Anna Achmatowa: Poem ohne Held

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Anna Achmatowa: Poem ohne Held

Achmatowa-Poem ohne Held

DRITTES KAPITEL

Die Rauhnächte waren von Feuern erwärmt,
aaEs rollten die Kutschen dicht über die Brücken.
aaaaDie in Trauer gekleidete Stadt
Schwamm mit unbekannter Bestimmung
aaDie Newá hinab oder gegen den Strom, −
aaaaNur fort von den Gräbern.
Es dunkelte der Galernaja Bogen,
aaIm Sommergarten die Wetterfahne
aaaaSang im Falsett, und der silberne Mond
aaaaaaFror hell überm Silber der Zeit.
Und weil sich auf allen Wegen
aaUnd bis zu allen Schwellen hin
aaaaZu langsam der Schatten genähert,
Riß der Wind von der Wand die Plakate,
aaTanzte der Wind auf dem Dach Kasatschok,
aaaaRoch der Flieder nach Friedhof.
Und, verflucht von der Zarin Awdotja,
aaVersank in ihrem Nebel die Stadt,
aaaaDas dämonische Petersburg Dostojewskis.
Und aus der Finsternis sah
aaWieder der alte versoffene Piter,
aaaaWie vor der Hinrichtung schlug eine Trommel…

Und in der frostigen Schwüle des Vorkriegs,
aaIn der verbuhlten und drohenden, hörte
aaaaMan immer ein künftiges Grollen.
Doch damals wars dumpfer zu hören,
aaObwohl: die Seelen hats kaum gestört,
aaaaEs versank in den Schneewächten an der Newá.
Aber so wie ein Mensch im Spiegel der Nacht
aaWie ein Besessener tobt und sich nicht
aaaaWiedererkennt, näherte sich auf dem Kai,
aaaaaaDem legendären, das nicht reguläre −
aaaaaaaaDas wirkliche neue Jahrhundert.

Übersetzt von Heinz Czechowski

 

 

Fakten und Vermutungen zu Poem ohne Held

 

 

Gedächtnisse

Ritt mich der Teufel, in der Truhe zu kramen…
Na gut, aber wie konnte es nur geschehen,
daß ich an allem trage die Schuld?
Bin doch die Stillste von allen, bin einfach
„Wegerich“ und „Weißer Vogelschwarm“, ja…
Aber sich rechtfertigen… wie, meine Freunde?

1
Bei Anna Achmatowa verliert der Umgang mit dem Unheimlichen alle Nötigung und Qual. Die Schrecken der Geschichte sind verwandelt in Gedächtnisse, in das häusliche Wort, vertraut, einfach, das Leben hier und nebenan. Wie es in den „Berufsgeheimnissen“ steht:

Abflauend grollt, schon fern, Donner.
Und dann wie Klageruf, oder wie Stöhnen,
Und welcher Stimmen, unerkannt, gefangen,
Geheimnis, und ein Kreis wird immer enger,
Doch aus dem Grund von Flüstern und Geklirr
Erhebt ein Laut sich und besiegt sie alle.
Und rings um ihn so unabänderlich still,
Daß man wie Gras im Wald wächst hört, oder das Böse
Von Land zu Land ziehn mit dem Bettelsack…

Unbehaust wie sie lebte – nur ein Köfferchen mit Manuskripten bei sich, die kleine Ikone und ihre Reiseschatulle, kaum Bücher, das wichtigste im Kopf: Gilgamesch, Dante, Puschkin, Dostojewski, Eliot, Geschenke gleich weiterschenkend, viele Male monatelang von Freunden aufgenommen, da ohne eigene Wohnung – unbehaust wie sie lebte, war sie in einer Welt zu Hause, die, allein durch die Kletten, Disteln und Melde ihrer Kindheit und die Spiegel der Kunst begrenzt, nach allen Seiten hin offen war.
Einfach war für Anna Achmatowa allerdings – unerhört.

Ich sage: ins Gedicht gehört das Unerhörte,
Nicht wies bei den Leuten ist.

In den Spiegeln der Kunstgedächtnisse enträtselte sie ihr Schicksal. Sie sah sich in Dido und Kleopatra, in Fewronija aus Kitesh und der Bojarin Morosowa, in Kassandra und Phädra. Meist sind es mehrfache Spiegelungen: Durch Dantes Virgil-Bild zurück auf Virgils Bild von Dido, Königin von Karthago, die für Äneas, den Geliebten aus der Fremde starb.
Ein weiter Blick durch Lebensläufe und Zeiten. So spiegelt sie das silberne Zeitalter der russischen Poesie Anfang des 20. Jahrhunderts im goldenen Zeitalter des beginnenden 19. Jahrhunderts. So forscht sie ihrem Namen nach, sieht sich in Donna Anna oder Anna Karenina. So liest sie in den Versen, die ihr die Dichter widmeten: Chlebnikow, Blok, Gumiljow, Nedobrowo, Mandelstam, Sologub, Zwetajewa, Kljujew, Pasternak. So werden ihre Bücher – Wegerich, Weißer Vogelschwarm, Poem ohne Held – zum Gegenüber im Spiegel.
Mandelstam nannte dieses freie Verfügen über die Kulturen ein Reden in Zungen: „In heiliger Verzückung“, schrieb er in „Das Wort und die Kultur“, „reden die Dichter in den Sprachen aller Zeiten, aller Kulturen. Nichts ist unmöglich. Wie das Zimmer eines Sterbenden allen offensteht, so ist die Tür der alten Welt weit aufgerissen vor der Menge. Plötzlich wurde alles gemeinsamer Besitz. Kommt, nehmt. Alles ist zugänglich: alle Labyrinthe, alle Geheimkammern, alle verborgenen Gänge. Im „Gespräch über Dante“, 1933 bei seinem Besuch in Leningrad im Haus der Achmatowa gelesen, hat er gesagt, was dieses Zungenreden, diese Glossolalie bedeute; es sei die Erfahrung der Gleichzeitigkeit des Ungleichartigen, des Zeitenbruchs, die Dante so modern mache:

Das Unvereinbare vereinend änderte Dante die Struktur der Zeit, vielleicht auch umgekehrt: er mußte sich auf die Glossolalie der Tatsachen, auf die Synchronie der von Jahrhunderten auseinandergerissenen Ereignisse, Namen, Überlieferungen einlassen, weil er den Oberton der Zeit vernahm.

Alles ist zur Hand, von unmittelbarer Häuslichkeit, eingewohnt wie jenes Fontanny dom, in dem Anna Achmatowa mit Unterbrechungen von 1919 bis 1952 lebte und das Entstehungsort und Schauplatz des Poems ohne Held und vieler umliegender Gedichte ihres Siebenten Buchs werden sollte. Dieses Haus der Grafen Scheremetjew zwischen Fontanka und Litejny-Prospekt war in den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts von einem Sohn des goßen Feldherrn Peters I. erbaut worden. Ein Text über dieses Haus, der für die Erweiterung der Prosateile im Poem ohne Held vorgesehen war, zeigt die Arbeit ihrer Gedächtnis-Spiegel. Diese Spiegelungen erlaubten ihr nämlich jenen besonderen Begriff vom AUTOR, der die Poetik des Poems ohne Held (1940-1962) und das Siebente Buch (1936–1964) schuf. Anna Achmatowa schreibt:

5. Januar 1941. Fontanny Dom. Das Fenster des Zimmers geht auf einen Garten hinaus, der älter ist als Petersburg, man sieht es an den Jahresringen der Eichen. In der Schwedenzeit, stand hier eine Meierei. Peter schenkte Scheremetjew dieses Gelände für seine Siege. Als Parascha Shemtschugowa in den Wehen lag, baute man hier irgendwelche Festtribünen für die bevorstehende Hochzeitsfeier. Parascha starb bekanntlich im Kindbett, und es fand eine ganz andere Feier statt. Neben dem Zimmer des Autors liegt der berühmte ,weiße Saal‘, eine Arbeit Quarenghis (wo sich einst Paul I. hinter einem Spiegel versteckte und lauschte, was die Ballgäste der Scheremetjews über ihn sagten). In diesem Saal sang Parascha für den Imperator, und er schenkte ihr für ihren Gesang irgendwelche unerhörten Perlen. Der Autor hat 35 Jahre in diesem Haus gelebt und weiß alles von ihm. Er glaubt; daß er das wichtigste noch vor sich hat. Wollen wir sehen.

Den drei Zeiten dieses Texts entsprechen drei Zustände des AUTORS: der Zeit der Niederschrift – wahrscheinlich Anfang der sechziger Jahre – der AUTOR als VERFASSER; der Zeit des Gedichts – 5. Januar 1941 – der AUTOR als HELD („35 Jahre in diesem Haus“); der gedichteten Zeit – Neujahrsnacht 1913, Maskenfest im „weißen Saal“ – der AUTOR als DOPPELGÄNGER seiner Figuren.

2
War es das wichtigste, was den AUTOR – Verfasser, Held wie Doppelgänger von 1913 – erwartete? Die Belagerung Leningrads, Evakuierung nach Mittelasien, Rückkehr in die zerstörte Stadt, Kriegsende, Trennung von einem Mann und neue Liebe, neue Trennung oder „Nicht-Begegnung“, wie es heißen würde, den 14. August 1946 mit dem Beschluß „Über die Zeitschriften Swesda und Leningrad“, der Anna Achmatowa und Michail Soschtschenko wegen ihrer Veröffentlichungen scharf angriff, neue siebenjährige Trennung von ihrem Sohn nach der fünfjährigen zuvor, dann drei Buchausgaben 1958, 1961, 1965, die Arbeiten an der Autobiographie, an den Puschkin-Studien, Reisen nach Taormina und Oxford. Am Morgen des 5. März 1966, im siebenundsiebzigsten Jahr, der Tod in Moskau. Die Totenmesse fand am 10. März in der Kirche Nikola Morskoj in Leningrad statt. Ihr Grab liegt auf karelischer Erde in Kellomjagi, heute Komarowo.
Und hinter sich? Der AUTOR hatte die Tode so vieler seiner Generation zu bestehen gehabt, daß die Last der Gedächtnisse ungeheuer geworden war. Unter den jungen Toten die toten Dichter: Nikolai Gumiljow, Alexander Blok, Welemlr Chlebnikow, Wladimir Majakowski, Boris Pilnjak, Nikolai Kljujew, Ossip Mandelstam, Michail Bulgakow, Marina Zwetajewa. Ende, der dreißiger Jahre der Kampf um den Sohn, das Leid einer russischen Frau, die dann im „Requiem“ für alle sprach. Die Männer: Verbindung und Auseinandergehen mit Nikolai Gumiljow, dem Vater ihres Sohnes, mit Wladimir Schilejko, mit Nikolai Punin. Im März 1940 im Gedicht zu Bulgakows Gedächtnis die Verse:

Wer hätt gewagt zu glauben, daß ich, halbentseelt,
Ich, Klageweib der abgelebten Tage,
Ich, Scheit, das noch im Feuer schwelt,
Ich, die ich des Vergessens Lasten trage,
Gedenken müsse dessen, der voll Kraft und Plänen schön
Und voller Willen gestern noch mit mir gesprochen.

Das wird der Gestus der folgenden zweieinhalb Jahrzehnte: das Staunen über die eigene Dauer. In der Autobiographie Blätter aus dem Tagebuch, an der Anna Achmatowa von 1957 bis zu ihrem Tode arbeitete, findet sich die Eintragung:

Und wer hätte geglaubt, daß ich für so lange gedacht war, und warum habe ich das nicht gewußt, Das Gedächtnis hat sich unwahrscheinlich geschärft, Die Vergangenheit umringt mich und fordert etwas. Aber was? Die lieben Schatten einer fernen Vergangenheit, sprechen mit mir. Vielleicht ist das für sie die letzte Gelegenheit, daß die Glückseligkeit, die die Menschen Vergessen nennen; an ihnen vorübergeht. Irgendwoher tauchen Worte auf, die vor einem halben Jahrhundert gesprochen wurden und an die ich mich fünfzig Jahre lang nicht ein einziges Mal erinnerte. Es wäre seltsam, das alles nur mit meiner Sommereinsamkeit und der Nähe zur Natur zu erklären, die mich seit langem allein an den Tod erinnert.

3
Zwischen diesen Zeiten – das Poem ohne Held, das alle aufnahm, den mit einem Kosenamen, den mit seinem Todesdatum, den mit zwei Versen, sogar einen „Gast aus der Zukunft“ und wen erst in der ausgelassenen Strophe.
Es ist ein Selbstbehauptungsgedicht. Gespensternd in der „Petersburger Novelle“ des ersten Teils, drastisch im Mittelstück, einem Gespräch des AUTORS mit den irritierten Kritikern, gelassen im Epilog; ineinander verschränkt fremdes und eigenes Wort, Zitat vor allem des Petersburg-Mythos, der Petersburger „Hoffmanniana“, wie sie sagt, dem Stadtspuk der russischen Geschichte und Literatur. Vor dem Ganzen und vor den Teilen die Vorworte, Widmungen und Mottos, die die ohnehin schwebenden Bezüge endgültig zum Tanzen bringen. Zweimal träumte Anna Achmatowa ihr Poem als tragisches Ballett, Von 1958 stammen Entwürfe für ein Libretto nach der „Petersburger Novelle“, aus dem einiges in das Poem einging.
Von den Tagen der ersten Widmung und der Einleitung her, vom 27. November 1940, dem zweiten Todestag Ossip Mandelstams, und vom 25. August 1941, dem zwanzigsten Todestag Nikolai Gumiljows, wuchs das Poem und wuchs, zwanzig Jahre lang, und duldete nichts Vergleichbares neben sich. Besonders die „Petersburger Novelle“ entfaltete immer mehr Biographie. Doch dann, am 2. Januar 1961, die Bemerkung:

Diese Möglichkeit, mit der Stimme unermeßlich weiter zu reichen als es das Aussprechen von Worten vermag, meint Shirmunski, wenn er vomPoem ohne Heldspricht. Deshalb ist das Verhältnis der Leser zum Poem so unterschiedlich. Die einen hören dieses Echo, diesen zweiten Schritt sofort. Andere hören ihn nicht und suchen nur Skandal, finden ihn nicht und sind verärgert. Das habe ich erst vor kurzem begriffen, und das wird Wohl auch mein Abschied vom Poem werden.

Die Beziehungen zwischen dem AUTOR und dem Menschen, den man besuchen kann sind gerade beim Lesen der Gedichte von Anna Achmatowa in verhängnisvoller Weise mißverstanden worden. Daß Schlaflosigkeit zuzeiten ihr schöpferischer Zustand war und keine Krankheit und ein Leben ohne Haushalt ihre Art Ordnung, muß, schon begriffen werden – und das ist noch das einfachste. Die biographische Unmittelbarkeit der „Petersburger Novelle“ mußte diese Mißverständnisse vermehren. Freilich geschah ihr nur, was allen vor ihr geschehen war: Das Neue schien das Ungehörige. Noch in Taschkent 1942 wollte man ihr das ganze Poem ausreden. Aber es wurde eine Dichtung, die wie Puschkins „Gefangener im Kaukasus“, Nekrassows „Wer lebt glücklich in Rußland?“, Majakowskis „Wolke in Hosen“ und Bloks „Zwölf“ die Gattung in Frage stellt und neu gründet. Wer hätte gewagt, das vorauszusagen?

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Einer freilich hat es gewußt: Nikolai Nedobrowo aus dem Dichterkreis von Zarskoje Selo. „Du, dem das Poem zu drei Vierteln gehört“, schrieb sie von Nedobrowo, „so wie ich selbst zu drei Vierteln von Dir gemacht bin, Dich habe ich nur in eine lyrische Abschweifung hereingelassen.“ Im April 1914 geschrieben, im Juli 1915 gedruckt war Nedobrowos Aufsatz über Anna Achmatowa die Voraussage ihrer Gedächtnisse, Echo der Zukunft. Schon in den frühen Gedichten fand er eine „lyrische Seele, die eher hart ist als weich, eher grausam als weinerlich und ganz deutlich souverän und nicht geknechtet… Die Ereignisse in Rußland verfolgend sprachen wir noch unlängst stolz: ,Das ist Geschichte.‘ Nun, die Geschichte hat wieder einmal bestätigt, daß ihre ins Auge fallenden Ereignisse nur dann groß sind, wenn in schönen Biographien Samen für die Aussaat im Boden des Volkes reifen. Wir dürfen Achmatowa dankbar sein, daß sie jetzt die Würde des Menschen, wiederherstellt: wenn wir mit den Augen von Gesicht zu Gesicht sehen und hier diesem, da jenem Blick begegnen, dann flüstert sie uns zu: ,Das sind Biographien.‘“
Eine Enträtselung ihres Weges, die Anna Achmatowa ihr ganzes Leben lang beschäftigt hat. Sie stammt aus jenem Jahr, das sie mit dem Kriegsausbruch im Herbst 1914 für den eigentlichen Beginn des 20. Jahrhunderts hielt und dessen Vorabend für sie mit „unserem Aufstand gegen den Symbolismus“ verbunden war. Dieser „Aufstand“ hatte im November 1911 zur Gründung der „Werkstatt der Dichter“ geführt (25 Zusammenkünfte von November 1911 bis April 1912 und Oktober 1912 bis April 1913) und Anfang 1913 zur Öffentlichen Erklärung des Akmeismus. „Akmeismus“ oder „Adamismus“ – anschließend an griechisch Akme: höchste Ausbildung eines Zustands als Blüte, Blütezeit oder als das Scharf-Schneidend-Durchdringende, bzw. an Adam – mutiger, fester und klarer Blick auf das Leben. Der „Aufstand“ richtet sich gegen die Poetik der Entsprechungen, wie sie die französischen Symbolisten ausgebildet hatten, gegen die hierarchische Strenge Ibsens und Nietzsches und gegen die Sehnsucht nach dem Unbekannten bei den russischen Symbolisten. Dieser Aufstand der Akmeisten gegen den Symbolismus traf übrigens nicht alle russischen Symbolisten: Innokenti Annenski der nicht im Mittelpunkt der Kämpfe der drei Generationen russischer Symbolisten gestanden hatte und als Rektor des kIassischen Gymnasiums von Zarskoje Selo den zukünftigen Akmeisten biographisch nahegestanden hatte, war ausgenommen. Für Nikolai Gumiljow, Ossip Mandelstam, und Anna Achmatowa waren seine Gedichte und seine Übersetzungen sowie seine essayistische Prosa einer der wichtigsten Ausgangspunkte. Das galt auch für Michail Kusmin, der eine Einleitung zur ersten Ausgabe der Achmatowa schrieb.
Nikolai Gumiljow nannte in seinem Aufsatz „Das Erbe des Symbolismus und der Akmeisinus“, in dem die Absetzung ausgesprochen wurde, zum Schluß die Namen, die die „Ecksteine für das Gebäude“ legen sollten:

Shakespeare zeigte uns die innere Welt des Menschen, Rabelais den Leib und seine Freuden, eine weise Körperlichkeit. Villon sang uns von einem Leben, das nicht im geringsten an sich zweifelt, obwohl es alles kennt – Gott, das Laster, den Tod und die Unsterblichkeit. Theophil Gautier fand für dieses Leben, in der Kunst die würdigen Kleider makelloser Formen. Diese vier Momente in sich zu vereinigen – das ist der Traum, der jetzt die Menschen eint, die sich kühn Akmeisten nennen.

Anna Achmatowa hat dieses „Reden in Zungen“ gerade in der Entfaltung der Lebensläufe verwirklicht. Im Poem ohne Held, das die frühen Freunde mit den späteren und den ewigen Gefährten zusammenführt, flüstert sie uns zu: „Das sind Biographien.“

5
Unsere Ausgabe stellt. das Poem ohne Held und Gedichte aus seinem Umkreis vor. Zu den Nachdichtungen von Heinz Czechowski und Uwe Grüning kommen einige frühere von Sarah Kirsch und Rainer Kirsch aus dem Band Ein nie dagewesener Herbst. Der Anhang bietet Anna Achmatowas Erinnerungen an Amedeo Modigliani und Alexander Blok als Beispiele ihrer Prosa. Kornej Tschukowskis Text zeigt den Anfang einer wünschenswerten Sammlung der Erinnerungen an Anna Achmatowa. Die Bibliographie verzeichnet die größeren monographischen Arbeiten und spezielle Studien nur zum Poem ohne Held. Die Nachdichtungen folgen den Interlinearfassungen von Oskar Törne, der auch durch seine Nachforschungen bei sowjetischen Kollegen zur Aufhellung von Sachbezügen und Identifizierung verborgener Zitate wesentlich am Zustandekommen dieser Ausgabe beteiligt war. Die Anmerkungen stellen vor allem zeit- und poesiegeschichtliche Auskünfte zur Verfügung; wo sie auf Prototypen oder Adressaten verweisen, denke man immer an das „Echo, diesen zweiten Schritt“, das ein Angehen gegen die Verkümmerung des Geschichtsgedächtnisses ist – wie es Roman Dawydowitsch Timentschik in Riga, dem unsere Ausgabe wichtige Unterstützung verdankt, einmal gesagt hat: „Gedächtnis ist im poetischen Universum der späten Achmatowa eine Kraft, die gegen den mörderischen ,Gedächtnisschwund der Wirren‘ angeht, eine Kraft, die erlaubt, den in einer gedächtnisfeindlichen, grausamen Zeit verlorengegangenen ,Zusammenhang der Zeiten‘ wiederherzustellen.
Für Rat und Hilfe bei der editorischen Betreuung dankt der Herausgeber Monika Heinker und. Dr. Ingrid Schäfer.

Fritz Mierau, Nachwort, Oktober 1978

 

Epochenchronik und Lebensdeutung

− Das Poem ohne Held von Anna Achmatowa. −

Ihre Welt war das alte St. Petersburg. Dort, in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg und noch in jener Periode, die das silberne Zeitalter der russischen Poesie genannt wird (im Unterschied zum goldenen der Puschkin-Epoche), debütiert die junge Dichterin Anna Andrejewna Achmatowa mit ihren Versen, die ihr sogleich einen geachteten Platz im literarischen Leben verschaffen: Gedichte von leidenschaftlichem Gefühl, Gedichte einer Frau von Liebe, Abschied, unerfüllter Sehnsucht, elegisch gestimmt, zärtlich und traurig, aber doch fester und klarer als die verschwimmenden Stimmungen der Symbolisten, denn die Autorin gehört einer neuen Schule an, dem eher neoklassisch sich gebenden Akmeismus.
Doch kurze Zeit nur noch, und diese alte Welt, deren Verfall schon zu spüren ist und die doch ihren Glanz noch einmal üppig entfaltet, diese Welt, in der diese Dichterin ganz beheimatet ist, zerbricht: 1914 der Krieg, 1917 die Revolution. Anders, ganz anders, was nun kommt. Untergang, und die schmerzhaften Geburtswehen einer neuen Gesellschaft. Ein ganz anderes Leben als das, was die Achmatowa bisher führte, in Paris von Amedeo Modigliani gemalt und gezeichnet, Italien bereisend, im Sommer auf dem Lande, in der Saison gefeierter Gast in den Salons.
Aber schon 1917 verschließt sie in einem bekenntnishaften Gedicht ihr Ohr einer verführerischen Stimme, die zum Verlassen des „Sündenlandes Rußland“ rät, und fünf Jahre später wird sie denen, „die das Land dem Feinde hinwarfen“, eine zornige Absage erteilen, „tränenlos, hochmütig und einfach“. Die russische Heimat hält sie fest, die Stadt an der Newa, wo sie im Fontanny dom wohnt, dem Haus mit der Fontäne, einem in der Mitte des 18. Jahrhunderts erbauten Palais der Grafen Scheremetjew, in dem, wie überall in dieser Stadt, in jedem Winkel die Geschichte lebendig ist.
Ein großes Maß an persönlichem Leid wird ihr nicht erspart bleiben: Trennung von geliebten Menschen und Freunden und deren Verlust. Hart wird sie von verständnisloser Kritik und scharf verdammender Verurteilung getroffen werden. Erst später gelangt sie zu erneutem Ruhm. In Aufzeichnungen aus ihren letzten Lebensjahren hat sich die 1889 geborene und 1966 verstorbene Dichterin staunend gefragt:

Und wer hätte geglaubt, daß ich für so lange gemacht war, und warum habe ich das nicht gewußt.

Bereits vor etlichen Jahren erschien bei uns eine erste Auswahl aus den Gedichten der Achmatowa. Bei Reclam gibt es nun, von Fritz Mierau überaus sorgfältig ediert und erläutert, unter dem Titel Poem ohne Held eine auf das späte Werk konzentrierte zweisprachige Ausgabe, in deren Mittelpunkt eben dieses Poem steht: Gedichte von den dreißiger bis zu den sechziger Jahren, Gedichte der Reife und des Alters.
Da sind die Verse aus der Kriegszeit über das belagerte Leningrad, aus dem sie nach Taschkent evakuiert worden ist:

Die Vögel des Tods im Zenit.

Die Stimme der Achmatowa reiht sich ein in den patriotischen Chor der sowjetischen Literatur: „Die Stunde der Tapferkeit ists, die uns schlägt.“ Und: „Der Ruhm kennt keine Toten.“
Da ist das Nachdenken über die „Berufsgeheimnisse“ des Dichters, wo die Muse eine Last ist und wie Fieber befällt, um dann wieder ein Jahr lang keinen Ton vernehmen zu lassen.
Und da sind vor allem, zyklisch sich ausweitend, aber manchmal auch in Gedichte von nur wenigen Zeilen zusammengerafft, die großen Symbiosen, in denen das erinnerungsgesättigte lyrische Ich und die Geschichte von St. Petersburg-Petrograd-Leningrad und mit ihr die des ganzen Landes zu einem poetischen Organismus werden: „Den Weg aller Welt“, aufgefaßt von der Dichterin als „eine große Seelenmesse für mich“, die „Nördlichen Elegien“, von denen die erste das Rußland Dostojewskis und in detailgenauer Bildhaftigkeit die Atmosphäre des damaligen Petersburg beschwört, und schließlich das dreiteilige Poem ohne Held, an dem die Achmatowa über zwei Jahrzehnte arbeitete, von 1940 bis 1962, und in dem sie Epochenchronik und Lebensdeutung zu einer untrennbaren Einheit verschmolz.
Ein komplexer Text ist dieses Poem, fragmentarisch erscheinend und doch in sich abgeschlossen, labyrinthisch verschlungen und die Zeiten vermischend, überschüttet und überwuchert von Widmungen, Zitaten, Anspielungen, Andeutungen, erklärenden Zusätzen, durchdrungen von profunder Kenntnis antiker und europäischer Kultur, russischer Vergangenheit und Petersburger Geschichte, zu Szenerien geordnet, die so real wie imaginär sind, assoziativ von einem Motiv zum anderen springend, im Auf- und Abfluten von präzisen Bildern des Gedächtnisses.

Maskerade auf hoffmanneske Art
Das Jahr 1913 wird wieder lebendig, jenes Jahr, dessen Anna Achmatowa auch in den anderen Gedichten in wehmütig-zärtlicher Innigkeit gedenkt, das letzte Jahr des Friedens, das ihrer subjektiven Sicht eine wesentlichere Zäsur ist als die historischen Daten. Es wird zum Wirbel von Erinnerung und Maskerade, in dem es — Gogolsche Tradition — auf hoffmanneske Art gespenstisch zugeht, mit Spiegelungen und Reminiszenzen an die Theaterinszenierungen Meyerholds, und wo die „Verwirrerin-Psyche“ erscheint und ein aus Liebeskummer in Selbstmord geendeter junger befreundeter Dichter: eine „höllische Harlekinade“, die das Leben und Lebensgefühl von damals mit einer solchen Intensität erfaßt, wie es sonst wohl nur in den Gedichten Alexander Bloks oder in dem Roman Petersburg von Andrei Bely oder in den ersten Kapiteln von Alexei Tolstois Trilogie Der Leidensweg oder in den frühen Gedichten der Achmatowa selbst der Fall ist.
Und als Kehrseite dazu dann eine schmerzzerrissene Reflexion, in der das Spiegelmotiv erneut auftaucht: „Ich schreibe in Spiegelschrift“. Und danach als Epilog, aus der mittelasiatischen Ferne der Evakuierung aufgerufen, das Leningrad der Blockade, 1942 in einer der weißen Nächte.
„Poem ohne Held?“ Allerdings, wenn man als Helden eine durchgehende Figur in einer auch möglichst durchgängigen Handlung erwartet. Jedoch nicht, wenn man als Helden die geschichtsmächtige und geschichtsträchtige Newa-Stadt selbst nimmt. Oder wenn man dem Gedanken des mit der Dichterin befreundeten Schriftstellers Kornej Tschukowski folgt, der als den echten Helden des Poems „die Zeit“ sieht und darum auch meint, die Achmatowa sei „ein Meister der Geschichtsdichtung“ gewesen.
Ein hohes Geschichtsbewußtsein wohnt dem Poem tatsächlich inne. Eines, das weiß: „Wie im Vergangnen das Künftige reift, / So modert im Künftigen noch das Vergangne – “, und das so der erinnernden Rückkehr ins alte St. Petersburg einen die Zeiten bindenden Sinn verleiht.

Helmut Ullrich, 7.4.1980

Anna Achmatowa

I
Anna Andrejewna Achmatowa kannte ich seit 1912. Auf einer literarischen Soiree machte mich ihr Mann, der junge Dichter Nikolai Stepanowitsch Gumiljow, mit ihr bekannt. Grazil, ebenmäßig, wie ein schüchternes fünfzehnjähriges Mädchen, wich sie ihrem Mann nicht von der Seite, der sie damals, als er sie mir vorstellte, seine Schülerin nannte.
Es war die Zeit ihrer ersten Gedichte und ungewöhnlicher, unerwartet spektakulärer Triumphe., Zwei, drei Jahre vergingen, und in ihren Augen wie in ihrer Haltung und in der Art, wie sie mit Menschen umging, zeichnete sich ein Grundzug ihrer Persönlichkeit ab: Erhabenheit. Nicht Arroganz, nicht Hochmut, nicht Überheblichkeit, sondern eben Erhabenheit: würdevoller, majestätischer Gang, unerschütterliche Selbstachtung, hohes schriftstellerisches Sendungbewußtsein.
Diese Erhabenheit nahm mit jedem Jahr zu. Es geschah völlig ohne ihr Zutun; ergab sich ganz von selbst. Ich erinnere mich nicht, während des halben Jahrhunderts, das wir miteinander bekannt waren, jemals ein bittendes, anbiederndes, gewöhnliches oder klägliches Lächeln auf ihrem Gesicht gesehen zu haben. Bei ihrem Anblick mußte man unweigerlich an Nekrassows Worte denken:

Es gibt in russischen Landen Frauen
Mit ruhig ernstem Gesicht,
Mit schöner Kraft in den Bewegungen,
Mit dem Gang, dem Blick von Königinnen.

Selbst beim Schlangestehen nach Petroleum und Brot, in der Eisenbahn, im Wagen zweiter Klasse in der Straßenbahn in Taschkent spürte jeder, auch der, der sie nicht kannte, ihre „gelassene Größe“ und benahm sich ihr gegenüber besonders respektvoll, obwohl sie sich zu jedermann sehr bescheiden und freundlich, wie zu ihresgleichen, verhielt.
Auffallend war auch ein anderer Charakterzug. Sie hatte  absolut keinen Sinn für Besitz. Sie liebte und bewahrte Dinge nicht, trennte sich verblüffend leicht von ihnen. Wie Gogol, Coleridge und ihr Freund Mandelstam war sie eine heimatlose Nomadin und legte so wenig Wert auf Habe, daß sie sich von ihr stets gern befreite wie von einer Last. Selbst in jungen Jahren, während der kurzen Zeit, da sie sich gut stand, hatte sie in ihrer Wohnung keine geräumigen Schränke und Kommoden, oftmals nicht einmal einen Schreibtisch.
Sie war von keinerlei Komfort umgeben, und ich erinnere mich an keine Periode in ihrem Leben, da sie behaglich eingerichtet gewesen wäre.
Schon die Worte „Einrichtung“, „Behaglichkeit“, „Komfort“ waren ihr –  in ihrem Leben wie in ihrer Lyrik – wesensfremd. Im Leben wie in der Dichtung war die Achmatowa zumeist heimatlos.
Natürlich mochte sie schöne Dinge sehr und wußte sie zu schätzen. Altertümliche Leuchter, orientalische Stoffe, Stiche, alte Ikonen und anderes tauchten ab und an in ihrem bescheidenen Leben auf, doch nach ein paar Wochen waren sie verschwunden. Das einzige „Stück“, das immerfort bei ihr blieb, war ein abgewetzter kleiner Koffer, der in der Ecke bereitstand, gefüllt mit Notizbüchern, Heften mit Gedichten und Skizzen zu Gedichten – größtenteils ohne Ende und Anfang. Er begleitete sie untrennbar auf allen Reisen nach Woronesh, Taschkent, Komarowo oder Moskau.
Selbst Bücher, mit Ausnahme derjenigen, die sie am allermeisten liebte, verschenkte sie, sobald sie sie gelesen hatte, Nur mit Puschkin, der Bibel, Dante, Shakespeare, Dostojewski hielt sie ständig Zwiesprache, nahm sie oft – mal dieses, mal jenes – mit auf die Reise. Andere Bücher kamen nach einer Weile stets abhanden.
Sie war überhaupt von Natur aus eine Wandrerin und wenn sie in den letzten Jahren nach Moskau kam, wohnte sie bald unter diesem, bald unter jenem Dach bei Freunden, wie es sich gerade traf.

Wohl niemand auf der Welt ist
Unbehauster und heimatloser, −

sagte sie sehr treffend von sich.
Ihre engen Freunde wußten, daß, schenkte man ihr meinetwegen einen eleganten Schal, dieser ein, zwei Tage später andere Schultern zierte.
Vor allem gab sie Dinge aus der Hand, die sie selber gebraucht hätte. 1920, während der schlimmsten Hungerszeit, in Petrograd, machte ihr ein durchreisender Freund eine schöne, große Nestle-Dose mit einem überaus nahrhaften und sehr vitaminhaltigen Pulver zum Geschenk. Ein Teelöffel dieses Konzentrats, in heißem Wasser aufgelöst, dünkte unseren hungrigen Mägen ein unerhört sättigendes Mahl. Die ganze Dose aber erschien kostbarer als Brillanten. Wir beneideten die Besitzerin dieses Schatzes von Herzen.
Es war spät, die Unterhaltung erschöpft, die Gäste gingen flach Hause. Aus irgendeinem Grund blieb ich länger und trat etwas später als die anderen ins dunkle Treppenhaus. Plötzlich – werde ich die heftige, gebieterische Geste der schönen Frauenhand jemals vergessen? – kam sie mir auf den Treppenabsatz hinterhergelaufen und versetzte mit ganz normaler Stimme, so wie man „Auf Wiedersehen“ sagt:
„Das ist für Ihre… Ihre Tochter… die Murotschka…“ Und schon hatte sie mir die kostbare Nestle-Dose in die Hand gedrückt.
Vergebens beteuerte ich ein übers andere Mal: „Wo denken Sie hin! Das geht doch nicht!… Auf gar keinen Fall, niemals…“ Die Tür wurde mir vor der Nase zugeschlagen, und soviel ich auch klingelte, sie öffnete sich nicht wieder. Ähnliche Begebenheiten erinnere ich viele.
Während der Evakuierung in Taschkent bekam sie einmal ein paar Stück Zucker, der so rar war, geschenkt.
Sie bedankte sich von Herzen, doch im nächsten Moment, als der Betreffende gegangen war und die fünfjährige Nachbarstochter hereingelaufen kam, überließ sie dieser das ganze Geschenk.
„Das wäre doch Wahnsinn“, erklärte sie, „jetzt (das heißt in Kriegszeiten) den ganzen Zucker selber zu essen…“
Einer Schriftstellerin, die noch heute in Moskau lebt, fehlte es vor zehn Jahren an Geld, um ein Buch, an dem sie seit Jahren arbeitete und das viel Zeit und Kraft kostete, beenden zu können. Die Achmatowa erhielt nun – nachdem sie längere Zeit mittellos gewesen war – endlich ein bescheidenes Honorar, es war wohl für ihre Übersetzungen, und für das Geld kaufte sie der Schriftstellerin eine Schreibmaschine, damit sie sich nebenher etwas Geld verdienen und auf diese Weise ihr Buch vollenden könne.
Diese ungewöhnliche Güte meinte Anna Achmatowa wohl in ein paar Zeilen der „Vorgeschichte“, als sie ihrer verstorbenen Mutter gedenkt:

Und eine Frau mit klaren, offenen Augen,
………………………………………………………………
Mit seltsam fremdem Namen, zarten Händen.
Und einer Güte, die ich wohl als Erbe
Von ihr empfing – nichts nütze, eitle Gabe
In meinem spröden, angstgewohnten Leben…

Ein ebenso hervorragendes Merkmal ihrer Persönlichkeit stellte ihre enorme Belesenheit dar. Unter den Dichtern ihrer Zelt gehörte sie zu den belesensten. Sie mochte keine Zeit für die Lektüre der modischen, sensationellen Werke vergeuden, um die von den Rezensenten und Kritikern in Zeitungen und Zeitschriften so viel Wind gemacht wurde. Puschkin hatte sie ganz im Kopf – ihn und die gesamte Literatur über ihn studierte sie so eingehend und genau, daß ihr einige nicht unbedeutende Entdeckungen auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Erforschung seines Lebens und Schaffens zufielen. Puschkin stand ihr sehr nahe – als Lehrer und als Freund.
In einem ihrer Aufsätze über Puschkin findet sich das Wort „mein Vorgänger Schtschegoljow“. Für viele klang das rätselhaft. Schtschegoljow war kein Dichter, sondern ein bedeutender Historiker und als Puschkinforscher. Spezialist für die zwanziger und dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts. Hätte sie geschrieben: „mein Vorgänger Tjutschew“, so wäre es in Ordnung gewesen. Nur wenige aber wußten damals, daß nicht nur die Lyriker, sondern auch die Wissenschaftler unseres Landes ihre Wegbereiter waren. Pawel Jelisejewitsch Schtschegoljow schätzte ihre Kenntnisse ungemein und unterhielt sich stundenlang mit ihr über Puschkin und seine Zeitgenossen.
Mit der Geschichte Rußlands befaßte sie sich, wie eine professionelle Historikerin, und wenn sie zum Beispiel vom Protopopen Awwakum, von den Strelitzenfrauen, von diesem oder jenem Dekabristen, von Nesselrode oder von Leonti Dubelt sprach, so war es, als kenne sie diese persönlich und erinnere sich ihrer wie guter Bekannter. Damit gemahnte sie mich sehr an Juri Tynjanow und den Historiker TarIé.

II
Anna Achmatowas erste Bücher Abend, Der Rosenkranz, Der weiße Vogelschwarm waren gerade erschienen, als ich den Urgrund ihrer Lyrik herauszufinden versuchte. Wie sich zeigte, dominierten schon in ihrem Jugendwerk, zur Zeit ihrer aufsehenerregenden literarischen Triumphe, Themen der Armut, des Verwaistseins und des Umherirrens. Ihre Lieblingsepitheta waren: ärmlich, armselig und bettelarm. So sagt ihre lyrische Heldin dem Geliebten:

Warum klopfst du an bei einer bettelarmen Sünderin?

Typisch für die Achmatowa waren solche Zeilen:

Linden, bloß wie Bettler

Als unreine Bettlerin irre ich umher…

Bete für meine Seele,
Die arme, die verlorene…

Wie soll meine arme Seele ich
Reich dir darbringen?

Aber auch die Dinge, in ihrer frühen Lyrik reich vertreten, tendierten zur Ärmlichkeit:

Die armselige Brücke, leicht gekrümmt…

Das ärmliche Twerer Land.

Ein „schäbiger kleiner Teppich“, ein „baufälliger Brunnen“, „abgetretene Bastschuhe“, eine „ausgeblaßte Fahne“, eine „zerschlagene, umgestürzte Statue“ – das entsprach ihr am meisten.

Und die Muse im löchrigen Tuch
Singt langgezogen und trostlos.

„Sie ist die Dichterin des Waisen- und Witwendaseins“, schrieb ich 1920 über Anna Achmatowa, „Ihre Lyrik lebt vom Gefühl des Nichthabens, der Trennung, des Verlustes. Eine Nachtigall, der die Stimme genommen, eine Tänzerin, die vom Geliebten verlassen, eine Frau, die den Sohn verliert, eine, der der grauäugige König gestorben, eine, der der Zarewitsch gestorben –

Nimmermehr kommt er zu mir…
Heute ist mein Zarewitsch gestorben –

eine, von der es in den Versen heißt: ,von ihm erhältst du keine Nachricht mehr‘, eine, die das ihr teure weiße Haus nicht zu finden vermag, obwohl sie es überall sucht und weiß, daß es ganz in der Nähe liegen muß – all das sind, verwaiste Seelen, die das Liebste, verloren haben.“ Diese „verwaisten Seelen hatte die Achmatowa Iiebgewonnen, sie hatte es liebgewonnen, dieses Verlieren und Verwaisen als ihr Eigenes lyrisch zu verarbeiten, und gerade daraus schuf sie ihre besten Lieder:

Eine Hoffnung war es weniger
Ein Lied wird es mehr.

So heißen Ihre Lieder denn auch „Lied vom Abend der Trennungen“, „Lied von den letzten Begegnung“, „Lied vom Abschiedsschmerz“.
Verwaist und schwach sein, das Haus, den Liebsten und die Muse verlieren („Die Muse ging weiter“) – hier liegt die Inspirationsquelle der Achmatowa. Von allen Qualen des Verwaistseins hatte es ihr eine besonders angetan: die der hoffnungslosen Liebe. Ich liebe, aber ich werde nicht geliebt; ich werde geliebt, aber ich liebe nicht – das war ihr ständiges Thema. Auf diesem Gebiet konnte sich niemand mit ihr messen. Es war ihr im höchsten Maße gegeben, sich als Ungeliebte, Unerwünschte, Verstoßene zu empfinden. Die ersten Gedichte ihres Bandes Der Rosenkranz erzählten von diesem qualvollen Schmerz.
Sie ließ die Ungeliebten in der Ich-Form sprechen und schuf so eine lange Reihe von leidenden, durch unerwiderte Liebe geschlagenen, todtraurigen Frauen; die bald „wie verloren umherirren“, bald krank werden vor Leid, bald verkünden, daß sie sich ertränken werden. Manchmal verfluchen sie ihren Geliebten als Feind und Peiniger:

Du bist frech und böse…

O bist du schön, Verfluchter.

… Du bist schuld an meinem Leiden… −

dennoch lieben sie ihren Schmerz, berauschen sich an ihm, tragen ihn wie eine Reliquie in sich, spenden ihm fromm ihren Segen.
Als ich schrieb, sie sei die Dichterin des Nichthabens, der Trennung und des Verlustes, ahnte ich nicht, daß dieses Thema in ihren folgenden Büchern vom Leben bestätigt sein würde. Ihr tragischer Lebenslauf konnte in ihrer späteren Lyrik nicht ohne Widerhall bleiben. Es wäre sonderbar, wenn sich in den nach dem Weißen Vogelschwarm entstandenen Gedichtzyklen nicht der bittere Trinkspruch fände:

Ich trinke auf das verwüstete Haus,
Auf mein böses Leben:

Und wieder kamen „unvergeßliche Daten“,
Und keines darunter, das nicht verflucht.

Gleichsam um zu beweisen, daß ihre Lyrik in der Tat vom Gefühl des Nichthabens, der Trennung und des Verlustes lebe, führte sie gegen Ende ihres Lebens negative Worte wie „neposylka“ (Nichtabsenden), „newstretschka“ (Nichtbegegnung) in ihr lyrisches Vokabular ein. Im Jahre 1963 schrieb sie ein Gedicht, das denn auch heißt „Beim Nichtabsenden eines Poems“, und die „Nichtbegegnung“ wurde in den fünfziger Jahren ihr lyrisches Thema. In ihren Heften aus dieser Zeit tauchten Gedichte auf, die sich auf nicht geschehene, nicht verwirklichte Dinge und Handlungen bezogen:

Der geheimen Nichtbegegnung
Triumph – er sei beklagt:
Unausgesprochene Sätze
Und Worte, nie gesagt.
Die Blicke, die sich nicht trafen…

Eine Begegnung kam nicht zustande, die Worte blieben stumm, die Reden ungesagt, und die Achmatowa feiert mit bitterer Heiterkeit das Fest, das nicht stattgefunden hat:

Die Sätze, niemals ausgesprochen −
Ich sag sie nicht mehr her für mich.
Doch jener Nichtbegegnung zum Gedenken
Pflanz eine Heckenrose ich.

Und abermals:

Hierher hab ich gebracht das selige Gedenken
An unser letztes Nichtbegegnen, Freund, mit dir −

Zwei Seiten weiter dann:

Nichts endgültiger als diese Trennung.
Dann schon lieber zu Boden gestreckt…
Und wahrscheinlich hat hier auf Erden
Niemand getrennter gelebt.

Wie sollen einem da nicht ihre frühen Verse einfallen?

… auf meiner Brust zittern
Die Blumen des nicht gewesenen Stelldicheins

In vielen ihrer Gedichte stehen das Präfix „un-“ sowie das Suffix „-los“ wie Vorzeichen: „ungeküßte Lippen“, „ruhmloser Ruhm“. Auch in ihrem Poem „Das Jahr neunzehnhundertunddreizehn“ findet sich dasselbe Pathos des Nichtverwirklichens, Nichthabens, Fehlens:

Es gehen die Schritte derer,
Die abwesend sind, übers Parkett.
…………………………………………………..
Und in allen Spiegeln das Bild
Jenes Mannes; der nicht erschienen
Und nicht in den Saal gelangte.

Unter den vielen „Nicht“ und „Nein“ fallen darum jene seltenen Verse besonders auf, die ein freudiges „Ja“ setzen. Wie hat sie es doch in jenen fernen Jahren verstanden, uns mit ihrer Freude anzustecken!

Mit dem Morgengraun erwachen,
Atemlos gewürgt vom Glück,
Zum Kajütenfenster drehn
Auf die grüne wandernde Welle,
Und an Deck im trüben Wetter,
Tief im Flaumpelz eingehüllt,
Die Mototen klopfen hören,
Nun an nichts und niemand denken,
Und doch bis zum Wiedersehn
Mit dem, der mein Stern nun ist,
Im salzigen Regen und im Wind
Jede Stunde jünger werden.
(Deutsch von Rainer Kirsch)

Blättern wir in einem Buch der Achmatowa, so finden wir unter all den traurigen Gedichten über Trennung, Verwaistsein und Heimatlosigkeit plötzlich solche, die uns überzeugen, daß es im Leben und in der Dichtung dieser „heimatlosen Wandrerin“ jenes HAUS gegeben hat, das ihr allezeit treu, die rettende Zuflucht bot.
Es war die Heimat, die Heimaterde. Diesem Haus widmete sie von jung an all ihre lichtesten Gefühle, die sich dann vollends offenbarten, als das Haus von dem unmenschlichen Überfall der Faschisten heimgesucht wurde. In der Presse wurden ihre furchtgebietenden Zeilen abgedruckt, die ganz im Einklang standen mit der Tapferkeit und dem Zorn des VoIkes. Vom intimen, zuweilen kaum hörbaren Geflüster erhob sich ihre Stimme als die laute, beredte, furchtgebietende Stimme eines blutenden, aber unbesiegbaren Volkes:

Wir schwören den Kindern, schwören den Gräbern,
Daß wir uns, von niemandem unterwerfen lassen…

Die Stunde der Tapferkeit ists, die uns schlägt.
Sie läßt uns nicht, wir nicht sie.

Und wieder gehn durch Rauch die Leningrader
In Reihe und Glied: Der Ruhm kennt keine Toten.

Mögen die Frauen ihre Kinder höher heben;
Die vor aber tausend Toden geretteten…

In Aufsätzen über die Achmatowa habe ich gelegentlich gelesen, dieser Schmerz und diese Freude um Rußland seien erst während des letzten Krieges unverhofft in ihrer Lyrik aufgetaucht. Das stimmt natürlich nicht. In dem während des ersten Weltkrieges entstandenen Buch Der weiße Vogelschwarm verlieh sie den gleichen Gefühlen Ausdruck: Ganz am Anfang des Krieges schrieb sie teilnahmsvoll Worte nieder, die sie vom Volk aufgefangen hatte:

Nur unser Land kann der Feind nicht,
Ergötzlich teilen:
Die Gottesmutter wird ein weißes
Tuch über die großen Leiden breiten.

In einem ihrer leidenschaftlichsten Gedichte, ebenfalls aus diesem frühen Gedichtzyklus, sagte sie, sie sei bereit, all ihr Teures herzugeben und alle, Schicksalsschläge hinzunehmen:

Wenn nur die Gewitterwolke überm finstren Rußland
Ein Wölkchen wird mit Strahlenkranz.

III
Anna Achmatowas Lyrik ist fast immer sujetgebunden. Sie hat sehr wenige abstrakte Worte. Außer einem musikalisch-lyrischen Talent besaß die Dichterin die seltene Gabe des Erzählens. Ihre Gedichte sind nicht schlechthin Lieder, sondern oftmals Novellen mit kompliziertem und weitreichendem Sujet, das sich uns durch ein unvergeßliches Detail für einen Augenblick enthüllt. Da sind Novellen über eine Seiltänzerin, die vom Geliebten verlassen wurde, über eine Frau, die sich in einen zugefrorenen Teich gestürzt, über einen Studenten, der sich wegen einer hoffnungslosen Liebe das Leben genommen, über einen Fischer, in dem sich eine Sardellenverkäuferin verliebt hat – Novellen, die in Lieder verwandelt sind.
Ihr Schaffen ist gegenständlich, ist überreich an Dingen. Es sind höchst einfache Gegenstände, nicht Allegorien, nicht Symbole: ein Rock, ein Muff, eine Hutfeder, ein Schirm, ein Brunnen, eine Mühle. Doch diese einfachen, alltäglichen Dinge werden bei ihr unvergeßlich; weil der Lyrik unterworfen. Wer erinnerte sich nicht Anna Achmatowas Bild von der Frau und dem Handschuh. Als die Frau weggeht von ihrem Mann, der sie verstoßen, hat, sagt sie:

So hilflos kalt war die Brust,
Doch meine Schritte waren leicht.
Ich zog auf meine Rechte
Den Handschuh von der Linken.

Unter den von der Achmatowa dargestellten Gegenständen finden Sich auffallend viele Bauwerke und Statuen. Oft baut sie mehr, als daß sie singt. Architektur und Bildhauerkunst liegen ihr nahe. Ihre Gedichte lassen vor uns bald „die Statue von Zarskoje Selo“, bald „die Gewölbe der Smolny-Kathedrale“, bald die Säulen an der Newa erstehen, solche Gebilde aus Marmor, Bronze oder Stein sind bei der Achmatowa fast häufiger als Blumen und Bäume. Auch sie selbst ist eine Baumeisterin in ihrer Kunst. Viele ihrer Gedichte sind nicht Lieder, sondern Bauwerke. Der Reichtum an greifbaren und sichtbaren Dingen zeichnet Anna Achmatowas Lyrik überhaupt gegenüber der allegorischen Lyrik abstrakter Dichter aus, wie es die Symbolisten Baltruschaitis, Balmont und Hippius waren. Sie alle neigten zu Unbestimmtheit, Nebulosität. Neben den Gedichten der Achmatowa muten die ihrigen oftmals wie algebraische Formeln, wie eine Aufzählung abstrakter Kategorien an. Bei der Achmatowa hingegen wird selbst das Abstrakte materiell, gegenständlich:

Und für mich war jenes Thema
Wie eine zertretene Chrysantheme
Auf dem Boden, wenn der Sarg getragen wird.

Die Achmatowa besaß etwas, das sogar ihre Begabung überragte. Es war der unerbittliche asketische Geschmack. Die Achmatowa schrieb behutsam und karg, wog bedächtig jedes Wort ab, strebte nach jener nicht einfachen Einfachheit, die nur großen Meistern gegeben ist. Neben ihr wirken viele andere Dichter wie schwülstige Rhetoriker. Ich habe in dieser Zeit wenige Lyriker kennengelernt, die sie in kompositioneller Hinsicht übertrafen. Die schwierigsten Aufgaben bei der Kombination von Novelle und Lyrik hat sie in ihren Gedichten glänzend bewältigt.
Ihr rhythmischer Atem war anfangs sehr kurz, reichte nur für zwei Zeilen. Dann stand er ihr voll zu Gebot. Waren ihre Gedichte zunächst ein wenig mosaikartig, aus kleinen Stückchen zusammengesetzt, so überwand sie mit der Zeit auch dies. Jetzt ist ihr Name einer der kostbarsten in unserer Literatur. Wenn wir Anna Achmatowa nicht hätten, wären wir um vieles ärmer.
In ihren Gedichten ist Puschkin allenthalben unsichtbar anwesend. Bei ihr ist jede Zeile vortrefflich gearbeitet, ein für allemal geschmiedet. Nichts Verschwommenes, Träges, jedes Wort ist ein Gegenstand:

auf dem Stamm der knorrigen Fichte eine Ameisenchaussee.

Überall dieses Streben zur absolut vollendeten, klassischen Form.
Ihr Denken war klar, präzise, ich würde sogar sagen: geometrisch exakt. Das tritt besonders in den Gedichten hervor, in denen sie eine in mehreren Entwicklungsetappen ablaufende Erscheinung analysiert, zum Beispiel den Herbst im Norden. Sie fand, daß sich jeder Herbst in der Natur in drei Stadien vollziehe, und, beobachtete, daß jedes Stadium eine Reihe deutlicher Merkmale habe, welche sie in ihren Versen genau wiedergab.
Das erste Stadium ist der frühe September.

Und einer, der erste, – ein festliches Gleiten,
Als höhne den Sommer er nur,
Und Blätter wirbeln wie Fetzen von Seiten,
Und weihrauchsüß zieht der Rauch durch die Weiten,
Und hell ist und bunt die Natur.

In lichtem Gewand sind beim Festreigen wieder
Als erste die Birken zu schaun.
Sie schüttelten eilends zwei Tränen hernieder
Zur Nachbarin hinter dem Zaun.

Aber dieser festliche Tanz, diese helle, leuchtende, bunte Färbung des „ersten Herbstes“ währt nicht lange.

Er währt einen Lidschlag und ist schon verflogen.
Kaum daß die Erzählung begann,
Kommt streng wie die Wahrheit der zweite gezogen,
Fliegt schwarz wie ein Bomberschwarm an.

Gealtert scheint jeder. Zum Raub ist gefallen
Des Sommers Geborgenheit dort,
Wo goldner Trompeten Märsche verhallen
Und ziehen im Nebelduft fort…

Es endet auch dieser sehr kurze „zweite“ Herbst, kalter Nebel hat alles ringsum eingehüllt:

Kühl liegt im Wallen des Weihrauchs verborgen
Die Veste, wo Sonne sonst loht.
Doch der Wind frischt auf und zerreißt diese Wände.
Und alle begreifen; das Stück geht zu Ende;
Kein Herbst ists, sondern der Tod.
(„Drei Herbste“)

Dieser scharfe analytische Verstand äußert sich auch in ihren Betrachtungen über die verschiedenen Stadien des Gedenkens, das die Menschen ihren verstorbenen Lieben bewahren.

Drei Stadien kennen die Erinnerungen,

sagt Anna Achmatowa. Und sie umreißt eine jede mit treffenden, lebendigen Strichen. So das erste Stadium:

Noch ist erstorben nicht das Lachen, Tränen rinnen;
Der Tintenfleck ist nicht vom Tisch gerieben,
Der Kuß – als Siegel auf das Herz gedrückt −
Der einzige im Abschied, unvergeßlich…

Nachdem sie das „zweite Stadium der Erinnerungen“ mit einem ebenso eindringlichen Vers beschrieben hat, wendet sie sich dem tragischen dritten Stadium zu:

Und dann erst kommt das Bitterste: wir sehen,
Daß wir in unsres Lebens Grenzen nicht
Die Vergangenheit zu halten wußten,
Daß sie uns fast so fremd geworden ist
Wie jenen, die mit uns das Haus bewohnen,
Daß wir die Toten nimmermehr erkennten,
Daß die, von denen Gott uns trennte, glänzend
Zu leben wußten ohne uns, und daß
Zum Besten war, was je an uns geschah…

Diese Gewohnheit der Achmatowa, die vergänglichen Erscheinungen des Lebens mit nachdrücklicher Aufmerksamkeit zu betrachten und die einzelnen Momente ihrer Bewegungen in mathematisch exakten Versen festzuhalten, verstärkte sich mit den Jahren immer mehr.
Es war deshalb ganz natürlich, daß Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre ein neues unabweisbares Thema in ihren Büchern, zunehmend hervortrat; das tiefe Nachdenken über die verschiedenen Epochen der russischen Geschichte, über die Vergänglichkeit und die ewige Dynamik dieser Epochen. Ihr subtiler, scharfer Verstand, der jede Erscheinung auf der Welt in bildhafter, konkreter Gestalt wahrzunehmen geneigt war, befähigte sie, das schwierige Genre der historischen Lyrik eigenständig zu entwickeln.
Je älter die Achmatowa wurde, desto mehr zog es sie zu der in leidenschaftliche Lyrik verwandelten Geschichtsdichtung. Am umfassendsten und plastischsten kam diese Tendenz in ihrem großen Poem ohne Held zum Ausdruck, an dem sie die letzten fünfundzwanzig Jahre ihres Lebens (1940 bis 1965) mit so viel Hingabe gearbeitet hat.

IV

Und es schien, als schritten die Jahrhunderte in einer Reihe.
Anna Achmatowa

Anna Achmatowa war ein Meister der Geschichtsdichtung. Das ist eine merkwürdige, von den üblichen Einschätzungen ihrer Kunst außerordentlich weit entfernte Feststellung, die wohl nirgends in den ihr gewidmeten Büchern, Artikeln und Rezensionen, in der ganzen unüberschaubaren Literatur über sie zu finden ist.
Dennoch halte ich sie für richtig. Hier liegt der Kern des Spätwerkes der Dichterin. Menschen wie Dinge oder Ereignisse wurden von der Achmatowa fast immer vor einem historischen Hintergrund gestaltet, ohne ihn stellte sie gar keine Überlegungen darüber an. Darum wohl wurden Worte wie „Jahre“, „Epoche“, „Jahrhunderte“ bei ihr so vielsagend und gewichtig.

Und der silberne Mond schwebte
Hell überm silbernen Jahrhundert.

Darum wohl hegte sie so eine Passion für Jahreszahlen. „Die Colombine des zweiten Jahrzehnts“; sagte sie von einer ihrer Heldinnen. Und von einer anderen: „Eine Schönheit des Jahres dreizehn.“ Der erste Teil ihres Poems ohne Held heißt: „Das Jahr neunzehnhundertunddreizehn.“ Das Gedicht über Majakowski: „Majakowski im Jahr 1913.“ Das Gedicht über Petersburg: „Petersburg im Jahre 1913.“
Im höchsten Maße typisch für ihre Lyrik sind solche Zeilen:

Ich seh aus dem vierzigsten Jahr
aaaaaWie von einem Turm auf alles herab.

Ebenso solche mit einem noch genaueren Datum:

Doch ich entsinne mich: vierundvierzig,
Wohl am ersten Juni wars…

Jeder Schriftsteller mit echtem Geschichtsbewußtsein besitzt ein lebhaftes Gefühl für die Wechselbeziehung zwischen den einzelnen Epochen: Daher die bedeutungsschweren Zeilen der Achmatowa:

Wie im Vergangenen das Künftige reift,
aaaaaSo modert im Künftigen noch das Vergangne.

Für sie ist dies nicht einfach ein Aphorismus, sie hat diese Wahrheit in lebendige und greifbare Bilder umgesetzt.
Eines ihrer Gedichte über die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts nannte sie „Vorgeschichte“. Darin kam ihre Meisterschaft in der Historienmalerei erstmals voll zur Geltung. Es ging um die ferne Vorgeschichte der ungeheuren Ereignisse, die sich Ende des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts abspielten. Es ging um deren Unausweichlichkeit. Für Anna Achmatowa hing das zusammen wie Ursache und Wirkung.
Das Gedicht hat nur wenig mehr als fünfzig Zeilen, aber es ist so überreich an all den Realien jener Epoche, enthält so viele winzige Kennzeichen, bietet in jedem Wort, wie Gogol gesagt hätte, einen Abgrund von Raum, so daß man, bei der letzten Zeile angelangt, einen ganzen Band gelesen zu haben meint.
Wir wissen: die siebziger Jahre – das war der Einbruch des Kapitalismus ins halbfeudale Rußland, das waren das irrsinnige Wuchern der Spekulation, Börsenspiel, Millionenprofite für Bank- und Eisenbahnmagnaten und deren wüste Orgien. All das und vieles andere fand seine Widerspiegelung in den lakonischen Zeilen der „Vorgeschichte“:

Das Rußland Dostojewskis. Fast ein Viertel
Des Mondes verdeckt der hohe Glockenturm.
Die Kneipen zechen, Droschken fliehn vorüber.
Und Ungeheuer wachsen fünfgeschössig
In der Gorochowaja, am Snamenje
und Smolny auf. Tanzschulen, Wechslerstuben.
„Basile“, „André“ und prachtgeprotzte Särge:
„Schumilow senior“…

All das, selbst die prunkvollen Särge von Schumilow senior, ist den neuen Räubern genehm. Der Adel aber entartet und geht unter:

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa… Längst verpfändet −
Ihr Land. Noch kreist in Baden das Roulette.

Die Achmatowa wäre natürlich keine Künstlerin gewesen, hätte sie diese Epoche nicht mit all ihren äußeren Details wahrgenommen:

Rascheln von Röcken und karierten Plaids,
Geschweifte Nußholzrahmen an den Spiegeln,
Starr von der Schönheit der Karenina;
In engen Korridoren die Tapeten,
Die einstmals in der Kindheit uns erfreuten;
Das gelbe Blaken der Petroleumlampen,
Und noch derselbe Plüsch auf allen Sesseln…

……………………………………………………………
Und damals fiels uns ein, zur Welt zu kommen…

Mir fiel es ebenfalls ein, zu jener Zeit – oder ein wenig später – auf die Welt zu kommen, und ich kann bezeugen, daß das Kolorit und das Flair jener Epoche in der „Vorgeschichte“ mit größter Genauigkeit wiedergegeben werden.
Ich kann mich gut an die Requisiten der siebziger Jahre erinnern. Der Plüsch auf den Sesseln sah himbeerfarben oder – was noch schlimmer war – giftgrün aus. Und jeder Sessel wurde von dichten Fransen gerahmt, die eigens als Staubfänger geschaffen zu sein schienen. Ebensolche Fransen trugen die Vorhänge.
Die Spiegel hatten damals in der Tat braune Nußbaumrahmen, die mit schwülstigem Schnitzwerk, Blumen oder Schmetterlinge darstellend, verziert waren.
Das „Rascheln der Röcke“, in Romanen und Erzählungen aus jener Zeit so oft erwähnt, hörte erst im 20. Jahrhundert auf, damals jedoch war es, der Mode entsprechend, ein untrügliches MerkmaI, aller Salons von Welt und Halbwelt. Das Rascheln der Röcke wurde so manches Mal als amouröse Verlockung von Dichtern besungen:

O süßes, uns vertrautes Rascheln des Kleides
Der geliebten Frau, o wie entzückend du bist!
Wo könnte ich etwas finden, das dem gliche
Unter den irdischen Freuden? Des Herzens ganze Glut
Fliegt mit offenen Armen ihm zu,
Ich fand Aufblühen darin.
Doch mit zwanzig – wie unsagbar teuer
Ist da dieses beredte, leise Rascheln!
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaFeth

Um uns endgültig klarzumachen, in welche Zeit diese einzelnen Bilder gehören, erwähnt die Dichterin Anna Karenina, deren ganzes tragisches Leben eng mit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre verschmolzen war.
Man könnte… zig Seiten mit Kommentaren zu diesen Versen füllen, könnte zum Beispiel hinweisen auf ihren engen Zusammenhang mit Dostojewskis 1875 geschriebenem Roman Der Jüngling und mit den Satiren von Saltykow-Schtschedrin und Nekrassow, die der gleichen Epoche angehören.
Doch hier mag es genügen, von dem bezeichnenden Epigraph zu sprechen, das der „Vorgeschichte“ vorangestellt ist. Es entstammt Puschkins Häuschen in Kolomna – ein paar einfache, betont alltägliche Worte, die indessen das ganze, von der Achmatowa geschaffene Bild beleuchten:

Nicht leb ich dort jetzt…

In die Sprache der Achmatowa übersetzt heißt das: Ich lebe jetzt nicht in dieser Epoche. ich habe mich in eine andere begeben. Diese ist für mich lediglich Vergangenheit, nur eine Ouvertüre zu anderen Zeiten.
Als ein Meister der Geschichtsdichtung erwies sich Anna Achmatowa gleichermaßen, als sie die ferne Vergangenheit ihrer zweiten Heimat darstellte, der „Stadt der Parks und Säle“ Zarskoje Sela („Ode auf Zarskoje Selo“).
Hier eine flüchtige Zeichnung dieser Stadt am Ende der neunziger Jahre:

Im Schatten der jelisawetinischen Lustwäldchen
Spazieren die Enkelinnen von Puschkins Schönen,
Alle mit bescheidenen Canotiers, in engen Korsetts,
Einen Schirm in den runzligen Händen…

Das Gedicht heißt „Im Park“ und trägt den charakteristischen Untertitel „Die neunziger Jahre“. Das Datum stimmt: Die Töchter der Puschkinschen Schönen kamen in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf die Welt, deren Töchter wiederum in den vierziger und fünfziger Jahren, mithin befanden sie sich in den neunziger Jahren tatsächlich an der Schwelle des Alters, ihre Hände wurden „runzlig“.
Diese Geschichtsdichtung finden wir auch in dem Gedicht mit dem Titel „Petersburg im Jahre 1913“. Hier sind die Merkmale dieser Stadt in der Vorkriegszeit versammelt, an die sich heute nur noch solche alten Petersburger wie ich erinnern können. Ich entsinne mich auch noch der kleinen Dampflok, die stündlich mit drei, vier Wagen vom Nikolai-Bahnhof (heute der Moskauer Bahnhof) bis „Schmerzensreiche“ fuhr, ich erinnere mich an die bettelnden Zigeunermädchen, die auf der Straße tanzten, und an die an der Kette geführten Bären:

Hinterm Stadttor jault die Drehorgel,
Ein Bär wird herumgeführt, ein Zigeunermädchen tanzt
Auf dem vollgespuckten Pflaster.
Die Dampfbahn fährt bis Schmerzensreiche,
Und ihre ohrenbetäubende Sirene
Schallt über die Newa…

Wie jeder Historiker, der sich über den engen Rahmen seiner Epoche und seiner Biographie erhebt, hat die Achmatowa ein ungewöhnlich feines Empfinden für die unablässige Bewegung der kleinsten Moleküle der Geschichte – der Minuten und Stunden −, welche die Abfolge der Epochen vollstrecken:

Doch es ticken die Uhren, ein Frühling folgt
Auf den anderen, der Himmel rötet sich,
Die Namen der Städte wechseln,
Und es gibt keine Zeugen der Ereignisse mehr,
Niemanden, mit dem du weinst, mit dem du dich erinnerst.

In einem anderen Gedicht, gleichfalls dieses Absterben der Epochen reflektierend, verleiht sie der Überzeugung Ausdruck, daß ein Wiedererstehen der alten Epoche undenkbar sei:

Später schwemmts die Versenkte
Hoch wie eine Leiche im Fluß,
Der Sohn will sie nicht erkennen,
Der Enkel wendet sich ab.

V
Darum auch kann ich behaupten, daß es im Poem ohne Held einen echten Helden gibt – es ist die Zeit. Richtiger: es gibt zwei Helden, zwei Zeiten. Zwei völlig konträre und einander feindliche Epochen. Beide zeichnet es aus, Vorabend außergewöhnlicher Umwälzungen zu sein.
Die eine Vorabend-Epoche ist das Jahr 1913, der Anfang vom Ende des absolutistischen Rußland, seine Agonie, seine letzten Zuckungen. Der von Anna Achmatowa gewählte Epigraph entspricht genau dem, was sie von dieser Epoche erzählt: „Das war das letzte Jahr.“ Es war tatsächlich das letzte, denn morgen kam der Krieg (1914–1917) und übermorgen der katastrophale Zusammenbruch der jahrhundertealten Fundamente des Riesenreiches.
Die andere in diesem Poem dargestellte Epoche ist das Jahr 1941, der Vorabend ist ein anderer – derjenige eines wahrhaften Volkskrieges und Sieges. Der Krieg brach im Juni aus, vorerst jedoch drängen zu einer winterlichen, schneereichen Petersburger Mitternacht die längst gestorbenen Freunde der „heißen Jugend“ (hot youth) als lärmender Haufen wie Maskierte in der Christwoche zum einsamen Dichter ins Zimmer, und in seinem Gedächtnis ersteht das Jahr 1913 in allen Einzelheiten.
Mit sicherer Hand entwirft die Achmatowa ein Bild jenes Winters, an den ich, einer der wenigen heute noch lebenden Zeitgenossen, mich lebhaft erinnern kann.
Fast alles, was der jungen Generation von Lesern unverständlich „oder gar rätselhaft vorkommen mag, bedarf für mich wie für andere alte Petersburger keines Kommentars. Wenn ich zum Beispiel in dem Poem lese:

Die Rauhnächte waren von Feuern erwärmt,
aaaaaEs rollten die Kutschen dicht über die Brücken,

so denke ich an die großen Feuer, die damals auf den Theatervorplätzen angezündet wurden, damit die auf ihre vornehmen Herrschaften wartenden Kutscher nicht in der Eiseskälte steif froren. Ich erinnere mich an die vereisten, buckeligen kleinen Brücken über die in die Newa mündenden Kanäle: Für einspännige Kutschen war es dermaßen schwer, zur Mitte hinaufzukommen, daß sie immer wieder rückwärts rutschten. Autos gab es wenige, und deshalb ersteht das damaige Petersburg vor Anna Achmatowa als eine Stadt mit unendlich vielen Pferden:

Im Schmuck der Mähnen und Pferdegeschirre,
aaaaaDer Mehlfuhren…

Und noch ein Kennzeichen jener Epoche:

Und auf dem PaIais das schwarz-gelbe Banner…

die sogenannte Imperatorstandarte, die überm Winterpalais wehte, um der Hauptstadt zu verkünden, daß der Monarch dort zu weilen geruhte.
Wenn Anna Achmatowa, an ihre von einem Bildnis herabgekommene Heldin gewandt, sagt:

Bist du es, Verwirrerin-Psyche,

so ist mir und meinen Altersgenossen klar, daß die Schauspielerin Olga Afanessjewna Glebowna-Sudejkina vom Dramatischen Theater A. Suworins gemeint ist, welche die beiden Hauptrollen in Juri Beljajews Stücken „Psischa“ und „Putaniza“ gespielt hat. Vom Dezember 1909 an gab es in Zeitungen und Zeitschriften ungemein leidenschaftliche Äußerungen über ihre anmutige, betont schlichte Spielweise. Ihr Mann Sergej Sudejkin, ein seinerzeit berühmter Maler, malte, ein lebensgroßes Bildnis von ihr in der Rolle, der Titelheldin Putaniza. Im Poem der Achmatowa erscheint sie uns

… über und über mit Blumen geschmückt,
aaaaaSo wie im „Frühling“ von Botticelli.

Das Mädchen, das auf Botticellis Bild den Frühling symbolisiert, schüttet verschwenderisch Blumen auf die Erde. Mir kam Olga Sudejkina mit ihrem siegesbewußten, betörenden Lächeln und dem Rhythmus ihrer leisen Bewegungen stets wie dieser Frühling vor. Sie besaß einen untrüglichen Geschmack im Ästhetischen. Ich erinnere mich, wie sie, die dieses Handwerk nie erlernt hatte, wundervolle Puppen aus Ton formte und mit bunten Flicken benähte. Ihr Zimmer war wirklich wie eine Gartenlaube ausgestaltet. Anna Achmatowa nennt sie in ihrem Poem „eine Freundin der Dichter“. In der Tat stand sie literarischen Kreisen nahe, Ich begegnete ihr bei Sologub, bei Wjatscheslaw Iwanow – manchmal zusammen mit Blok, manchmal, wenn ich mich recht entsinne, mit Maximilian Woloschin. Elegant, voller Charme und stets von einem Schwarm von Verehrern umgeben, war sie eine lebendige Verkörperung ihrer verzweiflungsvollen, aufreizenden Epoche; die Achmatowa hatte sie nicht von ungefähr zur Hauptheldin jenes Teils ihres Poems gemacht, in dem das, Jahr 1913 dargestellt wird:

Was blickst du verschleiert und wachsam,
aaaaaBocksfüßige Puppe, Schauspielerin…

Im übrigen versteht sich, daß Verwirrerin-Psyche, wie auch die anderen Helden des Poems, nicht so sehr eine konkrete Person als vielmehr die weitreichend verallgemeinerte, typische Gestalt der Petersburger Frau jener Jahre ist. In dieser Gestalt sind die Merkmale vieler Zeitgenosinnen der Achmatowa in eins verschmolzen.
Wie in jeder reaktionären Periode kam es in den von der Achmatowa in Erinnerung gerufenen Jahren zu unglaublich vielen Selbstmorden, besonders unter der Jugend. Es war eine richtige Epidemie, ja, wie absonderlich es sein mag, eine Mode. Die Zeitungen berichteten tagtäglich von… zig Leuten, die sich erhängt, vergiftet oder erschossen hatten – und das mit ungewöhnlicher Leichtfertigkeit, oftmals aus nichtigem Grund. Ihr Gefühl für die historische Wahrheit sagte der Achmatowa, daß eine der ganz typischen Gestalten ihrer Erzählung über diese Zeit des Verderbens unbedingt ein Selbstmörder sein mußte.
Es erübrigt sich die Frage, ob es sich um einen wirklichen Vorfall oder um dichterische Erfindung handelt. Selbst wenn es diesen Vorfall nicht gegeben hätte (wir Alten jedoch erinnern uns genau an ihn), wäre er doch für das Poem unentbehrlich, da es Tausende ähnlicher Fälle gegeben hat. Der zwanzigjährige Dragoner und Dichter Wsewolod Knjasew mußte eines Nachts mit ansehen, daß die „Petersburger Puppe und Schauspielerin“ in die er leidenschaftlich verliebt war, nicht allein nach Hause zurückkehrte. Ohne lange zu überlegen, jagte er sich eine Kugel in die Stirn – vor der Tür, die sich hinter ihr und dem Glücklicheren geschlossen hatte.
Die Zeilen des Poems:

Ich lasse dich lebend zurück, aber du
Wirst
meine Witwe sein,…

sind Wsewolod Knjasews letzte Worte an, die „Schauspielerin“, die ihn betrogen hatte, ebenso der Ausruf:

Ich bin zum Sterben bereit.

Von diesem Tod heißt es bei der Achmatowa:

Wieviel Tode suchten den Dichter,
Dummer Junge: er wählte dieses −

Möglichkeiten des Untergangs hätte es tatsächlich viele gegeben: ein paar Monate später brach der Krieg aus.

Nicht in den verfluchten Masurischen Sümpfen,
aaNicht auf den blauen Höhn der Karpaten,
aaaaSondern auf deiner Schwelle!
aaaaaaVergebe dir Gott!

Bald nachdem der junge Mann auf der Schwelle der GeIiebten den Tod gesucht hatte, schrieb Anna Achmatowa Gedichte, in denen sie jene nach dem Toten fragte:

Oder siehst du jenen an deinen Knien,
Der um eines reinen Todes willen deine Gefangenschaft verlassen −

Doch am Vorabend des Krieges (die Achmatowa spürte dies sehr genau) lebte nicht nur der „Kornett Pierrot“, sondern lebten alle unter dem Vorzeichen des Zusammenbruchs, und hier ist ein weiteres deutliches Merkmal jener Epoche: Denken wir nur, welche Rolle die Vorahnung der Katastrophe, die Erwartung der Katastrophe, ja – ich möchte sogar sagen – das Dürsten nach der Katastrophe in den damaliegen Briefen, Gedichten, Tagebüchern und Gesprächen von Alexander Blok spielte.
Was die Achmatowa erzählt, ist von der ersten bis zur letzten Zeile durchdrungen von diesem apokalyptischen „Gefühl des Endes“. Wo immer man im ersten Teil des Poems blättert, liest man:

Zum Lachen nah ist die Lösung

Es rückt heran ohnehin die Vergeltung −

Und weil sich auf allen Wegen
aaUnd bis zu allen Schwellen hin
aaaaZu langsam der Schatten genähert,

…, näherte sich auf dem Kai,
aaDem legendären, das nicht reguläre −
aaaaDas wirkliche neue Jahrhundert.

Das alles wird von den Worten des Chronisten jener Epoche vollauf bestätigt: „Zermürbt von schlaflosen Nächten, seine Langeweile betäubend mit Wein, Gold, liebloser Liebe, mit den herzzerreißenden und kraftlos-sinnlichen Klängen des Tango – eines Hymnus des Sterbens −, lebte es“ (d.h. Petersburg – K. Tsch.) „gleichsam in Erwartung eines verhängnisvollen und furchtbaren Tages.“
Dieses tragische Pathos des Vorgefühls der unausweichlichen Katastrophe wird im Poem mit den starken Mitteln der Lyrik erzeugt. Und da die Achmatowa nicht schlechthin Historikerin ist, sondern eine Historikerin und Dichterin, ist für sie sogar die im Poem geschilderte Natur von dieser Unruhe und diesem Grauen ergriffen, die auch allen anderen Ereignissen innewohnen, die sich in der von Trauer erfüllten Stadt abspielen.

… Riß der Wind von der Wand die Plakate,
aaTanzte der Wind auf dem Dach Kasatschok,
aaaaRoch der Flieder nach Friedhof.
…………………………………………………………….

Und in der frostigen Schwüle des Vorkriegs,
aaIn der verbuhlten und drohenden, hörte
aaaaMan immer ein künftiges Grollen.

Vom „Turm des Jahres neunzehnhundertvierzig“ auf jene ferne Zeit schauend, geht die Achmatowa mit ihr streng ins Gericht, nennt sie eine „wahnwitzige“, „sündige“ und „geile“ Zeit, verflucht die von ihr hervorgebrachten „Phrasenhelden“, die „falschen Propheten und Magier“. Doch es wäre widernatürlich, wenn sie nicht, wie jeder ältere Mensch beim Zurückdenken an die Jugend, auch anders als feindselig empfände.
Der Haß auf diese Epoche verbindet sich in Anna Achmatowas Poem mit einer tiefen, unterschwelligen Liebe. Dies ist erklärlich:

Ich schlafe −
aaaaaaaaaaIm Traum von der Jugend umfangen.

Außerdem darf man nicht vergessen, daß die russische Geschichte selbst in Epochen des Niedergangs niemals fruchtlos war. Das Poem wäre der historischen Wahrheit sehr fern, wenn es verschwiege, daß mit dieser stickigen Zeit unlösbar solche wunderbaren Größen der russischen Kunst wie Schaljapin, der junge Majakowski, Alexander Blok, Wsewolod Meyerhold, Igor Strawinsky und andere verbunden sind. Ein jeder von ihnen ist in diesem Poem sichtbar oder unsichtbar anwesend – freilich unter dem gleichen tragischen und unheimlichen Aspekt wie die anderen Gestalten auch. Der Achmatowa sind alle diese großen Namen zutiefst verwandt, denn ihr eigener Name ist nicht von ihnen zu trennen.

An Igor Strawinsky läßt die Zeile über Petruschka denken:

Petruschkas Maske hinter dem Schirm.

„Petruschka“, eines der typischsten Ballette Strawinskys aus dieser Zeit, hatte kurz zuvor (1911) in Rußland und Frankreich großes Aufsehen erregt.
Schaljapin erkennt man unschwer in den Versen:

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaa… Und wieder
Jene vertraute Stimme, ein Echo
aaDes Donners der Berge, die uns noch einmal
aaaaMit Stolz und Freude erfüllte.

Sie hat die Herzen erschüttert und fliegt
aaÜber die Weglosigkeiten
aaaaDes Landes, das sie genährt.

Liest man die Gedichte, in denen Blok geschildert wird, so muß man bedenken, daß dies nicht der weise, mutige, erleuchtete Dichter ist, wie wir iln durch seine späteren Gedichte kennen, sondern der Alexander Blok der „Schrecklichen Welt“ – Produkt und Opfer dieser verpesteten und „wahnwitzigen“ Epoche:

Der Dämon selbst mit dem Lächeln Tamaras…
aaUnd doch liegt ein unbeschreiblicher Reiz
aaaaAuf diesem schrecklich vagen Gesicht:
Fast schon zu Geist gewordenes Fleisch,
aaAntikisch die Locke über dem Ohr −
aaaaAch, wie geheimnisvoll ist dieser Fremde.

Es fällt auf, daß im tragisch verzweifelten, todesnahen Reigen der zum Untergang verurteilten Schatten des Jahres 1913 Majakowski nicht aufgeführt wird. Er ist in der „Erzählung“ der Achmatowa der einzige „Gast aus der Zukunft“, und sie sagt, an ihn gewandt:

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa… Doch halt!
Du stehst, wie es scheint, nicht auf der Liste.

Er ist wirklich nicht verzeichnet. Die Achmatowa hat (wiederum dank ihrem geschärften Geschichtsbewußtsein) die ganz gesetzmäßige Rolle des Zerstörers dieses aufreizenden, unzüchtigen und wahnhaften „Teufelsspuks“, der in ihrem Poem seinen letzten Todestanz aufführt, genau verstanden. Auch Majakowski erscheint maskiert:

aaAls Werstpfahl, als ein gestreifter, verkleidet,
Bunt und knallig bemalt −

Doch nach einem anderen, wenige Seiten weiter abgedruckten Gedicht der Achmatowa zu urteilen, fühlte sich Majakowski schon damals, als die Gespenster noch lebendig waren, als ein unversöhnlicher Feind jener wahnwitzigen Epoche, die sie hervorgebracht hatte. In dem Gedicht „Majakowski im Jahre 1913“ schrieb Anna Achmatowa voller Sympathie für ihn:

aaaaaaaaaaaaaaaa… An dessen Zerstörung
Du gingst, zerstört liegts. In jeglichem Wort
Pulste das Urteil,

das Todesurteil über dieses ganze elegante, doch der Fäulnis anheimgefallene Jahrhundert.
Wie viele andere Werke der Achmatowa auch, entspringt das Poem ohne Held einem schmerzvollen Gefühl des Verlustes, des Verwaistseins, der nicht geschehenen Begegnung, der enttäuschten Hoffnung, der Trennung. Unter den Neujahrsgästen, die sich in ihrem Haus drängen, fehlt der, den sie am meisten herbeiwünscht. Im Poem heißt es von ihm:

Und in allen Spiegeln das Bild
Jenes Mannes, der nicht erschienen
Und nicht in den Saal gelangte.

Schon in den ersten Zeilen des Poems sagt sie, an ihn gewandt:

… Begrüß ich mit dir, der nicht gekommen,
aaDas Jahr einundvierzig.

Dieses unabweisbare Gefühl, von demjenigen getrennt zu sein, den sie einzig herbeigesehnt und erwartet hat, verstärkt die tragische Tonalität des Poems.
Es bedarf wohl keiner Erörterung, daß der unruhevolle und leidenschaftliche Rhythmus der Achmatowa, welcher der unruhevollen und leidenschaftlichen Thematik wesensverwandt ist, den Bildern größte emotionale Kraft verleiht. Diese bizarre Kombination zweier Anapäst-Versfüße mal mit einem Amphibrachus, mal mit einem einfüßigen Jambus ist für die Achmatowa bezeichnend. Soweit ich weiß, war dieser Rhythmus (wie auch der Verssatz) in der russischen Dichtung bislang unbekannt. Das Poem ist sinfonisch aufgebaut, und jeder der drei Teile hat seine Musikalität, seinen Rhythmus im Rahmendes einheitlichen Metrums und scheinbar den gleichen Strophenaufbau.

Kornej Tschukowski, 1967

 

Anna Achmatowa

(eigt. Gorenko; 1889 bis 1966): In Bolschoi Fontan bei Odessa als Tochter eines Marineoffiziers geboren, Jugend in Zarskoje Selo, Jurastudium in Kiew, 1910 Ehe mit Nikolai Gumiljow, Reisen nach Paris (Freundschaft mit Modigliani) und Norditalien, 1910 zusammen mit Mandelstam, Gumiljow u.a. Bekenntnis zum Akmeismus (Abgrenzung gegen Symbolismus und Futurismus), 1912–1922 mehrere Gedichtbände, später bedeutende Puschkinstudien, 1941 Evakuierung aus dem belagerten Leningrad nach Taschkent, Rückkehr 1944, Nachdichtungen aus mehreren Sprachen, seit 1958 einige Sammelbände, 1964 und 1965 zur Entgegennahme hoher literarischer Auszeichnungen Reisen nach Italien („Ätna-Taormina“) und Großbritannien (Ehrendoktor der Oxford University). Gestorben in Domodedowo bei Moskau. −
Dieser Band gibt Einblick in das späte Werk der Dichterin, er verdeutlicht ihre wesentliche Leistung: eine neue Synthese von Geschichtlichkeit und lyrischer Subjektivität. – Im Mittelpunkt die große Geschichtsdichtung, das Poem ohne Held (1940–1962), in dem Achmatowa gegen den „mörderischen ,Gedächtnisschwund der Wirren‘ angeht“ (R. Timentschik) – ihr geistiges Testament, eine „akme“ ihres Lebens und ihrer Dichtung.

Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, Klappentext, 1979

 

Kurz über mich

Am 11. (23.) Juni 1889 wurde ich in Bolschoi Fontan bei Odessa geboren. Mein Vater, Ingenieuroffizier der Flotte, war bereits im Ruhestand. Mit einem Jahr kam ich nach dem Norden, nach Zarskoje Sela. Dort blieb ich bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr.
Meine ersten Erinnerungen sind mit Zarskoje Selo verbunden, mit den Parkanlagen in ihrer nassen grünen Pracht, der Weide, zu der mich die Kinderfrau führte, der Rennbahn, auf der kleine, scheckige Pferde galoppierten, dem alten Bahnhof und allem anderen, was später in die „Ode an Zarskoje Sela“ einging.
Den Sommer verbrachte ich jedes Jahr am Ufer der Strelezker Bucht bei Sewastopol. Dort freundete ich mich auch mit dem Meer an. Doch am meisten beeindruckte mich damals das benachbarte alte Cherson.
Lesen lernte ich nach dem Alphabet Lew Tolstois. Mit fünf Jahren bemächtigte ich mich auch des Französischen durch Zuhören beim Unterricht der älteren Kinder.
Mein erstes Gedicht schrieb ich mit elf Jahren. Die Dichtung begann für mich nicht mit Puschkin und Lermontow, sondern mit Dershawin („Auf der Geburtstagsfeier eines Knaben in Purpur“) und Nekrassow („Waldkönig Frost“). Diese Gedichte kannte meine Mutter auswendig.
Ich lernte im Mädchengymnasium von Zarskoje Sela. Zuerst schlecht, dann besser, jedoch nie mit Lust.
1905 trennten sich meine Eltern, und meine Mutter übersiedelte mit den Kindern nach dem Süden. Ein ganzes Jahr lebten wir in Jewpatorija, wo ich zu Hause den Stoff der Unterprima durchnahm, Zarskoje Sela nachtrauerte und viele hilflose Gedichte schrieb. Das Echo der Revolution von 1905 erreichte nur gedämpft das weltabgeschiedene Jewpatorija. Die Prima absolvierte ich im Kiewer Funduklejew-Gymnasium, das ich im Jahre 1907 beendete.
Anschießend besuchte ich die Juristische Abteilung höherer Mädchenkurse in Kiew. Solange ich Geschichte des Rechts und besonders Latein zu lernen hatte, war, ich zufrieden; kaum aber begannen die rein juristischen Fächer, da erlosch mein Interesse für das Studium.
1910 heiratete ich N.S. Gumiljow, und wir fuhren für einen Monat nach Paris.
Der Bau neuer Boulevards am lebendigen Leib von Paris (den Zola beschrieben hat) war noch nicht ganz abgeschlossen (der Boulevard Raspail). Werner, ein Freund Edisons, zeigte mir im Taverne de Panthéon zwei Tische: „Da sitzen eure Sozialdemokraten – hier die Bolschewiki, dort die Menschewiki.“ Mit wechselndem Erfolg trugen die Frauen bald Hosenröcke (jupes-culottes), bald Wickelröcke (jupes entravées). Gedichte waren nicht mehr gefragt; gekauft wurden sie nur noch wegen der Vignetten mehr oder minder renommierter Künstler. Ich begriff schon damals, daß die Pariser Malerei die französische Poesie absorbiert hatte.
Nach Rußland zurückgekehrt, besuchte ich in Petersburg Rajews Hochschullektionen über Literaturgeschichte. Zu dieser Zeit schrieb ich bereits Gedichte, die später in mein erstes Buch eingingen.
Als mir die Korrekturabzüge der Zypressenholzschatulle von Innokenti Annenski vor Augen kamen, war ich erschüttert. Während der Lektüre vergaß ich alles andere auf der Welt.
1910 wurde die Krise des Symbolismus offensichtlich. Die jungen Dichter schlossen sich dieser Strömung nicht mehr an. Die einen gingen zu den Futuristen, die anderen zu den Akmeisten. Zusammen mit Mandelstam, Senkewitsch und Narbut, meinen Kollegen aus der Ersten Werkstatt der Dichter, wurde ich Akmeistin.
Das Frühjahr 1911 verbrachte ich in Paris, wo ich die ersten Triumphe des russischen Balletts miterlebte. 1912 reiste ich durch Norditalien (Genua, Pisa, Florenz, Bologna, Padua, Venedig). Der Eindruck von der italienischen Malerei und Architektur war gewaltig, fast wie ein Traum, den man nie mehr vergißt.
1912 erschien mein erster Gedichtband : Abend. Gedruckt wurden nur dreihundert Exemplare. Die Kritik nahm den Band wohlwollend auf.
Am 1. Oktober 1912 wurde mein einziger Sohn Lew geboren.
Im März 1914 erschien mein zweites Buch: Rosenkranz. Es sollte nur knappe sechs Wochen leben. Anfang Mai klang die Petersburger Saison ab, und die Stadt leerte sich allmählich. Diesmal war es eine Trennung von Petersburg auf ewig. „Wir kehrten nicht mehr nach Petersburg zurück, sondern nach Petrograd – aus dem 19. Jahrhundert unvermittelt in das 20. Alles war anders geworden, selbst das Äußere der Stadt. Man sollte meinen, das Bändchen Liebeslyrik eines jungen Autors wäre in den welthistorischen Ereignissen untergegangen. Doch die Zeit wollte es anders.
Den Sommer verbrachte ich stets im ehemaligen Gouvernement Twer, fünfzehn Werst von Beshezk entfernt. Eine reizlose Gegend: auf hügligem Gelände gleichmäßige Quadrate gepflügter Felder, Mühlen, Bruchwiesen, trockengelegte Sümpfe, Torpforten, Getreide, Getreide… Dort habe ich sehr viele Gedichte der Bände Rosenkranz und Weißer Vogelschwarm geschrieben. Der Weiße Vogelschwarm erschien im September 1917.
Diesem Buch gegenüber sind Leser und Kritiker ungerecht. Sie meinen, es hätte weniger Anklang gefunden als der Rosenkranz. Dabei erblickte diese Sammlung unter noch unglücklicheren Umständen das Licht der Welt als die vorangegangene. Das Verkehrswesen lag darnieder. Nicht einmal nach Moskau konnte das Buch gelangen; es wurde restlos in Petrograd abgesetzt. Zeitschriften und Zeitungen hatten ihr Erscheinen eingestellt. So war es kein Wunder, daß dem Weißen Vogelschwarm zum Unterschied vom Rosenkranz ein lebhafter Pressewiderhall versagt blieb. Hunger und Chaos wuchsen mit jedem Tag. Sonderbar, daß alle diese Umstände heute nicht mehr berücksichtigt werden.
Nach der Oktoberrevolution arbeitete ich in der Bibliothek des Instituts für Agronomie. 1921 erschien mein Gedichtband Wegerich, 1922 Anno Domini.
Seit Mitte der zwanziger Jahre galt mein Interesse vornehmlich der Architektur des alten Petersburg und dem Leben und Schaffen Puschkins. Das Ergebnis meiner Puschkin-Studien waren drei Arbeiten: über den „Goldenen Hahn“, über Benjamin Constants „Adolphe“ und über den „Steinernen Gast“. Sie alle wurden seinerzeit gedruckt.
Die Arbeiten „Alexandrina“, „Puschkin und die Newaküste“, „Puschkin im Jahre 1828“, mit denen ich mich die letzten, nahezu zwanzig Jahre beschäftigt habe, werden wahrscheinlich in das Buch Puschkins Tod eingehen.
Mitte der zwanziger Jahre wurde die Veröffentlichung meiner Gedichte, sowohl der neuen wie der alten, fast völlig eingestellt.
Der Vaterländische Krieg 1941 fand mich in Leningrad. Ende September, schon während der Blockade, wurde ich nach Moskau ausgeflogen.
Bis Mai 1944 wohnte ich in Taschkent, Begierig nahm ich alle Nachrichten über Leningrad, über die Front auf. Gleich anderen Dichtern war ich oft in Lazaretten, ich trug den verwundeten Soldaten Gedichte vor. In Taschkent habe ich erstmals erfahren, was in sengender Hitze der Schatten eines Baumes und der Klang des Wassers bedeuten, Und noch etwas habe ich kennengelernt – menschliche Güte: In Taschkent war ich oft und schwer krank.
Im Mai 1944 flog ich in das frühlingshafte Moskau, das schon erfüllt war von freudiger Hoffnung und von der Erwartung des nahen Sieges. Im Juni kehrte ich nach Leningrad zurück.
Das gespenstische Antlitz meiner Stadt schockierte mich dermaßen, daß ich die Begegnung mit ihr in Prosa beschrieb. Damals entstanden meine Skizzen „Drei Stengel Flieder“ und „Zu Gast beim Tod“. Die letzte Skizze handelt von einem Gedichtvortrag an der Front bei Terioki. Prosa war für mich immer Geheimnis und Verführung zugleich. Über Gedichte wußte ich von Jugend an alles, über Prosa wußte ich nie etwas. Meinen ersten Versuch haben alle sehr gelobt. Ich habe es natürlich nicht geglaubt. Ich wandte mich an Soschtschenko. Er riet, einiges zu streichen, mit dem Rest sei er einverstanden. Ich war froh. Später, nach der Verhaftung meines Sohnes, verbrannte ich die Skizzen mitsamt dem ganzen Archiv.
Lange schon interessierte mich die Übersetzung schöner Literatur. In den Nachkriegsjahren habe ich viel übersetzt. Ich übersetze auch jetzt.
1962 beendete ich mein Poem ohne Held, an dem ich zweiundzwanzig Jahre geschrieben habe. Letzten Winter, vor Beginn des Dante-Jahres, habe ich wieder italienische Laute gehört: Ich war in Rom und auf Sizilien. Im Frühjahr 1965 reiste ich in die Heimat von Shakespeare, sah den britischen Himmel und den Atlantischen Ozean, traf mit alten Freunden zusammen und lernte neue kennen. Noch einmal weilte ich in Paris.
Ich habe nie aufgehört, Gedichte zu schreiben. Für mich waren sie die Verbindung zur Zeit, zum neuen Leben meines Volkes. Beim Dichten war ich erfüllt vom Rhythmus der heldenhaften Geschichte meines Landes. Ich bin glücklich, in unvergleichlichen Jahren gelebt zu haben und Zeuge einmaliger Ereignisse gewesen zu sein.

Anna Achmatowa, 1965

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Gespräch + Archiv +
Kalliope
Nachrufe auf Fritz Mierau: Süddeutsche Zeitung ✝ Börsenblatt ✝ FR ✝
Zeit ✝ Tagesspiegel

 

Fritz Mierau: Ein biographisches Interview (Auszüge aus ca. 17 Stunden Videomaterial, 2006/2007) von Dietmar Hochmuth.

 

 

Joseph Brodsky spricht über Anna Achmatowa.

 

 

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa

Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa

Zum 2. Todestag der Autorin:

Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989

Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989

Fakten und Vermutungen zur Autorin + dekoderKalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Anna Achmatowa Begräbnis.

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