen hatte: „Ja, Anitschka hat für sich die Gleichberechtigung erobert.“
In der Künstlergarderobe traf ich Blok.
Ich fragte ihn, warum er nicht zur Verhaeren-Feier gegangen sei. Der Dichter antwortete mit bestechender Aufrichtigkeit:

Weil man dort gebeten wird zu sprechen, und ich spreche nicht französisch.

Eine Kursistin kam mit der Liste zu uns und sagte, daß ich nach Blok lesen würde. Ich flehte:

Alexander Alexandrowitsch, ich kann nicht nach Ihnen lesen.

Er – vorwurfsvoll – zur Antwort:

Anna Andrejewna, wir sind keine Tenöre.

Blok war zu der Zeit schon der sehr bekannte Dichter Rußlands. Ich hatte seit zwei Jahren ziemlich oft meine Gedichte in der „Dichterwerkstatt“, in der Gesellschaft der Förderer des künstlerischen Wortes“ und im „Turm“ Wjatscheslaw Iwanows gelesen, aber hier war Alles ganz anders.
So sehr die Bühne den Menschen verhüllt, so unerbittlich enthüllt ihn die Estrade. Die Estrade ist so etwas wie ein Richtplatz. Vielleicht empfand ich das damals zum erstenmal. Die Anwesenden schienen sich für den Vortragenden in eine vielköpfige Hydra zu verwandeln. Einen Saal zu beherrschen ist sehr schwer – Soschtschenko war darin genial. Auch Pasternak war gut auf der Estrade.
Niemand kannte mich, und als ich heraustrat, scholl es durch den Saal:

Wer ist das?

Blok riet mir „Wir alle sind Trinker hier“ zu lesen. Ich widersprach:

Wenn ich lese, „Ich trag meinen engen Rock“, lachen alle.

Er antwortete:

Wenn ich lese „Und Trinker mit den Augen von Kaninchen“, lachen sie auch.

Nicht dort, glaube ich, sondern auf irgendeinem literarischen Abend hörte Blok Igor Sewerjanin, kam in die Künstlergarderobe zurück und sagte:

Er hat die fettige Stimme eines Advokaten.

An einem der letzten Sonntage des Jahres 13 ging ich zu Blok, um mir in seine Ausgabe etwas schreiben zu lassen. Er schrieb in jeden Band einfach : „Für Achmatowa – Blok.“ (Hier: die „Verse von der Schönen Dame“.) Aber in das dritte Buch schrieb der Dichter das mir gewidmete Madrigal:

Grausam ist Schönheit.

Nie trug ich einen spanischen Schal, in dem ich da beschrieben werde, aber zu dieser Zeit war Carmen sein Traum, und er hispanisierte auch. Mich. Auch die rote Rose habe ich selbstverständlich nie im Haar getragen. Es ist kein Zufall, daß dieses Gedicht in der spanischen Romancero-Strophe geschrieben ist. Und bei unserer letzten Begegnung hinter den Kulissen des Großen Dramatischen Theaters im Frühjahr 1921 kam Blok auf mich zu und fragte:

Und wo ist der spanische Schal?

Das sind die letzten Worte, die ich von ihm hörte.

*

Dieses eine Mal, als ich bei Blok war, erwähnte ich übrigens, daß der Dichter Benedikt Lifschiz sich darüber beklage, er, Blok, „hindere ihn, durch seine bloße Existenz, Gedichte zu schreiben“. Blok lachte nicht, sondern antwortete vollkommen ernst:

Das verstehe ich. Mich hindert Lew Tolstoi am Schreiben.

Im Sommer 1914 war ich bei meiner Mutter in Darniza bei Kiew. Anfang Juli fuhr ich über Moskau nach Hause zurück, in das Dorf Slepnewo. In Moskau nahm ich den ersten besten Postzug. Ich rauche draußen auf der Plattform. Irgendwo, auf einer leeren Station bremst die Lokomotive, ein Sack mit Briefen wird hinausgeworfen. Da taucht vor meinem erstaunten Blick überraschend Blok auf. Ich schreie auf: „Alexander Alexandrowitsch!“ Er sieht sich um( und da er nicht nur ein großer Dichter, sondern auch ein Meister taktvoller Fragen war, fragt er:

Mit wem reisen Sie?

Ich kann noch antworten:

Allein.

Der Zug setzt sich in Bewegung.
Heute, einundfünfzig Jahre danach, schlage ich Bloks „Notizbuch“ auf und lese unter dem 9. Juli 1914: „mit Mutter besichtigten wir das Sanatorium bei Podsolnetschnoje. – Mich piesackt der Teufel. – Anna Achmatowa im Postzug.“
Blok notiert an einer anderen Stelle, ich, Delmas und E. J. Kusmina-Karawajewa hätten ihn am Telefon heimgesucht. Ich glaube, ich kann dazu gewisse Aussagen machen.
Ich rief Blok an. Alexander Alexandrowitsch fragte mit der ihm eigenen Unverblümtheit, in seiner Art laut zu denken:

Sie rufen sicher an, weil Ihnen Ariadna Wladimirowna Tyrkowa mitgeteilt hat, was ich über Sie gesagt habe.

Krank vor Neugier fuhr ich an einem ihrer Empfangstage zu Ariadna Wladimirowna und fragte, was Blok gesagt habe. Aber sie war unerbittlich:

Anitschka, ich sage meinen Gästen nie, was die anderen über sie gesagt haben.

Bloks „Notizbuch“ ist voller kleiner Geschenke, aus dem Abgrund des Vergessens holt es die halbvergessenen Ereignisse herauf und gibt ihnen ihr Datum zurück: Wieder, schwimmt die Isaak-Holzbrücke lodernd zur Mündung der Newa hinunter, und ich blicke mit meinem Begleiter voller Entsetzen auf dieses nie gesehene Schauspiel, und dieser Tag hat ein Datum, das Blok festhielt – 11. Juli 1916.
Wieder treffe ich – schon nach der Revolution (21. Januar 1919) – im Eßraum des Theaters einen abgemagerten Blok, Wahnsinn in den Augen, und er sagt:

Wir treffen uns hier alle wie im Jenseits.

Und da essen wir zu dritt (Blok, Gumiljow und ich) Mittag, (am 5. August 1914) auf dem Bahnhof von Zarskoje Selo in den ersten Tagen des Krieges (Gumiljow schon in Uniform). Blok besucht in diesen Tagen die Familien der Eingezogenen, um ihnen Hilfe zu bringen. Als wir allein waren, sagte Kolja zu mir:

Schickt man ihn etwa auch an die Front? Das ist doch, als ob man Nachtigallen brät.

Und ein Vierteljahrhundert später in dem gleichen Dramatischen Theater – ein Abend zur Erinnerung an Blok (1946), und ich lese das eben geschriebene Gedicht:

Und er hat recht. Laterne, Apotheke,
Die Newa, Schweigen, Granit…
Ein Denkmal des Jahrhundertanfangs
Steht dieser Mensch dort; steht:
Wie er dem Puschkin-Haus am Ufer,
Lebewohl zuwinkte mit der Hand
Und dann die Mattigkeit, den Tod,
Als unverdiente Ruhe annahm.

Anna Achmatowa, Oktober 1965, aus Anna Achmatowa: Poem ohne Held, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 1979

Alexander Block und sein Werk

Große Dichter zeichnen sich dadurch aus, daß sie in ihrem Leben nur ein Streben verfolgen. Ihre Entwicklung stellt nicht einen Wechsel dar von Gegenstand zu Gegenstand, von einem Problem zum anderen. Die schnelle Abfolge der sich wandelnden Ereignisse verwirrt sie nicht, kann sie auch nicht zum hastigen Abspiegeln von Zeiterscheinungen verleiten. Im Gegenteil: irgendwo am Anfang ihres Wegs haben sie einen noch unklaren, aber starken Impuls der Epoche (nicht eines vereinzelten Abschnitts oder Ereignisses) aufgefangen, und alles, was sie tun, bedeutet ein Klären, Ausschreiten, Prüfen des Impulses. Die Bilderwelt, die Handschrift, anfangs noch den Vorbildern und herrschenden Konventionen angepaßt, enthält schon einen eigenen Keim, den zum Wachstum zu bringen die eigentliche schriftstellerische Aufgabe darstellt. Er muß von den Überlagerungen befreit, muß geschmeidiger, variabler, plastischer gemacht, in unermüdlicher, harter Arbeit großgezogen werden. Dann kann es gelingen, daß die Entwürfe allmählich den Charakter von poetischen Formeln der ganzen Ära annehmen. So wird aus dem Hinfinden zu sich selbst ein Hinfinden zum innersten Gehalt eines Zeitalters. Im Persönlichsten tritt dann das Epochale vor uns.
Für Alexander Alexandrowitsch Block (1880–1921) trifft das in höchstem Maße zu. Er ist einer jener Dichter der europäischen Literaturen, die um die Jahrhundertwende die Abgründe der imperialistischen Krise tief empfanden und neue poetische Wege suchten, um diesen unerhörten und bisher ungekannten Zustand auch in seinen katastrophalen Ausmaßen nachfühlbar zu machen. Irrwege, die sich für Block aus der bedrohlichen Nähe zur – wiederum bürgerlichen – Dekadenz ergaben, wurden in dem Maße überwunden, in dem der Ansturm des Volkes die gesamte bürgerliche Gesellschaft in Frage stellte. Der begabte Dichter bildete sich zur Stimme der Weltumwälzung aus, indem er vor allem den fatalen Spalt zwischen dem Volk und der Intelligenz zu überbrücken bemüht war. So wurde er, wie Anna Achmatowa später schrieb, zum „Epochenmenschen“, zum „charakteristischen Vertreter seiner Zeit.“1
Diese Leistung ist um so höher zu bewerten, als Block die Epoche der beginnenden Revolution erlebte. Er war 24 Jahre alt, als in Rußland erstmalig die Grundlagen der Selbstherrschaft und sogar der kapitalistischen Ausbeutung erschüttert wurden, zwei Jahre später hatte er sich mit den politischen und geistigen Folgen der Reaktion auseinanderzusetzen. In den Tagen der Oktoberrevolution erlebte er seinen siebenunddreißigsten Geburtstag; er war inzwischen zu einer dichterischen und weltanschaulich hoch ausgebildeten Persönlichkeit geworden, die die Tragweite des vor sich Gehenden voll zu erfassen vermochte.
Die enorm schnelle Entwicklung spiegelt sich in einem umfangreichen Werk wider, das drei Bände Gedichte und Poeme umfaßt, daneben aber ein nicht weniger bedeutendes, ebenso umfangreiches essayistisches Werk, bemerkenswert durch erstaunlichen geistigen Reichtum und sprachlich-bildhafte Dichte, intellektuelle und emotionale Überzeugungskraft. Sechs lyrische Dramen und ein – zunächst natürlich nicht für die Veröffentlichung vorgesehenes – umfangreiches Tagebuch und viele Briefe (darunter sind Meisterstücke epistolarer Kunst) ergänzen das in sich sehr geschlossen wirkende Werk. Eins paßt zum anderen: die Prosa, Zeugnis intensiver Gedankenarbeit auf der Höhe der Epoche, zeigt einen Lyriker, der die eigene Entwicklung bewußt kritisch verfolgt und die ideellen Vorgaben für seine nächsten Schritte liefert; Block fühlte sich von den gesellschaftlichen Ereignissen stets selbst zutiefst betroffen, und noch immer ist dieser Dichter sein treffendster Kommentator und feinfühligster Analytiker. Das lyrische Werk, selbst Impulsgeber für die Zeitgenossen wie auch für uns heute, bietet insonderheit ein in sich abgerundetes und abgeschlossenes Bild, wie man es bei großen Dichtern gelegentlich beobachten kann. Die Gedichte, vom Autor sorgsam in Zyklen und die wieder in drei Bände gruppiert, wirken wie ein geschlossener Roman in Versen, wo jeder Text auf die benachbarten einwirkt, jedes Einzelwerk einen Entwicklungsschritt fixiert. Der erste dieser drei Bände umfaßt die Gedichte der Jahre 1898–1904, der zweite die Jahre 1904–1908, der dritte 1907–1916. Leicht einzusehen ist der Bezug der Jahreszahlen auf die geschichtliche Entwicklung des Landes. Für den „Epochenmenschen“ Block waren das gleichzeitig drei Stufen seiner eigenen Entwicklung, die er im Juni 1911 in einem Brief an Andrej Bely als „Trilogie der Menschwerdung“ bezeichnet. Die Stufen sind nicht schlechthin zeitliche Abfolge, sondern werden als Schritte in der Hegelschen Triade, der schematisierten Form des dialektischen Widerspruchs, angesehen:

vom Augenblick des überhellen Lichts an – durch den unumgänglichen sumpfigen Wald – zu Verzweiflung, Flüchen, ,Vergeltung‘ und… – zur Geburt eines Menschen, der ,gesellschaftlich‘ ist, eines Künstlers, der der Welt mannhaft ins Gesicht blickt.“ (III, S. 141)2

Das „überhelle Licht“ war dem Dichter am Anfang seines Wegs schon einmal wie eine Synthese erschienen, die die schrecklichen Gegensätze der Welt harmonisieren konnte. Dann aber wurde deutlich: es war nur die These, der Ausgangspunkt. Die Antithese, das „Nachtdickicht“, wie es im gleichen Brief heißt (III, S. 140), die Entdeckung der tatsächlichen schmutzigen Welt, war im doppelten Sinn unumgänglich: das mußte als Gegenreaktion kommen, und der Dichter mußte hindurch, konnte nicht ausweichen, und immer war die Gefahr des Versinkens im Sumpf. Die Synthese wird von Block dann gleich wieder als Widerspruchspaar zwischen der Verzweiflung und dem ,,gesellschaftlichen“ Menschen gesetzt.
Es wird zu verfolgen sein, wie diese drei dialektischen Entwicklungsschritte sich im einzelnen darstellen, wie sie das gesamte Weltverhältnis des fein empfindenden (und jeweils auch schnell das wesentlich Neue in der Gesellschaft auffassenden) Dichters durchdringen, so tief, daß sich einerseits seine sozial-politische Stellung in der Welt, andererseits die Gefühls- und Bilderwelt grundsätzlich, im dialektischen Sinn verstanden, ändern. Eine vierte Entwicklungsetappe, mit Blocks Leben und Schaffen in der Revolutionszeit 1917–1921, mit dem Poem Die Zwölf und den großen Revolutionsschriften, wird anzuschließen sein.

Zwischen Realität und Mystik
Die biografischen Voraussetzungen dafür, ein Dichter und Redner der Oktoberrevolution zu werden, waren im Falle Alexander Blocks nicht die besten. Er wuchs in einem Milieu gebildeter progressiver Adliger auf, zunächst wohlbehütet von allen politischen und sozialen Zeitproblemen. Der Großvater mütterlicherseits, A.N. Beketow, war damals Rektor der Petersburger Universität, Mitbegründer auch der einflußreichen Hochschulkurse für Frauen, ein kluger Botaniker, der es verstand, dem Enkel die kenntnisreiche Liebe zur Natur zu vermitteln. Die Großmutter und ihre drei Töchter waren alle mit umfangreichen literarischen und wissenschaftlichen Übersetzungen aus den verschiedensten europäischen Sprachen beschäftigt, was auf das einzige Kind der Familie Einfluß haben mußte: neben Brehm und Darwin kamen die Werke von Beecher-Stowe und Dickens, Balzac und Flaubert, Sienkiewicz und E.T.A. Hoffmann, Montesquieu und Rousseau, später auch Baudelaire und Verlaine ins Haus, und das Gefühl für das künstlerische Bild und die Suche nach dem passenden Wort waren charakteristisch für gemeinsame Gespräche. Die Mutter Blocks, A.A. Beketowa, hatte A.L. Block, Professor für Staatsrecht an der Warschauer Universität, geheiratet, sich aber gleich nach der Geburt ihres Jungen scheiden lassen, sie ging dann eine Ehe mit dem Offizier F.F. Kublizki-Piottuch ein. Den Sommer verbrachte man in Schachmatowo, einem Dorf im Moskauer Gouvernement (heute an der Stadtgrenze Moskaus gelegen), wo A.N. Beketow das Gutshaus gekauft hatte. Wiederholte ausgedehnte Auslandsreisen mit der Familie, vor allem mit der Mutter, nach Frankreich, Italien und Deutschland (Bad Nauheim) weiteten den Blickwinkel des Jungen schon zeitig. Sieben Jahre (bis 1898) besuchte Alexander Block das Gymnasium in Petersburg, dann begann er zunächst ein Studium der Jura, das ihn nicht befriedigte, im Jahre 1901 wechselte er zur Philologie (vor allem Russistik) über, das Staatsexamen legte er 1906 ab.
Das lange Studium wirkte sich günstig aus: in größter Ruhe konnte er seine Kenntnisse der russischen und westeuropäischen Literatur erweitern, die innere Logik erfassen, die zu modernen Strömungen führen mußte, eigene Versuche kritisch an den Darlegungen in den literaturwissenschaftlichen und stilistischen Kollegs prüfen, sich ein imponierendes kulturgeschichtliches Wissen aneignen, das ihm später vor allem für seine Aufsätze und Reden zur Verfügung stand; es war gründlich erworben worden.
Mit Dankbarkeit erinnerte sich der Dichter später daran, daß die literarische Atmosphäre, in der er aufwuchs, seine Interessen zunächst gar nicht auf die schon in Mode gekommene Dekadenz, sondern auf die entscheidenden Punkte der russischen und europäischen Literatur gelenkt hatte. Als er selbst zu dichten begann, hatte Shukowski zunächst den größten Einfluß auf ihn, dann Puschkin und Fet, Shakespeare. In der Schulzeit gab er gemeinsam mit Cousins und Freunden drei Jahre lang eine handschriftliche poetische Zeitschrift heraus, die es immerhin auf 37 Nummern brachte. Auch die ersten „ernsthaften“ Verse wurden nur von der Mutter und der Tante begutachtet, und erst im Jahre 1903 debütierte er mit Gedichtzyklen fast gleichzeitig in der von Mereshkowski und Gippius herausgegebenen Zeitschrift Nowy putj und in Brjussows Almanach Sewernye zwety. Ein Jahr später kam es zur ersten Buchveröffentlichung Blocks: die Verse von der Schönen Dame erschienen in Petersburg in einer Auflage von 1.200 Exemplaren. Aus der Riesenzahl von 800 bis dahin geschriebenen Gedichten (die Jugendgedichte nicht mitgezählt) hatte Block nach härtesten Maßstäben knapp hundert ausgewählt. Die Aufnahme dieser Veröffentlichungen war sehr gut: im Kreise der Symbolisten galt er sofort als einer ihrer profiliertesten Dichter. Vor allem über die Mereshkowskis bekam er Zugang zu ihrem Zirkel; eine Reise nach Moskau im Januar 1904 brachte Bekanntschaften unter anderem mit Andrej Bely und Waleri Brjussow, den Bedeutendsten aus der symbolistischen Schule, die sich nicht wie die Petersburger durch eine konservative Welthaltung den Weg zur tieferen poetischen Erkenntnis verbauten.
Wie für die anderen Symbolisten, so ist auch für Alexander Block das Unbehagen, ein noch nicht genauer bezeichnetes Krisenempfinden, der dichterische Ausgangspunkt. Gewiß hatte der Sechzehnjährige bei einem Familienbesuch auf der Allrussischen Industrie-Ausstellung in Nishni Nowgorod im Juli 1896 seine Beobachtungen über die Entwicklung des russischen Kapitalismus machen können – sie bilden aber nur die Grundlage für einen (in literarischen Kreisen damals sehr üblichen) emotional betonten Abscheu gegen das Geldraffen. Auf eine Bank gehen und Geldangelegenheiten regeln zu müssen – etwas Schmutzigeres konnte es auch später für Block nicht geben. So gelangen die äußeren Ereignisse (etwa die erste Überproduktionskrise in Rußland 1900–1903) durch mehrfache Filter vermittelt in sein Bewußtsein als Signale einer nichtintakten Welt. Das Chaotische der verbreiteten Zerstörung menschlicher Werte, das Katastrophale und Unabwendbare von tiefgreifenden Erschütterungen – das dringt in das „duftende Dickicht“ des Gutes von Schachmatowo und der Offizierswohnung in Petersburg ein und fordert sofort, trotz allem Unklaren, eine Lösung. Bei seinen literaturgeschichtlichen Studien hatte Block ähnliche Stimmungen gelegentlich empfunden: bei E.A. Poe, bei Baudelaire, bei Oscar Wilde, vorher bei Byron und einem byronistisch verstandenen Hamlet. Rückblickend hat Block später, schon nach der Oktoberrevolution, aber auch auf die große „Versuchung“ verwiesen, die in der Geste des „Antispießertums“ lag: das „versengte manches auf dem Ödland der ,Philantropie‘, der ,Progressivität‘, der ,Humanität‘ und der ,Utilitäten‘ doch nachdem es dort so manches versengt hatte, überschritt es die unerlaubte Grenze.“
Die Grenze zu finden war das Problem: nicht in Dekadenz und Mystik, in überheblichen Individualismus und Welt-Abscheu zu versinken und doch die Krisenempfindung zu intensivieren. Es ging Block – wie auch den meisten anderen Symbolisten – schon am Anfang des Wegs bei der neuen Kunst der Symbole nicht um einen neuen Stil, sondern um eine Weltsicht. Andrej Bely wollte über den Symbolismus ein theoretisches Buch schreiben:

Der Symbolismus als Geste des Lebens.

Block selbst schreibt in seinem Aufsatz „Drei Fragen“ (1908) über die intensiven Bestrebungen am Jahrhundertanfang, mit der neuen Kunstrichtung nicht beim „Wie?“ stehenzubleiben, sondern zum „Was?“ (Klärung des Inhalts der Künstlerseele) voranzuschreiten, schließlich gar zur verzwicktesten aller Fragen, dem „Wozu?“, der Frage nach der gesellschaftlichen Funktion der neuen Kunstrichtung. Das „Wie?“ war schnell Mode geworden, zum „Was?“ gingen nur die besten der Symbolisten mit; die dritte Frage zog die Kunst so tief in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen hinein, daß die ganze Richtung daran zersplittern mußte. Block hatte keine Scheu vor dieser Frage.
Mit dem ersten Gedichtband freilich konnte er die drei Fragen nicht lösen, auch in der erweiterten Ausgabe nicht, die von ihm selbst in seinen späteren Werkausgaben (seit 1911) als Band I der Gesammelten Gedichte zusammengestellt worden waren. Ist dieser Band im oben dargestellten Sinne schon als erster Schritt im dialektischen Widerspruch verstanden, so gliedert er sich seinerseits in drei Zyklen, die sich voneinander unterscheiden, dabei aber nicht schlechthin nur Zeitabschnitte, sondern Widerspruchsschritte umfassen: Ante Lucem (Gedichte von 1909 bis 1900), Verse von der Schönen Dame (1901–1902), Scheidewege (1902–1904).
Im ersten Zyklus treten zunächst noch literarische Anregungen in den Vordergrund: Shukowski liefert ein Motto, Heine den Anlaß für ein mystisches Todes-Vorgefühl, Lew Tolstoi wird (gar nicht im Sinne des Meisters selbst) in den „Glanz des Ruhms“ gerückt, den sich der junge Dichter wünscht, um seiner Geliebten zu imponieren. Zwei schmerzerfüllte Zeilen aus Lermontows reifer Dichtung reißen auch den neunzehnjährigen Block zu einer Verzweiflungsstimmung hin, in der er zur „Menge“ keinen Kontakt spürt, selbst aber mit voller Kraft zum „heiligen Feuer und der Jugend Morgen“ strebt. Und immer wieder Ophelia-Motive. Die Geliebte und spätere Frau Blocks, die Tochter des berühmten Chemikers Mendelejew, hatte bei einem Amateur-Schauspiel auf dem Gut der Mendelejews, Boblowo (reichlich zehn Kilometer von Schachmatowo entfernt), die Ophelia gespielt, er den Hamlet. Nun erschien ihm das Mädchen stets in der literarisierten Form, wobei die düsteren Motive in den Vordergrund gerieten.
Unter diesen Stilisierungen der angelesenen Vorbilder aber kommen schon die typischen Motive Blocks zum Vorschein. Die Petersburger Herbst- und Winter-Landschaft erhält, wie vorher bei Puschkin, Gogol und Dostojewski, symbolische Bedeutung, wird Ausdruck schlimmer Stimmungen: „nasse Kälte“, „Dunkelheit und Regen“, Nebel – so kommt Unwirtliches, Düsteres in die Gedichte. Auch der Ruf nach dem Wind, dem Sturm gar, der in das „stickige Dickicht“ Leben bringen könnte, wird tief empfunden. Charakteristisch ist auch, daß Gedichtanfänge, leitmotivische Bilder am Ende in veränderter Form wiederholt werden, um eine widersprüchliche Entwicklung einer Empfindung zu unterstreichen. Die Aufgliederung der Strophen in Disticha, bei denen die zweite Zeile wesentlich verkürzt wird (statt der vorgegebenen vier oder fünf Jamben oder Trochäen nur zwei) schafft jenen Ton des Seherisch-Verkündenden, der trotz aller Modifikationen dem Dichter erhalten bleibt.
Und das ist die Hauptsache in Blocks Frühdichtung. Der Zyklustitel soll auf das erwartete Licht hindeuten, das Nahen wird beschworen. Gamajun, der Vogel der Verkündigung von einem Gemälde W.M. Wasnezows, wird zum Symbol: zwar sind es tragische Dinge, die prophezeit werden, doch sprechen Wahrheit und Liebe daraus. Der Dichter, so heißt es in einem anderen Gedicht, nähere sich dem Ziel, von der Wahrheit geleitet, und plötzlich sehe er das neue Licht hinter der vorher unbekannten Ferne. Das ist jener „Augenblick zu hellen Lichts“, den Block als Kennzeichen der ersten Stufe hervorhob, jener Versuch, dem Faust in der Erdgeistszene gleich, mit einem Griff die Geheimnisse der Welt zu packen.
Man muß sich hüten, die Prophezeiungen des Dichters wörtlich zu nehmen. Hier wird nicht die konkrete gesellschaftliche Wandlung vorhergesagt, sondern eine vielfach vermittelte gesellschaftliche Vorahnung von irgendetwas Großem artikuliert, die in der russischen Literatur auf der Grundlage der unerhörten Dynamik des sozialen Lebens über hundert Jahre organisch gewachsen war. Einen konkreten Anstoß dazu hatte der Dichter und Philosoph W.S. Solowjow (1853–1900) gegeben, ein Neukantianer mit Einflüssen Schopenhauers, der vor allem nach der Niederlage der ersten russischen Revolution zum Ideologen aller Spielarten der Resignation und Reaktion geworden war. Neuere Forschungen3 betonen aber die innere Widersprüchlichkeit dieser Gestalt, Solowjows oppositionelle Haltung gegenüber dem Hof (Alexander III. nannte ihn den „reinsten Psychopathen“), seine Unversöhnlichkeit (er nahm 1881 mutig gegen die Hinrichtung der Narodowolzen Stellung und verlor, da er zur Reue nicht bereit war, seinen Lehrstuhl an der Universität), seine durchweg antibourgeoise Haltung. In den Vordergrund trat die scharfe Empfindung des Katastrophalen in der gegenwärtigen Welt, eine prinzipielle Nichtanerkennung des ihn Umgebenden – und das geschärfte Gefühl für eine unbedingt, jetzt gleich bevorstehende „göttliche Welt“, deren „Strahl und Widerschein“ in der Gegenwart zu empfinden sei. Die Mystifizierung von Goethe und Hegel ließ ihn zu den Schlüssen kommen, die „Absolute Seele“ und das „Ewig Weibliche“ (das schien weitgehend identisch) ließe eine „Synthese“, ein Zusammenfallen von Persönlichem und „Allweltlichem“ erwarten, ein Vergeistigen der Menschheit und die Herstellung einer göttlichen Harmonie der Wahrheit, Güte und Schönheit. 1920 hielt Block eine Gedenkrede über Solowjow, wo er ihn vor allem als „Repräsentant und Künder des Zukünftigen“ interpretierte, für den das „dauernde Stehen am zugigen, in die Zukunft geöffneten Fenster“ charakteristisch war (II, 389).
Solche Themen, vor allem das Mystifizieren und Harmonisieren von Zukünftigem und Weiblichem, erschienen schon vorher der jugendlichen Schwärmerei Blocks angemessen. Zwar stellt er – in einem Brief an S.N. Gippius, die ihm Ähnliches doziert hatte – sofort die Frage nach den „letzten Wegen“ zu der Synthese, und er sucht sofort auch die Folgen für die eigene Lebensweise (das ist typisch für den moralischen Maximalismus Blocks!), doch gewinnt er noch eine ganze Weile seine poetischen Bilder aus dieser Vorstellungswelt.

Будет день – и свершится великое
чую в дудщем подвиг души (Sobr. 1, S. 142)

meint, wie auch ein anderer Gedichtanfang

Предчувствую Тедя. Года проходят мимо –
все в одлике одном предчувствую Тебя. (Sobr. 1, S. 94)

das Auftreten der mystisch ersehnten Titelgestalt des zweiten Zyklus, der Schönen Dame. Das Bemerkenswerte daran ist freilich, daß der reife Dichter später an den Bildern festhalten kann: sie dürfen auch dann noch als präziser Epochenausdruck gelten, wenn der mystische Ansatz weggefallen ist und die Vorahnungsmotive schon die gesellschaftlichen Wandlungen betreffen.
In jenen Jahren bleibt die Schöne Dame noch ziemlich aufs Philosophische beschränkt. Fatal ist, daß es die Jahre seiner ersten großen Liebe zu Ljubow Mendelejewa sind. Die Liebe traf auf keinerlei Hindernisse: das Mädchen, das später als Schauspielerin unter dem Namen Bassargina bekannt wurde, liebte ihn auch, und Mendelejew, ein guter Freund des Rektors Beketow, gab seine Zustimmung. Das poetische Konzept erforderte einen anderen Verlauf der Dinge. Nur zu oft verschmelzen die Züge der Geliebten mit denen einer Ikone und den verschwommenen Umrissen eines Traumbilds. Wie anders wirken daneben Verse voller lebendigen Gefühls wie in dem Gedicht „Ловлю дрожащие, хладеющие руки…“, wo das Wiedertreffen mit einer früheren Geliebten zum Anlaß für ein gewiß kurzes, aber doch triumphales Glücksempfinden wird. Diese Jamben lassen sich nicht mehr in Regelmäßigkeit binden, und die auch hier durchaus der symbolistischen Konzeption entsprechenden Vokabeln sind vor allem konkret-sinnlich zu nehmen.
So groß sind die Spannungen (die wir als dialektische Gegensätze ansehen möchten) im ganzen ersten Band der Gesammelten Gedichte. Dunkelheit, Widerhall, Unsicherheit eines schwankenden Kerzenlichts, daneben der „bodenlose Azur“ des Frühlings, und die Träume von heller Schönheit schreien wie Adler in der stürmischen Höhe. Ein Vergleich wird oft an den anderen gekettet, so daß sich die Worte immer weiter vom dargestellten Gegenstand entfernen. Die Metaphern leiten nicht auf den Ursprung zurück, sondern pflanzen sich in endloser Reihe fort, ihrerseits eine Meta-Wirklichkeit schaffend, auf der sich nur noch Metapher mit Metapher begegnet. So will Block, der im Sommer 1900 auch einmal Plato gründlich studiert, von den „Masken“ der Dinge (das Irdische scheint nicht das Eigentliche, Wirkliche zu sein) zu ihrem jenseitigen Wesen vordringen. Die Logik bleibt gerade bei den diesseitigen Dingen stehen, einzig die Poesie dringt ins Leben ein: hier scheint, ganz im Geiste des damals so verbreiteten Neokantianismus, für die dekadenten Kunsttheorien die Aufgabe der Dichtung zu liegen. Jeder Gegenstand ist in solcherart Auffassung nur die Andeutung auf Dahinterliegendes, Absolutes. Zeichen, Symbole müssen gesetzt werden, die das Eigentliche nicht benennen (das wäre dann doch wieder Logik), sondern empfinden lassen.
So unhaltbar diese Kunsttheorien sind – sie haben große Dichter wie eben Block doch zu einer Besinnung auf das Wesen von Kunst und zu einer bis dahin ungekannten Verfeinerung der poetischen Welt und Ausdrucksweise angeregt. Wie später bei Achmatowa und Pasternak, so ist auch diese Dichtung nicht beim zitablen Wort zu nehmen, das mit der Wirklichkeit zu vergleichen wäre, sondern bei der Atmosphäre der emotionalen Welt des Dichters – die dann freilich auf Gehalt an Epochalem geprüft werden muß.

Вдали мигнул огонь вечерний –
там расстунились облака.
И вновь, как прежде, между терний
моя дорога нелегка.

Мы разошлись, вкусивши оба
предчувствий неги и земли.
А сердце празднуем до грода
зарю, минувшую вдали.

Так мимолетно перед нами
перенорхнула жизнь – и жаль:
Все мнимся – зорь вечерних пламя
в последний раз открыло даль. (Sobr. 1, S. 354)

Drei Strophen, dreimal wird das Abendlicht beschworen, dreimal die Ferne (vdali – vdali – dal’), Die Gegensätze zwischen den beiden ersten Strophen reichen sehr weit: das Dornen- und Tränenreiche im Stil Nadsons (in der ersten Strophe) wird abgelöst durch eine tatsächlich beklemmende Situation, in der nur die Erinnerung noch verblieben ist; die Reihung von Genitiven unterschiedlicher Bedeutung in der sechsten Zeile ist ein Beispiel dafür, daß die Dinge nicht benannt werden; auch sind es nicht Gefühle gewesen, sondern Vorgefühle, und auch davon ist nur gekostet worden, sie wurden nicht voll durchlebt. Am Anfang konnte das Aufblitzen des abendlichen Feuers noch das Dunkel mildern, in der zweiten Strophe ist das Vergangenheit. Die Schlußstrophe schafft einen Ausgleich. Zwar bleibt unklar, ob die Flamme noch einmal sichtbar wird, doch öffnet sich das Gedicht auch ohnedies mit den letzten beiden Worten. In anderen Gedichten („Они звучам, они ликуюм…“, „Мы живем в старинной келье…“ und anderen) hat Block die bevorzugte Dreistrophigkeit dem Dreischritt der Widerspruchs-Triade angepaßt, dadurch kommt Dynamik ins Bild, die in diesem Gedicht durch das Auseinandergehen und das Öffnen der abgesperrten Welt in die Ferne wenigstens angedeutet wird.
Auch der Titel des dritten Gedichtzyklus, Scheidewege, ist treffend gewählt, als präzise Bezeichnung des eigenen Standorts. Es ist der Standort des Bylinenhelden Ilja Muromez, dem die Wegweiser anzeigen, er werde am Ende des ersten Weges reich, am Ende des zweiten glücklich, am Ende des dritten erschlagen werden. Die Verlockung, im Glück der neugegründeten Familie auf die Arbeit zu verzichten, war für Block nicht allzu groß – auch die materielle Lage ließ das nicht zu. Er hat die meiste Zeit seines Lebens als Schriftsteller sein Brot verdienen müssen, fast immer als freischaffender, und die Honorare waren nicht hoch. Um so mehr – und diese Verlockung war ja viel gefährlicher und realer – als er der Mode nicht zu folgen bereit war, als er nicht stehenbleiben und die Errungenschaften gehörig vermarkten wollte, sondern unablässig die Antwort auf die bohrende Frage „Wozu?“ suchte. So mußte es bald zu einer Abgrenzung vom konservativen Flügel der Symbolisten kommen. Noch lange scheint ihm Mereshkowski ein „bedeutender“ Mensch, mit dem man „rechnen“ müsse (III, S. 43), doch ist er nicht bereit, ,,jeder neuen petersburgischen Verrenkung der Mereshkowskis“ (III, S. 27) zu folgen, und Anfang 1904 lehnt er gar eine Einladung in ihren Kreis mit der Begründung ab, er stimme mit ihm nicht überein. Zur gleichen Zeit wird eine Bestandsaufnahme der Modeströmung gemacht, und die fällt vernichtend aus.

Balmont – was für ein Vieh! Was er drucken läßt!… A. Remisow ist schwer zu lesen, langweilig. A. Koiranski ist noch überflüssiger als B. Koiranski. Wjatscheslaw Iwanow spinnt schön von Zypressen, aber sonst ist er unbegabt… Pojarkow – Balmonts Hosenknopf… Ellis… war nie ein Poet und wird keiner. (III, S. 44)

Es ändert nichts an der Schärfe der Einschätzung und ist in diesem Zusammenhang unwichtig, daß Block später zu dem einen oder anderen der hier Kritisierten engere Kontakte aufgenommen hat. Und – es wäre nicht Block, würde er nicht dazusetzen:

Alexander Block – ein Schwein, denn er veröffentlichte zur Hälfte – miese, alte, halbblinde Gedichte. (III, S. 44)

Der neugewonnene Freund Andrej Bely, der von der Kritik ausgenommen wird, war schon ein Jahr früher darauf hingewiesen worden, daß die Begrenzung auf die Welt der Kunst, die Abwesenheit äußerer Wirklichkeit, eine ,,Verführung“ darstellt, der „zu entgehen“ sei (III, S. 30).
Also bleibt nur der dritte Weg: eine Kunst, die die äußere Wirklichkeit bedenkt, in sie eindringt, immer tiefer, selbst auf die Gefahr hin, im Dickicht der Sümpfe die eigene Stimme nicht mehr zu hören, selbst auf die Gefahr hin, daß die Aufschrift auf dem Wegweiser ernst gemeint war. Die Verse an die Geliebte werden davon nicht in genügendem Maße betroffen; allein die Tatsache, daß sie Ljubow heißt, ist Anlaß zu neuer Mystifizierung: er hat die Liebe selbst geheiratet. Doch die Stimme wird geschmeidiger, das Gefühl tiefer, und es werden Verse hingehaucht wie

Образ девушки любимой –
повесть ласковой любви. (Sobr. 1, S. 282)

Sonst aber beginnt viel Neues in Blocks Lyrik. Ein Gaslaternenanzünder wird Gegenstand eines Gedichts („По городу бегал черный человек…“); der Kontrast zwischen den gelben Streifen der abendlichen Lampen und der blassen Morgendämmerung in den Türspalten beleuchtet ein freudloses Leben, das vom Dichter mitempfunden wird. An anderer Stelle werden alte Volkslegenden über Zarenmord, Anarchie und eiserne Rache aufgenommen (im März 1903); eine Gruppe von Arbeitern teert im Frühling, beim Aufbrechen der Eisschollen, am lustigen Lagerfeuer die Kähne, und die Fröhlichkeit überträgt sich auf den Dichter („Mне снились деселые думы…“); eine Zeitungsnachricht über den Selbstmord einer verzweifelten Mutter erschüttert den Dichter, der auch die Hilfe der Nachbarin für die Kinder nicht übersieht („Из газем“). In dem Gedicht „Фабрика“ wird gar schon ein verallgemeinertes Bild kapitalistischer Ausbeutung gegeben, in dem die verknappte Symbolsprache Blocks auf den neuen Gegenstand angewandt wird: die „kupferne“ Stimme des schwarzen Unbeweglichen, der die Leute zählt, meint schon gleich das Finanzielle mit; die gebeugten Rücken, das Aufnehmen der Säcke ist ein weitreichendes Bild; die gelben Fenster (das neue und teure elektrische Licht) sind nicht nur knappe und erschöpfende Beschreibung des Kapitalistenmilieus, sondern geben auch noch einen Eindruck von dem Teuflischen des Vorgangs. Keine Frage, auf welcher Seite dieses scharf empfundenen sozialen Widerspruchs wir den Dichter zu suchen hätten.
Solche Probleme beschäftigen Block in zunehmendem Maße. In einem Brief an einen Studienfreund schreibt er im Sommer 1902 über Bauernunruhen in Pensa und Saratow, bei denen eigene Verwandte betroffen waren. Er sieht auch Neues in diesen Unruhen: ein revolutionärer Zirkel führe die Bauern, und die Bauernaufstände wurden von Rebellionen der Arbeiter „an vielen Orten“ begleitet (III, 25). Mit der Zunahme dieser Unruhen wird auch Blocks Aufmerksamkeit für sie wachsen.
Alexander Block hatte später allen Grund, auf die Bedeutung dieser ersten Dichtungen, besonders der ersten Buchveröffentlichung der Verse von der Schönen Dame, hinzuweisen. Im Jahre 1907 betont er, daß „alles von mir Geschriebene als organische Fortsetzung des ersten… dient,“ (III, S. 85) und drei Jahre später heißt es: „Meine ganze innere Entwicklung ist doch vorausgesagt in den Versen von der Schönen Dame,“ (III, S. 127) denn es gebe hier viele „bedrückende musikalische Laute, Flüstertöne, fast Worte.“4 Und wenn er kurz vor dem Tode zuspitzend behaupten wird: „Ich habe einzig den ersten Band geschrieben,“5 so ist selbst darin noch viel Wahrheit; denn nur wenn wir diesen Band als den Kern, den allmählich großzuziehenden Keim des für Block charakteristischen Welterfassens sehen, wenn wir auch den Symbolismus ernstnehmen, können wir den großen Dichter in seinen weiteren Werken verstehen.
Der „erste Band“ hat aber Bedeutung auch noch in einer anderen, bisher nicht untersuchten Richtung: als individueller Ausdruck eines gesamteuropäischen Problems. Das Unbehagen über die spezifisch imperialistische Variante der kapitalistischen Entfremdung war allgemein. Wenige Schriftsteller nur vermochten durch einen Übergang auf die proletarischen Positionen die Bedrückung als eine ökonomisch begründete zu erkennen und außerhalb bürgerlicher Lebensverhältnisse die historische Perspektive zu gewinnen. Die Krise war aber auch so global und tief, daß die traditionellen kritisch-realistischen Verfahren versagen mußten; die großen Versuche, zu synthetischen Epochenmodellen zu kommen (etwa im Werk Thomas Manns), liegen später. So blieb die Haltung der Abwehr des Unmenschlichen, die intensive Mühe um die Erhaltung einer „Insel“ von Menschlichkeit, Individualität, der geistigen Erneuerung bei gleichzeitigem Versuch, das Krisenbewußtsein immer deutlicher zu artikulieren, zunächst die einzige denkbare Reaktion auf den scheinbar unaufhaltsamen, aber morbiden Vormarsch des Kapitalismus. Block bietet den besten russischen Ausdruck dieser neuromantischen Bewegung, die sonst mit den Namen Rilke und Hofmannsthal, Huch und Hesse, Maeterlinck und Verhaeren zu umreißen ist, dabei sich, national verschieden, in unterschiedliche Gruppierungen zusammenschloß. Die entstehenden Anfänge der Weltfriedensbewegung, später der hier und dort schon ans Revolutionäre angrenzende Expressionismus bildeten fördernde Elemente für die neuromantische Dichtung.
Man ist versucht, bei solcher typologisierenden Betrachtung, die natürlich Vergröberungen von unterschiedlichen individuellen Äußerungen einschließt, Block den russischen Rilke zu nennen. Das soll nicht nur auf Motiv-Ähnlichkeiten bezogen werden. Die gleiche Reaktion auf die „fremde, fremde Stadt“6 Paris (Rilke), den „betäubenden, ermüdeten Jahrmarkt“ (Block; III, S. 148) hat bei beiden Dichtern die mehr oder weniger deutliche Erkenntnis hinter sich, daß auch bürgerliche Reparaturen an dem System nichts zu bessern vermögen. Die Suche nach einer Gegenkraft verweist sie beide auf Rußland, und ist auch Rilke träumerisch bemüht, die sozialen Widersprüche dieses Landes nicht zu sehen, auf die Block bald stoßen wird, und geht andererseits der Panslawismus bei Block später in die Suche nach der welthistorischen Bedeutung der in Rußland vor sich gehenden Veränderungen über – die Richtung des Suchens ist zunächst ähnlich. Ähneln muß sich demzufolge auch der von Qualen begleitete Versuch, die zunächst nicht zu begreifenden Konflikte mit ihren Wurzeln ins Transzendentale zu verlegen. Der Versuch wird bei beiden Dichtern zu einer klareren Gestaltung der Widersprüche im Innern, Seelischen führen, und das Tagebuchhafte, die Zwiesprache mit sich selbst, ist bei dem einen wie dem anderen die Konsequenz, auch die selbstquälerische Einbeziehung in die Zahl der beklagten Dinge.
Daß sich beide Dichter in unterschiedlicher Richtung entwickelten, liegt mehr an der unterschiedlichen Entwicklung zwischen Rußland und Westeuropa als an ihnen selbst. Der katastrophal schnelle Vormarsch des Kapitalismus in Rußland, die unerhörte Verschärfung aller Widersprüche, die Verlagerung des revolutionären Schwerpunkts nach Rußland – ein sensibler Künstler kann davon nicht unbeeindruckt bleiben. So konnte Block die späteren Rilkeschen Irrwege und Tragödien vermeiden: die „Ausgliederung aus den Normen der bürgerlichen Welt“, die Weltdeutung in der Art „einer absoluten Entgegensetzung von Mensch und Engel“, die „Geschichtslosigkeit, die die Kategorien des Werdens, der Entwicklung und Veränderung nicht kennt.“7 Die Versuchung der Dekadenz, bei Block in unermüdlicher Arbeit niedergekämpft, mußte Rilke tiefer ergreifen.

,,… durch den unumgänglichen sumpfigen Wald…“
Die Tiefe der etwa ab 1904 in Blocks Schaffen vor sich gehenden, als Übergang zur Antithese zu begreifenden Wandlungen ist überraschend. Statt des „Barins“, des Adelssohns, unvermittelt ein Bohemien, der sich, ein neuer Toulouse-Lautrec, in Kneipen und hinter den Theaterkulissen wohlfühlt, die Atmosphäre poetisierend. Statt der spiritualistischen Liebe plötzlich das „Alles ist erlaubt“ in Liebesdingen; die von Solowjow beschworene These Platos von den zwei Aphroditen (der „himmlischen“ Schönheit und der des Marktplatzes) erscheint eine kurze Zeit als akzeptabel. Statt der Geste der Verkündigung einer reinen Synthese, die bevorstehe, jetzt ein Eintauchen in den Sumpf der Umgebung.
Natürlich bedarf das der Präzisierung. Zum einen ist viel literarische Stilisierung dabei; der moralisch so fein empfindende und so scharf sich selbst fordernde Dichter weiß um das Morbide, Dekadente, in das er da eintaucht. Zum andern ist die Gegenüberstellung nicht absolut, sondern dialektisch zu verstehen: es ist die veränderte Fortsetzung früherer Tendenzen. Gegenüber einem Freund verteidigt Block seine „entschieden unanständigen“ neueren Gedichte.

Schimpf nicht über die Unanständigkeit, es ist durch sie hindurch ganz das Gleiche in mir, was in dem früheren ,Zerfließenden‘ war, nur in den Formen des Schreis, der Tollheiten und oft quälenden Dissonanzen. (III, S. 45)

Gleichzeitig wird der Sprung deutlich empfunden:

In mir bricht etwas ab, und etwas grundsätzlich Neues im positiven Sinn setzt ein. (III, S. 42)

Zum dritten – und das ist in der Block-Literatur bisher kaum bemerkt worden – in den Gedichten dieser Jahre ist eine erstaunlich schnelle Entwicklung zu spüren. Auf ihre Betonung legte Block offenbar selbst größten Wert. Die etwa zweihundert Gedichte des zweiten Bandes sind so angeordnet, daß sie zum Ausdruck kommen muß, sobald man sich in die Abfolge der Zyklen vertieft. Nach den „Sumpfgedichten“ („Blasen der Erde“) folgt mit dem langen Traumgedicht „Nachtveilchen“ die Ahnung einer „unerwarteten Freude“ (das Motiv wird dann zum Titel des zweiten Gedichtbandes, den Block 1906 veröffentlicht). In den „Verschiedenen Gedichten“ und vor allem in dem Zyklus „Stadt“ setzt sich die Entdeckung solcher diesseits-freudigen Motive fort, was dann zu den triumphalen oder verzweifelten, in jedem Falle aber von elementarer, diesseitiger, großer Liebe sprechenden Gedichten der „Schneemaske“ und „Faina“ führt. Die Freischweifenden Gedanken (es kann durchaus auch „freie Gedanken“ heißen, was für das Jahr 1907 viel bedeutete) machen dann den Höhepunkt aus.
Ein Sumpfdickicht aber ist es, in dem sich der Dichter zu bewegen glaubt, wo ihm mitunter die Stimme bricht, oder sie war durch den Sumpf eine andere geworden (III, S. 140). Sumpfteufelchen treiben da ihr Unwesen, auch ein Sumpfpope. Gelegentlich scheint es zu einer Poetisierung der morbiden Atmosphäre zu kommen, doch wird das durch die nächsten Verse des Zyklus schon wieder aufgehoben. Denn dieser Sumpf – das ist nicht nur die für viele Gebiete um Petersburg charakteristische Landschaft, sondern auch die Stadt selbst, und die ist voller Dynamik. Selten ist ein Dichter mit dieser schönen Stadt so böse umgegangen wie Block. Nichts vom strahlenden Glanz der golden-weißen Gebäude vor blauem Himmel, nichts vom Reiz der Brücken und Kanäle – wie schon bei Dostojewski kommt all das nicht vor. Wenn schon ein „Touristenbild“ gemalt wird wie etwa das Denkmal Peters I., dann ist das ein Pjotr mit abwechselnd einer Fahne, einem stinkenden(!) Weihrauchfaß und einem Schwert in der weit vorgestreckten Hand; revolutionäre Atmosphäre wird vorweggenommen („Peter“, Februar 1904). Selten Wintermotive von dieser Stadt – dann aber Schneestürme (zum Symbolisieren „elementarer“ geschichtlicher Kräfte) oder scharfe, durch alle Mäntel und alle Fensterritzen dringende Winde, die über die glatten grauen Straßen feinste Schneekörnchen vor sich her treiben. Sonst nur Herbst, kalte Tage, Oktoberstimmung, und immer wieder „unterläuft“ es dem Dichter, daß er im Juli ein Herbstgedicht schreibt („Осенняя воля“), daß ein Ostermotiv im Herbst entwickelt wird („Осенняя любовь“). Ein Gedicht vom August 1905 hat den Anfang „Осень поедняя…“ bekommen. Die „klingend-blaue Stunde ergießt sich, durch die Kälte gefesselt, über die Welt, und der ungesagte Schmerz war gemildert.“ Solche Petersburg-Deutung hat natürlich Ursachen, die in der Zeitatmosphäre liegen.
„Petersburg ist ein gigantisches öffentliches Haus, empfinde ich. Man kann darin nicht Atem schöpfen, nicht das Ganze erkennen“, schreibt Block in den Revolutionstagen an den Freund J.P. Iwanow (III, S. 62), – natürlich ist ein paar Zeilen weiter ohne jegliche Ironie von der „geliebten Stadt“ die Rede. Ein solcher Urbanismus, für den Block manche Anregungen in Brjussows Urbi et orbi gefunden hat,- das ist nicht etwa eine Rückkehr vom abstrakten Symbolismus zu einem analysierenden kritischen Realismus Nekrassows oder Zolas (die zweifellos hier dialektisch weiterentwickelt sind); nicht „physiologische Skizzen“ von Petersburg werden geschrieben. Hier kommt alles auf die Atmosphäre an, die in sich die Epochenempfindungen aufgehoben haben muß. Wenig (weniger als bei Nekrassow) ist zu erfahren von sozialen Schichtungen, ökonomischen Widersprüchen; die erregend-katastrophale Ankündigung von Wandlungen, von unerhörten Kataklysmen, die Unausweichlichkeit von Eruptionen ist expressiv schärfer als das im neunzehnten Jahrhundert sein konnte. Dabei wird wenig direkt benannt, viel emotionalisiert. Beleuchtet ein Abendrot die Stadt („Город в красные пределы…“), so entstehen die Dissonanzen durch das Schrille in Farbe und Klang: der grau-steinerne Totenkörper der Stadt (Fabrikwände, ein Mantel, eine wehende Locke) ist vom Blut der Sonne übergossen. Die Variabilität der in dieser Atmosphäre möglichen Rot-Töne ist erstaunlich: der Mantel erscheint schmutzig-karmin, ein roter Hausmeister gießt betrunken-rostiges Wasser aus, dazwischen die feurigen Waden der Prostituierten, die funkelnden Mähnen der „wie die Hitze“ goldenen Pferde, und am Ende das schrille Kupfer der Glocke mit blutiger Zunge. Das alles gerät durch einander ähnelnde Verben (блещит – плещет – пляшет – пляс) in hastige Bewegung, so daß der Eindruck von etwas Irrem, Teuflischem entsteht.
Aus dieser schmutzigen Welt erwächst wenig später eins der merkwürdigsten Gedichte Blocks, „Die Unbekannte“ (1906): Vision eines auf die Erde herabkommenden Ideals und Ausgeburt einer Säuferphantasie, jugendliche Glücksverheißung und elegante Kokotte, – alles auf einmal und einander nicht neutralisierend. Dem Autor erscheint das Bild jeden Abend in einer vom Geist des Frühlings und der Fäulnis (!) getränkten betrunkenen Atmosphäre, inmitten einer halbvornehmen, langweiligen Datschengegend, wo aus der Spießerwelt nur die goldene Brezel, das Aushängeschild des Bäckers, ein wenig leuchtet, in einem der Gegend angepaßten Restaurant, nicht einer Kneipe. Watteaus Überfahrt zur Liebesinsel Kythera und Degas’ Absinth in einem. Rechtfertigung eines Betrunkenen, der „In vino veritas!“ schreit, und Wissen um ein großes Geheimnis, das in der eigenen Seele verschlossen ist. Ein adliger Bohemien, der dieses Milieu bald verlassen wird; ein früherer Träumer vom Ewig-Weiblichen, dem inzwischen auch das Gekreisch der Modedamen bekannt und überdrüssig geworden ist und der leidenschaftlich nach tiefer, echter Liebe sucht. Die beiden Solveig-Variationen vom Februar und Dezember 1906 zeigen die gleiche Suche.
Die tiefe Liebe erlebte Block auch (zu Natalja Wolochowa, einer Schauspielerin), doch sie kam anders als erwartet: als etwas Elementares, überwältigendes, das keine Lösung, sondern Ausweglosigkeit brachte. Schneestürme, Sterne stürzen vom Himmel, Liebeslieder mal mit seiner, mal mit ihrer Stimme, ein liebesbeschwörender Zauberspruch, dessen Text, auf die Gedichtüberschriften verteilt, einen Gedichtkranz macht. Die beiden Zyklen „Schneemaske“ und „Faina“ (diesen Namen trägt auch eine handelnde Person in Blocks Theaterstück Lied des Schicksals, 1908) sind voll von diesem unerhört tiefen Gefühl, das sich mit Gewalt Bahn bricht: die dreißig Gedichte der Schneemaske entstehen mit Ausnahme des ersten in elf Tagen am Anfang des Jahres 1907, sechs Gedichte konnten an einem Tag geschrieben werden. Der lyrische Rausch, dessen neuartige Dur-Töne selbst feinsten Lyrikkennern Schwierigkeiten bereiteten,8 hielt dann noch ein volles Jahr an, die Liebe ließ, wie er in einem der Mutter gewidmeten, in den zweiten Zyklus eingeschobenen Gedicht schrieb, das Herz des Dichters in der Sonne reifen.
Die Abkehr von den „zerfließenden“, scheinbaren Synthese-Idealen der Frühzeit und von der Gefahr des Dekadenten vollzieht sich in der gleichen Zeit in den lyrisch-parodistischen, meist possenhaften Dramen Blocks. Besonderes Aufsehen erregten Die Schaubühne und Die Unbekannte (1906) sowie Rose und Kreuz (1913). Das 1908 geschriebene Lied des Schicksals überarbeitete Block nach der Revolution (1919). Er verstärkte die Beziehungen auf die Gegenwart. Eine historische Szene „Ramses“ entstand 1920. Mit der Schaubühne hatte Block besonderes Glück: die Uraufführung fand in der Regie von W. Mejerchold im berühmten Theater der Wera Kommissarshewskaja statt, einer für neue Kunsttendenzen offenstehenden Bühne. Der Regisseur fand sofort die für Block wesentlichsten Tendenzen heraus, die sich glücklich mit seinem eigenen Suchen in dieser Zeit trafen: die Bekämpfung der illusionären Lebensvorstellungen eines zunehmend dekadenten Intellektuellenkreises und die Orientierung auf das Bewegungstheater des Jahrmarktes, mit Tanz und Pantomime. Noch im Jahre 1930 unterstrich Mejerchold sein Interesse für alle Stücke Blocks, da in ihnen viel von der Illusionsdurchbrechung bei Ludwig Tieck (Der gestiefelte Kater) stecke.9 An Illusionen über die Zeit, an zu überwindenden geistigen Irrwegen aber fehlte es damals nicht: angefangen von den Irrwegen der offenen Mystik über den Glauben an die sich schon irgendwie einstellende gesellschaftliche Harmonie bis hin zum Abgleiten in die substanzlose Spielerei mit der Form. Derberes, Realeres wurde gebraucht, selbst die Posse sollte zum „Mauerbrecher“ werden in der gegenwärtigen „Welt mit ihrer Stumpfheit, Trägheit, mit ihren toten und welken Farben.“ (III, S. 76)
Die Entwicklung der politischen, sozialen Wirklichkeit hatte inzwischen das Ihre dazu getan, daß der Reifeprozeß des Lyrikers schneller voranschreiten konnte. Natürlich hörte Block in der Zeit der Revolution von 1905–1907 nicht auf, er selbst zu sein. Er wurde auch dann kein politischer Lyriker, als er, wie Augenzeugen staunend zur Kenntnis nahmen, im Oktober des Jahres 1905 mit einer roten Fahne in den Händen an einer Demonstration teilnahm. Ein Vierzeiler an die „Jungfrau Revolution“ („Дeвe Peвoлюции“) stellt Fragen über die mögliche Bindung an die Zeit. „So schwierig ist alles und so verworren – ganz unlösbar, was mit Rußland wird und uns allen“, heißt es in einem Brief vom Februar 1905 (III, S. 54). Die zaristische Zensur packte trotzdem scharf zu: Als sein Gedicht „An den Schutzengel“ („Ангел-хранимель“, 1907) in die Presse gelangte, wurde das Heft der Zeitschrift eingezogen und der Redakteur gerichtlich verfolgt. Und dabei ist auch hier noch Unentschiedenheit formuliert, und die vielen Fragen am Ende des Gedichts bestimmen den Grundton: Werden wir auferstehen? Untergehen? Sterben?
Die Fragen brachten Block dazu, sich umzuschauen. Er beobachtete die Selbst- und Namenlosigkeit der Heldentaten und Opfer („Шли на приступ“), er hörte einen Agitator „graue Worte“ reden, die aber so stark wirkten, daß ein Feind den Redner erschlug, – hier hatte Block nicht nur Mitleid empfunden. Er erlebte einen Streik des Elektrizitätswerkes und sah, wie leicht und wie gründlich die Lebensweise der Satten in Frage gestellt werden konnte („Сымые“). Er belachte die Illusionen nach dem Zarenmanifest vom 17. Oktober („Вися над городом“). Immer häufiger geschah es, daß das lyrische Ich sich in einem anderen Gewand probierte: dem eines Arbeiters etwa („Xoлoдный день“), Hinterhöfe und Dachböden konnten zu Schauplätzen werden. Ein Gedicht vom Juli 1905, in der Tradition der Bauernpoesie geschrieben, setzte die traditionellen Losungsworte Boden (зemля) und Freiheit (вoля) als Signalwörter (He maни maня ты, вoля). In der Zeit der Massenmißhandlungen und Morde an den Unterlegenen wurde eine Krankenschwester zum Beispiel für Opfermut und Heldentum der Heimat (Пeрeдвeчeрнeю пoрoю). Das Rußland-Thema drang in Blocks Lyrik ein.
In dieser Zeit eroberte sich der Dichter noch ein weiteres Tätigkeitsgebiet, auf dem er es schließlich nicht weniger als in der Lyrik zur Weltbedeutung bringen konnte: den Essay, den er sowohl in der Form des kritisch-würdigenden Aufsatzes als auch der weite Kulturräume überschauenden, Widerspruch provozierenden Rede beherrschte. Kurzzeitig (1907–1908) leitete er die Literaturkritik in der Zeitschrift der Symbolisten Solotoje runo. Das Hauptthema seiner Aufsätze in diesen Jahren ist das Verhältnis der Intelligenz zum Schicksal des Landes. Mit Schauder beobachtet er die Verbreitung von „Lobreden, Spucke und Verrat“ (III, S. 96) gerade unter den Intellektuellen. Für Block ist es unmoralisch, religiöse Wortgefechte und Abende der „freien Ästhetik“ zu veranstalten angesichts der Situation des Landes nach der Niederlage der Revolution:

Wind, die Prostituierten frieren, die Menschen hungern, Menschen werden gehängt; im Land herrscht die ,Reaktion‘: in Rußland zu leben ist schwer, kalt, widrig. (II, S. 123)

Wie Lew Tolstoi beginnt Block die „Gebildeten“ an den Interessen des hungernden und geknebelten Volkes zu messen. Für ihn steht nicht die Frage, daß der Mushik gebildet werden müsse, damit er die Ratschläge der Intelligenz auch aufnehmen könne. Im Gegenteil: durch alle Verirrungen des religiösen Sektierertums, des wütenden und oft selbstzerstörerischen Aufruhrs hindurch bricht sich mit elementarer Kraft die Entwicklung des Volkes und Rußlands (das ist für ihn dasselbe geworden) Bahn, und vorläufig steht die Intelligenz, wie seinerzeit auf dem Kulikowofelde die Tataren, im feindlichen Lager. Block schrickt zusammen, wenn er gleichsam mit Sehergabe auf der Stirn eines Freundes das Todeszeichen entdeckt.

Sind nicht schon manche von uns unwiderruflich zum Untergang verdammt? (II, S. 130)

So tut sich ein tiefer Spalt auf zwischen Alexander Block und der Überzahl der bürgerlich-adligen Intellektuellen, aus deren Kreisen er selbst hervorgegangen war. Gerade in jenen Jahren, als fast alle von denen, die 1905 mit Fortschritt und Revolution kokettiert hatten, einen Weg ins Renegatentum suchten, orientierte sich Block bei den bedeutenden Fragen auf die Lebensinteressen des Volkes und auf die gesetzmäßige Entwicklung Rußlands zu einer neuen Revolution. In seiner bedeutendsten Rede jener Zeit, Volk und Intelligenz, gehalten im November 1908, in der Phase der schärfsten Stolypinschen Reaktion also, hob er das hervor: man spürt, wie die Stille „in ein noch fernes, aber immer lauter werdendes Grollen“ (II, S. 140) übergeht, die Gegenwart lasse das „allmähliche Erwachen eines Riesen“ empfinden.

Ein Erwachen mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen. So lachen die Intellektuellen nicht… (II, S. 134)

Maxim Gorki schien ihm der einzige zu sein, der die nötige innere Bindung zum Volk besaß. Bei Strafe des Untergangs: der Weg Lomonossows, der linken Slawophilen, Dostojewskis müsse beschritten werden, „und dieser Weg ist Rußland selbst.“ (II, S. 137)
Das Publikum (mit Ausnahme einer kleinen Gruppe junger demokratischer Intellektueller) war entrüstet; der anwesende Polizeioffizier verbot die Diskussion zu der Rede. Das war aber für Block nur Bestätigung seiner Thesen. Er hatte sich gerade in der kompliziertesten Zeit einer triumphierenden Reaktion zum Hauptsächlichen durchgerungen. Jetzt ging es ihm schon nicht mehr nur um die eigene Orientierung, es ging um Rußland.

Verse über Rußland
In der gleichen Zeit, als diese Essays über die Abspaltung der Intelligenz von Rußland entstanden, im zweiten Halbjahr 1908, schrieb Block auch einen Zyklus aus fünf Gedichten über die Schlacht auf dem Kulikowofeld, jenen Sieg der vereinigten russischen Streitkräfte unter Dmitri Donskoi über die Goldene Horde Mamais. Diese Schlacht aus dem Jahre 1380 an der Neprjadwa (am Oberlauf des Don) hatte zwar nicht die Befreiung Rußlands vom tatarischen Joch zur Folge, brachte aber doch Selbstbewußtsein und Einigkeitswille genug mit sich; Rußland konnte den Weg in die Zukunft antreten. So hat der Dichter das auch verstanden:

Die Kulikowo-Schlacht gehört… zu den symbolischen Ereignissen in der russischen Geschichte. Solchen Ereignissen ist eine Wiederkehr beschieden. Ihre Enträtselung steht noch bevor. (St 754)

Hier wird Geschichte nicht mystifiziert, sondern auf die Gegenwart bezogen,- auch die eben durchlebte Revolution hatte sich in ihrer historischen Tragweite noch nicht „enträtselt“. Der Dichter bezieht sich selbst auf die Ereignisse, er empfindet sich als Teilnehmer der Kämpfe gegen die Tataren. Da wird nichts illustriert, keine Bataillenmalerei gedichtet.

O mein Rußland! Meine Frau!… Unser Weg geht durch die Steppe, durch den uferlosen Kummer, durch deinen Kummer, o Rußland!

Da wird der Weg Rußlands durch die Geschichte – die zukünftige Geschichte vor allem! – ertastet.
Dem Thema „Rußland“ werde er „bewußt und unabänderlich das Leben weihen“ (III, S. 103), erklärte Alexander Block in der gleichen Zeit in einem Brief an Stanislawski. Hier wurde ganz offensichtlich, daß er von Anfang an stets ein großes Anliegen gehabt hatte, und unermüdliche Arbeit und das geschärfte Empfinden für die politisch-historischen Zeitprobleme, die zunehmende Öffnung des eigenen Gefühls für die Widersprüche und Hauptkräfte der Zeit brachten den Keim zur Reife. Bei einer Lesung hatte das Publikum von Block als Zugaben Gedichte „über Rußland“ verlangt. Der Dichter sei fast zornig geworden, wird überliefert:

Das alles war über Rußland!10

In den ersten Kriegswochen wurde die Frage nach dem Wesen und den Wegen des Heimatlandes immer drängender. Im Mai des nächsten Jahres erschien ein vielbeachteter Sammelband: Blocks Verse über Rußland. Kriegsbekenntnisse oder gar Bekenntnisse zu den Herrschern Rußlands standen nicht darin. Das brutale Niederschießen der Revolution durch die zaristische Regierung hatte keinen Zweifel am Charakter des Systems offengelassen. Und es kam auf dasselbe heraus, ob diese Regierung durch die makabre Figur Stolypins repräsentiert wurde oder durch eine andere:

Der gegenwärtige russische Staatsapparat ist natürlich mieses, geiferndes, stinkendes Alter, ein siebzigjähriger Syphilitiker, der mit einem Händedruck die gesunde Jünglingshand infiziert. (III, S. 109)

Auf das Rußland des Volkes kam es an. Es mußte ermittelt werden, welche Züge das Gesicht dieses eigentlichen Rußlands trägt. „Rostige Tropfen im Walde, geboren in Ödnis und Dunkelheit“, die bemalten Speichen der Wagenräder versinken in den ausgefahrenen Wagenspuren, überall Kreuze, geflüsterte Worte vor Kerzen, der Rauch eines Lagerfeuers zieht bläulich in die Düsternis des Tages, kleine Grashügel im Sumpf der ärmlichen finnischen Rus – das sind keine freundlichen Bilder, doch es ist die geliebte Heimat. Selbst das Rußland der schmierigen Krämerseelen, die den in der Kirche gespendeten Kupfergroschen sich gleich wieder ergaunern, mit dem Fuß den hungrigen Hund von der Schwelle stoßen – es ist das Heimatland („Грешить бесстыдно, непробудно…“). In dem äußerst produktiven Herbst des Jahres 1908 entstand auch noch einmal ein Kneipengedicht („Я пригвожден к трактирной стойке…“), doch unerwartet verbindet es sich mit dem Troika-Motiv aus Gogols Toten Seelen, und es sollte in diesem Sinne auch noch weitergeführt werden: der leise Vorhang unserer Zweifel hebt sich – hört ihr das keuchende Dahineilen der Troika? Rußland fliegt unbekannt wohin in seiner geschmückten Troika.

Seht ihr seine Sternenaugen – mit der an uns gerichteten Bitte: Liebe mich, liebe meine Schönheit! (St 745)

Die Personifizierungen der Heimat, die schon mit der Schönen Dame in mystifizierter Form begonnen hatten und mit der Unbekannten ihre Fortsetzung fanden, konnten jetzt wieder, zunächst noch tastend und unsicher, aufgenommen werden, in ganz anderer Art.

Rußland, Bettelrußland, deine grauen Hütten, deine Windlieder sind für mich wie die ersten Tränen der Liebe. („Россия“)

Das Tuch bis zu den Augen herabgezogen, eine gedehnte Melodie, der Blick eines bezopften Mädchens in den vorübereilenden Eisenbahnwagen – solcherart Details finden sich in der Lyrik Blocks dieser Jahre.
Diese Entwicklung war kein einfacher, linear verlaufender Prozeß; der hier benötigte dritte Schritt in der dialektischen Entwicklung, der Schritt zur Synthese, mußte auf das härteste erkämpft werden. Die Heimat und der Dichter – da mußte sich Block wie Christus in der Wüste fühlen, der sein heimatliches Galiläa verloren hat und um sich nur Sand sieht, nicht einmal einen Platz zum Ruhen. Die Probleme betrafen den Dichter im Innersten. Der erste Zyklus im dritten Buch heißt Die schreckliche Welt (1909–1916), er variiert Motive des Ekels. Der nächste Zyklus, Возмездие (1908–1913), steigert die Empfindungen noch zu Todesmotiven, eine unausweichliche Katastrophe hängt über der Gegenwart; die Überschrift müßte „Bedrohung“ heißen, nicht „Vergeltung“. Die Welt der Totentänze, des geschändeten Glücks, des „schwarzen Bluts“ – sie ist nicht zu akzeptieren. Der Dichter aber kann nicht mehr zurück von seinem Beruf. Sinn der Poesie sei, heißt es in einem Gedicht, in das nächtliche Grauen hineinzublicken, im Wirbel der Gefühle einen Sinn zu suchen, damit man im blassen Feuerschein der Kunst den Brand des verderblichen Lebens erkennen könne (Kaк тяжело ходить…). Der Widerwille gegenüber einem unbefriedigenden Leben, das tiefe Empfinden katastrophaler Situationen, in denen Rußland steckt, verkehrt selbst die möglichen Ansätze positiver Empfindungen ins Gegenteil. An einem Frühlingstag fällt vor allem das ungeputzte Fenster auf, dem Dichter sind nur Erinnerungen verblieben, und wenn auch Gedanken und Auseinandersetzungen wiederkehren werden – wozu? „Der Tag ist schon längst in der Seele verbrannt.“ (Beceнний дeнь прошeл бeз дeла…) „Es war wohl noch nicht ein Jahr so finster wie dieses verdammte jetzt, schon im Herbst“, schreibt der Dichter an seine Frau aus Petersburg am 23. Juli(!) 1908 (III, S. 95).
Das ist nicht Weltschmerz, selbstgerechte Ablehnung einer schlechthin unbefriedigenden Welt, sondern geschärfte Empfindung für die Zeit der Reaktion, eine der schlimmsten Etappen in der russischen Geschichte. Es ist auch leidenschaftliche Selbstkritik, Ekel gar vor dem eigenen Leben, das nicht sinnvoll erscheint. „Etwas, woran man sich festhalten kann, ist entschieden nicht da auf der Welt“, – solche Erkenntnisse martern den Dichter vor allem deshalb, weil er sich mitschuldig fühlt. Das haben die Zeitgenossen verstanden. Block sei das „bloßgelegte Gewissen“11 in Person, hatte Alexej Remisow hervorgehoben, und Sinaida Gippius formulierte verlegen:

Er roch sozusagen nach Wahrheit.12

Er selbst hatte schon im Jahr 1902 empfunden, daß man Philosophie nicht abstrakt und nur als Wissenserwerb studieren könne, die Fragen haben ganz praktische Konsequenzen, sie grenzen an die eigene Lebensweise.
So kommt es auch, daß sich durch den ersten Zyklus des dritten Buches Motive des Doppelgängertums hindurchziehen, auch die Dämon-Motive, die schon bei Puschkin und Lermontow aufs eigene Erleben bezogen worden waren. Mitunter wird bei diesen Themen der Sog der Tradition zu stark, die literarische Stilisierung stört. Dann brechen aber bald die zwingenden Block-Metaphern durch: fremde Frauen zu lieben, Nebelluft zu atmen, in fremde Spiegel zu schauen – solche Doppelungen (Spiegel sind nicht das Leben selbst, und es sind noch dazu fremde Spiegel) lassen den Spalt zum wirklichen Leben quälend empfinden. Im „stillen Wahnsinn“ vertaner Tage blitzt aber wie ein Erschrecken das geheime Vorgefühl (wieder eine solche Doppelung) von fast zu hellen Gedanken auf. Es müsse alles noch „härter, unansehnlicher, schmerzhafter sein“, schreibt er etwas später an Anna Achmatowa, die schonungslosen Anforderungen an sich selbst auf die hochbegabte Dichterin übertragend (III, S. 178).
Jahrelang mit solcher Intensität betrieben, führte die Selbstanalyse zur Abkehr von der traditionellen Vorstellung über Literatur. „Ich bin kein Lyriker von nun an“, heißt es stolz in jenem Brief an Andrej Bely aus dem Jahre 1911, in dem die drei dialektischen Schritte der eigenen Entwicklung formelhaft fixiert waren (III, S. 141). Die Tiefe dieser Erkenntnis überrascht. Block war als Künstler „gesellschaftlich“ geworden, die Synthese bedeutete das Einbrechen in die großen Widersprüche der russischen Entwicklung und damit das Ausbrechen aus dem adligen oder bürgerlichen, an Salon oder Geschäft gefesselten Literaturbetrieb, auch dem des Symbolismus. Die „Jahre, die die Seele töteten“ (III, S. 140), die Jahre der quälenden Suche nach der innersten Keimzelle des Übels, die Jahre der Selbstkasteiung waren nicht vergeblich gelebt, der Dichter war bereit geworden für den bevorstehenden neuerlichen gesellschaftlichen Aufschwung des Landes. Das konnte in jener Zeit nur von wenigen Schriftstellern Rußlands gesagt werden, denn es setzte ja nicht einfach allein progressive Weltanschauung voraus: die Analyse der Zeit im eigenen Ich, das innere Durchleben, die Anreicherung des Subjektiven durch den objektiven Epochengehalt mußte ja erst in so intensiver, fast selbstzerstörerischer Arbeit geleistet worden sein.
Aus dieser Entwicklung des Dichters Alexander Block läßt sich aber auch folgern, daß große Lyrik nur in Zeiten entstehen kann, die vom Dichter das Aufwerfen bedeutender Fragen, drängender Empfindungen mit epochaler Spannweite fordern. Nur der große Auftrag einer ganzen Nation, die sich im Aufbruch oder Umbruch befindet, kann die Lyrik zu Großem anspornen. Sache des Dichters ist es, den Auftrag zu empfinden und sich zum Organ der Epoche auszubilden.
Daraus wiederum wird verständlich, warum Block (etwa im Unterschied zu Turgenew oder Dostojewski) mit den Erlebnissen in westeuropäischen Ländern eigentlich nichts anzufangen wußte. Vor allem die Italienischen Verse, der vierte Zyklus des dritten Bands, Ergebnis einer Reise im Frühjahr 1909, belegen das: mit Bildern, die fern sind von aller Touristenbegeisterung oder gar Freude über Exotisches. Hier wird von „schweigenden Särgen der Gondeln“ gesprochen, wenn Venedig gemeint ist – Turgenews Vorabend-Thema wird weitergedacht und Thomas Manns Tod in Venedig vorweggenommen. Auf dem Gesicht der Stadt Florenz werden „faulige Sargrunzeln“ entdeckt, und wenn daneben gleich „Florenz, du zarte Iris“ geschrieben wird, so ergibt sich aus der Antinomie eine Metaphernkette, die durch die sieben Florenz-Gedichte hindurch entwickelt wird zum Bild der „Verräterin Florenz“. Natürlich treibt hier der Dichter in der Abwehr seine eigene Weltkonzeption weiter, und der Satz „Ich schaue mit schwarzer Seele in den schwarzen Himmel Italiens“ hat wenig mit Schilderung von Gesehenem zu tun. Kurz zuvor war ja ein Teil des Heimat-Zyklus geschrieben worden, die Kulikowo-Gedichte vor allem.
Sehr viel weitergebracht hat den Dichter dagegen ein anderes Erlebnis jener Jahre: die unerwartet und unerhört tiefe Liebe zu Ljubow Delmas, einer Opernsängerin, die er um die Jahreswende 1913/14 mehrfach in der Rolle der Carmen hat bewundern können; es entstand im März 1914 daraus ein Gedichtzyklus. Natürlich bildet die szenische Situation, das Operntextbuch die Grundlage für das Erlebnis, und da hat der Dichter als Don lose zunächst ganz spätromantisch „zu schweigen und düster zu schauen“. Bald aber zeigte sich die Tiefe des Gefühls – und auch die literarische Tragfähigkeit der Liebe. Block hat solche Erlebnisse nicht gesucht. Gelegenheitsbekanntschaften wurden eher abwehrend behandelt: „Sing nicht, fordere nicht, Margarita!“ hieß es in einem Gedicht des Jahres 1908. Hier dagegen wurde der Gesang, „die fast erschreckende Empfindsamkeit der Hände und Schultern“, die Wildheit der Gefühle dieser Carmen zum Ausgangspunkt einer grenzenlosen, rücksichtslosen, ganz diesseitigen und innigen Liebe, die auf Zigeunerart alle Dämme brechen mußte und das eigene Leben mit aufs Spiel setzte:

O да, любовь вольна, как птица,
да, все равно – я твой!
Да,  все  равно мне будем сниться
твой стан,  твой огневой!
(Sobr. 3, S. 237)

So plastisch hat Block vorher Empfindungen nicht in Bilder setzen können; vielleicht war dieses kurze, wild aufflammende Gefühl auch tiefer gewesen als alles Vorherige. Ungewöhnlich reif – und nicht mehr mit dem Ablauf der Oper übereinstimmend – ist auch der Schluß des Zyklus. Das Beherrschende an dem Erlebnis war das fast ungläubige Staunen über die Möglichkeit einer solchen Liebe gewesen, und das konnte nicht in Tränen und Tragödien umschlagen, sondern in die Empfindung vom eigenen Weg dieser Carmen: dir selbst Gesetz, fliegst du vorbei, zu anderen Sternenbildern, ohne Umlaufbahnen zu kennen. Hier werden für die Entwicklung der Frauenfiguren in der russischen Literatur – angefangen von Puschkins Tatjana bis hin zu Tolstois Anna Karenina und Tschechows „Misjus“ – neue Charakterzüge fixiert. Es darf nicht übersehen werden, daß hinter dem Bild der Geliebten auch bei Block immer das Bild der Heimat hervorschaut, und solches poetisches Denken bestimmt die Abläufe der emotionalen Erlebnisse. So kann der ganze Zyklus noch mit einer Beteuerung der Liebe abgeschlossen werden und mit dem Bekenntnis, ihr ähnlich zu sein:

Но я люблю тебя, я сам макой, Кармен!
(Sobr. 3, S. 239)

Die Erkenntnis vom eigengesetzlichen, unaufhaltsamen Weg in die Zukunft ist in jenen Jahren ein wesentliches Motiv für Blocks Lyrik, es wird zögernd zunächst, dann deutlicher auf die Heimat bezogen. Das hatte es als Solowjow-Tendenz auf der ersten Entwicklungsstufe in mystischer Form ja schon gegeben, auf der nächsten mußte das Motiv im Sumpfdickicht ersticken. Nun bricht es neu durch, gereift, aus dem Munde des „gesellschaftlichen Künstlers“. Vor allem in den zwölf Gedichten des Zyklus „Jamben“ (1907–1914), in dem weniger der Schmerz über die „schreckliche Welt“ als vielmehr der Zorn das Ausgangsmotiv ist (schon das Motto ist ein Juvenal-Zitat: „Fecit indignatio versum“ – „Zorn gebiert den Vers“), wird es stärker und stärker. Je näher man dem Volke kommt, so heißt es hier, desto mehr sehe man eine „andere Welt“, und man habe die Hände zur Arbeit bereitzuhalten – oder wenigstens die Langeweile in der eigenen Seele zu verbrennen oder (es werden Minimalprogramme gemacht, die nicht den Dichter betreffen) wenigstens als Maulwurf die Gegenwart abzulehnen, wenn man die Zukunft nicht sehen wolle. Die Bauerndichtung wird in diesem Geiste bemüht: wann wird das Feld wogen und das erniedrigte Volk aufatmen können? Jetzt sucht der Dichter also auch zitable Formeln für seine Empfindungen. In der ästhetischen Thematik dasselbe Streben: man werde dereinst den Diamanten mit der Spitzhacke aus dem Berg (der Werke des Dichters) heraushacken. Im 1914 geschriebenen Eröffnungsgedicht des Zyklus („О,  я хочи безумно жить…“) wird das Bild eines fröhlichen Jungen der Zukunft gemalt, der die Düsternis in den Bekenntnissen des Dichters richtig deuten wird: nicht als zentrales Motiv, denn es sei ein Dichter der menschlichen „Güte und des Lichts“, „des Siegs der Freiheit“ gewesen. Das steht auf der Höhe der Puschkinschen Prophezeiungen, und daher kann im Schlußgedicht des gleichen Zyklus in Puschkins Diktion formuliert werden:

Я верю: новый век взойдет
средь всек несчастных поколений.
(Sobr. 3, S. 96)

Gorki hatte recht, als er nach einer Rede Alexander Blocks das Seherische hervorhob (vgl. III, S. 334). Das war immer das Zentrum dieses Dichters gewesen:

die große Musik der Zukunft zu vernehmen, von deren Tönen die Luft erfüllt ist, und nicht einzelne kreischende, falsche Noten aus dem mächtigen Dröhnen und Klingen des Weltorchesters herauszutüfteln. (Sobr. 6, S. 19)

Natürlich hat ein Dichter es leichter, die große Melodik der zukünftigen Epoche zu hören, wenn das Orchester gleichsam im eigenen Land zu spielen scheint. So kann Block sein poetisches Vorausempfinden der kommenden Wandlungen realer fassen, als es das viel unbestimmtere „Vorgefühl“ Rilkes sein konnte, der in ähnlicher Richtung suchte:

Wenn du das Nähernde liebst im Schoße der Zukunft13

Block hat sich ganz konkrete Gedanken über sein zukünftiges Rußland gemacht: über die notwendige Industrialisierung etwa (Hoвaя Aмepuкa, 1913; zwei Jahre später schreibt Block den Plan für ein dann nicht ausgeführtes Drama „über die Fabrik-Auferstehung Rußlands“). Fabrikschornsteine und Kohlenströme entstehen in der Vision des Dichters, das Land wird das gleiche sein und sich doch ändern. Überhaupt hat Alexander Block stets Interesse für technische Entwicklungen gezeigt. Autos und Radfahrer, Benzingeruch und die Namen berühmter Flieger dringen (vor allem in den Italienischen Versen) in die dichterische Welt ein. Der eben erst vollendete Simplon-Tunnel ist poetisches Argument. Auch die Zweigesichtigkeit der Technik wird nicht übersehen: Erfolge im Flugsport könnten dazu führen, daß eines Nachts ein Flieger der Erde Dynamit bringt („Aвиaтoр“, 1912).
Zukünftige technische Entwicklungen konnten aber dem Dichter den realen Blick auf seine Heimat nicht verbauen. Der immer wieder unternommene Versuch, eine gültige poetische Formel, ein synthetisches Bild für das Land zu finden, gelang mit dem jüngsten der Gedichte des dritten Bandes am überzeugendsten: „Der Geier“, 1916 (Sobr. 3, S. 281).

KОРИШИН

Чертя за кругом плавный круг,
над сонным лугом коршун кружит
и смотрит на пустынный луг. –
В избушке мать над сыном тужит:
„Нá хлеба, нá, нá грудь, соси,
Расти, покорствуй, крест неси

Идум века, шумит война,
встает мятеж, горям деревни,
а ты все ма ж, моя страна,
в красе заплаканной и древней. –
Доколе матери тужить?
Докле коршуну кружить?

Nicht die Frau oder die Geliebte oder die Braut ist Rußland hier, sondern die Mutter, und der Sohn ist mit dem Dichter nicht identisch. Gorki-Motive sind hier nachgewiesenermaßen nicht mitgedacht, jedoch die Mutter-Sohn-Menschheitslegende, auf die sich Gorki genauso bezieht wie Block. Der Sohn, der die Rettung des Landes als Lebensaufgabe bekommt (das Kreuz zu tragen meint hier die Last der Sorgen und den Mut zur Gegenwehr), liegt als Hoffnung der Welt noch in der Wiege. Über der Hütte aber schwebt die ganz reale Bedrohung, der Aasvogel. Dieses Thema hatte Block schon im Gedichtzyklus Boзмездие vielfältig variiert. Die „feuchte Dunkelheit“, „die kühle Nässe der blauen Nacht“ deckten dort jeden Versuch eines Aufbegehrens zu, Selbstmordgedanken und das Bewußtsein des unausweichlichen Vergehens bleiben. Hier dagegen wird das Motiv zu einem eindrucksvollen Bild konzentriert, auf eine poetische Formel gebracht. Unter den Betonungen in den ersten vier Zeilen stehen ausschließlich dumpfe Vokale, geringfügig veränderte Wiederholungen (schläfrige Wiese – öde Wiese) und Binnenreime verstärken die Bedrohung zur zwingenden Unausweichlichkeit. Die Hoffnung auf Rettung schafft jedoch Bewegung, und die große Geschichte, am Anfang der zweiten Strophe ausschließlich mit bösen Bildern in das Gedicht gebracht, leistet Gleiches, so daß sich aus der Spannung zwischen Bedrohung und Bewegung die Schlußfragen ergeben können. Das archaisch-volkssprachliche Wort „lokale“ entspricht nicht voll dem „Wie lange noch?“ im modernen Sprachgebrauch politischer, revolutionärer Ungeduld, doch die hohe rhythmische Kunst Blocks bringt es mit sich, daß die Fragen beunruhigend bohren: die Härte der Halbzeilen in Vers 7 und 8 wird über die beiden fließenden, gleitenden nächsten Zeilen zu dem hämmernden Rhythmus der Schlußfragen geführt: Bis wann muß die Mutter klagen? Bis wann wird der Geier kreisen?

Intelligenz und Revolution
Der imperialistische Krieg war es vor allem, der das Gefühl Blocks für die Krise der kapitalistischen Wirklichkeit schärfte, das Kristallisieren der Metaphern beschleunigte.

Europa hat den Verstand verloren: Die Blüte der Menschheit, die Blüte der Intelligenz hockt jahrelang im Sumpf, hockt aus Überzeugung (ist das kein Symbol?) auf einem schmalen, tausend Kilometer langen Streifen, den man ,Front‘ nennt. (II, S. 168)

Diese Sätze wurden zwar erst im Januar 1918 geschrieben, aber die Haltung zum Krieg war früher schon nicht anders: auf die Gegensätzlichkeit zwischen den Interessen der bürgerlichen Intelligenz und des Volkes war seit 1907 aufmerksam gemacht worden.
Es sind taube, dumpfe Jahre, in die sich der Dichter hineingeboren fühlt, schreckliche Jahre, „veraschende Jahre“, und er und seinesgleichen sind mit Stummheit und verhängnisvoller Leere geschlagen, die Gesichter sind rot vom Widerschein des Blutes (Рoжденные в гoда глухие…). Solche Stimmungen, im September 1914 niedergeschrieben, entsprachen den offiziellen Wünschen nicht, um so weniger, als Block auch noch die Hoffnungen auf Freiheit mit hineinformuliert. Er hat später, vom Juli 1916 bis zur Auflösung der zaristischen Armee im März 1917, den Sumpf des Schützengrabens eine Zeitlang selbst kennengelernt, er war zu einer Baubrigade einberufen worden. In seinen Berichten dieser Zeit ist nichts Heroisches, nur Stumpfheit und Unfähigkeit zur poetischen Produktion. Die Februarrevolution konnte ihn nicht überraschen, er hatte sie dem erschreckten Publikum in einer Rede des Jahres 1908 prophezeit und seitdem als sichere Möglichkeit für Rußland im Blick behalten: eine Bombe liegt auf dem Tisch, und man kann nicht so tun, als sei das eine Apfelsine. Sie entschärfen zu wollen oder sich durch Flucht in Sicherheit zu bringen ist unmöglich, denn die Geschichte hat sie auf den Tisch gelegt.

Und zwar keine einfache, sondern eine perfektionierte Bombe, etwa wie das von den Engländern zur Befriedung der Hindus ersonnene Geschoß, das beim Einschlag zerreißt und eine Sprengwirkung erzielt. (II, S. 142)

Daß sie im Jahre 1917 gleich in zwei Stufen platzen sollte, war vom Dichter nicht vorherzusehen, erregte in ihm jedoch keine Verwunderung. Zu durchdenken war der Vorgang freilich, und das konnte Block nicht mit Gedichten leisten, sondern nur mit intensivem Tasten nach dem Nerv der Zeit, indem er sich an gesellschaftlichen Vorgängen beteiligte. Gemeinsam mit einer Gruppe fortschrittlicher Intellektueller, Offizieren zumeist, nahm er an einer Untersuchung der Verbrechen der zaristischen Regierung teil und stellte die Fakten über den ruhmlosen Zusammenbruch des korrupten Regimes zusammen, dessen übriggebliebene Vertreter in einem erbärmlichen Zustand vor die Kommission traten. Seit April 1917 arbeitete er in Repertoirekommissionen für die Schauspielhäuser mit. Er nahm gar am Ersten Sowjetkongreß der Arbeiter- und Soldatendeputierten teil (im Juni 1917), und wenige Tage später schrieb er in einem Privatbrief den lapidaren Satz hin, der für seine eigene weitere Entwicklung grundsätzliche Bedeutung hatte:

Das Proletariat soll die Macht bekommen. (III, S. 202)

Das war wiederum im Namen der Geschichte geschrieben; der Dichter konnte seine Aufgabe nur darin sehen, sich darauf einzustellen oder, wie es später in seiner letzten Rede heißen wird, die Töne der Geschichte von anarchischen Elementen zu befreien, ihnen eine Form zu geben und diese in die äußere Welt zu tragen (II, S. 397). Der revolutionäre Aufschwung riß Block mit. Er nahm zwei Wochen nach der Oktoberrevolution an einer Sitzung der künstlerischen Intelligenz im Smolny teil, zu der das Exekutivkomitee der Sowjets (die Regierung) eingeladen hatte. Nur wenige waren erschienen, unter ihnen Majakowski und Mejerchold, und seit dieser Zusammenkunft wurde Block von vielen seiner ehemaligen Bekannten geächtet und wiederholt öffentlich verunglimpft. Umgekehrt wirkte aber seine Entscheidung auf breiteste Kreise der demokratischen Intelligenz: jeder seiner nachfolgenden Auftritte bei Lesungen, jede seiner Reden und gar jede Veröffentlichung mußte und konnte in jenen entscheidenden Wochen als beispielhafte Entscheidung für die Sowjetmacht gedeutet werden. Vor allem im Verlauf des Jahres 1918 war die gesellschaftliche Aktivität Blocks für kulturelle Belange Sowjetrußlands groß: er verblieb in den inzwischen reorganisierten Repertoirekommissionen der staatlich geleiteten dramatischen Bühnen, arbeitete eine Zeitlang gar als ein Direktor des bedeutendsten Petrograder Schauspielhauses; in verschiedenen Gremien, vor allem in dem von Gorki gegründeten Verlag für Weltliteratur, beteiligte er sich maßgeblich an der Herausgabe von bedeutenden Werken für das Volk, die Ausgaben Heines und Lermontows redigierte er selbst. Als im Frühjahr 1919 ein Schriftstellerverband gegründet wurde, trat er ihm bei und war im darauffolgenden Jahr für einige Monate Vorsitzender der Petrograder Abteilung, später Leitungsmitglied.
Dieser Aktivität entsprach die innere Einstellung zu jenen Jahren. Wie Zeitgenossen berichteten, lebte Block in einem Hochgefühl freudiger Stimmungen:

Es kommt eine völlig neue Welt, ein völlig neues Leben wird sein!14

Jeder Tag sei jetzt ein Jahr wert oder gar ein Jahrzehnt, wurde an anderer Stelle formuliert.15 Das Kommunistische Manifest würdigte er im Januar 1918 als ein „ganz neues Bild der Menschheitsgeschichte, das den historischen Sinn der Revolution erläutert.“ (II, S. 231) Dem entsprach die prinzipielle Ablehnung der „Utschredilka“, der Verfassunggebenden Versammlung, mit der die bürgerlichen Parlamentarier die Revolution abzuwürgen gedachten. Freudig und auch etwas verlegen beschrieb Block in einer Tagebuchnotiz Anfang 1918, wie Lunatscharski nach einer Ausschußsitzung auf ihn zuging: „Erlauben Sie mir, Ihnen die Hand zu drücken, Genosse Block!“ (III, S. 296) Derselbe Lunatscharski würdigte Block als einen „wirklichen Aufrührer unter der Intelligenz.“16
Am Poem Die Zwölf zeigte sich, wie treffend das Urteil war. Das Werk ist ganz von dieser Stimmung getragen, es brachte die Erregung des Dichters zum Ausdruck, und es war für ihn das bedeutendste lyrische Werk seit dem Abschluß des dritten Bandes seiner Gesammelten Gedichte. Es konnte als ein Meisterwerk nur dank der intensivsten und nun schon über Jahre zurückreichenden Bemühungen des Dichters entstehen, die „Musik“ der Zeit, den innersten Nerv der geschichtlichen Vorgänge, emotional und gedanklich, also mit ganzer Person, zu erfassen. Die Arbeitszeit an dem Poem selbst dagegen war kurz, sie umfaßte drei Januarwochen des Jahres 1918 (in denen es aber noch viel anderes gab: Sitzungen, Gespräche, Arbeit an einem Aufsatz), und niedergeschrieben wurde es gar im Verlaufe von zwei Tagen. Es sei in einem einzigen Aufschwung entstanden, einer Eingebung, in harmonischer Ganzheit, hat Block später bekannt (St 771), und die Tagebuchnotizen aus der Entstehungszeit bestätigen das. „Den ganzen Tag – Die Zwölf… Inneres Zittern“, heißt es am Beginn der Arbeit, und am Ende:

Schrecklicher Lärm, der in mir und ringsum anwächst… Heute bin ich ein Genie. (St 772)

Das ist nicht jungenhafte Freude über etwas Gelungenes, sondern das Gefühl, jetzt die Harmonie der historischen Töne erfaßt, den Sinn der Geschichte dargestellt zu haben. Die Elementarkräfte hatten auch ihn gepackt, die übermenschliche Anspannung ist zu spüren. Die erhalten gebliebenen Handschriften belegen, daß kaum Änderungen anzubringen waren – das war, lange durchlebt, gleich aus einem Guß.
Die Elementarkräfte leben in dem Poem selbst. Schneesturm von den ersten Zeilen an, ein schneidender, peitschender, pfeifender Wind, der Schneewirbel entstehen läßt, schon auf vier Schritt Entfernung sieht man nichts, Schneewehen türmen sich auf. So endet das Poem auch: das Gestöber scheint zuzunehmen, die Eiskristalle werfen sich den Rotgardisten entgegen, die Stiefel bleiben in den Schneemassen stecken, Freund und Feind sind kaum zu unterscheiden. Die neue Zeit ist also nicht in die traditionellen Herbstmetaphern Blocks zu fassen: nicht Regen, Nebel und Schlamm, sondern durchdringender, entfesselter Schneesturm, Glatteis, kalte Schneeberge. Natürlich knüpft der Dichter der revolutionären Zeit an Motive Puschkins an, die schon zwischenzeitlich weiterentwickelt worden waren: in Dostojewskis Idiot begleitet der Schneesturm die hektische Atmosphäre um die Versteigerung des Menschen am ersten Tag des Aufenthalts von Myschkin in Petersburg; in Tolstois Krieg und Frieden hatten die Franzosen die Elementargewalt des russischen Volkswiderstandes zu spüren, – dafür paßte das Schneesturmbild nicht weniger gut. Das Elementare, Unausgerichtete an den beobachteten Ereignissen hatte auch Block ergriffen. Nicht Szenen des bewaffneten, organisierten Kampfes werden geschildert, sondern eine Patrouille von zwölf Rotarmisten (den zwölf Aposteln der Bibel sehr unähnlich), von denen einer seine Waffe für eine persönliche Rache mißbraucht; neben die Anarchie der freien Liebe tritt die Drohung eines anarchischen Überfalls auf Bourgeois-Häuser, Kirchenraub.
Dieses Thema Alexander Blocks stieß damals bei bewußten revolutionären Kreisen auf Ablehnung, doch konnte er gar nichts anderes als das schreiben, und sein Blickpunkt erweist sich, nüchtern betrachtet, als künstlerisch wie politisch sehr fruchtbar. Immerhin hatten die Massen drei Jahre im Schützengraben gelebt, in einem Krieg, der nicht der ihre war, dessen Grund sie keineswegs leicht zu durchschauen vermochten. Das Aufbegehren dagegen mußte bei breitesten Schichten elementare und auch anarchische Züge annehmen. Verbitterung leitet die Massen:

Злоба, грустная злода
кипит в груди…
Черная злода, свямая злода

(Sobr. 3, S. 349)

Vor solchen Ausbrüchen einer kaum kontrollierbaren Urgewalt des erbitterten, oft unbewußten Zorns hat Block niemals Angst gehabt. Er wußte es früher schon, daß jahrhundertealte brutale Herrschaft von Gutsbesitzern in schönen Parks nur mit dem Niederbrennen der Güter enden konnte, daß ein Volk keinen Respekt haben kann vor einer Kathedrale, in der „hundert Jahre lang der fette Pope rülpsend Bestechungsgelder kassiert und mit Wodka gehandelt hat.“ (II, S. 174) Nur wenige Intellektuelle haben so unerschrocken und mutig im unvermeidlichen Chaos des gewaltigen Zusammenbruchs die Gesetzmäßigkeiten im Verhältnis der Schichten untereinander unterstrichen. Und es werden weittragende Gedanken formuliert:

Was haben Sie denn gedacht? Daß die Revolution eine Idylle sei? Daß die schöpferische Kraft auf ihrem Weg nichts zerstöre? Daß das Volk ein Musterkind sei? (II, S. 175)

Es gehört, so wird weiter argumentiert, zu den schimpflichsten Zügen der intellektuellen Politikaster, über ein Land zu spotten oder zu jammern, über das ein revolutionärer Zyklon hinwegjagt, von einem Volk „enttäuscht“ zu sein, das sich aus jahrhundertealter Dumpfheit und Unterdrückung aufrichtet. Und Block wußte, daß man ungebildete Menschen sehr leicht, wie Kinder, vom sinnlosen Zerstören abbringen kann. „Gauner, Provokateure, Schwarzhunderter,… die sich gesundstoßen wollen“ (II, S. 175), freilich nicht, und auch die gab es in der Revolution in großer Zahl.
Im übrigen ist das Elementare bei der Behandlung des Poems immer wieder übertrieben worden. Hier marschiert eine Patrouille: die Massen lernen es, sich diszipliniert zu bewegen, es entstehen (das hat Block noch vor der Gründung der Roten Armee gesehen) Keimzellen einer Volksbewaffnung. Unter den Stimmen der Kämpfer, die Block „zitiert“, sind politisch motivierte Aufrufe zur Disziplin, auch eine Kommandostimme ist herauszuhören. Der vielfach motivierte Rhythmus wird jedesmal dann straff und regelmäßig, wenn die Gruppe marschiert. Und: es wäre ja eben nicht Block, sähe er seine Aufgabe nicht gerade im Befreien der „Musik“ der Geschichte von den unmusikalischen Elementen des „anarchischen Chaos“, des „chaotischen Nebels“, unter denen sie gesetzmäßig und immer wieder auf die Welt kommt. Der Dichter ist es, der sie hören und befreien muß, so daß seine Zeitgenossen dann die „Macht der Harmonie“ (II, S. 396–397) auch spüren. Dieser Dichter ist sich trotz aller Entwicklung stets gleich geblieben, das Poem wird nur dann voll verständlich, wenn wir die Person des Dichters, sein Weltbild und seine Tat nicht übersehen. Block leistete erstaunlich viel, er leistete Geniales.
Seine Auffassung von der Musik der Geschichte verpflichtete ihn, in den tosenden Lärm der Weltenwende hineinzuhören und Rhythmen und Stimmen zu packen, in denen Wesentliches sich repräsentiert. Die Geschichte artikuliert sich in dem Poem. Eine Textzeile aus der „Warschawjanka“, einem Kampflied der Arbeiterklasse, wird paraphrasiert. Das zerknirschte Jammern Petruchas, der Selbstjustiz ausgeübt hatte, ist zu hören, und verschiedene Versuche verschiedener seiner Genossen, ihn davon abzubringen. Soldatenfolklore (Tschastuschkas, Bruchstücke aus den „Räuberliedern“ der Bauernaufstände, Trinklieder) wird zitiert, in immer wechselndem Rhythmus. Dazwischen Losungen, wie sie auch Majakowski verwendete beziehungsweise treffend erfand:

Революционный держите шаг,
неугомонный не дремлет враг.
(Sobr. 3, S. 350)

oder Sprechchöre:

Мы на горе всем буржуям
мировой пожар раздуем!
(Sobr. 3, S. 351)

Das durchdringende Heulen des Schneesturms, das trockene Knallen von Schüssen – auch solche rhythmischen Laute sind „Stimmen“ der Zeit. Ein altes Mütterchen wird zitiert, dem das lange Tuch für die „Utschredilka“-Werbung leid tut, ein demagogischer Intellektueller, der den Untergang Rußlands prophezeit. Mit Satire wird eine jammernde Adelsdame bedacht und ein ehemals fetter Pope. Ein zweimal beobachteter „Burshui“ an der Straßenkreuzung verwandelt sich auf wunderbare Weise in einer raffinierten Metaphernkette vor unseren Augen in seinen eigenen Hund, einen halbverhungerten Köter, der kläffend, mit eingezogenem Schwanz, aber auch drohend als personifizierte „alte Welt“ hinter der Patrouille herläuft.
Und – es erscheint Christus. Darüber hat es viele Diskussionen gegeben, Block war über den Schluß des Poems selbst nicht froh.

Ich hätte gewollt, daß der Schluß anders wird. Als ich fertig war, habe ich mich selbst gewundert: warum Christus? Je mehr ich aber hineinschaute, desto heller sah ich Christus. Und ich habe damals aufgeschrieben: ,leider, Christus.‘ (St 773)

Der Poemschluß ist wirklich bedenklich, die Beschreibung steht hart an der Grenze des für die Kunst Möglichen:

mit zartem Schritt über den Schneesturm dahin durch den Perlen-Schneewirbel, im weißen Kränzchen aus Rosen…

Einige Monate später hat Block das in einem Brief an den Maler J.P. Annenkow viel besser beschrieben:

ein weißer Fleck vorn, weiß wie Schnee, und er führt und leuchtet vorn, halb als Vision, eindringlich; und dort auch schlägt die rote Flagge, führt und leuchtet ebenfalls in der Dunkelheit. All das – ärgert, saugt, lockt, führt vorwärts hinter dem Fleck her, der fortläuft. (St 773)

Wieso dann aber Christus? Lunatscharski versuchte eine Erklärung mit der Tendenz Blocks zur „Romantisierung“ der Revolution: so wie das Negative als Räuberromantik stilisiert wird, so das Positive in den höchsten für den Dichter möglichen Tönen. Das seien Kindheitserinnerungen, auch Dostojewski-Motive.17Ebenda, S. 320f.[/footnote] Eine solche Interpretation setzt aber bei Block eine religiöse Grundeinstellung voraus, – die es nicht gab. Schon in den Tagen der ersten Revolution war die Frage ein für allemal entschieden:

Ich will Aktivität,.. ich will hassen… Das Alte bricht zusammen. Nie nehme ich Christus an. (III, S. 63)

Noch verdächtiger war ihm alles Klerikale, denn schon lange existiere die Kirche nicht mehr, mit Christus werde nur noch Handel getrieben.

Die Gauner in der Kirche halte ich für gefährlicher als die im Caféhaus. (II, S. 236)

Und nun plötzlich diese Christusdarstellung, das „weibische Gespenst“ (St 773) am Schluß der Revolutionsdichtung?
Das Rätsel löst sich, wenn man Blocks Auffassung vom grundsätzlichen Charakter der vor sich gehenden Weltenwende bedenkt. Ihm war es nicht ausreichend, diese Umwälzung mit der von 1789 zu vergleichen; damals sei als Ergebnis nur eine Zwischenepoche herausgekommen. „Unsere Zeit dagegen“, so formulierte Block 1920, „erinnert weniger an die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert als vielmehr an die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung.“ (II, S. 390) In Frankreich habe sich die Welt in zwei Teile gespalten. Es gehe heute aber, so wie in der Zeit des Zusammenbruchs des römischen Imperiums, um einen ganz neuen Klang, der sich herausbilde, – so wie seinerzeit mit dem Christentum. In diesem Sinne sind die Rotarmisten im Poem Die Zwölf doch mit den Aposteln zu vergleichen, und wenn ihnen Christus vorangeht, dann nicht, um sie zu führen oder zu legitimieren, sondern um die Tiefe, Allseitigkeit und Wucht der Weltenwende zu unterstreichen. Wandlungen solcher Größenordnung gibt es in der Weltgeschichte nur alle zweitausend Jahre einmal. Die Trommeln der napoleonischen Armee haben „nur die äußeren Hüllen der menschlichen Seele“ aufgewühlt, heute dagegen werde „die menschliche Seele in ihrem ganzen Ausmaß“ (II, S. 390) erfaßt. Selbst an ihrer schwächsten Stelle ist die Dichtung also von dem großen nationalen Anliegen getragen, hat es den Atem der Weltumwälzung, die keinen in Rußland unbeteiligt lassen konnte.
Das ist auch der Grund, warum Alexander Block sich nun nicht mehr auf Gedichtzyklen begrenzen mußte, wenn er größere lyrische Konglomerate anstrebte. Es ist ein Poem geworden, jene für die russische wie die meisten europäischen Literaturen des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts charakteristische lyrische Großform (sie muß vom epischen Genre der Verserzählung unterschieden werden), in der ein Dichter mit gesamtnationalem Anliegen hervortritt. Am Anfang des Jahres 1918 war die breite historische Bewegung so ganz in dem Dichter, daß eine bloße zufällige Begegnung mit einer Gruppe Rotgardisten im Januarschnee des revolutionären Petrograds für eine große synthetische Dichtung ausreichte. „Die neue Zeit ist erregend und beunruhigend“, schrieb Block in diesen Monaten. Er hatte frühzeitig aus halben Ahnungen über den Charakter der Zeit ein poetisches Konzept entwickelt, das sich, über Jahre konsequent weitergedacht, in der erregenden Zeit voll entfalten konnte. „Das Beste, was ich geschrieben habe,“ äußerte der Dichter später über Die Zwölf. (St 773)
Die Skythen, ein anderes großes Gedicht dieser Zeit, entstand gleich nach den Zwölf, an den nächsten zwei Tagen nach Vollendung des Poems. Das Werk führt eine thematische Linie weiter, die viele russische Dichter des neunzehnten Jahrhunderts beschäftigt hatte, von Puschkins Клеветникам России angefangen, und es hebt die Problematik auf die Höhe der proletarischen Revolution: das Thema Rußland und Europa. Mitunter hatte es den Schriftstellern und Philosophen geschienen, daß Rußland dem zivilisierten, dem „materiellen“ Europa eine „geistige“ Erneuerung zu bringen habe, und der eine oder andere religiöse Denker konnte sich gar in die reaktionäre These von der Messias-Rolle Rußlands, von der religiösen Erneuerung Europas durch die russische Orthodoxie, hineinsteigern. Mitunter wurde die Illusion von einer bäuerlich-demokratischen, nichtkapitalistischen Entwicklung Rußlands wenigstens als eine „gesunde“ Alternative zum „kranken“ Europa gesehen – noch Rilke fuhr in den Jahren 1899 und 1900 mit solchen Vorstellungen nach Moskau und durch russische Dörfer.
„Die Schande der dreieinhalb Jahre Krieg, die Schande eures Kriegspatriotismus“ (so Block im Januar 1918; III, S. 290), vor allem aber die Möglichkeit, nach der Revolution eine Welt der Brüderlichkeit zu errichten, – all das stellt die Frage nach der Rolle Rußlands auf eine neue Weise. Plötzlich ist Rußland wirklich in einer Messias-Rolle: es bietet der Welt durch seine Revolution die Möglichkeit eines „brüderlichen Fests der Friedensfeier“. Die Sabotage der Brester Friedensverhandlungen durch die überheblichen deutschen Diplomaten und Generäle hatte aber auch die Gefahr der Vernichtung der Revolution durch die feindlichen Armeen sehr anwachsen lassen, und Alexander Block, der in diesen Monaten die Tagesereignisse genau verfolgte, sah die Konsequenzen: Europa hätte sich damit eine Katastrophe ungeheueren Ausmaßes eingehandelt. Die Katastrophe späterer Eroberer, die mit „stählernen Maschinen“ „zum Ural“ stürmen (das sind Worte aus dem Gedicht), ist hier mitgedacht. „Wir werden unsere historische Mission erfüllen“, schreibt Block in sein Tagebuch (III, S. 290). Sollte die Revolution dennoch mit Kanonen niedergeschossen werden, werde Europa unweigerlich durch den Ansturm riesiger elementarer Massenheere vernichtet. Der Dichter knüpft hier an Thesen von der Gefahr aus Asien an, die in der Publizistik damals schon im Umlauf waren. Die Skythen (eine alte Bezeichnung für das russische Volk) haben im Verlauf der Jahrhunderte für Europa die Rolle eines Schutzwalls gegen neue Hunnenüberfälle gespielt. Zum Unterschied von den bürgerlichen Weltuntergangsphilosophen sieht Block aber vor allem die Eigengesetzlichkeit der großen Massenbewegungen in Asien.
Die Monate in und nach der Revolution waren für Block somit nicht nur Monate, in denen er aus eigenen Empfindungen, die er historisch zu vertiefen in der Lage ist, in feinfühliger Weiterentwicklung seiner poetischen Konzeption große Poesie machte, sondern auch Zeiten für weitreichende Gedanken über die geschichtlichen Wege des eigenen Landes und der Kultur insgesamt. Ein ganzer Zyklus von Reden und Essays entstand, und vor allem Intelligenz und Revolution (1918) und Der Zusammenbruch des Humanismus (1919) erfassen ideologische Hauptprobleme der Weltenwende. In diesen beiden Werken erhob sich Block zu grundsätzlichen Einsichten, wie man sie nur bei wenigen findet. Er ging seinen eigenen Weg weiter, den er mit den Aufsätzen nach der ersten Revolution begonnen hatte. Vor allem wird das „Naturwüchsige“ der Revolution unterstrichen: sie entsteht in den Tiefen der Geschichte des Volkes und darf nicht als Erfüllung intellektueller Träume begriffen werden. Die Urwüchsigkeit hat Konsequenz und Gründlichkeit zur Folge: in der Seele des Volkes schlummerten diese Kräfte, der reißende Strom bricht alle Dämme und überflutet die Ufer. Das Ziel:

Alles umzugestalten. Und so einzurichten, daß alles zum Neuen sich wandelt; damit unser verlogenes, schmutziges, ödes, häßliches Leben zu einem gerechten, reinen, heiteren und schönen Leben werde. (II, S. 170)

Deshalb eben nenne man das Revolution und nicht Aufruhr oder Rebellion. Deshalb könne und dürfe auch die Bewegung nicht damit enden, daß irgendwann ein Miljukow mit schicksalhafter Stimme verkünden könne:

Der Gesetzentwurf wurde in dritter Lesung mit Stimmenmehrheit abgelehnt.

Nicht um Evolution und Fortschritt gehe es, sondern um eine Welt des Volkes.
Von dieser erstaunlichen Gedankenhöhe aus mußte Blocks Ablehnung der revolutionsfeindlichen Intelligenz, deren bürgerliches Wesen jetzt eindeutig bestimmt wurde, noch heftiger werden. „Künder der Revolution“ hatten sich als Feiglinge erwiesen, „Kämpfer gegen den Zarismus“ wünschten sich den Zaren zurück, der die „Ordnung“ hätte wiederherstellen können. „Verleumder, Kostgänger des bürgerlichen Packs“ (III, S. 291) gaben sich „enttäuscht“ vom derben Zupacken des Volkes in der geschichtlichen Bewegung, und die Konterrevolution formierte sich, für Block hörbar, gerade in diesen bürgerlich-intellektuellen Kreisen.
Aufgabe der Revolution sei es doch aber gerade, die unterirdisch sich vollziehenden Prozesse zu artikulieren. Vor allem die Kunst und im besonderen die Musik werde in ihren besten Äußerungen als Stimme der Geschichte zu begreifen sein. Die von Block im Verlauf von zehn Jahren immer wieder und immer deutlicher formulierten Sätze über die Rolle der Musik sind ganz buchstäblich zu verstehen und durchaus nicht als Metapher: die Klänge der großen Sinfonien und Opern des neunzehnten Jahrhunderts (Richard Wagner wird hervorgehoben) seien Stimmen der erst viel später auch theoretisch zu definierenden geschichtlichen Bewegung. Wie nebenbei gelingt es Block auch noch, vom historischen Standort des Jahres 1918 aus die große Umwertung der literarischen Leistungen des vergangenen Jahrhunderts zu beginnen: Puschkin und Gogol, Tjutschew und Dostojewski, Ibsen und Strindberg werden daran gemessen, ob und in welchem Grade sie sich zu Organen der unterirdisch und dumpf ertönenden Klänge auszubilden in der Lage waren. Die für die adligen Opernbesucher charakteristische „kulinarische“ Auffassung von Musik wird abgelehnt. Und die schöpferische Intelligenz der revolutionären Gegenwart wird beschworen, ihrer historischen Rolle gerecht zu werden: hört die Revolution!
Noch weiter spannt Block den historischen Bogen in dem Vortrag Der Zusammenbruch des Humanismus: die gesamte bürgerliche Entwicklung wird überschaut. Die Verbindung Humanismus – Mensch – Individualismus, die der Autor an den Anfang setzt, gibt ihm die Möglichkeit in die Hand, Größe und Grenzen des Zeitalters zwischen Renaissance und Oktoberrevolution abzustecken. Die großen Leistungen der Humanisten (ihre Namensliste wird bis Kant, Goethe und Schiller geführt) bestehen vor allem darin, daß diese Männer Träger der Kultur und ihre Verkünder sein konnten, sie konnten tiefe Blicke in die Zukunft tun. Danach wurden jedoch Motive des Verfalls beobachtet: Disharmonie und Zersplitterung durch die Arbeitsteilung unter der Intelligenz, Stückwerk und Fehlen des musikalischen Talents, – der Humanismus wird seinem Namen nicht mehr gerecht. Mittlerweile hat sich aber eine Massenbewegung formiert, mit völlig anderen Merkmalen, eine neue Kulturkraft, so wie seinerzeit im verfallenden Rom das Urchristentum. Diese Massen werden immer mehr zu unbewußten Hütern der Kultur, die nicht die einfache Fortsetzung der individualistisch-humanistischen Kultur sein wird. Die Massen, von der Bewegung des Humanismus nie sehr stark berührt, sind „von jener Musik durchdrungen, die aus dem nebligen Abgrund der Zukunft aufsteigt“, wie sie – so noch immer Block – Goethe im zweiten Teil des Faust angedeutet habe, der Kampf zwischen den Kulturströmen ist bereits entschieden.
Das waren mutige Worte, vor einem meist bürgerlich-intellektuellen Publikum gesprochen, das davor erschrak. Es war aber von Block im Verlaufe seines ganzen Schaffensweges durchdacht. Schon im Poem Возмездие hatte er eine Formulierung gefunden, hinter der sehr viel steht:

Humanität – ein Nebel.

Ähnliches findet sich in Dostojewskis Werken: die Generäle in der Erzählung Eine dumme Geschichte und im Roman Der Idiot bekommen den Schluckauf, wenn sie ihr Lieblingswort „Humanität“ sprechen. Und wie bei Block, kann auch bei Dostojewski das Wort „Humanismus“ nicht verbessert und verfeinert werden, denn an dem System, das es hervorbrachte, gibt es nichts zu reparieren.
Es werde, prophezeit Block am Schluß seiner Rede wie auch in einigen anderen Arbeiten jener Jahre, „eine neue Rolle der Persönlichkeit, eine neue Menschenart“ (II, S. 316) sich abzeichnen, die aus der „Musik der Massen“ hervorgehe. Die Aufgabe, neuartige Persönlichkeiten in der Masse selbst zu erziehen, nicht an die Stelle der Individualisten des Humanismus irgendwie verbesserte Individualisten zu setzen, ist damit gegeben, eine Aufgabe, die weit in die Zukunft hineinreicht.
Weittragende Gedanken – doch wie waren die zu verwirklichen? Block konnte es nicht wissen, die Konsequenz seiner Thesen ist Leistung genug. Doch wurde das Nichtwissen zur Tragödie: da war keine Möglichkeit, sich als so gearteter Dichter im Chaos der schwierigsten Jahre zurechtzufinden, im dröhnenden Zusammenbruch des Alten und in der Verwandlung des revolutionären Elans ins Rechnerische der Planerfüllung noch immer die „Musik“ der Geschichte zu hören. Depressionen, nervöse Herzanfälle führten zu gesundheitlichen Krisen, die unter den Hungerbedingungen jener Zeit tödlich waren.
Alexander Block war auf beispielhafte Weise konsequent gewesen. Er hatte sich leiten lassen vom „gierigen Streben, ein verzehnfachtes Leben zu leben, vom Streben, ein solches Leben zu schaffen.“ (Sobr. 6, S. 367) Und er konnte rückschauend die Stationen seines Lebens eng mit der Geschichte verknüpfen. Das eine hätte besser, anderes schlechter sein können.

Doch welche Befreiung und welche Lebensfülle (soweit sie mir zugänglich war): ich, vor 1917, der Weg inmitten der Revolutionen, der richtige Weg. (Sobr. 7, S. 355)

Spätere Entwicklungen konnte Block nicht mehr voraussehen.

Roland Opitz, zuerst erschienen in Geschichte der russischen Literatur von den Anfängen bis 1917, herausgeben von Wolf Düwel und Helmut Grasshoff, Bd. II, Berlin 1986; überarbeitet in Roland Opitz: Russische Dichter. Puschkin – Lermontow – Tjutschew – Block – Achmatowa – Pasternak, Leipziger Universitätsverlag, 2009

5

Das Jahr 1905

Moskau

Jetzt werde ich zu beschreiben versuchen, wie meine Beziehung zu Blok zerbrach; unsere Begegnung wurde Jahre hindurch vorbereitet, und auch die Trennung brauchte Monate. Aber zuerst stand mir ein unangenehmer Zwischenfall in Moskau bevor. Er spielte sich folgendermaßen ab: Eines Tages erschien bei mir Brjusov; der Vorwand – eine rein geschäftliche Angelegenheit; aber ich fühlte: Brjusov verheimlichte mir etwas; er gab sich trocken und äußerst unangenehm im Gespräch; nach Beendigung der geschäftlichen Angelegenheit kam er unvermittelt auf Mereshkovskij zu sprechen, auf den er zu schimpfen begann; der Angriff kam so unerwartet, daß ich nicht imstande war, ihn mit der nötigen Entschiedenheit zu parieren; ich war einfach nicht geistesgegenwärtig; nachdem er eine Weile über Mereshkovskij geschimpft hatte, verabschiedete er sich unvermittelt und sehr reserviert; sobald ich allein und zur Besinnung gekommen war, geriet ich außer mir vor Zorn und schrieb dem Beleidiger einen sehr entschiedenen Brief; ich ließ Brjusov wissen, daß ich seinen Worten über Mereshkovskij keinerlei Bedeutung zugestehen könne, da er, Brjusov, hinreichend als Schwätzer bekannt sei.
Am nächsten Tag bekomme ich seine Antwort mit der Anrede „Werter Herr“; der „werte Herr“ wurde unterrichtet: nach seinen öffentlichen Unterstellungen sei Brjusov nicht länger willens, diese Schmähungen ungerächt zu lassen; der Brief schloß mit einer offiziellen Forderung mit dem Hinweis auf Ort, Zeit und die Sekundanten.
Damals nahm ich das Duell ernst; ich glaubte, daß, solange man eine Beleidigung nicht mit wirklicher christlicher Demut ertragen könne, jeder Hinweis auf das Christentum eine Verlogenheit bedeute, und daß ein Duell (das ich in der Tiefe meiner Seele verabscheute) eine bedauerliche, aber legitime Möglichkeit biete, einen Konflikt aus der Welt zu schaffen. Aber ich ließ das Duell nur dann gelten, wenn es keine andere Möglichkeit gab, den Knoten zwischen Menschen, die sich im Weg stehen, zu lösen. Indessen war es eindeutig klar, daß Brjusov das Duell provoziert hatte, daß es einen echten Grund für ein Duell zwischen uns nicht gab; Mereshkovskij war nur ein Vorwand, der mich reizen und zur Explosion bringen sollte; das Duell war eine Provokation Brjusovs; für diese Provokation hatte er seine Gründe; ich möchte sie nicht nennen; ich hatte keinen triftigen Grund, seine Forderung anzunehmen. Das alles legte ich in meinem Brief dar; ich bat Brjusov, die Fakten gut abzuwägen; sollte er auf dem Duell bestehen, so wäre ich gezwungen, buchstäblich gezwungen, seine Forderung anzunehmen.
Dann wandte ich mich an meine Freunde L. Kobylinskij und S.M. Solovjov und bat sie, falls es darauf ankäme, mir zu sekundieren; die Freunde vermittelten – das Duell fand nicht statt.
Damals befand sich Brjusov in einem überreizten „hysterischen“ Zustand; und vom Duell wandte er sich sofort zu den ihn umringenden Bildern von Tod und Selbstmord; in den Gedichten des Zyklus „Der Kranz“ spiegelt sich seine Verfassung, zum Beispiel im „Achilles am Altar“; ihn bedrängte der Wunsch nach einem verklärten Tod; er fiel aus einem Extrem ins andere, auch in seinem Verhältnis zu mir; etwa zwei oder drei Wochen nach seiner Forderung begegneten wir uns in der Druckerei Voronov; unter seinem Mantel trug er ein dickes Paket frischer Korrekturfahnen; er neigte den Kopf zur Seite und gurrte mir etwas entgegen, sogar mit einer gewissen Liebenswürdigkeit; wir kamen auf eines der neuesten Todesgedichte zu sprechen, und plötzlich rief Brjusov aus: 

Ja, ja, es ist gut, jung zu sterben, Boris Nikolajevitsch. Habe ich nicht recht? Sie sollten jetzt sterben, solange Sie jung sind, sonst werden Sie eine Menge Bücher schreiben und im Alter bankrott sein. Warum wollen Sie nicht jetzt sterben?

Ich weiß noch, wie ich darauf geantwortet habe:

Aber ich möchte nicht sterben; vielleicht in zwei Jahren, wenn ich sechsundzwanzig werde – dann wollen wir es uns nochmal überlegen.

Brjusov antwortete darauf lächelnd:

Nun, also, dann leben Sie noch zwei Jährchen. Bis sechsundzwanzig. So ist es doch recht, nicht wahr?

Es ist bemerkenswert, daß ich im Alter von sechsundzwanzig Jahren wirklich um ein Haar das Zeitliche gesegnet hätte; als hätte Brjusov, indem er mir zwei Jahre schenkte, alles Weitere in Frage gestellt.
Damals brodelte es in Moskau; überall fanden Meetings statt, am häufigsten in den wohlhabenden Häusern: das ganze Bürgertum war revolutionär gestimmt; oft versammelte man sich in einem Herrenhaus am Smolenskij Boulevard, bei M.K. Morozova; ich habe sie bei einem solchen Meeting kennengelernt; Morozova war eine bedeutende Frau; sie übte einen starken Einfluß auf viele ihrer Zeitgenossen aus: auf A.N. Skrjabin, E.K. Medtner, G.A. Ratschinskij, auf den Fürsten Trubeckoj und auf jene Gruppe, die sich später um den Verlag Putj geschart hat. Sie verkörperte die seltene Mischung von Naivität und außergewöhnlich feinsinnigem Verständnis für Nietzsche und für die Musik; es war ihr gelungen, Musiker, Philosophen, Symbolisten, Professoren, Soziologen, Religionsphilosophen in einem Kreis zu vereinen; wir, die Symbolisten, fühlten uns von ihr angezogen durch ihr Verständnis für die „Morgenröten“ von 1901 und 1902; sie hatte die „Morgenröte“ gesehen: Morozova hatte sie konkret erlebt. Professoren, Musiker, Männer des öffentlichen Lebens – jeder sah in ihr etwas Verwandtes; wir, die Moskauer Symbolisten (später der Kreis um „Musaget“), sahen in ihr eine Verbündete; sie trug ein tiefes Verständnis für die Poesie von Vladimir Solovjov und Aleksandr Blok in ihrer großen Seele; der Frühling jenes Jahres ist für mich bestimmt durch die wachsende Freundschaft mit Morozova, die ich häufig aufsuchte und mit der ich mich stundenlang unterhielt; ja, sie verfügte über eine elementare Empfindung für die feinsten Rhythmen intimer menschlicher Beziehungen; aber als Dame von Welt – im Grunde ihrer Seele war sie sehr scheu – wirkte sie manchmal sehr verschlossen; viele Menschen nahmen sie nicht ernst; man betrachtete sie als eine „Mäzenin“ – und übersah dabei einen wunderbaren Menschen.
Ich verdanke ihr in meinem Leben unendlich vieles. Im Mai kamen beide Mereshkovskijs; Balmont und ich arrangierten bei M.K. Morozova einen Vortrag zugunsten irgendwelcher Organisationen (ein Teil der erzielten Einnahmen kam dem „Christlichen Kampfbund“ zugute); als Redner fungierten Sventickij, Ratschinskij, S.A. Sokolov, noch irgend ein anderer und ich; Mereshkovskij antwortete auf unsere Fragen. Als Ratschinskij die Sitzung für geschlossen erklärte, rief er feierlich aus:

Heil dir, heil dir, Jerusalem!

Morozova schüttelte sich vor Lachen. 

Ich hatte gerade den Artikel „Die Apokalypse der russischen Poesie“, der durch den Umgang mit Blok und Solovjov angeregt war, abgeschlossen und brachte während der Veranstaltung bei Morozova etwas hochtrabend Mystisches; das ging dem Fürsten Trubeckoj gegen den Strich, und er machte die Bemerkung:

Nicht ein einziges Wort habe ich von dem Geheul Bugajevs verstanden.

Erfüllt von den Ideen des Symbolismus, stand ich in der Nachfolge Solovjovs links; meine Haltung wurde von den Würdenträgern der Moskauer Ideologie als ein „Geheul“ aufgefaßt; doch der „Heulende“ fand Freunde (Medtner, Ratschinskij, die Dame des Hauses), die für Blok und Belyj gegen Lopatin, Professor Chvostov und Professor Trubeckoj eintraten. Der selige S.N. Trubeckoj blieb bis zu seinem Tode unversöhnlich, während wir uns mit den anderen (Lopatin und Chvostov) gut verstanden; Fürst E.N. Trubeckoj gestand mir später, daß er mich als Dichter lange nicht verstanden habe; endlich wisse er, worum es mir gehe.
Jeden Mittwoch trafen wir uns bei Astrov; immer mehr und immer mehr Menschen kamen zu unseren Zusammenkünften; in jenen Tagen konstituierte sich der Christliche Kampfbund unter dem Vorsitz von Sventickij; A.S. Volshskij und Bulgakov, die damals in Moskau waren, gerieten völlig in den Bann von Sventickij; ich erinnere mich, wie Volshskij einmal, während er zerstreut und mit eingezogenem Kopf in meinem Zimmer auf und ab ging, seine prächtige Mähne schüttelte und mich mit seinen kindlich-gutmütigen blauen Augen fragend ansah:

Warum auch nicht, vielleicht werden auch die das Feuer vom Himmel herunterholen?

„Die“ – W.F. Ern und Sventickij. Es wurde auch die Moskauer Religionsphilosophische Gesellschaft gegründet; die Statuten waren noch nicht geschrieben; aber in der Zatschatjevskaja-Gasse fanden bereits die ersten Versammlungen statt; dabei trafen sich bis zu zweihundert Menschen: Geistliche, Sozialrevolutionäre, Sektierer, Ästheten, Marxisten, Studenten, Dozenten und Nietzscheaner; ich erinnere mich, wie ich an einem heißen Tag, als in allen Gärten die Wedel des weißen Flieders sich entfalteten, in die Zatschatjevskaja-Gasse fuhr; und ich dachte: erst vor vier Jahren, genau um diese Zeit, schrieb ich über die Zusammenkünfte der „Mystiker“ in meiner ersten, der „Moskauer Symphonie“; dort wird beschrieben, wie ein Netz mystischer Vereinigungen ganz Moskau überzog, und wie die Mystiker sich in der Zatschatjevskaja-Gasse versammelten; damals hatte es das „Netz“ nicht gegeben; und jetzt war dieses „Netz“ da; „man versammelte sich“ tatsächlich in der Zatschatjevskaja-Gasse; und ich weiß noch, ich war bestürzt über die „Symphonie“: es war so, als würde ich auf dem Weg in die Zatschatjevskaja-Gasse die eigenen Zeilen entlangfahren, die meinem unklaren Streben die Richtung gegeben hatten.
Die Netze der Mystiker überzogen Moskau; an den Straßenecken erschienen Anschläge, die ein schwarzes Kreuz trugen: Studenten, Mitglieder des „Christlichen Kampfhundes“, zogen nachts durch die Straßen und klebten sie an die Mauern; Sventickij hielt sich zu dieser Zeit für einen Spezialisten ganz besonderer Art: Er spezialisierte sich auf Fragen an Geistliche, die seine Versammlung besuchten; der arme Pope, ohne die Falle zu ahnen, wollte in seinen Antworten möglichst radikal wirken; Sventickij aber verdrehte jede seiner Äußerungen zu einer neuen Frage, die der Ärmste immer schwerer beantworten konnte; bei der dritten, spätestens vierten Frage versagte der Geistliche; Sventickij aber rief pathetisch aus:

Sie sehen, Vater… (er nannte den Namen) verrät Jesus Christus!

Die doppelsinnige Frage, die dem Geistlichen zum Verhängnis wurde, bezog sich immer auf das Verhältnis des russischen Absolutismus zur Orthodoxie; Sventickij verfügte über die Fertigkeit, einfältige Popen an die Wand zu drücken und dann vorwurfsvoll zu verkünden:

Sie verraten Jesus Christus!

Ich erinnere mich: das gleiche Verfahren wendete er auch bei Vostokov an; diese Gepflogenheiten stießen mich ab; in mir verstärkte sich der Eindruck, daß der Kampfbund ein Instrument der geistigen Tyrannei Sventickijs sei; empört durch dieses Verhalten (Sventickij betrachtete sich als einen „Märtyrer“) stellte ich ihn und W.F. Ern einmal zur Rede:

Sie sind ein Simon Magus!

Als Antwort brach Sventickij in Tränen aus; und wieder entwaffnete er mich; ich habe ihn häufig beobachtet: er übte eine starke Wirkung auf die Seelen aus, aber nur durch „Überrumpelung“: entweder lockte er einen in die Falle – oder er schluchzte; er litt an akuter Hysterie; ich habe das gesehen, und Blok hat das ebenfalls gesehen; von Ern, Scherr, Bulgakov, Ratschinskij und von vielen seiner gläubigen Anbeterinnen wurde es übersehen.
Ich und S.M. Solovjov distanzierten uns von dem Kampfbund; Solovjov nahm mich im Mai nach Djedovo mit; wir wohnten in dem kleinen Haus der Eltern Solovjovs und aßen bei seiner Großmutter, A.G. Kovalenskaja; die Abende verbrachten wir im Dorf Nadovrashino bei den Schwestern Ljubimov; dort kreisten die Gespräche um Brjusov und um die beiden Bloks; Solovjov erging sich in humorvollen Schilderungen unserer „Sekte“; die beiden Schwestern drohten:
„Wartet nur, wartet…“
„Die Teufel werden es Ihnen schon heimzahlen…“
Die Tage waren still, nebelig; es nieselte; Djedovo umwölkte uns mit seiner romantischen Atmosphäre; die weißen Glockenblumen Vladimir Solovjovs trugen dicke Knospen; Sergej Solovjov sagte zu mir:

Achte darauf: die Stimmung in diesem Sommer ist wie bei Ossian…

Wir unterhielten uns über Fingal, lasen Shukovskij; ich erzählte von meiner Petersburger Zeit bei Blok; wir planten eine Reise nach Schachmatovo; damals erwachte in Solovjov das Interesse für Philologie; tagelang saß er über Konjekturen; und ich schrieb „Das Kind der Sonne“, ein Poem, dessen Manuskript später verlorenging. In Djedovo schrieb ich auch die „Chimären“ für die Zeitschrift Vesy.
Eine große Rolle spielte damals eine überdimensionale Pelerine, die dem verstorbenen Vladimir Solovjov gehört hatte, und die nun an seinen Erben, Sergej Solovjov, übergegangen war; abends zogen wir sie an (einmal ich, einmal S. Solovjov – wir ertranken darin), um im Regen über die nassen Wiesen zu wandeln und Ossian und Shukovskij zu rezitieren.
Dieses Herumwandeln in der Pelerine Solovjovs schien uns ein Wandeln in den Spuren seines Geistes zu sein; die Pelerine war später verschwunden; vielleicht ist sie in den Flammen aufgegangen, als das Häuschen, in dem wir wohnten, niederbrannte.
Und seitdem blühten in Djedovo keine weißen Glockenblumen mehr.

 

Erntezeit

Der Juli drohte uns zu ersticken; an einem bewölkten gewittrigen Tag machten wir uns auf den Weg nach Schachmatovo; eine schwere Wolke folgte uns, sie trieb uns mit rollendem Donner voran; zwischen Krjukovo und Podsolnjetschnaja entlud sich das Gewitter; ein Wolkenbruch prasselte nieder: S.M. Solovjov lachte aufgeregt: 

Ja – da – ja: der alte Gott grollt auf dem Berge Sinai!

Wir kamen bei Blok an, von Kopf bis Fuß mit Schmutz bedeckt (die Straßen waren vollkommen aufgeweicht); aber der Himmel klärte sich auf.
Mein Gedächtnis bewahrt mir viele Details aus der Zeit meines ersten Aufenthaltes in Schachmatovo; aber das zweite Zusammensein zu dritt hinterließ sehr wenige konkrete Erinnerungen; das wortlose Drama steht vor allen Einzelheiten der schweren Woche.
Ich weiß nicht, woran es lag: gleich bei der Ankunft haben wir gemerkt, daß etwas geschehen war; wir wurden mit Erstaunen empfangen; etwas Unausgesprochenes lag in der Luft; wir fühlten eine merkwürdige Befangenheit voreinander; Blok war ein anderer geworden; und auch Ljubov Dmitrijevna war verändert. Ich hatte den Eindruck: Blok und Ljubov Dmitrijevna kamen uns nicht mit der gewohnten Freundlichkeit entgegen; war das nur die Wirkung des schwülen, vor Feuchtigkeit dampfenden Wetters? Wir alle glaubten unter den lastenden Gewittern zu ersticken; es donnerte täglich; Wolken zogen über den Himmel; aber insgeheim wußten wir: der atmosphärische Druck ist nur ein Abbild des anderen, seelischen; alle waren wir bedrückt: wir waren bedrückt durch das Zusammensein.
Ich werde mir Mühe geben, so schwer es mir auch wird, die Stimmung jedes einzelnen von uns zu charakterisieren: diese Charakteristik fällt selbstverständlich subjektiv aus.
Ich beginne mit mir selbst: gleich nach unserer Ankunft bei Blok bemerkte ich etwas, das mich betrübte, und zwar: ich nahm mit Erstaunen wahr, daß es mir sehr schwer fiel, „zu dritt“, „zu viert“ zu sein; früher gab es diese Schwierigkeiten nicht; früher war S.M. Solovjov der Zement zwischen Blok und mir; so war es in Moskau; und so war es auch in Schachmatovo; jetzt hatte sich das alles verändert; ich merkte: die „Dreiheit“, die so organisch entstanden war, gab es nicht mehr: Entweder mit Blok – oder unter vier Augen mit Solovjov; waren wir zusammen, so fühlten wir uns unbehaglich, gezwungen, und das Zusammensein mißlang; der ganze Stil meiner Beziehungen zu Bloks (zu ihm, Ljubov Dmitrijevna, Aleksandra Andrejevna) änderte sich von Grund auf; früher war ich als Mitglied in die Familie aufgenommen (als jüngster Bruder), und ich erholte mich von Problemen aller Art, wenn ich in die Kaserne kam; theologische Fragen wurden zwischen uns – im stillschweigenden Einvernehmen – überhaupt nicht mehr berührt; das hatte seinen Grund in dem Umstand, daß Blok ebenso wie ich von der augenblicklichen Verwirklichung der Thesen Vladimir Solovjovs Abstand genommen hatten; Probleme der Theokratie wurden zwischen uns nicht erörtert: wir ließen zwischen uns die Herzlichkeit ohne „geistige Aspirationen“ walten; nun stand ich mit beiden Füßen auf der Erde, nicht mehr wie früher, als Blok bekümmert fragte:

Wer ist er? Er ißt nicht, er trinkt nicht.

Ich begann zu „essen“ und zu „trinken“: wurde ganz Mensch – und nicht mehr der Mensch in der Theokratie, Inhaber eines „Ranges“ in der von uns dargestellten „Ökumene“; in Petersburg gab es für mich überhaupt keine „Ökumene“ mehr; sondern es gab nur das Schlichte und Lebensnähe; und meine Gedichte jener Zeit tragen den Titel – „Asche“; den Vagabunden in mir liebte Blok; und im Alltag liebte er den „Borja“; ich glaube, Aleksandra Andrejevna hatte recht, als sie mir damals in Petersburg sagte:

Wie wollen Sie ohne uns auskommen?

Wahrscheinlich wollte sie damit sagen, daß ich in ihrer Familie Wurzel gefaßt hatte; über S.M. Solovjov hätte sie das gleiche nicht sagen können; er hatte in dieser Familie keine Wurzeln gefaßt; und ihm kam es auch gar nicht darauf an; er sah in den Bloks Personen einer von ihm geschaffenen Legende und stülpte ihnen seine abstrakten Vorstellungen über den Kopf; das alles aber belastete Blok, der bereits weit von den Thesen „Lapans“ sich entfernt hatte (der Gedichtzyklus „Unverhoffte Freude“ war bereits geschrieben); ich stand ihm näher: die Mischung von persönlichem, religiösem und sozialem Pathos lag mir fern; S.M. Solovjov dagegen brachte ständig „uns“ und die „sternenweiten Ziele“ durcheinander, weil er nicht in der Lage war, die Verse Bloks zu verstehen:

Du bist in die Felder entschwunden…

Blok stand bereits in der Unwiederbringlichkeit; S.M. Solovjov hingegen hatte alles darauf angelegt, mit jeder Geste das Vergangene aufzuhalten, wiederherzustellen, ohne zu sehen, daß alles sich gewandelt hatte. Blok wandte sich mit Ungeduld (ich war geduldig) von der „Theokratie“ ab, die Solovjov ihm aufdrängte; ich sah, wie Blok sich gegen die Gesprächsthemen Solovjovs wehrte; und ich sah, wie Solovjov sich sperrte, die Geste Bloks zu verstehen.
Und dennoch: meine Bindung an Solovjov wurde immer fester (auf der Ebene des Lebens); wir wuchsen immer enger zusammen; es hatte seinen Grund, weshalb ich diesen Sommer mit Solovjov verbrachte und mit ihm in das gastfreundliche Dedovo fuhr, statt auf das eigene Gut zu fahren; ich fühlte mich schuldig vor ihm; ich hatte versäumt, ihn in die Art meiner Beziehungen zu Blok während meiner Petersburger Zeit einzuweihen; als ich den Protest Bloks gegenüber Solovjov bemerkte, nahm ich Solovjov sofort in Schutz… Unser Jargon (Blok-Belyj-Solovjov) starb von Tag zu Tag ab; zwei neue bildeten sich statt dessen aus: einmal Belyj-Solovjov, einmal Blok-Belyj; das war quälend, unaufrichtig, ein Sitzen zwischen zwei Stühlen; die Verständigung im „Wichtigsten“ war blockiert, das Dreieck zerfiel; zwei „Paare“ fielen heraus. Blok nahm mich zur Seite, und wir führten ein Gespräch zu zweit; Solovjov nahm mich zur Seite: wir führten ein Gespräch zu zweit.
So empfand ich diese Begegnung.
S.M. Solovjov erlebte diese Begegnung wahrscheinlich anders; auch er hatte sich in diesem Jahr verändert; der Philologe in ihm war erwacht; er wurde sich der Bedeutung der Poesie Brjusovs immer bewußter, und in ihm wuchs die Neigung zur Prägung des Erlebten; die Dichtung Bloks schien ihm „romantisches Gestammel“ zu sein; er schätzte Blok weniger als Brjusov; er erlebte den Dichter in sich selbst; Blok aber ließ ihn als Dichter nicht gelten: 

Dichten ist nichts für Serjosha…

Aleksandra Andrejevna wiederholte dasselbe.
Statt der früheren intimen Gespräche fanden jetzt literarische Erörterungen statt; Blok las uns den Zyklus „Unverhoffte Freude“; und Solovjov ging in Opposition; Blok und besonders Aleksandra Andrejevna fühlten sich durch die Opposition gekränkt; seine unverblümte Ablehnung des „Gestammels“ beleidigte sie; Solovjov hielt ihnen die geprägten Bilder Brjusovs entgegen; er beklagte sich bei mir über den Ton des Auguren, den Blok sich ihm gegenüber angewöhnt habe und protestierte gegen den dunklen Sinn seiner Sätze:

Bauchrednerei, Gestammel.

Und Solovjov strich mit Nachdruck die Vorzüge Brjusovs heraus, der in diesem Hause nicht als Meister galt; er fühlte sich ebenfalls gekränkt, weil die von ihm verfaßten Verse von den „Bloks“ für Philologie und „Gelehrsamkeit“ erklärt wurden.
S.M. Solovjov stand damals an einer Wende: Die philologischen Studien führten ihn von dem Thema Vladimir Solovjovs fort; jetzt engagierte er sich für die Geschichte der „Theokratie“ und forderte von Blok unverbrüchliche Treue der „religiösen Offenbarung“ gegenüber; sobald die schöpferischen religiösen Impulse versiegen, fällt die Betonung auf die „Pflicht“; so war es auch jetzt: während Solovjov an „Pflicht“ und „Verpflichtung“ gegenüber der „Nachfolge Solovjovs“ appellierte, erlebte er selbst das Versiegen der Solovjovschen Impulse; Aleksandra Andrejevna registrierte das Versiegen der Idee Vladimir Solovjovs in S.M. Solovjov und legte damit den Finger auf die brennende Wunde, die der angehende Philologe sich selbst noch nicht bewußt gemacht hatte; er reagierte sehr ungeduldig und sogar zornig auf das „Schnüffeln“ – um so mehr, als Aleksandra Andrejevna einen falschen Schluß gezogen hatte: den Widerspruch zwischen dem Philologen und dem Prediger in Solovjov erklärte sie durch den Sieg „Destojevskijs“ in Solovjov (was nicht zutraf); die Forderungen, die von ihm an Blok gestellt wurden – der fortwährende Kultus der Morgenröten – legte sie aus (es war für sie charakteristisch, in einem zuweilen unverzeihlichen Maße Gespenster zu sehen) als trockene Karamazovsche Spekulationen über ein Thema von Solovjov; sie sah Chimären in S.M. Solovjov, sie glaubte Ivan Karamazov in ihm zu sehen. Sie glaubte ebenfalls zu sehen, daß in S.M. Solovjov durch das Blut seiner Mutter das Blut der Kovalenskijs sprach; und zwischen jenen und dem Geschlecht der Beketov bestand verborgene Rivalität; aus demselben Grunde lehnte A.G. Kovalenskaja die Gedichte Bloks ab; und so sah Aleksandra Andrejevna in S.M. Solovjov einen Kovalenskij. Das redete sie auch Blok ein, und Blok sagte:

Nein, Serjosha ist kein Solovjov… er ist eher ein Kovalenskij…

In der Terminologie der Familie Blok bedeutete „kein Solovjov – ein Kovalenskij“ einen massiven Vorwurf. Ich kämpfte gegen solche Ungerechtigkeit; meine Proteste arteten in einen Angriff auf Aleksandra Andrejevna aus, der zuweilen sogar sehr scharf war, aber sie verzieh mir; und dennoch fühlte ich, daß unser drei Jahre alter Bund in allen Nähten krachte.
Auch Solovjov fühlte das. Er fühlte, daß seine Vorsätze, in Blok das Gefühl der Pflicht und der Verantwortlichkeit zu wecken, als eine „Chimäre“ aufgefaßt wurden; das quälte ihn; ich erinnere mich: tagelang blieb er in seinem Zimmer über einen griechischen Text gebeugt; durch hartnäckige wissenschaftliche Arbeit versuchte er den Schmerz zu betäuben; aber diese Zurückgezogenheit führte zu weiterem „Nachspionieren“ seitens Aleksandra Andrejevna; die „Wissenschaftlichkeit“ wurde ihm zum Vorwurf gemacht:

Das alles ist Ausdruck von Kargheit und Abstraktheit: alles – Kovalenskij.

S. M. Solovjov sagte seinerseits:

„Sieh dir das nur an – Sascha ist einfach ein Faulpelz.
„Er tut überhaupt nichts…“
„Ich bin wirklich nicht mehr in der Lage, in dieser Atmosphäre von Gestammel und Bauchrednerei zu existieren…“
„Bei Bloks ist nichts los als Müßiggang…“
Ich habe gesehen: er hatte recht und unrecht zugleich; und ebenso habe ich gesehen, daß auch Blok recht und unrecht hatte. Ich habe es gesehen – und war nicht imstande, meine Gedanken ihnen deutlich zu machen.
Ljubov Dmitrijevna, unsere „gestrenge Schwester“, das „Auge“ über uns, ging irgendeiner Idee nach; damals fiel mir ihre starke psychologische Neugierde auf. Wißbegier schien in ihr sich zu regen; sie studierte uns alle: in unseren Gemeinsamkeiten und in den Unterschieden, die sich zwischen uns zeigten; noch mehr: sie provozierte uns dazu, Trennendes auszuleben.
Blok trat in die Sphäre der Finsternis; eine geheime Spannung zwischen ihm und Ljubov Dmitrijevna machte sich bemerkbar. Das junge Paar von früher war nicht mehr; Familienprobleme kamen hinzu; die Entfremdung zwischen Ljubov Dmitrijevna und Aleksandra Andrejevna wurde immer deutlicher; die Reibereien in der Familie zehrten an Bloks Selbstvertrauen. Damals konnte er nicht schreiben; einmal sagte mir Aleksandra Andrejevna während eines Spaziergangs:

Und wissen Sie, warum Sascha so finster ist? Allein durch die Wälder streift und dort stundenlang auf einem Stumpf sitzen bleibt? Er glaubt manchmal, daß er keine Gedichte mehr schreiben könne, und das quält ihn.

Ich erinnere mich: Einmal las er uns eine Serie seiner neuen Gedichte vor, die kurz zuvor geschrieben oder ausgearbeitet waren: „Wie das alte Weiblein die Dreifaltigkeit besuchte“, „Wie der Zauberer den Frühling in den Schlaf wiegte“, und er las uns von dem „Froschbeinchen“.
Ich war bestürzt von der sumpfigen herbstlichen Landschaft dieser Gedichte; ich war bestürzt von den vier Zeilen:

Und so hocken wir, ein Narrenvölkchen,
Wasserschaum und Wasserspuk,
Unsere grünen Narrenkappen
Verkehrt aufgesetzt…

Und ich dachte im stillen: Diese vier Zeilen entsprechen dem Gedicht „Die Argonauten“; auch dort war von „uns“ die Rede; 1903 spricht er „uns“ mit den Worten der Hoffnung an:

Schweigend werden wir die Hände zusammenflechten
Und in den Azur entschweben.

Im Jahre 1905 konstatierte er: wir haben die Hände nicht zusammengeflochten; wir sind nicht in den Azur entschwebt; die Schiffe sind nicht gekommen; man ließ uns zurück; man hat uns für Narren gehalten; wir sind an dem feuchten sumpfigen Ufer sitzengeblieben; wir sind wesenloser Schaum, „nemotschj“, ein Spielball der Elemente. Wahrscheinlich haben unsere Teestunden Blok oft an das fruchtlose Hocken der zum Narren gehaltenen „Mystiker“ erinnert. Ich verdächtigte Blok in solchen Gedanken, und ich zürnte; seine Gedichte fand ich empörend. Aber ich behielt meine Empörung für mich.
Das, was Blok seit langem in sich getragen, was er einmal auf der Wiese mir gegenüber ausgesprochen hat, was für mich hinter dem Himmelsblau das Schwarz hervortreten ließ – das alles war nun Wirklichkeit. In diesem Sommer fanden unsere Teestunden unter dem schwarzen Abgrund des Himmels statt; die Farbe der Seelen wurde schwarz; Blok unternahm keinen Versuch, über das Geschehene hinwegzutäuschen. S.M. Solovjov sah das Schwarz in der seelischen Atmosphäre als ein Versagen Bloks – und ich – ich fühlte mich gespalten.
Ja, das Thema „Lapan“ klang für Blok nun wie Ironie; zwei- oder dreimal schnitt S. M. Solovjov dieses Thema an; darauf ereignete sich etwas Seltsames: Ljubov Dmitrijevna fuhr zusammen, erblaßte, ging fort. So sehr fühlte sie sich gekränkt von dem Ton, der wie purer Hohn klang; Solovjov wurde gebeten, „Lapan“ aus dem Spiel zu lassen; „Lapan“ wurde verbannt; für Solovjov aber bedeutete das: Ächtung aller Themen, die wir noch gemeinsam hatten; und Solovjov fühlte sich gekränkt; seit jenen Tagen herrschte anstelle freundschaftlicher wortloser Verständigung eine stumme und verbissene Kampfstimmung; schweigend führten wir einen komplizierten Dialog, den ich ungefähr in folgenden Worten wiedergeben könnte:
S.: „Du bist von dem hohen Berg der Erleuchtung geflohen: und du hast ,Dich ins Dickicht geschlagen‘…“
B.: „Aber ,Sie ist unwiederbringlich entschwunden‘.“
S.: „Sie ist mit uns…“
B.: „Aber die Schöne Dame reist nicht auf einem Schiff.“
Ich: „Ach, keiner von uns hätte daran gedacht; aber hast du nicht selbst früher Grotesken dieser Art provoziert, als du behauptetest, ,Sie‘ würde sich individuell offenbaren in allem, was ist; ,Lapan‘ ist letzten Endes der Mythos des konkreten Idealismus, dessen philosophischen Grund du nicht richtig verstanden hast.“
B.: „Eine Verwirklichung blieb versagt: Persönliches, allzu Persönliches habt ihr in unsere Morgenröten hineinprojiziert; du bist dir dessen bewußt geworden; Serjosha aber – überhaupt nicht; durch seine Hartnäckigkeit, durch seinen Fanatismus sind alle Ideen von Ihr erstarrt.“
Ich: „Dann laß uns unsere Fehler rückgängig machen.“
B.: „Ach, das ist leicht gesagt: Unwiederbringliches ist geschehen, für uns gibt es keine Hoffnungen mehr; wir sind im Dunkel, im Nadryv; wir sind ,wesenloser Schaum‘.“
Dieses Gespräch fand in jenen Tagen ständig zwischen unseren Seelen statt und spitzte sich zu dem Dilemma zu:
S.: „Ich werde dich zwingen, dem Kollektiv zu dienen.“
B.: „Laß uns in Ruhe mit deinem Zwang.“
S.: „Blok flieht aus dem Tempel des Johannes; er ist ein Renegat, ein abtrünniger Ritter.“
Laut wurden diese Worte nie ausgesprochen; nur von ferne, hinter dem Schweigen fochten wir gegeneinander; „die Ideen“, die unser Leben bedeuteten, schienen Brunhilde zu sein, die uns von dem dunklen Drachen geraubt wurde; wir hätten gern den Drachen getötet.
Ich erinnere mich, wie in diesen Tagen Ljubov Dmitrijevna auf das Bild an der Wand zeigte, das die gefesselte Brunhilde darstellte; ihr zu Füßen krümmte sich der Drache.
Und sie sprach:

Befreit Brunhilde!

Ich verstand, daß sie uns zu dem letzten entscheidenden Kampf aufrief:

Was ist der Drache?

Er ist der Dämon der Unlust, Trägheit, hoffnungslosen Faulheit; er ist der Geist des Spießertums, des Lebens ohne Heldentat; demnach gab Blok, der verzagt und mürrisch stundenlang am Rand des Sumpfes saß, den Anlaß für den Sieg des Drachens; das war die Meinung Solovjovs; er behandelte Aleksandra Andrejevna und Blok wie „Besessene“ und drängte ihnen seine Erklärungen auf.
Aber sie widersetzten sich; im Eifer Solovjovs sahen sie eine Chimäre; als die abstrakte Leidenschaftlichkeit eines spekulierenden Karamazov, der sich über das Leben eines Menschen hinwegzusetzen vermag.
Sie erschraken.
Und man griff einander an, bedrohte und beschwor sich gegenseitig, legte sich auf die Lauer – im Gemeinten, Dunklen und Dumpfen, im Unausgesprochenen; die eigentlichen Worte hielten wir zurück, sprachen nur über Literatur, lobten den „Tantal“ von Ivanov, der soeben erschienen war: literarische Themen wurden zu Degen; Solovjov führte den Angriff gegen das Ungefähre. Blok hatte ein eigenes Ziel: Er wollte sich von Solovjov distanzieren und dessen Einfluß, indem er sich mit mir verbündete, ausschließen; ich respektierte seine poetische Freiheit, aber ich wollte mich auf einen „separaten Frieden“ mit Blok und Ljubov Dmitrijevna nicht einlassen; ich glaubte einen Verrat zu begehen, wenn ich mich von dem distanzierte, was der Grund aller Anschauungen eines Freundes war.
Die Mahlzeiten, das Zusammensein, wurden zur Qual. Einmal schlug jemand im Nadryv vor:

Wir wollen zum offenen Angriff übergehen – wir wollen Räuber spielen!

Solovjov stimmte an:

Im dunklen Wald
Ging ich mit der Wurfkugel.

Jetzt dominierte die Nadryvstimmung der Zuchthauslieder, das Lächeln Gogols und die Grimasse Dostojevskijs.
Einmal rief Solovjov beim Mittagessen sehr unpassend aus:

Wissen Sie, Ljuba, Sie haben etwas von Dostojevskijs Gruschenka.

Ljubov Dmitrijevna lächelte herausfordernd, Aleksandra Andrejevna runzelte die Stirn.
Einmal hielt ich es nicht mehr aus: bei Tisch, vor aller Augen, riß ich plötzlich mein Kreuz von der Brust und schleuderte es hinaus auf den Rasen; Blok lächelte ungut.
Damals war Blok nicht mehr rosafarben; Schatten und ein fahles Gelb überzogen sein Gesicht; er wirkte zerzaust; erstaunt und erschrocken, mit unsicher geweiteten Augen, den halboffenen Mund zu einem kläglichen Lächeln verzogen, saß er zwischen uns wie ein Fremder, ein Unbekannter (nicht wie der Gastgeber); er benahm sich wie ein Gast; die „Gastgeberin“ war Aleksandra Andrejevna.
Die gemeinsamen Stunden nach dem Abendtee fielen aus; gleich nach dem Tee zog sich Solovjov zurück, um zu arbeiten; Ljubov Dmitrijevna entfernte sich ebenfalls; Blok ging allein; ich wanderte in gespannter Unruhe ziellos über die schmalen Wege des schattigen Gartens und stieg zuweilen in die Schlucht hinab; ich erinnere mich nur an einzelne Gespräche mit Solovjov, mit Aleksandra Andrejevna, mit Blok (Ljubov Dmitrijevna wich jedem Gespräch aus). Ich unterhielt mich mit Aleksandra Andrejevna ununterbrochen über „Serjosha“ und „Sascha“; ich fühlte: Das Ziel ihrer Reden war immer der Beweis, daß „Serjosha“ ihrem „Sascha“ gegenüber im Unrecht, daß der Mahner ein „Kovalenskij“ sei, und daß „Sascha“ unverändert derselbe bliebe. Ich verteidigte Solovjov nach Kräften und sagte ihr über „Sascha“: er sei enttäuscht von den Morgenröten; er sei enttäuscht von uns allen; wirklich: Blok lieferte uns den Beweis: jeder von uns sollte es mit dem anderen schwer haben; unser Verhältnis zur Morgenröte war verschieden; Fremdheit nistete auch schon früher zwischen uns; jetzt machte sie sich offen bemerkbar: Unheil zog auf.
Jetzt wurde offenbar:

… ein Toter
Schlägt vor uns einen Weg durch den Fels.

Blok war für mich ein Zeichen: er war für mich ein Magnet, in dessen Feld meine Ideologie sich bildete; sein Leben war für mich ein eindeutiges Symbol; ich betrachtete dieses Leben als ein epochales Leben; es war nicht zu übersehen: Blok, ein freier Dichter, stand stets im Mittelpunkt des intellektuellen Lebens; er übte eine besondere Anziehungskraft auf die Ideologen aus; zuerst auf „uns“; später auf Tschulkov, Ivanov: „Fakely“, „Ory“, „Runo“ und „Musaget“; später – „Skify“, „Volfila“; die Tatsache seines Lebens wurde von vielen als ein Zeichen erlebt.
Mit einem Satz, mit einer Gebärde vermochte er meine innere Welt zu dynamisieren; zuweilen hatte es den Anschein, als würden wir nichtssagende Sätze wechseln; aber diese Sätze deuteten wie eine Chiffre das Unaussprechliche an; hinter ihnen standen gemeinsame Jahre; zuweilen ahnte ich hinter einem einzigen Satz Bloks ein nicht geschriebenes Buch. Ich las es in meinem Herzen; in dem Bestreben, seine Gebärde zu erfassen, hielt ich mir im Geiste die Hand vor die Augen, damit der äußere Eindruck der Persönlichkeit „Blok“ sich nicht vor die blitzartige Erkenntnis des Herzens stelle, die durch den Blitz eines „zufälligen“ Wortes entzündet wurde; wir sprachen nie über das Gesagte, sondern darüber, was hinter dem Gesagten stand; wir verstanden uns erstaunlich, wenn wir unsere Worte dechiffrierten; gelang es uns nicht, hinter das Gesagte zu dringen – dann entstand zwischen uns ein furchtbarer Wirrwarr, der in einer Katastrophe zu enden drohte.
Entfremdung in allem, was sich hinter den Worten verbirgt – das war die unglückliche Zeit in Schachmatovo im Jahre 1905; das war der offenkundige Bruch im Leben der drei Menschen, die einst den Entschluß gefaßt hatten, „die Hände zusammenzuflechten“, und das neue gemeinsame Leben zu verwirklichen: alles zu verlassen, alles aus sich selbst zu schaffen; dieser Entschluß kam von selbst zustande; jetzt zeigte sich: wir sind verschieden; wir sind nicht zu dem „Neuen“ berufen; und für Blok war klar: wir sind überhaupt nicht die Berufenen; unser „Kollektiv“ ist nur eine „Schaubude“; jedes Mitglied dieses unglücklichen Kollektivs ist ein Pierrot, die Mystiker haben sich offensichtlich verhaspelt; Pierrot verblutet, aber aus seinen Wunden sickert nur „Moosbeerensaft“. Den „Moosbeerensaft“ konnte ich Blok jahrelang nicht verzeihen: die „skeptische Ironie“ sich selbst gegenüber. Wie boshaft waren wir zu jener Zeit!
Ich sehe uns alle um den Tisch versammelt: Solovjov – braungebrannt, fast schwarz, mit hochgezogenen Brauen und verkniffenen Lippen unter dem dunklen dichten Schnurrbart – überbietet sich in handfesten Herausforderungen, die gegen die im Ernst erbleichende Aleksandra Andrejevna gerichtet sind; schon in der Art, wie er seine Serviette in die Hand nimmt und dabei seine schmächtigen Schultern reckt, zeigt sich Konzentration, Angriffswille; Aleksandra Andrejevna wird blaß, wirft die Serviette auf den Tisch und pariert, wobei sie jedesmal nachdrücklich den Kopf schüttelt, der Blick der braunen Augen wandert unruhig umher: über die Servietten, den Tisch entlang, über die Schultern der Anwesenden: sie weicht ihrem Blick aus, wie eine Katze, die ihre Jungen verteidigt:
„Ich meine, Serjosha“ – sagt sie leise, beinahe flüsternd –, „daß alles anders ist und sich anders verhält; Sie sprechen à la Brjusov.“
„Und warum auch nicht, was wäre dabei?“, poltert Serjosha, „ich glaube, daß Brjusov der erste unter unseren Dichtern ist: ist doch auch Puschkin weder vor dem Abgrund noch vor dem Grauen zurückgeschreckt…“
„Nein, so etwas – Puschkin; bei Puschkin ist alles anders…“
Ljubov Dmitrijevna, in einem wallenden Hauskleid, ein Tuch um die vollen Schultern, die bis dahin feindselig über ihrer Suppe schwieg, lehnt sich plötzlich in ihrem Stuhl zurück und sagt:

Jeder ist heute ein Balmont: jeder ein Spanier, jeder zieht sofort seinen Degen.

Ich antwortete darauf:

Dann laßt uns Räuber sein!

Blok, wie aus Stein, näselte spöttisch:

Warum auch nicht? Laßt uns das tun!

Aus diesem „Warum auch nicht“ klingt eine tollkühne Herausforderung; er scheint sagen zu wollen:

Ich schweige, ich schweige immer noch, aber…

Was diesem „aber“ folgen könnte, bleibt ungesagt; die versteinerten grünlich-gelben (nicht mehr rosafarbenen) Wangen, die scharfe Falte auf der Stirn verbannen das Lächeln aus diesem Gesicht; er lächelt aber trotzdem, als würde er uns necken.

Da habt Ihr’s; ich brauche nur zu wollen, und ich verderbe alles, ich zerstöre alles, ich vernichte alles; also laßt mich lieber in Ruhe.

Ich – gespalten, zerrissen zwischen Blok, Ljubov Dmitrijevna und Solovjov – verteidige pflichtgemäß die hartnäckigen Ausfälle Solovjovs; aber ich zerschelle an dem düsteren unnachgiebigen Blok, mit dem ich noch auf eine geheimnisvolle Weise verbunden bin. Keiner von uns versteht, was geschieht; Marja Andrejevna blinzelt und schüttelt verständnislos den Kopf; der taubstumme Vetter Bloks, der deutlich etwas spürt, aber nicht begreift, blickt von einem zum anderen; diese allabendliche gespenstische Runde unter dem grellen Licht der elektrischen Lampen erinnert mich an Szenen von Maeterlinck.
Ein Seelendrama spielte sich ab: damals starb ein großer „blauer Vogel“; die Schöne Dame verwandelte sich in eine Colombine und die Ritter in „Mystiker“; die rosaglühende Atmosphäre erwies sich als feines Seidenpapier, das nun von jemandem zerrissen wurde; hinter dem Papier war das Nichts.
Das alles zeigte die „Schaubude“, die ein halbes Jahr später geschrieben wurde. Ja, es war so – wie ich es jetzt schreibe: warum war ich denn damals so aufgebracht? Ich empörte mich darüber, daß die Flamme, die in Blok vor kurzem noch loderte, in der wir alle vereint waren, nun in ihm zur „Schaubude“ wurde. Das Stück existierte damals noch nicht, aber wir fühlten es voraus (in Bloks Seele war das Stück bereits konzipiert): 

Nun keine ,Schaubude‘ – nein, nein: wenn es eine ,Schaubude‘ gibt, dann bist nur du selbst die ,Schaubude‘!

Besonders deutlich erinnere ich mich an einen unheimlichen, von Gewittern gesättigten Abend, an dem die Mine gelegt wurde, die die Freundschaft der Bloks mit Solovjov für immer sprengte. An diesem Abend sollte ich Bloks aus meinem Manuskript „Das Kind der Sonne“ (ein Poem) vorlesen. Solovjov, der das Gedicht schon einmal gehört hatte, blieb oben in seinem Zimmer. Wir haben gesehen: ohne Mütze, ohne Mantel schritt er in Gedanken vertieft über die Terrasse: man hörte das Poltern seiner Stiefel, dann tauchte er in dem dunklen Garten unter.
Ich las sehr lange; wir unterhielten uns; schon klebte die schwarze Nacht an den Fenstern; man brachte den Tee…
„Wo bleibt Serjosha?“
„Er dichtet, wahrscheinlich.“ (Er dichtete während seiner Spaziergänge.)
Wir setzten uns an den Tisch; wir tranken Tee; elf! Wo bleibt Serjosha? Wir traten zu dritt auf die Terrasse hinaus und riefen in die Dunkelheit zwischen den Baumstämmen:
„A-u-u!“
„A-u-u!“
„Serjosha!“
Schweigen. Uns wurde unheimlich:
„Wo bleibt er?“
Wir verteilten uns in dem Garten und schrien:
„Serjosha!“
Dann gingen wir auf das Feld hinaus: wir riefen. Der Mond stieg auf (es war abnehmender Mond); gelbes Lichtgewirke breitete sich aus:
„Serjosha!“
Schweigen. Jemand sagte:
„In den umliegenden Wäldern gibt es viele Sumpflöcher: wenn man da einmal hineingeraten ist – kommt man nicht wieder heraus…“
„Hat es denn schon Unglücksfälle gegeben?“
„Ja.“

„Serjo-o-o-sha!“
Irgendwo schlug die Uhr: eins!
Ich erinnere mich, wie wir als trauriges Häuflein uns aneinanderschmiegten: Ljubov Dmitrijevna hüllte sich in ein dunkles Tuch; ich rief aus Leibeskräften. Blok, in einem verschossenen abgetragenen Mantel (er war ihm schon längst zu knapp geworden) mit viel zu kurzen Ärmeln, stand schweigend vor uns. Er war ohne Mütze, zerzaust, mit erschrockenen Augen, seine Hände umklammerten einen riesigen Prügel, den er beim Suchen auf gehoben hatte.
Irgendwo schlug die Uhr: halb zwei; dann schlug sie wieder: zwei.
Bald kamen die Berittenen zurück, die man in die Gegend ausgeschickt hatte (wäre er in den Sumpf geraten und langsam versunken, dann hätte er zurückgerufen); ja, es gab nur eine Erklärung: „Er lebt nicht mehr!“
Wir gingen hinauf in den zweiten Stock; wir saßen mutlos in Solovjovs Zimmer; es tagte; ich sehe vor mir Blok in seinem verschossenen Mäntelchen, an der Wand kauernd; sein Gesicht war fast grün.
Plötzlich sahen wir das Kreuz auf Solovjovs Tisch; ein furchtbarer Gedanke blitzte auf.
„Nein!“
„Denkst du – nein?“ – fragte Blok.
„Niemals!“
„Bist du sicher?“
„Ganz sicher!“
In den tauigen Morgenstunden saßen wir vor dem Haus auf einem Bänkchen; wir schwiegen immer noch; ja, es konnte keinen Zweifel mehr geben: Solovjov war unversehens in ein Sumpfloch geraten; nun gedachten wir des Teuren, der uns verlassen hatte; wir liebten ihn in diesem Augenblick mit der unendlichen Liebe; Tränen standen uns in den Augen. Es war nichts zu machen: wir mußten warten: eine Stunde, noch eine; und dann wieder die Berittenen ausschicken; die Behörde von dem Vorfall benachrichtigen; zum Jahrmarkt gehen und die Bauern ausfragen:

Habt ihr gesehen – einen Studenten, ohne Mütze, den Kopf eingezogen, mit einem schwarzen Rock und großen Schaftstiefeln…?

Aber was sollte das! Nein, wahrscheinlich ist Serjosha umgekommen; das dachte Aleksandra Andrejevna, das dachte ich.
Vormittags wurden Boten nach allen Richtungen ausgeschickt; man sattelte ein Pferd auch für Blok; er saß gewandt auf und ritt, ich erinnere mich, im Galopp davon; und ich ging zu Fuß zum Jahrmarkt in das benachbarte Dorf; es war ein taufrischer blauer Morgen; keine Wolke am Himmel; wie ein Blitz leuchtete in mir die Hoffnung auf: ich sollte seine Spur finden.
Ich tauchte im Gedränge unter; ich sprach jeden an, die Dorfweiber, die Bauern, die Schreiber und die Kaufleute:
„Hören Sie!“
„Habt ihr gesehen – einen Studenten, ohne Mütze, hält sich schlecht, in einem schwarzen Rock und großen Schaftstiefeln?“
„Nein, ich glaube – den habe ich nicht gesehen…“
Ich ging eine Marktreihe nach der anderen durch: ich erfuhr nichts.
Plötzlich wurde ich angesprochen.
„Hören Sie – die Frau dort, aus Boblovo, die hat den Herrn gesehen…“
Eine stämmige alte Frau, dem Aussehen nach eine Magd, drängte sich vor:
„Sie meinen den Herrn – den Studenten aus Schachmatovo – ohne Mütze, im Uniformrock…?“
„Ja, ja…“
„Der Herr hat bei unseren Herrschaften übernachtet…“
„Wo kommen Sie her?“
„Aus Boblovo, von Mendelejevs: Aber freilich – der Herr ist nachts bei uns eingekehrt – um ein Haar ist er von den Hunden angefallen worden…“
„Er ist bei euch?“
„Aber freilich, freilich.“
Ich bin atemlos zurückgelaufen; ich kam und rief, noch von weitem:
„Ich habe Serjosha gefunden!“
Und ich erzählte die ganze Geschichte; alle atmeten auf: nur Aleksandra Andrejevna runzelte die Stirn:

Was für ein Egoist: er ließ uns alle zittern! Nein, das werde ich ihm nicht verzeihen… Er hätte uns einen Boten schicken müssen…

Blok lächelte – undurchdringlich, ein wenig spöttisch (mir mißfiel dieses Lächeln); Ljubov Dmitrijevna lächelte schalkhaft. Und gegen Abend hörte man im Wald lustiges Sehellengeläut; ein Dreigespann fuhr vor, aus dem Wagen sprang fröhlich und unverdrossen Serjosha – ohne Mütze.
Aber nun – nun spielte sich eine unvorstellbare Szene ab.
Noch nie habe ich Aleksandra Andrejevna so zornig gesehen; es war unbeschreiblich; wir standen, wie ich mich erinnere, zu viert auf der Wiese: Aleksandra Andrejevna fragte Serjosha mit versagender Stimme, beinahe flüsternd:
„Und nun – meinst du, daß du dich richtig verhalten hast?“
Solovjov wurde sofort finster und antwortete:
„Ja, ich verhielt mich so, wie ich mich verhalten mußte.“
„ Und du bist nicht auf die Idee gekommen, daß ich mit meinem schwachen Herzen hätte sterben können?“
„Die Pflicht geht über alles…“
„Was heißt hier Pflicht: davonzulaufen, ohne jemandem ein Wort zu sagen.“
„Das war meine persönliche Pflicht…“
„Du kannst also einer persönlichen Pflicht zuliebe dich über das Leben eines Menschen hinwegsetzen?“
„Ich kann es!“
Aleksandra Andrejevna verzog vor Zorn das Gesicht; zwischen ihr und Solovjov, der wie versteinert zu sein schien, kam es zu einer endgültigen Aussprache; an die einzelnen Worte kann ich mich nicht mehr erinnern; aber ich erinnere mich, daß Solovjov dieses Gespräch Aleksandra Andrejevna nie verziehen hat, so wie auch sie ihm seine Erklärung, er könne aus persönlicher Pflicht sich über das Leben eines Menschen hinwegsetzen, nicht verzeihen konnte; später erklärte Solovjov, er sei in Gedanken von der Terrasse in den Garten gegangen und langsam bis zum Wald gekommen; dort habe er das Abendrot gesehen; und den Stern im Abendrot; plötzlich habe er begriffen, daß er zur Rettung der „Morgenröten“, die uns Jahre hindurch geleuchtet hatten, ein symbolische Handlung vollziehen müsse, und daß von dieser Handlung unsere ganze Zukunft abhängen würde; hatte doch Ibsens Borkmann plötzlich das Bedürfnis, einen Stock zu nehmen, hinaufzugehen und mit dem ihn umzingelnden Leben zu kämpfen; Solovjov fühlte plötzlich, wenn er nicht sofort geradeaus durch den Wald ginge, durch die Sümpfe (immer geradeaus, immer geradeaus) – auf das Abendrot zu, dem Stern nach, so würde etwas Künftiges, Großes zusammenstürzen; und er ging weiter, er holte nicht einmal seine Mütze: er ging immer weiter, er ging und ging, bis ihn die Nacht mitten im Wald überraschte; er kam aus dem Wald heraus, überquerte ein Feld und tauchte von neuem in Wäldern unter; einen Weg zurück konnte es für ihn nicht geben; plötzlich fiel ihm ein, daß er kurz vor Boblovo sein müsse. In Boblovo wurde er gastfreundlich aufgenommen; beruhigt durch den Gedanken, daß er unsere Zukunft gerettet hatte, dachte er nicht mehr an uns; der Beweis seiner Liebe zu uns, den er durch seinen stürmischen, fast wahnsinnigen Marsch unter dem funkelnden, unter unserem Stern erbracht hatte, wurde von Aleksandra Andrejevna selbstverständlich als Chimäre angesehen; nur das eine konnte sie an diesem Verhalten begreifen:

Ach, was für ein Egoist!

Ich war aufrichtig empört: Aleksandra Andrejevna, Blok – wie war es möglich, daß sie die heroische Lyrik Solovjovs mißverstehen konnten? Wie konnte alles entstellt und umgedeutet werden? Ich glaubte, mein bester Freund sei verleumdet worden und fühlte, daß wir alle uns hier wie Besessene aufführten; ein weiterer Aufenthalt in Schachmatovo wäre einfach unmöglich gewesen.
Ich gestand Solovjov:
„Keinen Tag länger, ich kann nicht mehr: ich bin müde; ich muß fort…“
„Ich kann dich sehr gut verstehen!“
„Und du? Komm doch mit…“
Solovjov sah mich unter der gesenkten Stirn hervor an; und schnitt trocken das Gespräch ab:
„Nein: ich werde bleiben…“
Ich begriff, daß hinter diesem „Ich werde bleiben“ die unaustilgbare Kränkung stand, die er nicht durch eine plötzliche Abreise zeigen wollte.
Ich ging in den abendlichen Garten hinaus; und als ich Blok traf, sagte ich:
„Sascha, ich kann nicht mehr; ich fahre ab…“
„Könnte ich morgen früh Pferde bekommen?“
Blok sah mich sehr bedeutungsvoll und traurig an:
„Dann ist nichts zu machen…“
„Fahr…“
„Ich verstehe dich.“
In diesem leisen und wissenden „Ich verstehe dich“ lag:

Die Vergangenheit ist unwiederbringlich dahin. Ich weiß nicht, wie wir uns in der Zukunft begegnen werden; aber ich weiß, wir werden uns nie mehr wie früher begegnen

Ich begriff: zwischen Solovjov und Blok stand eine schicksalhafte Mauer, die ich als „Seelendrama“ erlebt habe; und ich begriff, daß Solovjov bleiben wollte, um das Pünktchen auf das I zu setzen:

So wisse – von nun an sind wir Feinde!

Später erzählte mir Solovjov, daß er nach meiner Abreise zwei Tage lang bei Bloks geblieben sei; sie hätten nicht mehr gesprochen, nur Karten gespielt, mit einer Verbissenheit, die unnatürlich war; er habe dabei fortwährend gesungen:

Drei Karten, drei Karten, drei Karten…

In Blok spiegelten sich jene absurden, verrückten Tage unseres Besuchs in Schachmatovo und das zwei Tage währende Kartenduell mit Solovjov in folgenden Zeilen:

Ein Zelt. Und Karten ringsum.
Die Wahrsagerin, sonnengebräunt wie ein Tag im Juli,
Mit klirrenden Münzen, murmelt
Worte, die süßer klingen
Als die Melodien Mozarts.

Ringsum immer lauter Gebrüll,
Pfiffe und schmutzige Witze,
Und das Dröhnen des Jahrmarkts – weit in der Ferne –
Äfft der Doppelgänger nach.

Die Worte „Und das Dröhnen des Jahrmarkts – weit in der Ferne – äfft der Doppelgänger nach“ kommen mir als eine (vielleicht unbewußte) Assoziation zu dem damals Vorgefallenen vor; auf dem „Jahrmarkt“ im Nachbardorf fand man die Spuren des verschollenen Solovjov; aber was bedeutet der Doppelgänger, und wessen Doppelgänger ist er – Bloks oder Solovjovs? Dieses Gedieht ist ein Bild des Schicksals „Hier geht es hoch her! Hier schmettert die Posaune, und weiße Masken schneiden ihre Fratzen, und auf der Fahne steht in großen Lettern: Schicksal…“ In einem anderen Gedicht, das wenig später geschrieben wurde, habe ich Zeilen gefunden, die mir damals, ich erinnere mich, beleidigend erschienen: ein Gedicht über den Wetterhahn; dort steht es:

Die nutzlose Flagge ist eingeholt, nur ein Wetterhahn auf dem Dach singt süß von einer Zukunft…

Und weiter:

Der arme Hahn, verzaubert, stürzt in die blaue Tiefe…

Und noch weiter:

Krähe nur, mein kleiner Hahn aus Zinn!

Ich vermute, daß in diesen Zeilen mein Pathos sein Abbild gefunden hat: das Pathos der Verzweiflung, das darauf ausgerichtet war, den klaffenden Abgrund zwischen uns mit dem Glauben an die „Morgenröten“, die ich nicht mehr sah, zu übertünchen; diese Zeilen kränkten mich, weil ich sie auf mich bezog.
So wurde in jenen Tagen der Grundstein gelegt für die künftige ungezügelte, rasende Polemik von Vesy: ohne Solovjov, ohne mich und ohne Ellis hätte diese Polemik nicht so lange angehalten; wir haben demonstrativ Brjusov verherrlicht, als Reaktion auf die „offensichtlichen Verleumdungen“ in der „Schaubude“ (so glaubten wir damals) – Blok unterstrich demonstrativ seine Verbundenheit mit Tschulkov; Ivanov mischte sich ein: zwischen Ory, Fakely und Vesy tat eine Kluft sich auf, die lange unüberbrückbar blieb; der erste Riß entstand während der Erntezeit in Schachmatovo.
Damals ging ich abends auf mein Zimmer, zündete die Kerze an und sah: eine Fledermaus flatterte gegen die Wände; ich versuchte, sie zu vertreiben, aber es gelang mir nicht, sie zu vertreiben; lange kämpfte ich mit der Fledermaus, einem Stückchen Finsternis, die uns umgab; sie war bereits in unseren Lichtkreis eingedrungen, der, wie es sich herausstellte, nur ein rosa Lampenschirmchen war, aus Papier; man riß es entzwei, und Nacht drang ein.

Ein schlechtes Zeichen!

So ging ich zu Bett.
Am nächsten Morgen fuhr meine Kutsche vor. Wir beeilten uns beim Abschied; ich sagte etwas; Blok hörte zu und ließ den Kopf tief auf die Brust sinken; Ljubov Dmitrijevna wischte sich verstohlen mit einem Tüchlein eine Träne aus den Augen.
Die erste Neuigkeit, die ich in der Zeitung las, war – die Flucht „Potjomkins“ (des Panzerkreuzers) nach Rumänien.
Ich glaubte: Endgültiges war geschehen; ich weiß nicht, warum ich damals nach Moskau fuhr; ich weiß nicht, wie ich auf das Landgut Poljakovs kam, wo mein Freund, der Maler Vladimirov, lebte; dann fuhr ich ein Stück mit der Eisenbahn bis „Snegiri“ und kehrte erst von dort nach Djedovo zurück.
„Borja, was haben Sie?“ – fragte A.G. Kovalenskaja.
„Ach, nichts…“
„Erzählen Sie, wie geht es Bloks…?“
Ich schwieg; Aleksandra Grigorjevna schnupperte mit ihrer blassen Nase über den Tisch, kaute auf den Lippen und fixierte mich mit ihren scharfen Äugelchen; sie begriff, daß irgend etwas Schweres vorgefallen sein müsse; sie verstummte; und fragte nicht weiter.
Und am nächsten Tag bei Sonnenuntergang (der Abendhimmel war purpurrot) kam Solovjov zurück, nachdem er zwei Tage hinter den Karten verbracht hatte: Ich habe ihn nicht wiedererkannt: er kam mir abgemagert vor und wie versengt.
Es war sehr eigenartig: Wir blieben noch einen ganzen Monat in Djedovo, aber über Bloks schwiegen wir uns aus; das Thema unserer Gespräche veränderte sich völlig; die „Morgenröten“ wurden nicht mehr erwähnt; Shukovskij wurde nicht mehr gelesen; aber wir berauschten uns an Gogols „Furchtbare Rache“ und „Vij“: gerade daran, was Blok nicht liebte, wovor wir uns früher fürchteten; und es schien: die Luft in Djedovo war durchtränkt von Gogol.
Der August ist mit zärtlichen Abendröten ins Land gezogen; einmal war der Abendhimmel das Fell eines Leoparden; ich ging ihm entgegen; und verirrte mich in den Wiesen; die Arme wollte ich ihm entgegenstrecken: die Morgenröte anrufen.
Da hörte ich eine Stimme; ich drehte mich um: hinter einem der Büsche, die über die Wiese verstreut waren, erhob sich linkisch Solovjov und rief sehr streng:
„Was hast du?“
„Nichts.“
Solovjov sah den Abendhimmel, legte den Arm um meine Schultern und drehte mich um; und sagte kurz:

Wir wollen gehen; das ist alles Wahnsinn.

Ich verstand: Solovjov, der mir gegenüber verstummt war, beobachtete mich sehr zartfühlend: er sah alles, er wußte alles.
So wurde die „Morgenröte“ für Solovjov zu einem Symbol der Besessenheit: zu der jungen Hexe aus dem „Vij“; in ihm und in mir zeichnete sich ein Wandel ab: von der „Romantik“, von Vladimir Solovjov – zum Nadryv Gogols, zu Gruschenka, zu den Themen der Narodniki, zur Revolution, zu den wehmütigen Liedern, die die Schwestern im Dorf Nadovrashino sangen:

Brenn nieder, mein Kienspan,
Ich werde mit dir niederbrennen…

Feuchte Nebel stiegen über dem Dorf auf und ballten sich zu einer Karikatur der verderblichen Süße seelischer Mysterien: zur „Silbernen Taube“; „Sie“ sahen wir in dem Himmelsrot nicht mehr; nach einem Jahr flüsterte Solovjov, ganz in die Betrachtung des goldenen, mit Wolken gefleckten Abendhimmels versunken:

Das Abendrot ist ein Leopard: ich werde das in einer Reihe von Erzählungen aussprechen, und der Titel des Buches wird heißen: „Der goldene Leopard“…

Der Titel „Der goldene Leopard“ regte sich in mir und raunte mir Gestalten zu; sie festigten sich später zur „Silbernen Taube“.
Für seinen Teil veränderte sich Blok ebenfalls: die „Unsichtbare“ war bereits geschrieben, schon reifte die „Nachtviole“; von den rosafarbenen Morgenröten auf dem blauen Firmament bewegte er sich auf jene lila-grünen Töne der Herbstabende zu, die aus den grauen Nebeln aufleuchten, über dem rostigen Sumpf, und die den Schrei entlocken:

O, nimm mir das rostige Leben,
Laß mich in den ewigen Frieden eingehen.

Bald schrieb er:

… was gibt es Angenehmeres,
Als den Verlust der besten Freunde?

In Bloks Briefen an mich drang deutlich das Motiv durch: was kann man machen – das Vergangene ist unwiederbringlich dahin.
Bald schickte er einige Gedichte (ich weiß nicht mehr, an wen: an mich oder an Solovjov); ich erinnere mich nur, daß Solovjov in einem Brief an „die Bloks“ alle Gedichte vernichtend kritisierte; Blok antwortete darauf verletzend; meine Antwort auf diese Antwort fiel sehr scharf aus. Darauf erhielt ich von Ljubov Dmitrijevna zwei – drei Zeilen, die mich davon in Kenntnis setzten, daß unser Briefwechsel beendet sei. Ich habe geantwortet: von nun an bräche ich jede Beziehung zu ihr und Blok ab – wir seien Fremde.

 

Die Nachtviole

Das geschah bereits in Moskau.
Alles brodelte wie im Krater eines Vulkans. Die Revolution breitete sich aus; die Argonauten setzten sich über Ellis mit den Sozialdemokraten in Verbindung; Ellis vergaß, daß er ein Symbolist war; er brachte zu uns Illegale mit, und er veranlaßte uns, Marx zu lesen; in der Universität wurden ständig Meetings abgehalten; man verhandelte über die Form, in der die Studenten sich zu den Ereignissen äußern sollten; man diskutierte über zwei Vorschläge: der eine wollte die Universität in eine revolutionäre Agitationstribüne verwandeln und den Lehrbetrieb einstellen; der andere plädierte dafür, in den von den Meetings nicht beanspruchten Stunden sich den akademischen Studien zu widmen.
Ich erinnere mich, daß zu den „Mittwochen“ Astrovs auch Politiker, die etwas verlegen wirkten, sich einfanden; zuweilen tauchte Tschelnokov auf (später war er Bürgermeister von Moskau); wir glaubten, Astrovs stünden rechts; ich, Ellis und Petrovskij sympathisierten mit den Menschewiken; Solovjov war ein Sozialrevolutionär, Sizov und N.P. Kisiljov – Anarchisten; auch Semjonov gehörte damals zu uns, der in Moskau hängengeblieben war; er besuchte mich und Astrov; die „Mittwoche“ waren sehr nach seinem Geschmack (ich zog mich bereits von Astrov zurück); bei der Beerdigung von Trubeckoj war er sehr aktiv, ordnete temperamentvoll die Menge, ließ Ketten bilden; wir waren viel zusammen.
Eines Tages erschienen die Proklamationen Trepovs. Ich war empört, ich wandte mich umgehend an Astrov mit der Forderung, die Offiziere zu boykottieren; aber ich begegnete bei ihm entschiedenem Widerstand; das führte zu meiner Entfremdung von dem Kreis um Astrov; ich, Petrovskij und, soweit ich mich erinnere, M.I. Sizov begaben uns in die Universität, um dort zu einem Boykott der Offiziere aufzurufen; aber – um einen Boykott ging es schon längst nicht mehr. Rußland wurde zur Republik erklärt; alle wurden aufgerufen, sich auf dem Platz vor der Duma zu versammeln. A.S. Petrovskij und ich beschlossen: wir gehen hin.
Und ich bin zur Duma hingegangen; statt einer demonstrierenden Menschenmenge sah ich ein klägliches Grüppchen: etwa zwanzig, dreißig Leute: Studenten und Hörerinnen der Frauenbildungskurse; daneben tänzelten die Pferde einer Eskadron wohlwollend grinsender Kosaken; ich wartete eine Weile: es war langweilig; dann ging ich die Tverskaja entlang – zum Café Filippov; dort blieb ich ungefähr zehn Minuten sitzen und wollte zum Platz zurück; aber dann – Schüsse, Schreie; ich sah: man läuft vom Platz, man flieht in die Nebenstraßen; ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich auf den zertrampelten Hof der Universität gekommen bin; das Einfahrtstor wurde verbarrikadiert; das war der Anfang der Belagerung der Universität; die Kosaken schnitten die Studenten-Revolutionäre von der Außenwelt ab; ich bekam die Aufgabe zugeteilt, in der Stadt Proviant zu sammeln; ich erinnere mich: ich eilte von einem Bekannten zum anderen und sammelte Geld, so viel wie möglich; dann kehrte ich zur Universität zurück; aus den Nebengassen spähten die Kosaken; in dem verbarrikadierten Tor ließ man einen engen Spalt frei; ich zwängte mich durch: mein Gott – welcher Anblick!
Auf dem Hof, mitten im Schlamm, prasselten Feuer; in den Feuern glühte man Eisenstangen, die man aus dem schmiedeeisernen Zaun herausgebrochen hatte; ich sah Petrovskij, der einen schweren Eisenknüppel in die Flammen hielt; auf dem Universitätsdach hatten Studenten Posten bezogen mit Säureflaschen: für den Notfall. Im Labor fertigte man Bomben an.
Ich drückte mich wieder durch den Spalt und begab mich zu Astrov, wo ich mit Ellis verabredet war: wir sollten beide zu einem Vortrag im Salon des Fabrikanten Dukat fahren; inzwischen wurde der Generalstreik ausgerufen; wir machten uns in der Dunkelheit auf den Weg, stolperten über Straßenbahnschienen, wurden angehalten; wir riefen:

Freunde!

Wie waren wir darauf gekommen? Und warum hat man uns geglaubt? Ich weiß es nicht.
So kamen wir zum Fabrikanten Dukat; der Salon war leer, der Vortrag fand nicht statt; niemand war gekommen; wir kehrten um, zurück zur Universität.
Ich kann mich nicht mehr erinnern: an den Streik, die Verkündigung des Manifests und an den Abschied von Baumann.
Die Terroristen entfalteten eine unheimliche Tätigkeit; man wurde auf offener Straße überfallen; in der allgemeinen Niedergeschlagenheit ging mir der Streit mit Bloks nicht aus dem Sinn, die Einsicht in die Endgültigkeit des Geschehenen; unendliche Trauer erfüllte mich; ich wußte mir nicht zu helfen. Man konnte nicht einmal schreiben – es ging keine Post.
In jenen Tagen besuchte ich ein Konzert der d’Alheim; später trafen wir uns mit der Künstlerin in ihrem Hotel (ich glaube, es war im „Dresden“); hier lernte ich Asja Turgenjeva und Natascha Turgenjeva kennen; ich erinnere mich – beide gefielen mir sehr gut; zu Asja führte mein Lebensweg; aber das kam erst später.
Ich ließ alles liegen und stehen und fuhr nach Petersburg, ohne das Ende des Streiks abzuwarten.
Ich stieg auf dem Nevskij Prospekt ab, im möblierten Zimmer, und schrieb an Blok einen Brief; ich schrieb, unsere Entfremdung sei ein Mißverständnis; man könne das Geschehene durch keinen Brief, sondern nur durch eine Aussprache klären; wenn es uns beschieden sei, uns zu trennen, so sollte es ein organisch gewachsener Entschluß sein; wenn das Vorgefallene ein Zufall sei, müßte der Streit aus der Welt geschafft werden; ich bat Blok und Ljubov Dmitrijevna in das Restaurant Palkin; an diesem Tag lief ich aufgeregt in meinem Zimmer auf und ab; ich war mir bewußt, daß jener Brief, der den Bruch zwischen uns bestätigt hatte, von der Schroffheit und dem Jähzorn diktiert worden war, die mich zuweilen überfielen; nicht umsonst schrieb einmal eine Zeitung, daß ich, „Andrej Belyj“ meinem Namen mit Recht trüge, da ich längst weiße Haare bei den vielen Skandalen bekommen haben müsse.
Voller Spannung saß ich in dem großen Saal bei Palkin an einem der dichtbesetzten Tische; ich erinnere mich: auf der Bühne sangen blutrot gekleidete Neapolitaner; da sehe ich von weitem Blok und Ljubov Dmitrijevna, die sich einen Weg durch den Saal bahnen; auf den ersten Blick wußte ich, daß alles Frühere, das Liebevolle und Gute zwischen uns wieder auferstanden war; ich erinnere mich deutlich: der sehr schlanke Student mit dem stolz zurückgeworfenen Kopf und den weiten, ruhig blickenden Augen, der sich langsam zwischen den Tischen bewegt; und mit suchenden Augen vor ihm Ljubov Dmitrijevna, viel schlanker als früher, in einem schwarzen Kleid, den Kopf etwas geneigt, mit einem nervös wirkenden Gang. Blok entdeckte mich, lächelte liebevoll – ein Lächeln, das ich bei meinem letzten Besuch bei ihm nicht gesehen habe: das liebevolle, brüderliche Lächeln; und in dem gleichen Lächeln erblühte Ljubov Dmitrijevna; in diesem Lächeln, das mir entgegenkam, im Restaurant Palkin bei getragenen neapolitanischen Weisen – vollzog sich die entscheidende Aussprache zwischen uns; das Lächeln sagte, daß jede Erklärung überflüssig sei; mein Kommen, der Brief seien bereits die Erklärung.
Und so setzten wir uns; wir tranken Tee; wir lächelten uns zu, verlegen wie Kinder, die „zur Raison gebracht werden“; Blok sah sich im Kreise um mit einem Gesichtsausdruck, der zu sagen schien:

Wir haben Räuber gespielt: jetzt ist es genug – es reicht!

Und uns wurde behaglich und fröhlich zumute; Blok zeigte seine frühere humorvolle Art; er imitierte sehr komisch, wie wir, „stolz wie der Spanier“, einander gefordert hatten; und man hätte glauben können: das Gewitter sei vorüber.
Die Atmosphäre klärte sich; während der langen Dauer meiner Beziehungen zu Blok und Ljubov Dmitrijevna webte zwischen uns ein atmosphärisches Etwas, das von uns unabhängig und durch die realen Tatsachen der Biographien nicht zu erklären war; plötzlich konnte uns allen fröhlich und licht werden – so licht, daß man den Wunsch bekam aufzuspringen, zu singen, zu tanzen, in die Hände zu klatschen; zuweilen begann es zu dunkeln – ohne Grund; es dunkelte, dunkelte – und wir selbst wurden ebenfalls dunkel unter den schweren dumpfen Wolken; 1905 umwölkte uns Schachmatovo; und umgekehrt: in Petersburg haben wir im November und Dezember beinahe keine Wolken gesehen. Ich erinnere mich, wie ich einmal bei Mereshkovskij, als ich von Blok nach Hause kam, von einer grundlosen Freude überfallen, einen wahren Tumult veranstaltete, wobei ich Tatjana Hippius bei den Händen packte und mit ihr durch die Zimmer tanzte; nach einer Weile ließ ich sie los und walzte allein wie ein „derviche tournant“ im Arbeitszimmer von Mereshkovskij; mit vollem Schwung tanzte ich gegen den funkelnd polierten, auf geräumten Tisch – der Tisch kippte um, ein Bein war abgebrochen; in diesem Augenblick ging die Hausglocke: und Mereshkovskij – unerwartet früh – ertappte mich in flagranti; natürlich wurde mein Verbrechen als „Orgiasmus“ erklärt – nicht als Lebenslust oder Freude an Ausgelassenheit; die Ausgelassenheit bekam sofort ein theoretisches Fundament und stellte sich eigentlich als Folge des Verkehrs mit Blok heraus: Folge des „In-den-Wolken-Schwebens“.
Mereshkovskij rollte die Augen und redete wirklich erschrocken auf mich ein:

Aber lassen Sie doch, Borja – das ist doch Wahnsinn!

Ich weiß noch – ich war gekränkt: war es denn „Belyj“ untersagt, vergnügt und ohne „Probleme“ sich zu bewegen?
Viel später, als ich mich in das Spezifische der Welt des Dichters Blok vertiefte, verstand ich, daß außer den eindeutigen natürlichen Erklärungen der Stimmungsschwankungen zwischen uns ein unerklärlicher Rest blieb: Blok trug etwas in sich, das aus sich selbst heraus wirkte; seine Stimmung teilte sich mir mit; er war immer von einer Atmosphäre umgeben: einmal so, einmal anders, einmal rosagolden, einmal grau-violett; er selbst liebte es, seine Stimmungen in Farben auszudrücken; wählerisch suchte er die Druckfarben für die einzelnen Einbände seiner Gedichte aus; verbreitete sich in minutiösen Erklärungen über die Initialen zu den Gedichten von der Schönen Dame, die unbedingt karminrot sein sollten; der zweite Band mußte unbedingt eine grellgrüne Initiale haben; der dritte – der blaue Band – mußte ebenfalls eine bestimmte Nuance haben; dieses Blau ist unheimlich; das Element seiner Erlebnisse gab sich ihm als Farbe zu erkennen; Farben drückten für ihn das Elementarische aus; immer rückhaltloser gab er sich dem Elementarischen hin; es begann ihn zu beherrschen; und unter seiner Einwirkung wurde Blok nach dem schmerzlichen Faktum: „Sie entschwand unwiederbringlich“: launischer, ungeduldiger; äußerlich blieb er derselbe: korrekt und höflich, frappierend durch die eindeutigen Konstruktionen epigrammatischer Sätze, die mit gleichmäßiger, ein wenig dumpfer und hölzerner Stimme gesprochen wurden, mit leicht verschluckten Endungen und ein wenig näselnd; bei einem Gespräch bewegte er sich wenig und saß sehr gerade, ohne die Sessellehne zu berühren; seine Kleidung schien keine Falten zu werfen; nur selten neigte er den Kopf und hielt die Zigarettendose hin; sobald der Gesprächspartner sich erhob, erhob Blok sich ebenfalls, hörte stehend zu und leuchtete mit den Augen – den blauen Laternen – das Gespräch aus; dieselbe Haltung, Stattlichkeit und die Perfektion des „guten Tons“ bestimmten seine Erscheinung. Aber unter dieser Haltung machte eine Veränderung sich bemerkbar: man spürte Unsicherheit, Schmerz und das Launische (wie in Schachmatovo 1905); „die Himmel“ konnten durch eine zufällige Geste hinter grau-violettem Nebel verschwinden, der um „Blok“ aufstieg; in der verlegenen Bewegung des großen Kopf es, in der Hilflosigkeit der blauen Augen zeigte sich deutlich: die Augen waren trübe geworden; der dichte, sehr weiche Schopf schien nicht mehr so lockig zu sein wie früher, der rötliche Schimmer darauf war verschwunden; das Haar erschien jetzt aschfarben; um die Augen legten sich Falten, Tränensäcke zeichneten sich ab; schärfer, tiefer wurde die Falte auf der Stirn; und deutlicher, sinnlicher glühten die Lippen; die Macht des Elementaren wogte als wechselvolle Atmosphäre in aller Ungeborgenheit um ihn; nicht mehr rosa-golden, sondern grau-lila-grün; wo war das Leuchten geblieben? Nun verglommen die Spuren geistiger Sonnenbräune; und das Gesicht verblaßte; eine bestimmte Geste gewann an Deutlichkeit und verstärkte sich: das stumme Sitzen mit der brennenden Zigarette; plötzlich, fast herausfordernd, fast mit Bravour wirft er den Kopf in den Nacken, über den Lippen kräuselt sich der Rauch; diese einzige Geste verriet die unterdrückten Launen.
Mehr als einmal analysierte ich später die von Blok empfangenen Eindrücke; sie rührten von eindeutig verschiedenen Gestalten her: der eine Blok – behaglich gestimmt, häuslich, mich zum Sprechen animierend, alles durch ein zentrales Verständnis begreifend; und ein anderer Blok: wer hätte unangenehmer, launischer wirken können? Die wortlose Tiefe in ihm verwandelte sich dann in ambitiöses Gestammel; fast in eine Art von „Idiotie“; später sprach ich mit Solovjov über den bösartigen Gesichtsausdruck Bloks: einen idiotisch bösen, der sich vor jedem klaren logischen Beweis verschließt; ja, dieser „Blok“ erschien als Stavrogin; selbst seine Schönheit schien uns die von Stavrogin zu sein und seine Naivität eine Affektation; einmal zitierte Solovjov die Verse: 

Lieblicher! Am zärtlichen Fluß
Bist Du blauer Hirte.
Weiße Lämmer weiden ringsum,
Und der Stab ist zierlich gewunden…

Er rief aus:

Das ist idiotisch und nicht wirklich kindlich… Alle sind gerührt; man meint, das sei naiv, ohne zu begreifen, daß diese Naivität nichts anderes ist als die Dreistigkeit eines selbstsicheren und verschrobenen Menschen, der längst weiß: jeder Unsinn, den er verfaßt, wird als eine Offenbarung aufgenommen und seine primitiven Assoziationen als Symbole!

Indem Solovjov die Bewunderer Bloks kritisierte, traf er sich selbst: er war es ja, der in Blok den „Herold“ gesehen hatte; und sobald Blok sich geweigert hatte, als „Herold“ zu fungieren, warf Solovjov dem „kosmischen Herold“ Affektation und Idiotie vor.
Wie intolerant, beleidigend, wie bewußt kränkend konnte Blok wirken – in den Tagen der Entfremdung! Wie mitleidig, zärtlich in den Tagen der Nähe; indessen gab er weder seiner liebevollen, noch seiner kränkend nachlässigen Haltung einen besonderen Nachdruck: in jedem Fall blieb er zuvorkommend, wortkarg, gemessen; stand man auf – so erhob er sich; setzte man sich – setzte er sich ebenfalls und hielt schweigend die Zigarettendose hin…
Aber ich verstand Solovjov; ich selbst habe mich mehr als einmal allein durch die äußere Erscheinung Bloks getroffen gefühlt; so habe ich während der Zeit, als wir uns nicht sahen, in Petersburg auf einem Prospekt, mitten im Gedränge, von weitem die Gestalt Bloks erkannt; er ging an mir vorbei, sehr rasch, mit seinem weißlichen Panamahut, einen Spazierstock in der Hand – sehr gerade, steif wie ein Stock, mit blutleerem Gesicht und einer hochmütigen Falte um seine beleidigenden Lippen; er hatte mich einfach übersehen; sein Vorübergehen, mit dem Spazierstock, kam mir damals als ein Gipfel der Beleidigung vor; das Echo in meiner Seele war:
„Wie konnte er es wagen, mich zu übersehen?“
Und der weiße Panama, der stutzerhafte Spazierstock waren ein Stich ins Herz:
„Wie, was – ein Panama? Wie konnte er es wagen?“
„Was der sich einbildet!“
„Unerhört!“
„Frechheit!“
In den Zeiten der Nähe war man von dem Wunsch beseelt, sich ihm zu Füßen zu legen, alles für ihn zu tun, vor ihm zurückzutreten; danach hatte er nie verlangt; er wunderte sich sowohl über einen Ausbruch des Zornes als auch einen Begeisterungsausbruch:

Du bist komisch!

Das Gespräch im Restaurant Palkin stellte die Weichen für das neue Stadium unserer Beziehung; dieses Stadium (der Beziehungen zwischen Blok, Ljubov Dmitrijevna, mir und Solovjov) erinnerte an den diplomatischen Verkehr zwischen drei Staaten; drei Richtungen kreuzten sich: der künftige Petersburger Symbolismus, der sich um die Ory gruppierte, der Moskauer Symbolismus, dessen Repräsentant ich war, und die theologische Richtung Solovjovs. Damals bei Palkin kamen wir überein: die Ökumene war auseinandergefallen; Solovjov sollte in unser „Wir“ keinen Einlaß mehr finden; indem Blok und Ljubov Dmitrijevna mir uneingeschränkte Freiheit in meinen Beziehungen zu Solovjov einräumten, brachten beide zum Ausdruck: sie akzeptieren ihn nicht. Der Zerfall unseres „Dreibunds“ schloß die Epoche meiner „theurgischen“ Bestrebungen ab; der Bund „zu zweit“ (Blok und ich) war Ausdruck einer völlig organischen künstlerischen Intention; keine Zukunftsphilosophie („Lapan“, „Pampan“) lehrte uns fortan das Leben; jene Kunst des Lebens, die wir ausüben wollten, äußerte sich als Improvisation, als neue „Commedia dell’arte“: unbändiger Spieltrieb bildete den Grund unserer Freundschaft; wir sagten zueinander:

Laß uns spielen; wohin uns das Spiel auch bringen mag, wir wollen es gelten lassen.

Ich fühlte: nach dem Gespräch bei Palkin war ich auf die natürlichste Weise in das „Spiel“ aufgenommen; das Vertrauen hatte gesiegt; in Wirklichkeit träumten wir jetzt statt von dem „Mysterium der Verwandlung der Welt“ von dem „Mysterium der Verwandlung des Augenblicks“; aber Solovjov erwies sich für Blok als hemmend.
Das war eine Folge der Erkenntnis, daß Sie für immer „entschwunden ist“; und daß man sich im Leben ohne Sie arrangieren müsse; während die Epoche der „Schönen Dame“ in mir als „Grüne Wiese“, „Von der Zweckmäßigkeit“, „Heilige Farben“, „Die Apokalypse der russischen Dichtung“ erblüht war, schlug dieser Lebensabschnitt sich in den Artikeln „Das Lied des Lebens“ und „Die Kunst“ nieder; und während damals ein „Mythologe“, der Philosoph „Lapan“, zum Ideologen unserer Hoffnungen gewählt wurde, bemühte ich mich jetzt, indem ich Rickert uminterpretierte und ihn mit Nietzsche auf einen Nenner zu bringen suchte, um eine Philosophie der Lebenswerte; und ich trug Bloks die Ideen meiner Aufsätze „Friedrich Nietzsche“ und „Der Phönix“ vor.
Er schien sich selbst zu sagen: Sie ist fort! Sie wird nicht kommen! Laßt uns Helden sein, Siegfriede! Laßt uns das Feuer anschlagen, das zum Leben wird; so war die Stimmung, die sich um Blok herauskristallisierte. Sie drückte sich später in seinen Versen aus: 

Oh, ein Frühling ohne Ende und ohne Grenzen.
Ohne Ende und ohne Grenzen ein Frühling.
Ich erkenne Dich, Leben, ich nehme Dich an
Und begrüße Dich mit dem Klirren des Schildes.

Dadurch war das „Vermächtnis“ Vladimir Solovjovs verraten; bei diesem Verrat hat wahrscheinlich die Gattin Bloks eine nicht geringe Rolle gespielt; wir hielten sie für die „Hüterin des Vermächtnisses“; Ljubov Dmitrijevnas Hinwendung zum Geist der Musik, zur Improvisation, zur Umsetzung des „Unsagbaren“ in eine theatralische Geste und in eine commedia dell’arte brachte das „Mysterium“ auf die Bühne; der Wunsch, Schauspielerin zu werden, wurde in ihr immer stärker; und sie zog Blok und mich nach: zum Artistischen, zur Improvisation; auch in Blok erwachte die Liebe zur Bühne aufs neue; schon als Gymnasiast spielte Blok den Hamlet und Ljubov Dmitrijevna die Ophelia.
Die Losung, zu der wir uns damals bekannten („So laßt uns spielen“) war vielleicht der Ausdruck eines unbewußten Drängens zur Bühne in Ljubov Dmitrijevna, und in Blok – das Reifen der „Schaubude“.
Ljubov Dmitrijevna begeisterte sich damals für Wagner; sie und Blok besuchten die Aufführung des „Ringes“ und schwärmten für Jerschov als Siegfried; wir hörten zusammen die „Walküre“; die Musik der „Walküre“ stimmte ein in die Musik, die zwischen uns erklang; ja, irgendeiner von uns war Wotan; und irgendeiner ganz sicher Siegfried; an Ljubov Dmitrijevna zeigten sich klar die Gebärden der Walküre; die heroische Atmosphäre war durchglüht vom wachsenden revolutionären Fieber; Savinkov schien jetzt der Held zu sein, von dem ich wußte, daß er sich illegal in Petersburg aufhielt (ich hörte das von A.M. Remizov und von Hippius).
Nach der Versöhnung mit Blok und seiner Frau zog ich wieder zu Mereshkovskijs; und ich nahm das gleiche Leben wie früher wieder auf; Diskussionen über das Verhältnis von Religion und Gesellschaft, Sitzungen mit Berdjaev, mit „Dima“ Filosofov, mit Kartaschov; um diese Zeit freundete sich S.P. Remizova-Dovgello mit Mereshkovskijs an.
Man traf sich bei Rozanov, bei Sologub, wie im letzten Jahr; Sologub war eindeutig revolutionär gesinnt; seine Pamphlete gingen von Hand zu Hand; eines ist mir in Erinnerung geblieben: 

Drei Laternen stehen, um drei Leute zu hängen:
Die mittlere für den Zaren, zu beiden Seiten die Zarinnen…

Unvergeßlich bleibt mir meine erste Begegnung mit A.M. Remizov; er hatte mich sehr erschreckt: ich kam von Bloks zurück, betrat das Wohnzimmer Mereshkovskijs und sah: vom Sofa erhebt sich ein sehr kleiner, etwas gebückter Herr, mit einem durchdringenden Blick hinter den Brillengläsern und sagt lächelnd:

Ich kenne Sie!

Er streckte zwei Finger vor und kam auf mich zu, gebückt, wie man mit Kindern spielt, und sagte:

Hier – die stößt, die Ziege stößt!

Die Hippius lachte.

So, Ihr müßt Euch kennenlernen; das ist Borja und das Aleksej Michailovitsch.

Zuerst fürchtete ich mich vor Remizov; seine Witze schienen mir unheimlich; aber ich habe ihn sehr bald liebgewonnen.
Ich erinnere mich, wie er einmal bei Rozanov in besonders übermütiger Stimmung war; und wie er mit Ivanov scherzte, der gerade zu dieser Zeit nach Petersburg gezogen war:

Vjatscheslav Ivanovitsch hat Tabak an der Nase.

Und dann sprang er unvermutet auf den Schaukelstuhl zu, in dem der massive Berdjaev versonnen schaukelte, und gab ihm einen Stoß; Berdjaev machte einen salto mortale und landete unter dem Schaukelstuhl. 

Damals hatte Bakst das Porträt der Hippius vollendet; er kam zu Mereshkovskij, um mich zu malen; aber auch Zinaida Hippius nahm an den Sitzungen teil; wir unterhielten uns; Bakst fixierte mich und fiel über den einen oder den anderen charakteristischen Zug her, wie ein Wegelagerer; aus irgendeinem Grunde waren diese Sitzungen sehr anstrengend; ich hatte das Gefühl, als würde Bakst mein Gesicht zertrümmern; zum Schluß bekam ich eine Gesichtsneuralgie; die Empfindung blieb: Bakst hat mir die Kiefer gebrochen; das Porträt gibt den jammervollen, leidenden Gesichtsausdruck wieder; später schrieben die Zeitungen, daß ein Blick auf dieses Porträt genügen würde, um festzustellen, daß ich völlig degeneriert sei; mir gefiel dieses Porträt nicht; bald darauf zeichnete Bakst mich noch einmal, für die Redaktion von Zolotoje runo, die bei ihm Dichterporträts bestellt hatte; zur gleichen Zeit hatte Somov Ivanov und Blok gezeichnet.
Ich teilte meine Zeit wie früher zwischen dem Haus Muruzi und Blok; aber unser Beisammensein hatte etwas Improvisiertes; wir kultivierten eine mediumistische Atmosphäre; aber wir fühlten uns wohl; wir lachten viel; wir spielten „Kinder“; einmal sagte mir Blok schmunzelnd, daß sie genau wüßten, wer ich sei.

Wer soll ich denn sein?

Ljubov Dmitrijevna lachte und wollte nichts sagen: Blok schmunzelte, senkte die Augen und sagte sehr leise:

Das soll dich nicht kränken – wir haben ein Spiel: Ljuba und ich spielen oft ,Tiere‘…

„Und was für ein Tier bin ich?“
„Das ist gut gemeint – das soll dich nicht kränken: du bist ein weißes Häschen; das ist unser Lieblingstier…“
Manchmal war das Märchenspielen wie weggeblasen; Blok wurde düster, Nebel ballten sich um ihn zusammen; ich bekam Atemnot, besonders, wenn er sich mir gegenüber vertrauensvoll zeigte; einmal tranken wir im Eßzimmer Tee; dann führte er mich in das Schlafzimmer und sagte, er müsse mir etwas anvertrauen, unter vier Augen, ohne „Ljuba“; er ließ mich auf dem Sofa Platz nehmen und versuchte mir zu erklären, daß er im Augenblick zu einer erstaunlichen, außerordentlich wichtigen inneren Erfahrung gekommen sei; diese Erfahrung sei verbunden mit der Wahrnehmung der dunkelvioletten Farbe, begleitet von einem ziemlich starken Veilchenduft:

Weißt du, das ist ein beklemmender Duft: violett und nächtlich…

Mit dieser Farbe begann für ihn eine Aera neuer Erfahrungen; damals arbeitete ich an einer Theorie der Farbwahrnehmungen; Blok wußte, daß ich in dieser Theorie das im mystischen Erleben Empfangene zum Ausdruck brachte; einen Menschen, ein Ereignis als Farbe zu erleben (als Farbe im Sinne dieser Theorie), bedeutete ein geistiges Experiment; die mystische Erfahrung charakterisierte ich als die Beziehung der Farben untereinander; und nun bemühte sich Blok, das Gesicht mir zugeneigt, mir zu erklären, was er durch das Einleben in das duftende, veilchenartige Dunkelviolett erfahren hatte: diese Farbe führte ihn auf seltsame Weise von der eigenen Vergangenheit fort und öffnete ihm den Ausblick auf eine dunkle, violette, neue, unermeßliche Welt. Was ist das Violett? Und Blok sah mich prüfend an.
Ich wurde verlegen.
In meinem Versuch über die Farben dominierten drei Farben: die Farbe des Lichts, das heißt das Weiß; die Farbe des lichtlosen Abgrunds, der durch das Licht schimmert – der Azur; und das Purpurrot, das im Licht nicht gegeben ist, zu dem sich die Gerade des Lichtspektrums als Kreis zusammenschließt. Das Ineinanderweben der drei Farben (Weiß, Azur, Purpur) bedeutete für mich das mystische Farbdreieck – das Antlitz Christi; ich verkündete: Christus wird in der Dreifarbigkeit wahrgenommen: im Azur, Purpur und Weiß; Azur und Purpur, Weiß und Purpur, Weiß und Azur sind Wege der Versuchung, Sekten. Das Dunkelviolett, das Blok verzauberte, eine Farbmischung, Purpur durch Azur (dem Licht vor dem Lichtlosen) würde die größte Versuchung bedeuten, die von dem Antlitz Christi fortlockt; während Blok mir leise und aufgeregt die Wahrnehmungen, die beim Erleben dieses Dunkelviolettrot sich eingestellt hatten, schilderte, fühlte ich mich unwohl: als hätte jemand in diesem Zimmer ein gefülltes Kohlebecken aufgestellt; mir wurde übel wie von Kohlendunst; das war der Odem Luzifers; der „Rachen der Nacht“, der mich schon einmal nach dem Gespräch mit Blok auf der Wiese angegähnt hatte; ihn sah ich wieder; ich sah Blok in die undurchdringliche Nacht entschwinden und wußte: ich muß ihm die Antwort schuldig bleiben, denn er würde mir nicht glauben und sich gekränkt fühlen; ich antwortete:
„Ja, dieses Violett ist der Gipfel der Verfeinerung, aber in ihm ist nichts von dem Antlitz…“
„Nun… das macht nichts: das ist gut!“
Und wieder glaubte ich zu ersticken; früher erlebte Blok das Schwarz als etwas Furchtbares, Tödliches und ängstigte sich davor; jetzt versenkte er in diese „Todesnacht“ aus reinem Ästhetizismus die drei heiligen Farben (Azur, Purpur und Weiß) und mischte sie unter die Dunkelheit; und diese Mischung wurde zum Dunkelviolett, zur Veilchenfarbe, zum Geruch Luzifers; Bloks Geständnis erschütterte mich; aber er hatte meine geheimen Gedanken nicht gelesen: die Furcht um ihn, der aus der strahlenden rosagoldenen Atmosphäre in die dunkelviolette Nacht entführt wurde; dann las er mir die „Nachtviole“, die erste Fassung; in diesem Gedicht wollte er seine Erfahrung des „Violett“ und der neuen Erfahrungen, die mit dem „Violett“ verbunden waren, aussprechen:

… der Himmel, müde geworden,
Taten und Gedanken meiner Mitmenschen zu verschleiern,
Stürzt in den Sumpf.

Ja, gerade den Sturz des „Himmels“ in den Sumpf, in dem nun alles versank, zeigte diese dunkle Veilchenfarbe an: 

Ich ließ die Stadt hinter mir,
Ging langsam hinab,
Die öde Straße entlang.

Ich nahm den Auszug Bloks in die Falle der „Sümpfe“ deutlich wahr; am Anfang der „Unverhofften Freude“ spielt sich alles in den Sümpfen ab:
„Wir im Moos, mitten im Sumpf“, „Der verseuchte Traum des Wassers – Rost auf den Wellen“, „Moose überwuchern das Land“, „Das Sumpfpfäfflein zeigt sich in der Ferne“, „Fürchte Dich nicht vor dem sumpfigen Grund“, „Liebe das Ewige der Sümpfe“, „Die Buße der Sümpfe – willkommene Ruhe“, „In diesen Senken träumt stilles Wasser“, „Ich weiß, ich weiß… von der Zeitlosigkeit lichtbeschienener Sümpfe“, „Der Sumpf – tiefe Augenhöhle des riesigen Augapfels Erde“, „Ein grünes Irrlicht zieht vorbei, um im Sumpf zu verlöschen“, „Der Sumpf spielt mit Euch, Euch lockt seine dunkle Kraft“ usw., usw.

Der Weg senkt sich hinab,
Man sieht keine Häuser mehr,
über den Sumpf, von einem Moosbuckel z
um anderen,
Über faulendes und rostiges Wasser
Führen schmale Stege.
Und ein Pfad schlängelt sich…

( „Die Nachtviole“) 

Wohin schlängelt sich der Pfad? 

Und ein Pfad schlängelt sich
Durch violettgrüne Dämmerung…

Diese violettgrüne Dammerung – das Einsaugen des hinuntergestürzten Himmels durch die Sümpfe; der Sturz des Himmels in den Sumpf erfüllte mich mit Angst um Blok; wie war es nur möglich, daß er selbst keine Angst empfand?

Nicht ohne Grund war alles so ruhig
Und so erfüllt in festlicher Begegnung.

Mit wem?

Niemand hatte je gehört
Von seinen leiblichen Eltern
Oder von seinen Schulmeistern…
Daß ein Vagabund wie ich…

Der violettgrünen Blume kann ansichtig werden,
Die da heißt: Nachtviole.
Und behalten habe ich,
Daß in dieser niedrigen Stube
Ein süßer betäubender Duft wehte,
Weil der Traum der Sümpfe
Hinter meinem Rücken vorüberzog,

Weil die Luft durchdrungen war
Von dem Aufblühen der Nachtviole.

Und weiter:

Ich sitze über dem Sumpf.
Im Sumpf blüht
Ohne zu welken, ohne zu täuschen
Meine violette Blume, die ich nenne: Nachtviole.

In diesen Auszügen finden wir die Exposition des Dunkelviolett, das für Blok damals ein Emblem für Erfahrungen wurde, die an die Stelle der früher wahrgenommenen rosagoldenen Morgenröte traten:

Der violette Westen lastet…

Und das bringt mit sich:

Weit, tief
Sind die violetten Hänge der Schluchten.

Was verbirgt sich gestalthaft in dem Lila, dem Veilchenblau? Es ist das „unschöne Mädchen“, das an seinem Spinnrad sitzt.

Ich weiß gewiß,
Daß ich sie früher einmal gesehen habe,
Und sie vielleicht schöner
Und damals schlanker und jünger war.

Sie ist jene, von der Blok früher sagte:

Der Königstochter ist so matt zumute und süß –
Die Königstochter ist eine Braut, ein Ewiges Licht…
Neige Dich, o Königin, vor der Königstochter,
Einer Königstochter mit goldenen Locken.

Jetzt ist die Königstochter alt und häßlich geworden:

Das unschöne Mädchen
Mit unscheinbarem Gesicht…
Und ich weiß gewiß,
Daß ich sie früher einmal gesehen habe.

Er sollte sie nicht gesehen haben!?

Du betratest die weiten Gemächer,
Majestätisch, so still und so streng.
Ich trug Deinen Schleier
Und schaute auf Deine Perlen.

Das „unschöne Mädchen“ fand sich jetzt nicht mehr in einem Schloß, sondern in einer Bauernhütte; dort versammelten sich schlafende, über ihren Bechern einnickende Könige; dort ist auch ein Alter mit seiner Alten; das „unschöne Mädchen“ aber ist, wie es sich erweist, die Königstochter:

Die Königstochter eines vergessenen Landes
Mit Namen: Nachtviole.

Das vergessene Land ist das Land der Morgenröten; seine Bewohner sind die Argonauten: ihnen rief er einst zu:

Und mit heiligem Schauer
Langersehnter Zeit,

Brechen wir auf in die Weglosigkeit,
Zum unnennbaren Licht.

Und jetzt schlafen sie – den ewigen Schlaf:

Der eine, auf seinen Schild gestützt,
Hat einen schlanken Sporn verloren
Unter der Bank;
Ein anderer hat seinen Helm fallen lassen –
Und neben dem Helm
Sprießt ein blasser Grashalm,
Verurteilt zu leben ohne Frühling…

Sie schlafen beim Surren des Spinnrads – der Ewigen Wiederkehr:

So vergehen, vielleicht, Minuten,
Vielleicht aber Jahrhunderte…

Jetzt nickt mein Nachbar über dem Becher ein,
Dumpf schlagen die Hände auf,
Und der Kopf sinkt auf die Bank.
Klirrend zerfällt das Schwert.
Der Schild liegt daneben. Und unter dem Helm
Lugt ein lustiges Mäuschen hervor…

Der Untergang des vergessenen Landes zeichnet sich deutlich ab; was ist geschehen? Welches entsetzliche, unfaßbare Unglück ist Blok zugestoßen? Aber er erlebt dieses Unglück als das Land violettgrüner Dünste – als „Unverhoffte Freude“.

So surrt das heilige Spinnrad,
Und es webt der lebendige, flüchtige Traum
Von der unverhofften Ankunft der Freude,
Die ungetrübt sein wird.
Und währenddessen blüht die Nachtviole.

Die Nachtviole oder das Erleben des Dunkelviolett- ist das damals dominierende Leitmotiv bei Blok; und aus diesem Leitmotiv wird die Nacht geboren, die er beschreibt:

In einem langen schwarzen Gewand,
Begleitet von einem Gefolge schwarzer Wagen,
Im matten Phosphorglanz –
Zieht die Nacht den königlichen Weg.

Wer bist Du, die Du mich mit nächtlichem
Giftkraut Trunken machtest?
Wer bist Du, die Du Dich als Weib zeigst
In einer Aura roter Flammen?

Luzifer!
In jener Nacht blieb ich lange mit Blok auf dem Sofa sitzen; er las mir die Skizzen zu der „Nachtviole“ und weihte mich in großer Erregung in sein Erlebnis des Dunkelviolett ein; ich glaubte zu ersticken; auf meiner Seele lastete die Frage: 

Wer bist Du, die Du mich mit nächtlichem Giftkraut
Trunken machtest?

Aber Blok retten – das war schwer, fast unmöglich: ich war mir bewußt, daß der Versuch Solovjovs, Blok zu retten, in einigen Zeilen dieses Poems sich spiegelte, als Niederschlag der Tage von Schachmatovo, des Zerfalls der menschlichen Beziehungen:

… Er verschwand um die Ecke,
Die Mütze tief in die Stirn gezogen
Und ließ mich allein
(Zu meiner unaussprechlichen Genugtuung,
Denn es gibt nichts Angenehmeres auf Erden
Als den Verlust der besten Freunde).

Lange saßen wir zusammen; dann kehrten wir still zum Teetisch zurück; ich schwieg: das eben Gehörte bedrückte mich; Ljubov Dmitrijevna und Aleksandra Andrejevna beobachteten uns verstohlen; sie wußten: man darf uns nicht über ein Gespräch unter vier Augen ausfragen; die Stimmung war traurig und dumpf; und ich ging bald. Blok hat trotz allem nichts gemerkt; seine Vertrautheit mit dem violetten Geheimnis bedrückte mich.
Damals traf ich bei Blok oft einen sehr jungen Studenten; er gefiel mir; einmal gerieten wir bei Tisch in einen Streit über die natürlichen Prinzipien der Form in der Ästhetik; ich erinnere mich, ein Bruder von Ljubov Dmitrijevna, der junge Mendelejev, war bei diesem Gespräch dabei; mit dem Studenten stand Blok, wie ich glaubte, auf ganz besonders vertrautem Fuß; kein Mensch auf der ganzen Welt wußte damals, daß er dichtete: es war Gorodeckij; einige Monate später machte er von sich reden; Blok schrieb als erster über ihn; er sah in ihm ein sehr beachtliches Talent. Immer öfter erzählte mir Blok von Evgenij Ivanov, einem sehr bedeutenden Menschen seiner Meinung nach; Aleksandra Andrejevna pflichtete ihrem Sohn bei; ich kann mich nicht erinnern, ob ich ihm damals bei Blok begegnet bin; wahrscheinlich sah ich ihn bei Mereshkovskijs; dort wurde E. Ivanov „Rotschopf“ genannt; E. Ivanov wurde Bloks Freund. Blok sagte häufig über ihn mit großem Ernst:
„Weißt du – er ist wirklich erstaunlich: kraftvoll und erfahren…“
„Nein, er ist anders als alle…“
„Er ist durch und durch echt…“
Ich weiß, daß Blok später in besonders kritischen Situationen seines Lebens sehr oft E. Ivanov um Rat gefragt hat. In der Zeit, als die Spannungen zwischen uns besonders stark waren, schlug Blok vor:

Du solltest Evgenij Pavlovitsch fragen: er wird es dir sagen.

Oder:

Weißt du, warte ab: bald kommt Ivanov, Evgenij Pavlovitsch, er soll überlegen, was man tun kann.

Mehr als einmal konnte ich bei Blok die Tendenz feststellen, in sehr schweren, verwickelten Situationen, die zwischen uns eintraten, an Evgenij Ivanov als Schiedsrichter zu appellieren; und dieses „a priori“ Ivanov gegenüber verstimmte mich (grundlos natürlich). Später habe ich Evgenij Ivanov als einen von jenen wenigen schätzen gelernt, die wirkliche Symbolisten waren (auch wenn sie nichts geschrieben hatten) – durch unauffällige Beteiligung an allem, an den aus den Tiefen aufsteigenden, den inneren Impuls des Lebens bestimmenden Quellen. Bei Bloks Beerdigung trat ich auf Ivanov zu, drückte ihm die Hand; er weinte; dann winkte er ab:

Er ist gegangen… und wir sind hiergeblieben; und wozu – um zu verwesen?

Die Freundschaft Bloks mit E. Ivanov erstreckte sich über Jahre.
Ich traf bei Bloks, soweit ich mich erinnere, auch Vladimir Aleksjevitsch Pjast (jedenfalls begegnete ich ihm in jenen Tagen bei Mereshkovskij); später sahen wir uns häufig bei Blok; Pjast war mit Blok befreundet, ebenso ein Bruder von Vladimir Hippius, der ein Poem von sechzehn Gesängen verfaßt hatte.
Um die gleiche Zeit knüpfte sich eine Beziehung zwischen Blok und Vjatscheslav Ivanov – durch meine Vermittlung (später, als der Bund zwischen Blok, Vjatscheslav Ivanov und Tschulkov gegen die Moskauer Zeitschrift Vesy florierte, habe ich mich oft geärgert, daß ich diesen Bund gestiftet hatte: zu meinem eigenen Schaden).
Vjatscheslav Ivanov hatte sich gerade in Petersburg niedergelassen und war im Begriff, die Petersburger Gesellschaft kennenzulernen; überall sah man seinen goldgelockten Kopf mit den sehr kleinen grünlichen, durchdringenden Augen, dem flachsfarbenen Bärtchen und der roten, glänzenden, augenbrauenlosen Stirn; er verstand es, den Gesprächspartner durch ein bewundernswertes Einfühlungsvermögen zu umgarnen, ebenso durch seine ungewöhnliche Belesenheit, die er seinem Gegenüber wie einen Teppich vor die Füße breitete; man hatte oft den Eindruck, er würde an einem Spinnennetz weben, in dem er inkommensurable Personen vereinigte und sie alle bezauberte; ich habe Ivanov oft besucht; er wohnte damals über dem Alten Schloß (dem späteren Haus der Duma); seine Wohnung lag im vorspringenden Obergeschoß, unmittelbar unter dem Dach; dieser Vorsprung wurde später „der Turm“ genannt; die Einrichtung der Wohnung (antike italienische Sessel, Bücher und Teppiche) trug zu der Atmosphäre des Phantastischen bei; Vjatscheslav Ivanov selbst und seine Frau, die inzwischen verstorbene Zinovjeva-Annibal, verkörperten die seltene Mischung von Intelligenz, Gutmütigkeit und Extravaganz; man spürte, daß die Wohnung Ivanovs bald ein geistiges Zentrum werden und das Haus Muruzi und die „Sonntage“ Rozanovs in den Schatten stellen würde.
Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wann jene Zusammenkünfte zustande kamen, mit denen die Ivanovschen „Mittwoche“ begannen, ein bleibender Beitrag in der Literatur der neuesten Zeit: entweder im November/Dezember 1905 oder im Februar 1906. Aber ich glaube, es war der November oder Dezember, ich war an dem ersten Abend dabei.
Beide Mereshkovskijs haben, soweit ich mich erinnere, es nicht besonders gerne gesehen, daß ich so viel bei Ivanov verkehrte; Zinaida Hippius wunderte sich, daß wir uns duzten; in Gegenwart Vjatscheslav Ivanovs, der Mereshkovskij einen zeremoniellen Besuch abstattete, um näselnd und singend verschnörkelte Sätze vorzutragen (sein Pincenez zitterte auf der Nase, und er stolperte zerstreut über den weichen Teppich) – in Gegenwart Vjatscheslav Ivanovs konnte die Hippius es nicht unterlassen, zu sticheln:

Ich wundere mich, Borja, warum Sie sich plötzlich mit Vjatscheslav Ivanov duzen; er ist eine ehrwürdige Persönlichkeit und außerdem älter als Sie.

Sie sagte das, um Vjatscheslav Ivanov mit dem Hinweis auf sein Alter zu verletzen: Ein Theoretiker, ein zerstreuter deutscher Professor gibt sich mit Jünglingen aus der décadence ab! Ivanov wurde rot wie ein Krebs und schrie mich mit seiner Fistelstimme an:

Ich weiß nicht… vielleicht bist du dagegen, daß wir uns duzen.

Natürlich versicherte ich Ivanov, daß es mir sehr schmerzlich wäre, ihn wieder „siezen“ zu müssen; ich war verlegen wegen der grenzenlosen Taktlosigkeit der Hippius; darin zeigte sich ihre seltsame Neigung, die Menschen, wo es nur ging, zu entzweien und peinliche Situationen heraufzubeschwören; damals brachten sowohl Mereshkovskij als auch die Hippius Ivanov unverhohlenes Mißtrauen entgegen; sie verkannten den bedeutenden und sublimen Menschen; sie glaubten immer wieder, er verfolge nur abstrakt den Gang der Ideen (sie mußten das glauben, weil sie selbst abstrakt waren). Nur uns gegenüber wehrte sich Ivanov damals mit einem gereizten Aufschrei; ich erinnere mich, daß er zu sagen pflegte: 

Solltest du denn wirklich nicht sehen, daß das alles eine fürchterliche Abstraktion ist?… Mereshkovskij sitzt fest in seiner eigenen Schale: rein gar nichts sieht er…

Während unserer häufigen Unterhaltungen in seinem Turm ist es Ivanov gelungen, in meine Seele Zweifel zu säen an den „religiösen Wegen“ Mereshkovskijs; mit einem Wort, ich fühlte: der Turm auf der Tavritscheskaja wuchs zu einer uneinnehmbaren Zitadelle, von wo aus der Beschuß des Hauses Muruzi eröffnet werden sollte.
Ich habe Ivanov und Zinovjeva-Annibal viel und lange über Blok erzählt, den sie kaum kannten; Blok hielt damals Ivanov für einen eingeschworenen Theoretiker und dessen dionysische Haltung für einen Irrweg und wich Ivanov aus; im Gegensatz zu Mereshkovskij überraschte mich Ivanov durch ein erstaunlich feinfühliges Verständnis für meine Beziehungen zu Blok und dessen Muse, für alles, was uns verband und für die Atmosphäre, die zwischen uns webte; gerade das, was Mereshkovskijs verspotteten – Unsagbarkeit, Unausdrückbarkeit, Schweigen – gerade darin stimmte Ivanov ein mit seiner singenden hohen Stimme wie mit dem Bogen einer großen Geige, dem Geigenbogen eines Gockels; er ging vor mir auf und ab, schüttelte die flachsblonde lockige Mähne und durchtönte das ganze Zimmer, das merkwürdigerweise dreieckig war:
„Das ist das Wesen der dionysischen Einweihung: das, was Sie und Blok verbindet, ist ein Mysterium…“
„Mysterienfeuer muß gehütet werden…“
„Wir stehen vor einem neuen Eleusis!“
Und dann kam er auf die Theorien des Neuen Theaters zu sprechen, das sehr bald Wirklichkeit werden sollte (und zwar nicht auf der Bühne, sondern im persönlichen Leben, gesteigert durch das Dramatische).
Auf diese Weise zeigte Ivanov größte Feinfühligkeit mir und Blok gegenüber.
Ich habe Blok häufig meinen Eindruck von Ivanov wiedergegeben; ich beharrte darauf, daß er ein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen habe; Blok konnte mir kaum glauben. Der Ruf Ivanovs, der Ruf eines Theoretikers und nicht eines Dichters und sein Gebaren schienen dem zu widersprechen: das Gebaren eines Professors; Ljubov Dmitrijevna jedoch zeigte sich empfänglich für den Gedanken des neuen Mysterientheaters, der mit ihrer augenblicklichen Stimmung korrespondierte – für einen Versuch, der Improvisation Dauer und dem Wortlosen äußeren Ausdruck zu verleihen; ihr gelang es, Blok für diesen Gedanken zu gewinnen.
So habe ich bei ihnen den Boden für eine Begegnung mit Ivanov vorbereitet; diese Begegnung war mit einer konkreten Idee verknüpft: ein neues „Kollektiv“ (halb Studio, halb Gemeinde); nur Wenige, Auserwählte, sollten nach unserem frei der Phantasie entsprungenen Entschluß in dieses „Kollektiv“ aufgenommen werden; ich weiß nicht mehr, wer der Urheber dieser Idee gewesen ist, vielleicht Ljubov Dmitrijevna; Blok zeigte sich interessiert; Ivanov, dem ich von diesem Einfall erzählt hatte, arbeitete ihn weiter aus; die Folgerung war: Blok und Ivanov mußten sich treffen.
Ich begleitete Ivanov bei seinem ersten Besuch bei Bloks; noch im Schlitten betrachtete ich den in einen riesigen Pelz gehüllten Ivanov, seine schlechte Haltung, sein zitterndes Pincenez auf der Nase und dachte: Blok und Ljubov Dmitrijevna werden erschrecken – sie werden erschrecken vor dem „Dozieren“, und das Gespräch wird stocken; aber das Gespräch stockte nicht: Wie ein Zauberer wob Ivanov an dem flaumigen Spinnenwebennetz der Ideen; selbstverständlich bezauberte er Blok; Ljubov Dmitrijevna schienen seine Worte über die purpurfarbenen Gewänder bei den dionysischen Mysterien und über die „grünen Bacchanten“ besonders zu beeindrucken; wir beschlossen: den Kreis nach Möglichkeit zu verwirklichen; Vjatscheslav Ivanov erwähnte Tschulkov als eine feinfühlige Seele, die uns verstehen würde; wir nahmen Tschulkov in unser „Kollektiv“ auf.
So bildete sich der Kreis von Menschen, die später die Begründer der Zeitschriften Fakely und Ory wurden; Tschulkov sprach von dem mystischen Anarchismus, als dessen Träger er ursprünglich Ivanov, Blok und mich ansah; später mußte ich ihn enttäuschen: es verging kaum ein Jahr – und ich eröffnete in Vesy eine Kanonade gegen ihn; bis dahin hörte man auf die Vokabel „mystischer Anarchismus“; und die Vokabel gefiel.
Die erste Zusammenkunft (nicht die des „Kollektivs“, sondern der Beginn künftiger „Mittwoche“) fand, wie mir scheint, uni die gleiche Zeit statt (vielleicht ein wenig später), im Turm; ohne es mir vorher zu überlegen, lud ich P.I. Bezobrazov ein, mich zu begleiten, einen Menschen, der nach Urväterart dachte, an Platzangst litt und mich bat, die Treppe neben ihm hinaufzusteigen. Bezobrazov wurde zum Vorsitzenden einer improvisierten Diskussion über das Thema „Liebe“ gewählt und legte so den Grundstein zu den „Mittwochen“; wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, waren an diesem Abend anwesend: Mereshkovskij und Zinaida Hippius, Berdjaev mit Frau, V. Rozanov, P. Bezobrazov, Ivanov mit Frau, Blok; sonst kann ich mich an niemand erinnern (vielleicht G.I. Tschulkov?); zum Thema „Liebe“ sprachen Ivanov, Berdjaev, ich, L.J. Berdjaeva; ich kann mich nicht mehr erinnern, ob Mereshkovskij etwas gesagt hatte; Rozanov schwieg; er kam nach meiner Rede auf mich zu (ich glaube, ich sprach über drei Phasen der Liebe: die Liebe zu Gott, zu Ihr, zu den Menschen; und nannte diese Phasen ihrem Rang nach die Erste, Zweite, Dritte) und fragte:
„Aber sagen Sie, Sie haben das sicher nicht erlebt, wovon Sie eben gesprochen haben?“
Ich fragte zurück:
„Wie kommen Sie darauf?“
Er beharrte:
„Wenn Sie auch nur einen Teil von dem erlebt hätten, was Sie soeben sagten, wären Sie ein Genie…“
Die Worte schwappten über seine Lippen; er wiederholte:
„Sie haben es nicht erlebt, natürlich nicht…“
„Sie geben es doch zu?“
Blok saß abseits in einer Ecke, lehnte den Kopf gegen die Wand und hörte aufmerksam zu, mit einem stillen Lächeln; als man ihn ansprach und aufforderte, gleichfalls etwas zu sagen, antwortete er, er verstünde sich nicht aufs Reden, aber er könne eines seiner Gedichte vorlesen; und er las „Verliebtheit“; an diesem Abend war er in einer guten Stimmung; sicher, laut, mit stolz erhobenem Kopf warf er uns die Verse entgegen:

Verliebtheit, du bist strenger als das Schicksal,
Fordernder als die geheiligten Gesetze der Ahnen;
Heller als der Klang der Posaunen!

Ich stand vor der Abreise nach Moskau; ich glaube, die Fahrkarte war bereits gekauft; ich glaube, ich hatte mich bereits von Bloks verabschiedet; mit einem Wort: ich war nicht mehr da; und plötzlich: Eisenbahnstreik, Aufstand in Moskau. Jeder Abschied von Blok war von einem Eklat begleitet: Ermordung von Pleve, Ermordung des Großfürsten, Meuterei auf dem Panzerkreuzer „Potjomkin“, Aufstand in Moskau.
Ich mußte bleiben und abwarten; mit einem der ersten Züge fuhr ich dann; der Abschied war heiter; Blok sagte:

Du solltest ganz zu uns ziehen…

Und Ljubov Dmitrijevna bekräftigte:

Kommen Sie bald wieder: Wir werden uns alle freuen.

 

Auf dem Gipfel

Der erste Eindruck bei der Rückkehr nach Moskau: Zerstörung; auf vielen Straßen fehlten die Telegraphenmasten; man hatte sie abgesägt und zum Bau von Barrikaden verwendet; später wurden sie von Polizisten und Soldaten aufgeschichtet und verbrannt; der Schnee war noch ganz schwarz; um acht war Polizeistunde. Ich bewegte mich durch Moskau wie im Traum; ich bereitete den Umzug vor; ich erinnere mich nur an die ersten Versammlungen bei Zolotoje runo, deren erste Nummer soeben erschienen war, und weiter an den Briefwechsel, einen stürmischen Briefwechsel mit den beiden Mereshkovskijs wegen meines Artikels „Ibsen und Dostojevskij“ und einer Notiz (ich kann mich an den Titel nicht genau erinnern) „Väter und Söhne des russischen Symbolismus“; für die Schädigung des Ansehens Dostojevskijs würdigte mich Mereshkovskij eines imposanten Zornausbruchs, er schrieb mir eigenhändig (normalerweise mußte Zinaida Hippius sich brieflich für ihn schlagen) und belehrte mich, daß ich „unsere“ Sache verraten hätte; in Dostojevskij beleidigte ich „unsere Linie“; und in der „Linie“ beleidigte ich die künftige Kirche Christi (um diese Zeit war das „Bewußtsein“ Mereshkovskijs auf Dostojevskij eingestellt, einige Jahre später auf Tolstoj); in meinem Artikel sagte ich: wie teuer uns auch die Namen Mereshkovskijs und Rozanovs sein mögen, es müsse doch aufrichtig zugegeben werden, daß ihr Weg nicht zu erschöpfender Beantwortung unserer Fragen führen könne; am Ton dieser Notiz zeigte sich die wachsende Enttäuschung über die „religiösen Wege“ der beiden Mereshkovskijs, die ich liebte als Menschen und immer weniger schätzte als Lehrer des gerechten Lebens; diese Unterscheidung ließen sie nicht gelten. Mereshkovskij nahm sofort seine stereotype Pose ein:

Christus – Antichrist; mit uns – gegen uns; wenn nicht mit uns – dann Verrat!

Er schlurfte in seinen mit Pompons verzierten Schuhen über das Parkett, zog Kreise um seinen Gesprächspartner und bemühte sich, der Brust eines der abtrünnigen Brüder (oh, und wieviele sind abtrünnig geworden!) einen Reueseufzer zu entlocken. Ich wußte: in Petersburg erwartet mich ein Donnerwetter; und ich war bereit, meinen Kopf hinzuhalten (ich liebte Mereshkovskij); mein Artikel brachte nichts anderes als den Niederschlag meiner Gespräche mit Blok und Vjatscheslav Ivanov.
Ich muß erwähnen, daß Blok niemals mit Mereshkovskij sympathisierte; er verhielt sich stets abweisend, ausweichend, und hielt die „Unbestimmtheit“ wie einen Schild den Versuchungen der gnostischen Atmosphäre der Hippius entgegen; war es ein Entschluß, war es ein Instinkt, der sich in den festen Willen – Mereshkovskij nicht zu akzeptieren – verwandelte, jedenfalls war Bloks Haltung unnachgiebig; so war das immer: wenn er Stellung bezog, geschah es mit aller Entschiedenheit.
„Nun – und Sie?“ – fragte Mereshkovskij Blok und funkelte mit den Augen; und in diesem „und Sie?“ klang eine nicht zu überbietende Überlegenheit, ein Sich-Brüsten mit „Weltideen“ (während es sich eigentlich nur um Brosamen von den Tischen Rozanovs, Schellings, Hegels, Nietzsches handelte).
Blok fühlte das deutlich, und wenn er sich zu Mereshkovskij herabließ (der durch die ganze Welt die Wände des Hauses Muruzi um sich trug, sei es in Berlin, Paris oder Konstantinopel), war er verlegen wegen dessen Blindheit; er trat von einem Fuß auf den anderen und antwortete mit einer seltsam belegten Stimme, die plötzlich unnatürlich laut und hart klang; man glaubte, die Stimme würde jeden Augenblick versagen; so war es immer, wenn er gekränkt war:

Ach es geht… schlecht und recht, Dmitrij Sergejevitsch.

Man spürt ganz deutlich: zu einem Gespräch kann es nicht kommen; Mereshkovskij, auffallend zierlich, auffallend behaart, grinst unvermittelt und bleibt mit offenem Mund stehen (als wolle er lachen… lachen… und bringe keinen Ton hervor), mustert uns der Reihe nach mit hervorquellenden Augen und triumphiert, weil er den Anwesenden ein „possierliches Tierchen“ vorgeführt hat; aber das „Tierchen“ merkt das; und weiß, was alles sofort lautstark verkündet und später fürs Publikum in einen Band Mereshkovskijs sämtlicher Werke aufgenommen sein wird. Und Blok verschwand manchmal für Monate.
Mereshkovskijs grollten: 

Blok ist wieder verschwunden; er kommt nicht mehr, er hat sich vergraben, wie ein Maulwurf, und brütet über seinen ,Irgendwo‘ und ,Irgend etwas‘.

Blok blieb unnachgiebig in seiner taktvollen Ablehnung Mereshkovskij gegenüber (ein anderer hätte ihm die Meinung gesagt) – er gab den beiden nicht nach; alle anderen fielen um, wenn auch nur vorübergehend: ich, Berdjaev, Kartaschov, Ern, Sventickij, Volshskij…
Aber bei Blok stießen Mereshkovskijs auf Stein.
In meinem Leben fiel Blok die Rolle einer Hand zu, die mich entschieden von Mereshkovskij wegführte – nicht durch Überredung oder Gegenwirkung, sondern durch das Verständnis (ein erstaunliches!) für dessen seelische Struktur; Blok siegte, ohne zu kritisieren.
Jahre, Jahre hindurch brüllte Mereshkovskij aus seinem Arbeitszimmer in die Welt hinaus, er müsse so schreiben, daß er allgemein verstanden werde, er lerne täglich, stündlich, so zu schreiben. Wieviele langwierige Bemühungen hat es gekostet, um umständliche und hochgeschraubte, gewollt abstrakte Konstruktionen populär zu machen; wieviele Belehrungen mußte ich über mich ergeben lassen, die an uns arme stammelnde Dichter gerichtet wurden: „Nehmt mich als Beispiel – ich strebe die Allgemeinverständlichkeit an“; Blok schrieb nie, um verstanden zu werden, das Problem der Verständlichkeit existierte für ihn überhaupt nicht; aber wenn man heute die Aufsätze Bloks und die Bände Mereshkovskijs vergleicht – wer spricht eindringlicher? Blok haben alle verstanden… aber Mereshkovskij – trotz seiner Bemühungen um Popularität – hat die Gesellschaft über Bord geworfen. In der schweren Stunde Rußlands, als überall aus dem Volk Fragen aufstiegen, als alle – alle! – zu Hilfe aufgerufen wurden, zum Kampf mit dem Leichengift des mechanisch verstandenen Marxismus – wo war da Mereshkovskij? War er wirklich vor den Bolschewiki ins Ausland geflohen? Floh er nicht vielmehr vor den Arbeitern, den Bauern, den Rotarmisten, den Matrosen, die die Hand nach dem Brot des Lebens ausstreckten? Als Kotljarevskij, Ivanov, Balmont, Koni, ich und andere „apolitische“ Dichter auftraten (bei Versammlungen, in den Studios), um den Geist zu stärken (denn damals lebte man nur vom „Geist“) – wo war da Mereshkovskij? Er spähte ängstlich durch den Türspalt aus seinem Arbeitszimmer auf der Sergejevskaja, voller Angst, sich „die Finger schmutzig zu machen“ und sein Gesicht vor Burcov zu verlieren; wenn die Arbeiter fragten: „Erklärt uns, ist es wahr, daß das Bewußtsein nur durch das Gehirn bedingt ist?“ – so erschienen im „Haus der Kunst“, in der „Akademie für geistige Kultur“, in der Volfila, im Auditorium des Polytechnischen Museums in Moskau und in Petersburg Menschen, die ihnen sagten:

Nein, und abermals nein!

In den „Studios“ erschienen: Gumiljov (der später erschossen wurde) und der greise Koni, die beide über russische Literatur lasen; vor dem Auftrag der geistigen Kultur, die das tägliche Brot des heutigen Rußland ist, vergißt man die politischen Differenzen (sie müssen vergessen werden, wenn von überall her der Schrei ertönt: „Brot, geistiges Brot!“).
Und Mereshkovskij, die hervorquellenden Augen furchtsam nach Paris gerichtet (von dort beobachtet ihn durch ein Fernrohr Burcov), weiß bei der Aufforderung „Gebt den Arbeitern wenigstens etwas“ (und die Arbeiter bitten: „Wir möchten nichts über Politik hören, sondern über… Gogol!“) nicht Besseres zu tun, als sich erschrocken zu verkriechen.

Wissen Sie, das kann ich nicht: man wird mich nicht verstehen!

Die Matrosen der baltischen Flotte haben sogar… Gumiljov verstanden!
So läuft er vor dem besten weitherzigen Auditorium davon (dafür applaudiert ihm Burcov in Paris), ängstlich jenes „Öl“ hütend, von dem früher seine Reden über das geistige Anliegen des erwachenden Rußland troffen, um jetzt das Haupt des zum Messias erklärten Pilsudskij (trotz dessen Haß gegen Moskau) damit zu salben; und Hippius, die in den schwierigen Monaten nicht geistige Widerstandskraft, sondern Schlangengift gesammelt hat, beginnt jenseits der Grenze des sovjetischen Rußland die russischen Schriftsteller zu schmähen: ja, man kann wohl sagen: eine sehr merkwürdige Auffassung von sozialer Verpflichtung!
Heute muß man unwillkürlich Blok recht geben, der schon damals das alles in Mereshkovskij gesehen hatte; „er macht sich nicht gern bei der Arbeit schmutzig, er ist verzärtelt“ – damit war alles gesagt; zierlich, klein, zum Disputieren am besten aufgelegt in Hausschuhen mit Pompons; weniger geschickt bei öffentlichen Diskussionen (aus Taubheit für die Gedanken des Gegners): unaufhörlich redend, wenn Schweigen angebracht war und schweigend, wenn eine Stellungsnahme (zum Beispiel: „Marx ist insolvent“) eine heilige, eine unerläßliche Pflicht wäre.
„Er macht sich nicht gern bei der Arbeit schmutzig, er ist verzärtelt“ – charakterisierte Blok Mereshkovskij (ich glaube, während eines Spazierganges): damit ist alles gesagt! Ich begann daraufhin, ihn aufmerksam zu beobachten: Ja, so war es. Wenn jemand zu Besuch kam:

Zina, sprich du mit ihm, ich muß mich ,Pjotr‘ widmen.

Und Zinaida Hippius mußte herhalten; sobald der Besucher „präpariert“ war, erschien Mereshkovskij mit Löwengebrüll und verkündete:

Wir sind Euer, Ihr seid unser.

Blok durchschaute das alles.
Mit diesen Gedanken über die Mereshkovskijs lebte ich damals; ich bereitete meinen Umzug vor und glaubte, ich würde mit Blok, mit Vjatscheslav Ivanov unsere Sache verwirklichen; wir würden unsere Wandlung vorbereiten; das Mysterium menschlicher Beziehungen unter der bescheidenen Maske: Intimes Theater. Ljubov Dmitrijevna schrieb mir um diese Zeit:

Kommen Sie bald, während Ihrer Abwesenheit hat Sascha ein Drama geschrieben; es heißt „Die Schaubude“: Es ist gut…

Im Februar 1906 reiste ich nach Petersburg ab.

(…)

Andrej Belyj: Im Zeichen der Morgenröte. Erinnerungen an Aleksandr Blok, Übersetzung Swetlana Geier, Zbinden Verlag, 1974

 

Werner Helwig: Ein Mystiker der russischen Revolution. Zu Alexander Block, Merkur, Heft 366, November 1978

Oleg Jurjew: Das Lächeln von Alexander Block

 

 

AN BLOK

Dein Name ist ein Vogel in der Hand
ein kleiner Eiswürfel auf der Zunge
einmal öffnen und schließen die Lippen
dein Name, das sind fünf Buchstaben
man hat einen Ball gefangen
man trägt ein silbernes Glöckchen im Mund

Man wirft einen Stein in den stillen Teich
man schluchzt und hat dich genannt
ein leichter Hufschlag in der Nacht –
dein heller Name
er zuckt in der Schläfe
wenn der Gewehrhahn schnappt

Dein ganz unmöglicher Name
dein Name als Kuß in die Augen
auf unbewegte Lider sanft und kühl
dein Name als Kuß in den Schnee
ein eiskalter eisblauer Quellschluck
mit deinem Namen in den Schlaf

Marina Zwetajewa
übersetzt von Christa Reinig

 

IN DER UNTERSTEN HÖLLE
Dem Andenken von A. Blok und N. Gumiljow

Tag für Tag wird schauriger und dichter
Rings die taube, starre Todesnacht,
Pesthauch löscht die Leben aus wie Lichter,
Hilfe, Schrei und Ruf bleibt ohne Macht.

Dunkles Los des, der in Rußland dichtet:
Unergründlich das Verhängnis bleibt,
Das auf Puschkin die Pistole richtet,
Dostojewski auf den Richtplatz treibt.

Sollte ich ein gleiches Los auch ziehn,
Rußland – bittre Kindesmörderin,
Und in deinen Kellern untergehn,
Schlüg’ ich auch in blut’ger Pfütze hin –
Will ich doch dein Golgatha nicht fliehn
Und nicht leugnen deiner Gräber Sinn.

Ob mich Haß, ob Hunger niedermähen –
Wählt’  ich doch kein andres Schicksal mir:
Sterb ich, will ich sterben nur mit dir,
Und mit dir, wie Lazarus, erstehen.

Maximilian Woloschin
Deutsch von Rolf-Dietrich Keil

 

 

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Kalliope

2 Antworten : Alexander Block: Kreuzwege”

  1. Andrea Clemen sagt:

    Ein wunderbarer Text über Block.Welche Einsichten in die Entwicklung Russlands und die diese spiegelnde Entwicklung Blocks. Diesen Text werde ich noch gründlich studieren.
    Und wie schön hat Christa Reing die Zwetajewa übersetzt.
    Danke für dieses grosse Geschenk.

  2. Grigori Pantijelew sagt:

    Es ist eine sehr lesenswerte Ansammlung der Texte, vor allem die zu Beginn eingebrachte Übersetzung des berühmtesten Gedichts. Trotzdem soll auch klar gesagt sein: Der Text von Roland Opitz ist durch und durch sowjetisch-ideologisch geprägt. Hoffentlich wird die Slawistik das Erbe der DDR-Zeit überwinden.

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