Attila József: Ein wilder Apfelbaum will ich werden

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Attila József: Ein wilder Apfelbaum will ich werden

József-Ein wilder Apfelbaum will ich werden

ARS POETICA
Für Andor Németh

Dichter bin ich – was soll mich scheren
weiter selbst der Dichtung Genuß?
Schön wär’s nicht, stiegen in den hehren
Himmel die Nachtsterne vom Fluß,

Die Zeit, wie läßlich sie versickert,
mich treibt nicht mehr der Märchen Lauf,
ich schlürfe wirklich Welt, gesichert,
mit schäumendem Himmel darauf.

Wie schön der Born – in dem zu baden!
Schlottern und Stille im Geflecht
geeinigt, und die Wellen wagen
ein zärtlich-kluges Wortgefecht.

Fremde Dichter? Alle bloß Scheitern
für mich. Bekotet bis zum Kinn
mögen sie mit geschürten Geistern
mimen den schief berauschten Sinn.

Ich übersteige diese Kneipe
bis zur Vernunft, die weiter reicht!
Frei mein Verstand, ich täusch im Leide
nicht vor, ich sei ein dummer Knecht!

Magst essen, trinken, lieben, schlafen:
Messe dich immer mit dem All!
Nicht mal zischend dien ich der Raffen-
und Schergengewalten Gefahr.

Kein Feilschen gibt’s – mein Glück mein eigen!
Sonst erniedrigt mich jeder Sud,
und rötliche Flecken bezeichnen
mich, und Fieber verzehrt mein Blut.

Ich halte nicht, nicht mehr den Streitmund.
Vorm Wissen beschwer ich mich dann.
Dieses Jahrhundert gibt mir recht, und
mich meint beim Pflug der Ackermann;

mich ahnt innig des Werkmanns Körper,
wenn er gerührt sich steif bewegt;
mir lauscht abends vorm Kino derber
Jungstrolch, in Fetzen eingenäht.

Und wo Schurken, geballt in Lagern,
jagen meiner Verse Phalanx,
da dröhnen Reime, werden ratternd
verbreitet von brüderlichen Tanks.

Ich sag: Der Mensch reift noch in Keltern.
Wähnt er sich groß, so ist er dreist.
Sein Schritt sei bewacht von den Eltern:
Sei’ von der Liebe und vom Geist!

 

 

 

Attila József

„Es war ihm beschieden, vollkommen zu sein. Nicht nur ein ausgewählter Teil, sondern sein ganzes Lebenswerk verdient die Ewigkeit“ – mit diesen Worten habe ich Attila József in der Gedenknummer von Szép Szó (Schönes Wort) im Januar 1938 verabschiedet.
Ich glaube nicht, daß diese Worte nur durch die Liebe des Freundes und die eigenartige Gerührtheit der Trauer hervorgerufen wurden. Ich hatte ihn bereits während seines Lebens mit Hölderlin, Keats, Rilke und Kafka verglichen und bewunderte seine strudelnde Tiefe, seine stupende sprachliche Virtuosität und metaphysischen Höhenflüge. Mir gereicht zur Zufriedenheit, daß nunmehr auch die deutschsprachige Leserschaft in die Lage versetzt wird, diesen aufgrund von Sprachschwierigkeiten fast als unzugänglich verschrienen Dichter kennenzulernen, und zwar in einer Form, die mir seiner großartigen Dichtung würdig zu sein scheint. Das größte Erlebnis meines Lebens war, daß ich ihn aus der Nähe kannte, der erste Leser einiger seiner Meisterwerke – und ab und zu sein Ratgeber – sein durfte, und daß ich einer unter den allerersten war, die die tragische Größe seiner Kunst nach ihrem Wert gewürdigt hatten. Sein Lebenswerk war, als er noch lebte und schrieb, sogar in seinem eigenen Land kaum vom Publikum wahrgenommen worden.
Es sei mir erlaubt, kurz einiges über mich anzumerken: Ich zog Anfang der dreißiger Jahre nach Budapest, nachdem ich meine Grundprüfungen in den Fächern Ungarische, Deutsche und Französische Literaturen an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Pécs mit Erfolg abgelegt hatte. Dort freundete ich mich besonders mit dem Germanistikprofessor Thienemann an, dem ich die Bekanntschaft mit den Essayisten aus dem Kreise um Stefan George zu danken hatte. Parallel zu meinen Budapester Universitätsstudien besuchte ich immer öfter einen Kreis von Intellektuellen, die Miklós-Bartha-Gesellschaft, in der wohl die besten Vertreter der Nachkriegsgeneration – unter ihnen der junge Gyula Illyés – über die damals immer komplizierteren, unheilversprechenden Entwicklungen der ungarischen Politik und der Weltpolitik diskutierten. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen der sich immer stärker nach links orientierenden Gesellschaft standen folgende Themen: die damals unlängst ausgebrochene Weltwirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit und vor allem die Folgen durch den Entfall des ungarischen Agrarexports, die sich auch für uns in den beispiellos gewaltigen Protestkundgebungen der Budapester Industriearbeiter und Angestellten geäußert hatten.
Zu dieser Zeit hatte ich mit einem der führenden Mitglieder der Bartha-Gesellschaft Freundschaft geschlossen, nämlich mit einem buckeligen Setzer, dem Kommunisten Péter Pál Lakatos, der mich zum Abendessen einlud, an dem auch seine wunderschöne Frau teilnahm. „Hast du schon die Gedichte von Attila József gelesen?“ fragte er mich. „Wie sagst du? Attila József?“ Ich gab zu, daß ich, obwohl ich die Entwicklungen in der Poesie aufmerksam verfolgte, von einem Dichter dieses Namens noch nichts gehört hatte.
„Nun, dann hast du keine Ahnung, was du dabei versäumt hast!“ sagte der Freund. „Er ist der Beste unter uns. Wenn du willst, lese ich dir gleich einiges von ihm vor.“ Er hatte das gelbe Heft rasch hervor geholt, dessen zentrales Gedicht so kühn ansetzte:

Ich hab kein Land. Keinen Gott.
Keinen Vater. Mutter nicht.

Er guckte unter seiner dicken Brille wach hervor und prüfte laufend die Wirkung. Als er das Gedicht zu Ende gelesen hatte, bat ich ihn, es noch einmal zu lesen. Ich murmelte betäubt: „So eine Poesie hatte ich seit Endre Ady nicht mehr gehört.“
„Willst du ihn kennenlernen? Gut, dann gehen wir gleich zu ihm“, wir griffen augenblicklich nach den Mänteln. Attila József wohnte damals in der Nähe des Westbahnhofs, im zweiten Stock eines verrauchten, verwitterten Hauses. Entsprechend der Bauweise der Jahrhundertwende konnte man vom Flur, der den Innenhof umkreiste (damals und auch heute noch Gang genannt), unmittelbar in eine Küche treten, wo Frau Judit, eine große Gestalt mit strengem Gesicht, gerade den Boden schrubbte. Sie erhob sich nicht aus ihrer kauernden Haltung: „Tretet ein“, sagte sie, „Attila arbeitet gerade.“ Mein Freund stellte mich ihm vor: „Dieser junge Mann fiel fast in Ohnmacht vor Bewunderung, als ich ihm dein ,Tiszta szívvel‘ (,Reinen Herzens‘) vorlas.“ Attila József stand auf, drückte mir kräftig die Hand, bot mir an, mich zu setzen, und griff, um uns zu bewirten, nach der Weinflasche, die auf seinem Tisch zwischen den aufgetürmten Büchern und Schreibheften stand.
Viele fragen mich seitdem, was für ein Mensch er war. Sein Äußeres verriet überhaupt nichts Extravagantes, er war bürgerlich gekleidet und sorgfältig rasiert – er behielt nur den kleinen Schnurrbart, der seinem glatten, beinahe kindischen Gesicht etwas Männliches verlieh. Das beste Portrait von ihm zeichnete wohl Dezső Kosztolányi, vielleicht der größte Schriftsteller unter den Zeitgenossen, der ihn fast väterlich liebte:

Ein kecker Kerl, ein gradsinniger Meistergeselle. Schmächtig, aber äußerst mannhaft. Ist nicht einem Dichter ähnlich, und auch das deutet darauf hin, daß er ein richtiger Dichter ist.

Als wir uns begegneten, war er 27 Jahre alt, war also nur vier Jahre älter als ich, aber bereits – wie mir Péter Pál Lakatos unterwegs sagte – viel gereist, hatte Paris besucht, schrieb sogar französische Gedichte an eine junge Französin. Im Gegensatz zu mir, dem unbeholfenen, schüchternen Jungen vom Lande… Nun, ich war äußerst gerührt. Auch dadurch, daß er mit mir wie mit einem alten Bekannten sofort anfing, über die damals entdeckten und in Deutschland publizierten Jugendwerke von Karl Marx zu sprechen und mir Teile aus ihnen vorlas.
Das Gedicht, das mich ins Herz traf, muß ich anmerken, erschien 1925, in Buchform 1929. Ludwig Baron von Hatvany, der bereits Freund, Mäzen und Prophet des größten Poeten der Jahrhundertwende, von Endre Ady, war, zeigte sich auch betroffen, als ihn Ignotus, die zweitwichtigste Person der Zeitschrift Nyugat (Westen), auf Attila József aufmerksam machte. Er schrieb gleich nach Bekanntwerden von „Reinen Herzens“, daß dieses Gedicht „das Dokument der ganzen Nachkriegsgeneration sei für spätere Zeitalter.“ Und tatsächlich. Nach Endre Ady, dessen Werk den Optimismus und die heroische Kampfbereitschaft der Vorkriegsgeneration in der verfeinerten, an der Kunst der Symbolisten und Surrealisten geschliffenen poetischen Sprache betonte, gab Attila József dem verzweifelten Aufbegehren jener Generation Ausdruck, die die erste Weltkatastrophe überlebt hatte. Der vorhin erwähnte Ignotus schrieb, nachdem er das Gedicht „Fekete zongora“ („Schwarzes Klavier“) gelesen hatte:

Man soll mich hängen, wenn ich es verstehe, es ist aber schön.

Derselbe Mann begriff Attila József gleich und empfahl dessen Gedicht mit den Worten „Wunderschön!“ Der damalige Chefredakteur von Nyugat, der liberale, aber streng moralisierende Ernő Osváth lehnte aber den Text als nicht publizierbar ab.
Um auf unser bis tief in die Nacht hineinreichendes Gespräch zurückzukommen, kann ich sagen, daß dies unsere Freundschaft, die durch den gemeinsamen Glauben an das marxistische Evangelium immer enger geschnürt wurde, besiegelt hatte. Aus heutiger Sicht mag es tollkühn erscheinen: Wir glaubten an die unmittelbar bevorstehende Revolution. Deren Ausbruch prognostizierte einer der Vorsitzenden der Miklós-Bartha-Gesellschaft, der Ökonom und Soziologe Sándor Szatmári (er war wesentlich älter und gebildeter als wir selber), mathemathisch auf Januar 1933, wobei er den stetigen Anstieg der die kapitalistischen Staaten bedrohenden Arbeitslosigkeit mitberücksichtigte. Die wissenschaftlich anmutenden Berechnungen von Szatmári wurden durch einen milchgesichtigen Parteidichter und Journalisten namens László Gereblyés bekräftigt, der uns in seinem Reportagebuch über die zahlenmäßig immer größere Überlegenheit der Deutschen Kommunistischen Partei berichtete, nachdem er von einer Studienreise in Deutschland zurückgekehrt war.
Attila József hatte sich uns oft angeschlossen, als unsere aus Philologiestudenten und Schülern des Eötvös-Kollegiums bestehende Studiengruppe sonntags Ausflüge in die hügelige Gegend von Budapest, Hűvosvölgy genannt, veranstaltete. Einmal las er auf einer Lichtung vor der um zahlreiche Ausflügler erweiterten Menge sein Gedicht „Munkások“ („Arbeiter“), wobei er bewiesen hatte, daß er sich – wie etwa Bertolt Brecht – sogar von der trockenen, leninistisch-stalinistischen Ideologie zu einem meisterhaften Gedicht anregen ließ:

Doch – Genossen! – das ist grad jene Klasse,
die Eisenkleid anzog im Ungemach!
Wir künden sie wie Schlöte: Sei sie krasse
sichtbar! Erleiden für sie jede Schmach!

Attila war begeistert, wir applaudierten ihm, und wir alle stimmten darauf gutgelaunt die Lieder der russischen Revolution an. Er war stolz darauf, daß er in einem Außenbezirk von Budapest, er war mittlerweile dorthingezogen, Flugblätter verteilen konnte, die zum Streik aufgerufen hatten.
Im April 1932 hatten wir mit Attila gemeinsam das Vorhaben beschlossen, eine ernsthafte soziologisch, philosophisch und kritisch orientierte Zeitschrift zu gründen. Ein Titel fand sich rasch: Valóság (Wirklichkeit). Nur noch Geld mußten wir auftreiben. Was letzteres betrifft, hatten wir uns mittels des Kommunistischen Jugendverbandes, mit dem wir in Verbindung standen, an den Führungsstab der halblegalen, das heißt von der Polizei geduldeten, aber observierten Társadalmi Szemle (Gesellschaftliche Rundschau) gewandt; ich erinnere mich an die Namen Pál Sándor, Doktor Schönhertz sowie an den des Soziologen und Schriftstellers József Magyar, die uns dann tatsächlich unterstützten, unter der Bedingung, daß die Zeitschrift von uns beiden niedergeschrieben würde. Auch heute noch begreife ich kaum, warum diese Leute mir, dem Schriftstellerlehrling und angehenden Literaturlehrer, mehr Vertrauen geschenkt hatten, als Attila József, den ich bereits damals als Meister betrachtete. Hatten sie vielleicht, mit gutem Instinkt, in Attila den zukünftigen Abtrünnigen gesehen, der sich in keinen Parteikäfig stecken ließ? Der Skandal brach bereits vor dem Erscheinen der ersten Nummer aus, als ich die Materialien, darunter Attila Józsefs Leitartikel „Egyéniség és Valóság“ („Individuum und Wirklichkeit“), Pál Sándor präsentierte. Er hatte nämlich diese im Jargon von Hegel verfaßte Schrift einfach als unverständlich abqualifiziert. Ich gebe zu, ich begriff sie auch nicht ganz, obwohl mir Attila einige Nächte lang auseinandersetzte, was er zu sagen beabsichtigte. Vermutlich wollte er die Parteieminenzen durch sein philosophisches Wissen verblüffen. Was die intellektuellen Hauptkontrolleure am meisten gestört haben dürfte, war die Art und Weise, wie er die hegelsche Dialektik mit der im freudschen Sinne verstandenen Sexualität vermengte. Er schrieb zum Beispiel:

Der Koitus aber, wie er von der Psychoanalyse richtig ausgelegt wird, ist ein sozialer Akt, eine gesellschaftliche Tätigkeit…

Pál Sándor und sein Kreis sahen im Artikel wohl die Karikatur ihres eigenen Stils, waren sie doch als gute Kommunisten noch dazu einigermaßen prüde… Es bedurfte eines langen Zuredens, bis ich ihnen begreiflich machte, daß Attila József ein großer Dichter sei und daß man seine Schriften, ob man mit ihnen einverstanden sei oder nicht, auf keinen Fall zensieren könne. Der Artikel erschien dann in der Tat, konnte aber nur von den wenigsten gelesen werden, weil ich gleich am Tag des Erscheinens verhaftet wurde und alle in meiner Wohnung befindlichen Exemplare, einige hundert, der Beschlagnahmung zum Opfer fielen.
Während ich ein Jahr lang eingekerkert war, von Juni 1932 bis Juni 1933, besuchte mich Attila József jeden Sonntag im Sammelgefängnis, und anläßlich eines seiner Besuche im Januar berichtete er mir aufgeregt, daß die Deutsche Kommunistische Partei bei der Vertreibung der sozialdemokratischen Regierung mit den Nazis in Berlin zusammengewirkt habe. Diese Aufregung veranlaßte ihn dann, jenen Artikel zu verfassen, der in der kommunistischen Zeitung Új harcos (Neuer Kämpfer) erschien und nach heftigen Diskussionen dazu führte, daß er aus der KP ausgeschlossen wurde. Attila József hatte eigentlich sich selber aus der Partei ausgeschlossen, als er nach Hitlers Machtergreifung den Artikel veröffentlichte, in dem er ein Urteil „über die in ihrem eigenen Marxismus ertrunkenen Berufsrevolutionäre“ fällte.
Nicht viel später wurde sogar Attila József zum „Sozialfaschisten“ gestempelt, so wie auch ich, der ich mich nach meiner Freilassung mit Attila solidarisierte. Auf diese Weise und zu diesem Zeitpunkt wurden wir beide, revolutionäre Intellektuelle, überzeugte Sozialdemokraten. Nachdem ich im Dezember 1933 Rózsa Hilmayer geheiratet hatte, verzehrten wir das Abendessen äußerst gutgelaunt zu viert in der Wohnung meiner Schwiegermutter in der Pipa Straße. Da es zu spät war, mit der Straßenbahn in den Außenbezirk von Budapest zurückzukehren, hatten Attila und Judit diese besondere Nacht bei uns auf einer Matratze verbracht. Mitte 1934 wurden wir Nachbarn. Attila József hatte mich mit dem Chefredakteur der Zeitungen Népszava (Volksstimme) und Szocializmus (Sozialismus), Illés Mónus, dem herausragenden Arbeiterführer, bekanntgemacht, der im Herbst 1944 von ungarischen Nazis erschossen und in die Donau geworfen wurde. Im Artikel „A szocializmus bölcselete“ („Philosophie des Sozialismus“), geschrieben auf Ersuchen von Illes Mónus im November 1934, formuliert Attila nicht mehr im hegel-marxschen Jargon, sondern stellt deutlich fest:

Der Bewußtseinsprozeß der Arbeiterschaft kann durch keinerlei Terror übersprungen werden…

Damals hatten wir uns täglich gesehen. Im Dezember 1934 erschien Attila Józsefs Band Medvetánc (Bärentanz), und bei der Zusammenstellung der Gedichte hatte ich auch in gewisser Hinsicht Ammendienste geleistet. Ich bin heute noch stolz darauf, daß ich bei der Gestaltung eines der wunderbarsten Gedichte im Band, beim Entstehen von „Eszmelet“ („Hellsinn“) dabei sein durfte. Attila zeigte mir zunächst drei Strophen davon, worauf ich ihm sagte:

Es ist sehr schön, aber reicht irgendwie nicht. Um einige Strophen ergänzt, könnte ein prächtiger Zyklus daraus entstehen.

Er akzeptierte meinen Ratschlag. Und weil ich mich nicht schäme, mit diesem „geschichtlichen“ Verdienst zu prahlen, will ich hinzufügen, daß die Nachwelt mir noch die Entstehung von zwei anderen, ebenso bedeutenden Gedichten zu verdanken hat. Das geschah bereits in der Zeitspanne, in der wir mit unserem Freund Pál Ignotus zu dritt die 1935 gegründete Zeitschrift Szép Szó (Schönes Wort) redigierten, die zwar eine wichtige Rolle im literarischen Leben der Vorkriegszeit spielte, jedoch nicht mehr als tausend Abonnenten gehabt hatte. Die Zusammenstellung und Redaktion von zwei Doppelnummern, beide für die jährlich stattfindende Buchwoche geplant, wurden mir anvertraut, und ich nahm den Auftrag unter der Bedingung an, daß der Leitartikel für beide Nummern – 1936 mit dem Titel „Mai magyarok régi magyarokról“ („Ungarn von heute über Ungarn von gestern“) und 1937 „Mi a magyar most“ („Was heißt Ungartum heute“) – von Attila József in Gedichtform verfaßt werde. In der ersten Nummer erschien das Gedicht „A Dunánál“ („An der Donau“, in der zweiten jenes „Hazám“ („Vaterland“), beides wunderbar ausgereifte Texte. Ich füge hinzu: Attila schrieb gerne auf Bestellung. So verfaßte er für die Nyolc órai újság (Nachrichten um acht Uhr) sein ebenfalls oft rezitiertes, erschütterndes politisches Gedicht „Levegőt!“ („Mehr Luft!“) auf Ersuchen unseres gemeinsamen Freundes András Hevesi. Die Geschichte verdient vielleicht, erzählt zu werden. An einem frühen Nachmittag saßen wir in unserem Stammcafé Japan, als Hevesi, der Hauptmitarbeiter der Zeitung, mit gestücktem Atem hereinstürzte und sagte, er suche Attila, er solle ihn aus dem Schlamassel ziehen. Hevesi war nämlich beauftragt worden, einen Leitartikel für die nächste Ausgabe zu schreiben über die allgemeine Stimmung, daß wir mangels Freiheit in diesem Land fast ertrinken würden. Er setzte, sagte er, ein paar Mal an, es kam aber keine Anregung, und so entstand der Gedanke, Attila um Hilfe zu bitten. Der Dichter nippte rasch an seiner Tasse und fragte: „Wieviel zahlt ihr denn?“ Hevesi unterbreitete ein ziemlich vertretbares Angebot. „50 Pengő“, sagte er, „aber nur dir zuliebe, da du der bist, der du bist.“ „Für wann brauchst du das Gedicht?“ fragte er. „Wenn möglich, noch heute, um acht Uhr.“ Wir blickten auf die Uhr an der Wand, es war drei. So entstand, genau für den bestimmten Zeitpunkt, dieses unvorstellbar schöne und erschütternde Gedicht.
Von einem anderen Ereignis aus Attila Józsefs Leben möchte ich auch berichten, bei dem ich eine Rolle spielte, auf die ich nicht stolz sein kann. Ich mochte Attilas Lebensgefährtin, Frau Judit, entschieden nicht. Sie war zu kalt und abweisend, obwohl Attila, so meine ich, in erster Linie Zartheit gebraucht hätte, worüber er selber ab und zu klagte. Für die Februarnummer 1935 der Klausenburger Zeitschrift Korunk (Unser Zeitalter) schrieb ich unter dem Pseudonym Ernő Fülöp eine längere Studie über Attila Józsefs letzten Band, in dem ich die Liebesgedichte von ihm so charakterisierte:

In Józsefs Liebesgedichten steckt etwas Unabgeschlossenes. Aber in der „Óda“ („Ode“) schlägt er einen anderen Ton an, aber nur ein einziges Mal, obwohl ich öfter dieses tiefe Tönen hören möchte.

Attila und Judit waren bei uns zum Abendessen eingeladen, und als ich zu dieser Stelle kam, blickte ich zu Judit, deren Gesicht plötzlich erstarrte. Es war eine bedenkliche Bemerkung von mir, da ich von der Krise der Beziehung wußte, die gerade durch die „Ode“ ausgelöst worden war. Nach dem Abend, entsinne ich mich, trafen wir uns nicht mehr mit Judit. Attila verließ sie.
Ich könnte noch lange von der in einer außerordentlich freundschaftlichen Atmosphäre redigierten Zeitschrift reden, sowie von Attila Józsefs polemischem Verhältnis zu Pál Ignotus und dem Orientalisten Bertalan Hatvany, der sowohl Attila als auch die Zeitschrift materiell unterstützte (im Bund mit dem Verfassungsrechtler Zoltán Gaspar und dem Ökonomen und Philosophen Géza K. Havas). Wir haben den Kampf gemeinsam ausgefochten, den man litaraturgeschichtlich den Konflikt zwischen „Volkstümlern und Urbanen“ nennt und dessen Hauptgegenstand und Erkennungszeichen aus folgendem bestand: Szép Szó übte heftige Kritik sowohl am Kommunismus als auch am Nationalsozialismus und verstand sich eindeutig links und demokratisch, während das Organ der Volkstümler, Válasz (Antwort), diese Ausdrücke nicht verwendete und bereit war, sogar mit der regierenden Elite zusammenzuarbeiten, um das Hauptziel, eine wirksame Bodenreform, zu erzwingen. Diese Möglichkeit hatten wir für unvorstellbar gehalten. Bereits zu jener Zeit, aber dann stärker noch nach dem Krieg, dachten viele, daß Attila József durch den beherrschenden Einfluß der Linksliberalen auf unsere Gruppe von den Volkstümlern getrennt werde (deren Nachfahren nennen sich heutzutage Populisten). Darauf kann ich nur sagen: Wer Józsefs poetische Werke und Prosaarbeiten aufmerksam liest, kann sich davon überzeugen, daß er sowohl den Populismus als auch den Stalinismus (den Attila in einer seiner Stanzen „faschistischen Kommunismus“ genannt hatte) aufs heftigste ablehnte.
Als ich über André Gides Buch Rückkehr aus Rußland eine Studie verfaßte – ihrem Übersetzer Tibor Déry trug sie wegen Verbreitung kommunistischer Propaganda irrtümlich eine Haftstrafe ein –, war es gerade Attila József, der (im Gegensatz zum gemäßigteren Antikommunisten Pál Ignotus) meine leidenschaftliche Schrift zum Zeichen seines Einverständnisses als Leitartikel hatte erscheinen lassen, obwohl das nicht meine Absicht war. Außerdem hatte er selber in mehreren Artikeln seine Einwände gegen die Volkstümler-Ideologien zum Ausdruck gebracht, die lieber mit der engagiert kommunistischen Intelligenz geflirtet hatten, als daß sie Solidarität mit der demokratischen Opposition gezeigt hätten (und deren Beschimpfung als „verjudet“ sie selbst in den dreißiger Jahren initiierten).
„Wer zum Dudler werden will, in die Hölle muß er hin“ – dieses aus der Folklore stammende Gedicht wählte Attila József als Motto für seinen Auswahlband Bärentanz. Er hatte tatsächlich die Hölle der Schizophrenie kennengelernt, und zwar bewußt, und man könnte behaupten, er schöpfte bis zum letzten Augenblick Dichtung aus seinen Schmerzen. Als er bereits zutiefst vom Wahn gesteuert wurde, rief er mich an einem Vormittag in der Wörterbuch-Redaktion an: „Ich schrieb ein Gedicht“, murmelte er, „möchte es dir vorlesen.“ „Attila“, bat ich ihn, „du weißt, ich mag Gedichte zuerst lesen und erst dann hören. Bitte, bring es im Büro vorbei.“ „Nein, nein, ich will es sofort“, sagte er. „Ich will wissen, was du darüber denkst.“ Und er fing unvermittelt an, das Gedicht „Nagyon fáj“ („Es schmerzt mich“) in den Hörer zu flüstern. Ich glaube, nicht zu irren, wenn ich sage, daß es eines der schmerzhaftesten und gleichzeitig wunderbarsten Gedichte der Weltliteratur ist. Als er es zu Ende gelesen hatte, bat ich ihn, es mir noch einmal vorzulesen. „Na, wie ist es? Gefällt es dir?“ forderte er eine Antwort heraus. „Wie kannst du so was fragen?“ erwiderte ich. „Furchtbar, was du da geschrieben hast. Furchtbar, daß du es erlebt, überlebt hast.“ Und fügte noch hinzu: „Als Gedicht ist es über alle Maßen wunderbar.“
Zu solchen Ausbrüchen war er bis zum letzten Augenblick fähig. Am erschütterndsten sind seine Gedichte über das höllische Elend sowie über seine Hinwendung zu einem vorerst stark geleugneten Gott, der sich seiner erbarmen solle.
Er glaubte, er wollte in seinen letzten Monaten glauben, daß er durch Flóras Liebe, der er sich fast todessehnsüchtig hingab, gerettet werden könne. Es ist eine tragische Ironie der Geschichte, daß er, als er seine großartigen Liebesgedichte an Flóra verschickte, noch nichts davon wußte: Sie war seit einiger Zeit in seinen besten Freund – in der Dichtung sein Rivale – Gyula Illyés verliebt. Von der Klinik, wo ich ihn noch gelegentlich besuchte, wurde er von Jolan, der älteren Schwester, in eine Pension am Balaton gebracht. Dort sah ich ihn zum letzten Mal. Sein Bild kehrt in meinen Träumen auch heute noch wieder. Er steht vor dem Haus, nimmt Abschied von den Freunden, die sich ins zur Abfahrt bereite Auto setzen, den Kopf gesenkt. Als wenn er sich dem Schicksal fügen würde.
Nach einer Woche, in einer Dezembernacht, rief mich Pál Ignotus an. „Er ist tot“, sagte er. Ich nahm schnell meinen Mantel, lief auf den Boulevard hinunter, um Luft zu holen. Sein Hinscheiden war vorhersehbar, hatte mich aber getroffen wie ein Blitzschlag. Ich blickte auf das dem Nationaltheater gegenüberstehende Zinshaus, auf dessen Dachspitze ein Leuchtrohr allnächtlich die Nachrichten einer Abendzeitung verbreitete, und las:

József Attila, Dichter, beging Selbstmord.

Der diensthabende Nachrichtenredakteur wußte gar nicht, daß der Dichter, der sich vor den Güterzug geworfen hatte, Attila József hieß, wußte also auch nicht, daß er den Tod eines der größten Künstler der ungarischen Literatur angekündigt hatte. Nur wenigen war dies bewußt, zum Beispiel Sándor Márai. Ich begleitete ihn, äußerst niedergeschlagen, zum Friedhof von Balatonszárszó, aus dem Józsefs sterbliche Überreste nach Budapest in den Kerepesi-Friedhof übergeführt wurden. Folgendes schrieb er:

Er bezahlte einen furchtbar hohen Preis für die Größe, blieb aber in nichts schuldig. Mich tröstet nun kaum was anderes, als daß ich ihm sagen konnte: Ich schätze ihn hoch.

Es war eine im warmen Ton gehaltene Abschiedsrede aus dem Mund des großen Zeitgenossen, der sich in seinem vornehm einsamen Leben ferngehalten hatte von Attila József, dem Sohn der Wäscherin und des Proletariervaters.
Die Hochschätzung Sándor Márais beschwört eine andere Szene herauf. Attila József kam gerade von Bela Bartók in die Redaktion, er hatte den großen Komponisten gebeten, einen Artikel zu verfassen. Sein Gesicht strahlte, ich sah es noch nie so hell leuchten. „Was ist mit dir, Attila?“ fragte ich. „Worüber freust du dich so sehr?“ – „Stell dir vor, was mir Bartók gesagt hat. Daß ich in der ungarischen Literatur das bin, was er in der ungarischen Musik ist.“ Er freute sich so über dieses Lob wie ein Kind über die elektrische Eisenbahn zu Weihnachten.
Abschließend möchte ich noch ein Bild lebendig werden lassen, das nicht vom leidenden und auf dem Wege der Katharsis taumelnden Attila József zeugt, sondern vom kindlichen, gutgelaunten, lebensfrohen Menschen. Wir hatten uns zu seinem Geburtstag im Café Central versammelt. Keiner von uns ahnte, daß es der letzte werden sollte. Attila kam mit mehr als einer Stunde Verspätung, wir warteten auf ihn immer ungeduldiger mit dem Geschenk, einer goldenen Feder, in der Hand. Plötzlich stürmte er herein, heftig keuchend: „Ich habe euch eine Überraschung mitgebracht“, sagte er verschmitzt lächelnd, wobei er einen zerknitterten Zettel aus der Tasche hervorkramte und anfing, eines seiner lieblichsten Gedichte vorzutragen.

Dreißig und zwei sind nun vorbei,
sei dies als Überraschungsei
gedacht…

Nicht einmal die Spur einer Sorge betrübte sein Gesicht.
Seinen 33 Geburtstag erlebte er nicht mehr. Aber er hat uns ein gewaltiges und reiches Lebenswerk hinterlassen und seine Prophezeiung ging post mortem in Erfüllung: Er lehrt sein ganzes Volk, und zwar nicht auf mittelschulische Art. Das heißt: im Geist.

Ferenc Fetjő, Vorwort
Aus dem Ungarischen von Daniel Muth

Attila József in der Zeit

Versuch einer Gewichtung
Die Hauptleistung der europäischen Lyrik zwischen Baudelaire und Paul Celan bestand darin, die doktrinäre Unterscheidung des 19. Jahrhunderts zwischen Inhalt und Form, „Tradition und Erfindergeist“ (Apollinaire), aufzulösen. Während sich in der westlichen Hemisphäre dieser Prozeß durch eine lange Vorgeschichte (die Sonette Petrarcas, Ronsards und Shakespeares, der spöttische Sentimentalismus von Heine usw.) organisch gestaltete, wurde er in den meisten Literaturen Ostmitteleuropas durch zwei Faktoren erschwert.
Einerseits bildeten die Literaten in diesen zumeist rückständigen Gesellschaften eine soziale und politische Kraft, welche die im Westen bereits entstehende zivile Gesellschaft ersetzen sollte. Sie dienten als Träger fortschrittlicher Ideen und Akteure der Selbstbefreiung ihres Landes, und zwar unabhängig davon, inwieweit dieses Bedürfnis überhaupt vorhanden war. Dichter schrieben Nationalhymnen, Revolutionslieder und künstliche Epen, fielen in Duellen, wie die Russen Puschkin und Lermontow, oder in Freiheitskriegen, wie der Ungar Petőfi oder der Bulgare Botew.
Andererseits fand die literarische Bewegung, je weiter man nach Osten vordrang, mehr Sprache und Stil in einem antiquierten Zustand, der die Ausdrucksmöglichkeiten der Poeten stark begrenzt hatte, selbst wenn sie der Erneuerung durch ihren persönlichen Einsatz beitrugen. So begann die ungarische Moderne um Endre Ady (1877–1919) mit dem Aufsprengen der sprachlichen Strukturen der nationalen Romantik, was ebenso radikal wirkte, wie die Aufnahme der offenen Erotik in die legitimen Inhalte der Lyrik. Eine zusätzliche Aufgabe bestand darin, für diese Innovation, die auf einen erbitterten Widerstand der akademischen Literatur stieß, ein entsprechendes bürgerliches Publikum zu gewinnen.
Attila József (1905–1937) schuf bereits in einem zeitgemäßen und europäischen künstlerischen Milieu, und sein Werk ist demjenigen seiner westlichen Kollegen ebenbürtig. Seine emotionale Ausstrahlung, die Stärke seiner Bilder, die Reimfertigkeit und Melodie, seine gesamte technische Formenvielfalt (die von der finnischen Kalevala über ungarische Volksliedkunst und klassische Sonette bis zu surrealistischen Experimenten André Bretonscher Prägung reichte) sichern ihm einen Stellenwert vergleichbar mit dem von Rilke, Brecht, Kavafis, Lorca, Jessenin, Pasternak und anderen großen Lyrikern der neueren Zeit.
Leider gestaltete sich seine ausländische Rezeption keineswegs seinem dichterischen Rang entsprechend. Was die Aufnahme in Deutschland anbelangt, hängt dieser Handicap zuerst mit der Tatsache zusammen, daß die meisten Ausgaben aufgrund von Interlinearübersetzungen in der DDR oder Ungarn nachgedichtet wurden, und diese Stütze erwies sich selbst bei Arbeiten von so hervorragenden Vermittlern wie Franz Fühmann, Peter Hacks oder Ernst Jandl als ungeeignet, wichtige Schichten der Józsefschen Welt zu erfassen. Zweitens war die sehr lange vereinfachende Interpretation in Ungarn selbst schuld daran, ihm sozusagen die Vollmitgliedschaft im „Klub der toten Dichter“ zu verweigern. Es bleibt nur zu hoffen, daß mit Hilfe der neuen Übersetzung von Daniel Muth, welche sich an den Originaltext lehnt, dieser Akt beschleunigt wird.

Dekonstruktion eines Denkmals
Ich stehe keineswegs in der Tradition der Bildzerstörung, wie sie für den nachträglichen Antikommunismus in Ungarn typisch ist, wenn ich im folgenden am Bild des „proletarischen Dichters“ Attila József rütteln werde, wohlwissend, daß im engen Sinne beide Wörter berechtigt sind. Den Sohn des Seifensieders Áron József und der Wäscherin Borbála Pőcze kann man nach den sozialen Kriterien seiner Geburtszeit schwerlich einer anderen Klasse zuordnen als derjenigen, die Marx seinerzeit als die „am meisten arbeitende und leidende“ Volksgruppe bezeichnet hatte. Zudem verstand sich der Dichter selbst als „Sohn der Straße und der Erde“, er bekannte sich zum Sozialismus, wollte den Roten Stern an die Fassade der „dunklen Fabrik“ anheften (was heutzutage in unserer demokratischen Republik eindeutig eine strafbare Handlung wäre), und nicht zuletzt ließ er als erster in einem agitatorischen Gedicht „den Sowjet, den Arbeiterrat“ hochleben. Trotz seiner zahlreichen Konflikte mit der in Ungarn damals verbotenen KP gab er seine marxistische Weltanschauung niemals auf, und sein Herz schlug links bis zu seinem selbstgewählten Tode durch einen Güterzug in Balatonszárszó.
Seine Qualität als Dichter bezweifelten selbst seine persönlichen oder politischen Gegner niemals. Vielmehr versuchten sie, ihn, den bereits Toten, vor ihre Karre zu spannen, und schmückten sich mit seinem Dornenkranz wie die Spanier mit demjenigen von Garcia Lorca. Die kommunistische Kulturpolitik rühmte ihn besonders in den fünfziger Jahren als den „ungarischen Majakowskij“, ließ ihm Statuen errichten, benannte nach ihm Straßen, Kulturhäuser und ganze Neusiedlungen – Wohnsilos, an denen er womöglich wenig Freude gehabt hätte. Posthum wurde ihm 1948 (zusammen mit dem Komponisten Béla Bartók und dem Maler Gyula Derkovits) der höchste Staatspreis verliehen, ein anderer trägt bis heute seinen Namen, wobei Teile seines Lebenswerks aufgrund „politisch inkorrekter“ Texte bis 1990 unveröffentlicht blieben.
Und doch gehört er bis heute in Ungarn zu den meistzitierten Lyrikern, seine Gedichtzeilen passen zu allen Lebenslagen, ersetzen Liebeserklärungen, strahlen eine brauchbare Lebensphilosophie aus, wirken tief und allgemeinverständlich und suggerieren gültige moralische Verhaltensmuster. Er überlebte jeden akademischen Kanon, sowohl den ihm angekreideten „sozialistischen Realismus“ als auch die Postmoderne, und selbst die den ungarischen Diskurs ebenso verhängnisvoll wie unproduktiv bestimmende Debatte zwischen den „Urbanen“ und den „Volkstümlern“ ging an seiner Poesie völlig vorbei.
Diese privilegierte Situation verdankt er bis heute seinem einzigartigen lyrischen Ich. Er gehört zu den ganz wenigen literarischen Gestalten – als Beispiel könnte ich vielleicht noch den von ihm heißgeliebten und übersetzten François Villon nennen –, die zwischen sich selbst und dem Leser eine ungezwungene, offene Nähe herstellen, frei von falscher Anbiederung. Die meisten Klassiker stilisieren ihre poetische Gestalt mittels Verfremdung so hoch, daß man sie nur noch respektvoll siezen kann. Niemandem wäre eingefallen, den Geheimrat Goethe einfach Johann oder – Gott behüte! – Hans zu nennen, selbst der phänomenale Heinrich Heine hieß nur im engen Freundeskreis Harry, während József selbst von seinen späteren Nachfahren häufig mit Attila angesprochen wurde – mit diesem Vornamen wollten die proletarischen Eltern übrigens des Hunnenführers gedenken, den die Ungarn als ihren Ahnen betrachten. Die Du-Form ist darauf zurückzuführen, daß der Dichter in seinem lyrischen Selbstgespräch häufig die zweite Person Singular anwendete, als wäre er nicht bloß Subjekt, sondern auch Objekt der eigenen Verse.
So weichen die Statuen mit dem stolzen Blick und die sorgfältig retuschierten „selbstbewußten“ Fotos mal dem spielerisch kindlichen, mal dem gequälten Gesicht des „Genies des Schmerzes“ (so nannte ihn der Publizist György Bálint), und wenn man sich in seine Züge vertieft, verwandelt sich sein Antlitz in einen Spiegel für Freud und Leid eines jeden, für den das 20. Jahrhundert zum persönlichen Erlebnis wurde.

Die Zeit
Der von der Entente (vor allem von Frankreich und Großbritannien) aufgezwungene und vom ungarischen Parlament am 4. Juni 1920 ratifizierte Friedensvertrag von Trianon bedeutete einen enormen Schock für die ungarische Gesellschaft. Das Land war verpflichtet, 60 Prozent seines Vorkriegsgebiets den Nachfolgestaaten zu überlassen, wodurch 30 Prozent seiner ehemaligen Einwohner nun außerhalb der Landesgrenzen lebten. Hinzu kamen noch die Reparationen, die in keiner Weise der ökonomischen Leistungsfähigkeit Ungarns entsprachen. Der auf dieser Art entstandene Kleinstaat wurde von den Zeitgenossen im Unterschied zum St. Stephans Reich (dem mittelalterlichen ungarischen Königtum) mit bitterer Ironie als „Rumpfungarn“ bezeichnet. Selbst das System erwies sich als ein Rumpfwerk mit allen feudalen Relikten des Vorkriegsregimes von Stephan Graf Tisza, aber ohne dessen großzügigen Liberalismus. Die Folge waren ein Parlament ohne freie und geheime Wahlen, eine Pressefreiheit mit vorbeugender Zensur, ein Künstlerelend mit Suppenküchen, undurchsichtige, handgreifliche Willkür von Gutsverwaltern im Dorf (siehe auch Gyula Illyés, Die Puszta), Korruption auf allen Ebenen (siehe Zsigmond Móricz, Verwandte), körperliche Züchtigung in der Armee und der militarisierten Jugenderziehung und nicht zuletzt ein in den Rang der offiziellen Politik erhobener Antisemitismus.
Trotzdem ging die spätere pauschale Verdammung der gesamten Ära als „Horthy-Faschismus“ durch die Kommunisten nicht nur an den verschiedenen Phasen dieses Vierteljahrhunderts vorbei, sondern ließ auch die Vielfalt des geistigen Widerstandes gegenüber der staatlichen und kirchlichen Autorität sowie die Leistungen der Kultur außer acht. Vielmehr machte sie Kommunisten – von denen viele tatsächlich großen persönlichen Mut demonstrierten – zum alleinigen Gegenpol des Systems. Entsprechend verzerrt war das Bild von Attila József als unerschrockenem Verfechter aller Ausgebeuteten und Unterdrückten.

Mythen und Lücken einer Kanonisierung
Meine Generation wurde nicht mehr mit jenem „Mann aus Marmor“ konfrontiert, wie ein „proletarischer Dichter“ der beginnenden Volksdemokratie zu sein hatte. Parallel zum erhöhten Legitimationsbedürfnis des Systems gewannen nach der Niederwerfung des Volksaufstands 1956 allmählich die Gedichte, Essays und Briefe von Attila József an Gewicht. János Kádár rühmte sich der persönlichen Freundschaft des Dichters in der Illegalität. Die Publikation und differenzierte Kommentierung seiner Werke gehörte zur neuen Staatsräson. Trotzdem mangelte es nicht an offenen Fragen und Geheimnissen. Diese betrafen vor allem Probleme wie den Ausschluß des Dichters aus der illegalen KP Ungarns, die Rezeption seiner Texte in der Sowjetunion, seine praktische und theoretische Beziehung zur Freudschen Lehre und zur Psychoanalyse, seinen Konflikt mit der bürgerlichen und volkstümlichen Literatur und speziell mit Mihály Babits (1883–1941), seine mißlungenen Liebesbeziehungen und schließlich den Verlauf seiner seelischen Krankheit, die im Freitod mündete.
Teile dieser Schwierigkeiten blieben lange Zeit ausgeblendet. Die organisatorische Entfernung aus der KPU galt jahrzehntelang als unbewiesen, obwohl Erklärungen für die Ausschaltung des Dichters aus der praktischen Arbeit in der Literatur ebenso auftauchten wie Erörterungen seiner von der „Generallinie“ abweichenden Ansichten. 1957 wurde ein zum 20. Todestag veröffentlichtes Gedenkbuch sogar aus dem Verkehr gezogen, weil dort einige alte „Illegale“ für die Partei wenig schmeichelhafte Einzelheiten lüften wollten.

In bezug auf die Sowjetunion stellte sich vor allem die Frage, warum Attila József im Gegensatz zu seinen beiden Kollegen Gyula Illyés und Lajos Nagy 1934 nicht zum ersten Kongreß der sowjetischen Schriftsteller in Moskau eingeladen wurde. Sein von vielen Zeitgenossen gelesenes Manuskript „Warum nicht ich?“, das sich damit auseinandersetzt, ging unter mysteriösen Umständen verloren. Trotzdem lagen manche Gründe für die Boykottierung des bedeutendsten sozialistischen Lyrikers auf der Hand. Die Moskauer Exilgruppe ungarischer Literaten listete ihn in einer „Plattform der proletarischen Literatur“ verleumderisch unter den Autoren auf, die „ihren Ausweg im Lager des Faschismus suchen“.
Eine der Erklärungen für die Distanz der kleinen, zum Sektierertum neigenden KPU zu ihrem Dichter war dessen lebenslange Vorliebe für Sigmund Freud. Praktisch argumentierte man damit, daß die Pflicht, dem Analytiker „alles“ zu erzählen, die Geheimhaltung der verdeckten Tätigkeit gefährde. Dies mochte auch stimmen, obwohl die chronisch konspirative Krise der Genossen (höchstens 5.000 Kader) davon zeugte, daß diese Vorsicht leicht übertrieben war. Auf der „Couch“ der Horthy-Polizei verfügte man über ganz andere Mittel als in der Wiener Bergstraße. Folter und Prügel waren an der Tagesordnung.
Auf theoretischer Ebene löste Attila Józsefs Essay „Hegel, Marx, Freud“ einen Eklat aus, in dem er versuchte, seine Doppelbindung an das proletarische Bewußtsein und an das Freudsche Unbewußte zu begründen. Der Zeitschrift, in der die genannte Publikation erschien, wurde sehr bald der Hahn der Parteiförderung zugedreht. Außerdem schrieben weniger begabte kommunistische Autoren wütende Artikel und Spottgedichte gegen den Dichter, dessen Verse gleichzeitig von der staatlichen Zensur mal einzeln, mal als ganze Bände beschlagnahmt wurden.

Viel glücklicher gestaltete sich Józsefs Verhältnis auch nicht zur etablierten bürgerlichen Literatur. Trotz seiner frühen Entdeckung durch die renommierte Zeitschrift Nyugat (Westen) erhielt er in diesem Kreis nicht annähernd jene Anerkennung, die zweitrangigen Autoren nach einer Weile beinahe automatisch zuteil wurde. Vor allem handelte es sich dabei um den privaten, aber sehr prestigehaften Baumgarten-Preis, dessen Hauptkurator Babits war. Der Dichterfürst arbeitete nach dem Fiasko der Revolutionen 1918/19 zunehmend an einer humanistisch geprägten, akademisch gewordenen „literarischen Konzentration“, mit der er sowohl die damals politisch radikal werdenden „Volkstümler“ als auch Lajos Kassáks Avantgarde zu zähmen suchte. Dabei gab es keinen jungen Lyriker, der diese Entwicklungsphase, und sei es als Kinderkrankheit, hätte vermeiden können.
Infolge des ursprünglichen Generationskonflikts spaltete sich die literarische Szene in beinahe undurchsichtige Gruppen. Die meisten Rezensionen über József im noblen Journal Nyugat fielen bestenfalls wohlwollend aus. Offenbar waren die Kritiker nicht nur von seinem Klassenstandpunkt, sondern auch von der ungewöhnlich populären und melodischen Sprache irritiert. Zu den volksnahen „Populisten“, mit denen er durch zahlreiche Themen geistig verwandt war, ging er vor allem auf Distanz, weil sie zeitweilig mit dem Reformprogramm des faschistoiden Premiers Gyula Gömbös (1935) kokettierten.
Attila József trug selbst zum Konflikt mit Babits durch ein aggressives und ungerechtes Pamphlet bei (1929), in dem er die künstlerischen Qualitäten des letzteren strikt in Frage stellte. „Inhalt und Form meiden einander bei Babits wie zwei Vatermörder, die miteinander Sherlock Holmes verdächtigen“, lautete die kecke Aussage, die er später bitter bereute. Hinter dem provokanten Ton steckte die Ansicht eines beinahe banalen Vatermords – ein fester Bestandteil seiner Krankheit wie auch Grundlage seiner an dem Freudschen Begriffskreis orientierten „zweiten Weltanschauung“.

Einerseits litt er nach der heutigen Diagnostik an Schizophrenie, unternahm seit seiner Pubertät mehrere Selbstmordversuche und war trotz allen Bemühungen der Ärzte und Psychologen unheilbar. Andererseits schöpfte er als Lyriker erstaunlich viel aus diesem bewußt erlebten Zustand. Sein Freund, der gebürtige Ungar Arthur Koestler, hatte seine diesbezüglichen Werke mit Recht „Freudsche Volkslieder“ genannt. Für die Analytikerin Edit Gyömrői schrieb er sogar ein „Verzeichnis freier Einfälle in zwei Sitzungen“ (1936) nieder, das sehr lange im Safe des Budapester Literarischen Museums als geheime Verschlußsache aufbewahrt wurde und erst 1987 das Tageslicht erblickte. Dieses Dokument zeigt jedoch nicht einfach eine morbide Persönlichkeit, sondern auch einen Autor, der versucht, der obszönen und ordinären Sprache der späten Pubertät eine ästhetische Form zu verleihen.
Obwohl seelische Krankheiten keineswegs direkt aus der Biographie abzuleiten sind, war József offensichtlich für die Neurose geradezu prädestiniert. Als er Kleinkind war, verließ der Vater die Familie; man wähnte ihn in Amerika, aber in Wirklichkeit zog er nach Rumänien. Die kranke Mutter schickte Attila in die Provinz zu Zieheltern, wo er sogar seinen Namen ändern mußte. Später, nach dem Tode seiner Mutter (1919), besuchte er das Gymnasium in Makó mit Hilfe des Mannes seiner Schwester Jolán und wohnte im dortigen Internat. Kurz nach Erscheinen seines ersten Gedichtbandes, als er bereits Student an der Universität in Szeged war, schrieb er das berühmte Gedicht „Reinen Herzens“ und wurde deswegen vor Gericht gestellt und relegiert. Alle seine späteren Versuche, sich ein Diplom zu verschaffen (in Wien und Paris), scheiterten an der Armut und vielleicht an der damals schon einsetzenden Krankheit.
Und doch: Unter allen Schicksalsschlägen erwies sich der Verlust der Familie als der eigentlich schmerzhafteste. Seine Gedichte „Mutter“ (1931), „Mama“ (1934) und „Späte Klage“ (1935) variieren dasselbe Gefühl der untröstlichen Trauer. Kein geringerer als der italienische Philosoph Benedetto Croce, der 1942 in der Zeitschrift Critica eine Auswahl von Józsefs Gedichten veröffentlichte, wußte diese Gestalt als Symbol zu schätzen:

Wir alle sehen und fühlen diese Mutter als groß; denn groß, unendlich und erhaben ist jene moralische Kraft, die volle Hingabe und entschlossene Opferbereitschaft ausstrahlt.

Józsefs Unfähigkeit, sich der „normalen“, erwachsenen Gesellschaft anzupassen, wurzelt in seiner Armut und entbehrungsreichen Kindheit.

Der Sozialist
Das von Croce am meisten geschätzte Muttergedicht befindet sich im von der Staatsanwaltschaft konfiszierten Band Hau den Stamm um (wobei das ungarische Wort für Stamm auch Kapital bedeutet). In der Umgebung von programmatischen Poemen wird hier der persönliche, biographische Hintergrund seines Engagements sichtbar:

War Mutter, winzig klein. Sie starb früh,
denn früh sterben die Wäscherinnen,
vom Schleppen zittern ihre Beine,
Kopfschmerzen kriegen sie vom Bügeln – –

Ich seh, sie stockt erstarrt im Bügeln.
Das Kapital brach sie, zerbrechlich
war ihr Wuchs. Immer schmäler, schmäler –
Ihr Proletarier, bedenkt das – –

In den Jahren der Weltwirtschaftskrise, als selbst die gedemütigte Budapester Arbeiterschaft mit 100.000 Demonstranten gegen das Elend protestierte, gehörte Attila József bereits der illegalen KPU an – eine Art Ersatz für die Familie –, hielt Seminare für Arbeiter, studierte sozialistische Literatur in deutscher Sprache, schrieb Gedichte für Sprechchöre („Menge“, 1930), im griechischen Metrum gehaltene Scherze für streikende Schuhfabrikarbeiter („Dialog“, 1931), verfaßte in Villons Versform Bekundungen für verhaftete Genossen („Aufgeflogen“, 1930), und gereimte Manifeste für organisierte Arbeiter („Sozialisten“, 1931). Diese Jahre der großen Hoffnungen mobilisierten in ihm den Agitator – was später die Angleichung an Majakowskij begünstigte.
Ohne Attila Józsefs außergewöhnliches Talent und Sprachkunst schmälern zu wollen, muß ich darauf hinweisen, daß es bei ihm, anders als bei den meisten zeitgenössischen linksradikalen Autoren (nach dem Sowjetdichter seien hier Brecht, Aragon und Neruda erwähnt), um keine intellektuelle Einsicht in eine Notwendigkeit, sondern um eine zutiefst private Haltung ging. Selbst in dieser plakativen Phase ist er nicht solidarisch, sondern identisch mit den Armen, für die er schreibt. In einem Fresko über die Hoffnungslosigkeit der sozialen Peripherie („Sag, was wird vom Schicksal…“, 1932) baut er die eigene Perspektive in die allgegenwärtige Misere ein:

Und sag, was wird vom Schicksal dem bereitet,
dem Dichter, der erschrocken singt im Leid?
Die Frau schrubbt den Boden ergeben,
und er selbst rennt nach Kopierarbeit;
sein Name, wenn’s ihn gibt, nur Markenzeichen,
ist wie irgendeines Waschpulvers Ruhm,
und sein Leben, wenn er überhaupt eins hat,
wird einst Proleteneigentum?!

Um Erwerbslose zu finden, brauchte er nicht auf den berüchtigten Menschenmarkt zu gehen: Er war einer von ihnen. So steht in einem Fragment aus den frühen dreißiger Jahren:

Vogelweise leb ich, abwärts, stellenlos,
mich umstellt – anderthalb Jahre schon – mein Los.

War Bücheragent, las nicht, doch gab hin, froh,
Móricz und Shaw, Barbusse, Zola und Cocteau.

Andere Intellektuelle versuchten das Problem diskreter zu bewältigen. Eine Heiratsannonce aus dem Jahr 1931:

Mann mit Diplom würde gerne die Frau heiraten, die ihm zu einer Stelle verhilft.

Im Neunmillionenland befanden sich 600.000 Menschen auf Arbeitssuche.

Der Antifaschist
Es ist schwer zu sagen, wann der kommunistische Zukunftsglaube bei Attila József einer zunehmenden Skepsis und gleichzeitig einer höheren Sorge für das Schicksal der Welt, der Nation und für das eigene Leben gewichen ist. Historisch wird dieses Ereignis an die „Machtergreifung“ der Nazis und an das spürbare Heraufziehen eines europäischen Krieges geknüpft. Zwar entstanden die großen sozialistischen Gedichte wie „Am Rand der Stadt“, „Elegie“ (1933) oder „Hellsinn“ (1934) bereits in einem Umfeld, in dem Bücher verbrannt wurden, doch verschob sich in diesen das Zukunftsbild auf eine philosophische Ebene. Die Muse war nicht mehr die abstrakte Klasse, sondern das Land („An der Donau“, 1936, „Vaterland“, 1937). Die zutage gelegte Haltung wurde zunehmend defensiver, zumal die „soziale Frage“ von der rechten Demagogie vereinnahmt wurde: „Was wir gehütet haben, ist nicht mehr da, / es wird von unsren Angreifern verteidigt“, so klingt die messerscharfe Analyse.
Das Motiv Klassenkampf schwand allmählich aus seinen Gedichten, obwohl er nicht den leisesten Zweifel aufkommen ließ, eine bessere Gesellschaft als die vorhandene anzustreben.

… Wie die Wirklichkeit nach einem akuten Fieber,
so glänzt und leuchtet
in meiner Seele,
die nach einer Welt sehnt,
die menschliche Befreiung.

Diese Metapher verrät uns, daß Attila József immer noch an dem Projekt der „menschlichen Befreiung“ (Sozialismus) festhielt, als das „akute Fieber“ (die Begeisterung für den Kommunismus) längst vorbei war.
Nun galt es, die Menschenrechte bei der Staatsmacht einzufordern („Mehr Luft!“, 1936), und das Lügengewebe des Faschismus zu entlarven („Die Urratte verbreitet Seuchen“, 1937) Gleichzeitig entfalteten sich in diesen letzten Jahren seine grandiose Liebeslyrik („Ode“, 1933, „Es schmerzt“, 1936), und der Flóra gewidmete Zyklus (1937) – Lieder einer glücklichen Liebe, die er sich, ähnlich wie seinerzeit Kierkegaard, rein erdichtet hatte. Schließlich folgen die lyrischen Dokumente des pathologischen Zerfalls der Persönlichkeit und das kristallklare Todesbewußtsein. In Kenntnis der darauffolgenden Ereignisse klingt sein früheres Gedicht, eine Art persönlicher Nachruf zu Lebzeiten („Attila József“, 1928), beinahe prophetisch:

er war landesweit im Verfallen…

Die letzten Jahre seiner poetischen Laufbahn brachten ihm dennoch einen unerwarteten Erfolg. Ein Freundeskreis bildete sich um ihn und gründete das Literaturjournal Szép Szó (Schönes Wort), in dessen Mittelpunkt sein antifaschistisches Programm stand. Einerseits bedeutete diese Position für ihn ein bescheidenes Einkommen (als Sponsor sprang die jüdische Adelsfamilie von Hatvany ein), andererseits machte sie ihn zu einem bestimmenden Faktor des ungarischen Geisteslebens. Das linksliberale Milieu stellte eine Verbindung zu der europäischen Literatur dar und zeitigte den vorläufigen Höhepunkt von Attila Józsefs Laufbahn.
Im Januar 1937 besuchte Thomas Mann, seines Zeichens bereits Exilautor und durch eine freundliche Geste des Staatspräsidenten Benes zum tschechoslowakischen Staatsbürger ernannt, seinen Freund, den Baron Lajos von Hatvany. Bei einer Matinee im Ungarischen Theater (Magyar Színház) fiel József die Ehre zu, ein Gedicht zum Gruß des Nobelpreisträgers vorzulesen.

die Menschheit wird, wie er, vom Krebs zerrüttet
und bald von Monsterstaaten zugeschüttet
sein, und wir fragen erschrocken: Was noch?
Was zerstört uns, welches neue Ideenjoch?
Wer kocht uns Gifte neu, wer will uns fangen?
Wie lang kannst äußern noch deine Gedanken?…

Während Mann aus seiner Lotte las, hinderten die ungarischen Behörden den Lyriker daran, sein Grußwort vorzutragen. In einem Zeitungsbericht war zu lesen:

Die Ode von Attila József wurde von der Genehmigungsabteilung des Polizeipräsidiums aufgrund des Gutachtens der Abteilung für Staatssicherheit für ungeeignet befunden, öffentlich in einer unpolitischen Sitzung vorgelesen zu werden.

Mann bedauerte das Verbot des Gedichts und kommentierte diesen Willkürakt, der sicher das Prestige der Budapester deutschen Gesandtschaft schonen sollte, mit seiner unnachahmlichen ironischen Höflichkeit:

Mir steht als Gast nicht zu, die Verfügungen der Behörden zu kritisieren. Meine Meinung ist jedoch, je schwerer der Druck auf einem Volk lastet, desto stärker erwacht in ihm der Wunsch nach Freiheit.

Gleichzeitig sagte Thomas Mann seine Teilnahme am Empfang des Kulturministers Bálint Hóman ab, indem er Unwohlsein vorgab, und verbrachte den Abend in der Villa Hatvany. Am Klavier spielte Béla Bartók, der einige Jahre später freiwillig ins Exil ging, weil er nicht die geringste Lust verspürte, auf den nach Hitler und Mussolini benannten Budapester Plätzen spazieren zu gehen. Zu diesem Zeitpunkt allerdings weilte Attila József bereits seit drei Jahren nicht mehr unter den Lebenden. Thomas Mann hatte noch gerade Zeit, die alte Welt zu verlassen.

Liebe und Tod
„Man sagt, alle, die leben, / sterben den Liebestod. / Doch Glück ist vonnöten / wie eine Mundvoll Brot“, schrieb er in Szép Szó zu Freuds 80. Geburtstag (1936). Zwei Jahre später war der Wiener Greis auf der Flucht aus dem Anschlußland „Ostmark“ und beantwortete in Paris, aus dem Zugfenster gebeugt, die neugierige Journalistenfrage, wie es ihm denn in der deutsch besetzten Kaiserstadt ergangen sei, mit bitterem Sarkasmus: „Ich kann die Gestapo allen wärmstens empfehlen.“
Ganz im Sinne des Meisters blieben Attila Józsefs Liebesgeschichten oft Projektionen, um nicht zu sagen seelische Utopien. Frauen, die sich später an ihn erinnerten, erzählten höchstens von Versuchen, das Unglück zu mildern, das dann wiederholt auf sie selbst übergriff. So auf die Bürgertochter Márta Vágó oder die eiserne Genossin Judit Szántó, die einzige, die zu seiner Lebensgefährtin wurde. Fast unvermeidlich waren zwei von den Musen Psychologinnen, die mit ihrer Hilfsbereitschaft nur die Konturen des Krankheitsbildes verschärfen konnten.
Die Wilhelm-Reich-Schülerin Edit Gyömrői, die, nachdem sie von einem Patienten, einem SA-Mann, denunziert worden war, von Deutschland nach Ungarn zurückkehren mußte, erfuhr sehr bald, wie heikel der Umgang mit dem genialen Klienten war. Sie verfügte ohnehin über kein medizinisches Diplom, was nach 1935, der Gründung der Ärztekammer, dem Berufsverbot gleichkam. József verliebte sich in sie und wollte aus Eifersucht ihren damaligen Freund umbringen. „Ich hätte diese Liebe selbst dann nicht erwidern können“, erzählte mir die betagte Dame Anfang der achtziger Jahre, „wenn er wildfremd gewesen wäre. Eine harmonische Beziehung mit seinem zerstörten Ich erschien mir unvorstellbar.“
Ähnlich erging es 1937 der jungen Heilpädagogin Flóra Kozmutza, der durch einen Test „gelungen war“, den Patienten, fester, als sie es wollte, an sich zu binden. Die Geschichte verlief diesmal milder und beschenkte die ungarische Literatur mit wunderschönen Liebesgedichten. Da jedoch Flóra später den Dichter Gyula Illyés (1902–1983) heiratete, hütete sie das Geheimnis bis zum Jahre 1987 und war dadurch immer wieder albernen und manchmal bewußt geschürten Intrigen ausgeliefert.
So oder so konnte die psychologische Betreuung den Zustand des Poeten keineswegs bessern, geschweige denn den Prozeß der Selbstzerstörung aufhalten. Dies sah er selbst ein, als er einen kurzen Brief aus Balatonszászó an seinen letzten behandelnden Arzt, Dr. Róbert Bak, schrieb:

Lieber Herr Doktor, ich grüße Sie recht herzlich. Sie haben das Unmögliche versucht, vergebens.

Das Datum war der 3. Dezember 1937, sein Todestag. Kurz nach sieben Uhr abends raste der Güterzug durch die Station Balatonszárszó.

Noch lange kursierten Anklagen und Spekulationen unter den Zeitgenossen, wie man den Lebensmüden hätte retten können, und wer wann was in dieser Hinsicht versäumt hätte. Die sinnlose Suche nach Ursachen und Sündenböcken hätte der Betreffende selbst mit einer matten Handbewegung erledigt, wie er dies übrigens schon ein Jahr vor seinem Tode tat:

… Ich scheide nicht im Kampf, nicht am schroffen
Strang, sondern im Bett – manchmal will ich’s hoffen.
Wie’s auch immer kommt, gezählt die Bestände.
Gelebt – dran fand manch einer schon das Ende.

Europa feiert nun seinen 100. Geburtstag. Er ist aber für immer 32 Jahre alt geblieben.

György Dalos, Nachwort

Nachbemerkung des Übersetzers

Attila József gilt als einer der größten ungarischen Lyriker, dessen Verse jedem Ungarn so vertraut sind wie etwa die Heinrich Heines in Deutschland. In Ungarn sind zahlreiche Straßen nach ihm benannt, an seinem Geburtstag wird Jahr für Jahr der Tag der Poesie gefeiert, und einer der bedeutendsten Literaturpreise trägt seinen Namen. Außerhalb des ungarischen Sprachraumes ist er aber ein Unbekannter.
Was bedeutet dieser Name den Ungarn? Attila József steht für poetische Vollkommenheit, politischen Mut, menschliche Integrität und unbezweifelbare Glaubwürdigkeit. In Józsefs Gestalt finden alle einen gemeinsamen Nenner, aufgrund dessen jede künstlerische und existentielle Frage berührt werden kann. Diese einzigartige Stellung verdankt er verschiedenen Faktoren: Sein sozialer Hintergrund bestärkt das Mitgefühl, seine opferbereit arglose, intellektuelle Linksorientierung gewinnt selbst die Sympathien der ästhetisch Konservativen, seine ins Universelle reichende Dichtung überzeugt auch diejenigen, die seinen politischen Ansichten nur mit Widerwillen begegnen können. Seine unglückliche literarische Laufbahn und die Gültigkeit seiner Aussagen verleihen seiner Erscheinung einen beinahe zwingenden Beweisgrund.
Attila József war, solange er lebte, ein allseits Verfemter, der in jeder Hinsicht scheiterte. Nach seinem frühen Tode gilt er als ein Unantastbarer, fast als ein Heiliger, der im Grunde immer Recht hat und posthum alle Bedenken überwand. Womit ist diese Kardinalstellung zu erklären? Er war ein Mensch, der in seinem Leben ein Übermaß an Demütigungen hinzunehmen hatte und trotzdem große Kunst schuf. Er war ein Linker, der – als Zeitgenosse der frühen Existenzialisten – alle Heimsuchungen der Existenz erfahren hatte. Er war eine tragische Figur, die dank seiner „strudelnden Tiefe“ (Ferene Fejtő) noch der Hoffnungslosigkeit der Kreatur einen eigenen Wert hinzugefügt hatte. Er war ein Dichter, der seinem Gefühl, in eine ver-rückte Welt geworfen zu sein, in klassischen Formen Ausdruck gab. Und schließlich: Er war ein Poet, dem es gelang, die ungarische Dichtungstradition in die Nähe der europäischen Entwicklung zu rücken. Die begrifflich gestützte, ins Abstrakte greifende, sorgfältig geschliffene Sprache und Metaphorik erinnern uns an Rainer Maria Rilke; seine stellenweise stark expressionistisch modellierten Visionen könnten aus Georg Trakls Texten entlehnt worden sein; die gährende Empfindlichkeit für soziale Spannungen in seiner Dichtung lassen an Bertolt Brecht denken; die anmutige, leicht spielerische Denkart mancher Gedichte gemahnt an Morgenstern und Ringelnatz. Dies alles begründet die Vermutung, daß sein Werk auch in einen europäischen Kontext gehört. Seine stark metaphorische, bildhaft ausgeprägte Kunst wurzelt zwar zum Teil in der ungarischen, an sinnlichen Eindrücken unmittelbar haftenden Ausdrucksweise, seine von zeitlosen Ideen gesteuerte Poesie wird aber durch das gemeinsame europäische Gedankengut genährt. Die Ballaststoffe, könnten wir sagen, stammen aus dem heimischen Boden, die Nährkraft ist aber völlig europäisch. Józsefs Werk berührt sich durch geistesgeographische Luftlinien unter anderem mit der Leistung von Mandelstam, Apollinaire, Garcia Lorca, Rilke und den Existenzialisten.
Seine Dichtung umfaßt die großen, unerschöpflichen Themen der Existenz in vielfältiger Weise: Hunger, Armut, Alleinsein, Gottsuche, Zusammenhang von Freiheit und Ordnung, persönliches und soziales Leid, Liebe, Todesangst, Verlust alles Menschlichen und Verzweiflung. Sie ist, grob gesagt, ein rabiates Aufbäumen gegen jegliche Zurücksetzung und Erniedrigung.
Da ich Attila Józsefs Bedeutung umfassend sichtbar machen wollte, ließ ich mich beim Übersetzen von den nachfolgend skizzierten Grundsätzen leiten.
Attila Józsefs Dichtung wird von der gebundenen Form beherrscht: Seit Ende der zwanziger Jahre schrieb er keine freien Verse mehr. Es war mein Ziel, die Formenwelt des Autors auch in der Übersetzung zum Ausdruck zu bringen, weil sie ein konstituierender Teil der schöpferischen Entscheidung ist und im ungarischen Original wesentlich zu seiner Wirkung beigetragen hat. Alle Elemente des spezifisch Lyrischen wiederzugeben ist in einer fremden Sprache unmöglich. Ich habe versucht, durch einen vorsichtigen Umgang mit dem Reim und die Zuhilfenahme von entsprechenden Kunstgriffen wie Alliteration, Assonanzen, Silbenanzahl, rhytmische Entsprechungen, verwandte Klangfarben soviel wie möglich vom Klangreiz seiner Sprache hörbar zu machen. In dieser Hinsicht hat mir sporadische Untreue geholfen, József im ganzen treu zu bleiben.
Die innere Form des Gedichts ist der Inhalt. Ich werde die Formfrage, dachte ich, womöglich von der Warte des Inhalts zu lösen und auch die Gestaltung vom Inhalt her zu steuern versuchen. Attila József war ein großer Formkünstler und ein scharfer Intellekt: Beides mußte aufgezeigt werden. Aber das Was hat immer durch die deutlichen Konturen des Wie hindurchzuschimmern.
Was für eine Bedeutung haben bei Dichtungen von gestern und für heutige Leser die klassischen, gebundenen Formen?
Sie spiegeln das uralte und immer noch aktuelle Bedürfnis, durch Regelung, Messung, Gliederung und Proportion das Individuelle im Allgemeinen zu verankern. Die Form hebt das Geschaffene in die Nähe des Transzendenten und bindet es gleichsam ins Weltall. Das Gefühl der katharsis, das vom Meisterwerk heraufbeschworen wird, hängt eng mit der Formgebung zusammen. Man sollte bedenken, daß das Erhabene nicht als Pathetisches abgetan werden kann und auch die Poesie des Tagtäglichsten einer – wenn auch nicht gebundenen – Form bedarf. Auch der freie Vers hat seine eigenen Gesetze. Die gebundene Form weist immer zumindest auf etwas teilweise Ganzes.
Formgebundene Kunst formgetreu zu übersetzen ist in diesem Sinne ein Postulat künstlerischer Ethik.
Zum Schluß: Ein ganz besonderer Dank gebührt Egon Ammann, der bereits in seinen jungen Jahren Attila Józsefs Bedeutung erahnt, ihm die Wertschätzung durch Jahrzehnte hindurch bewahrt und schließlich in Form dieser Ausgabe zum Ausdruck gebracht hat. Er stand unserem Unternehmen Pate. Allen wenigen, die mich im Laufe dieser Arbeit in irgendeiner Form ermutigt haben, gilt auch mein herzliches Wort. Schließlich möchte ich der ungarischen Dichterin Zsófia Balla für ihre unermüdliche Bereitschaft Dank sagen, mir im Textvergleich, in der Interpretation und der Wortfindung beigestanden zu haben. Sie hat verhindert, daß die Routine mich demoralisierte. Sie hat mir geholfen, die Arbeit nicht abzubrechen. Ihr Anteil am Endergebnis ist unsichtbar, aber auch unschätzbar.
Ich danke Attila József für diese fünf zeitlosen Jahre.

Daniel Muth

 

Erstmals

wird mit unserer umfangreichen zweisprachigen Ausgabe, die einen Querschnitt durch das gesamte Schaffen des Dichters vermittelt, der Vesuch unternommen, das dichterische Werk direkt aus dem ungarischen Original zu übersetzen. József bediente das poetische Register, das ihm die Sprache vorgab, mit Virtuosität. Daniel Muth gelingt es mit seiner Übersetzung, diesen Formenreichtum sichtbar zu machen.

Ammann Verlag, Klappentext, 2005

 

Ein Genie des Schmerzes

Der Ungar Attila József ist einer der großen Dichter der Moderne, was aber die Welt immer noch nicht wirklich weiß. Sein Heimatland feiert am 11. April 2005 den hundertsten Geburtstag seines frühvollendeten tragischen Genies. Das Werk dieses Mannes, der 1937, erst zweiunddreißigjährig, seinem Leben ein Ende setzte, überstand nicht bloß Krieg und Faschismus, sondern auch die kommunistische Kulturpolitik, die József als „ungarischen Majakowski“ vereinnahmte und zugleich die Veröffentlichung politisch „inkorrekter“ Texte unterdrückte. Heute ist Józsefs Poesie in Ungarn mindestens so populär wie bei uns die Verse Brechts oder Kästners. „Er war einer unser Götter“, sagt George Tabori.
In Deutschland ist Józsefs Name kaum mehr als ein Gerücht. Wenn auch ein durchaus schmeichelhaftes. Es basiert auf zwei Bändchen mit Nachdichtungen nach Interlinearversionen, die 1960 in der DDR und 1963 in der Schweiz erschienen und längst verschollen sind. Stärker blieb der Nachhall eines historischen Moments: die Begegnung Attila Józsefs mit Thomas Mann. Anlaß war Thomas Mann Lesung aus Lotte in Weimar im budapester Ungarischen Theater am Abend des 12. Januar 1937. József hatte aus diesem Anlaß die Ode „Gruß an Thomas Mann“ geschrieben. Es gibt ein Foto, auf dem der jugendlich wirkende Dichter sie dem Nobelpreisträger, dem großen Europäer, überreicht. Was das Foto nicht zeigen kann, ist dies: József durfte seine Ode nicht auf der Bühne vortragen. Die Polizei hatte die Rezitation verboten. Das politisch Anstößige kommt am Schluß des Gedichts zum Ausdruck. Dort prangert József die „Monsterstaaten“ an, die Europa mit ihrem ideologischen Gift zerstören wollten, und endet mit einem Gruß an den guten Europäer, der Thomas Mann war.
Kein Zweifel, daß Attila József – nach starken kommunistischen Sympathien – sich einem liberalen Antifaschismus im Sinne Thomas Manns angenähert hatte. Ihm blieb indessen nicht mehr viel Zeit – weder für seine politische noch seine poetische Entwicklung. Das Jahr 1937 wurde das Jahr seines Todes. Am 3. Dezember 1937 starb Attila József. Er hatte sich vor einen Güterzug geworfen.
Dieser Dichter war ein „Genie des Schmerzes“, wie ihn der ungarische Publizist György Bálint genannt hat. Sein Leben ließ ihm auch wenig Wahl. Es begann in Budapest am 11. April 1905. Józsefs Geburt war denkbar gering: die Geburt des dritten Kindes einer Wäscherin und eines Seifensieders. Eines Vaters übrigens, der sich bald aus dem Staub machte. Und so kam der kleine Attila für einige Jahre zu Zieheltern, die ihn Pista riefen – den Namen Attila gebe es nämlich gar nicht. Der Dichter schreibt später:

Das erschütterte mich sehr, ich hatte den Eindruck, daß sie [die Zieheltern] mein Dasein in Zweifel zogen. Die Entdeckung der Sagen über Attila, glaube ich, prägte von da an entscheidend all mein Streben, letzten Endes führte mich vielleicht gerade dieses Erlebnis zur Literatur.

Attila József mußte sich selbst erfinden. Elias Canetti hat einmal gesagt:

Das Schicksal der Menschen wird durch ihre Namen vereinfacht.

Attila József schuf seine poetische Welt aus seinem endlich gewonnenen, endlich behaupteten Namen. Er vereinfachte sein Schicksal dergestalt, daß er Dichter wurde – Dichter einer Weise, für die alles andere zweitrangig werden mußte: Beruf, Geld, Liebe, psychische Probleme, ja das bloße physische Leben.
Der junge Attila schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. In seine Schulzeit fiel, Weihnachten 1919 und in einem Armenhospital, der frühe Krebstod der Mutter. Als Gymnasiast unternahm er mehrere Selbstmordversuche; der erste, 1914, war durch die Krebserkrankung der Mutter ausgelöst. Doch der potentielle Selbstmörder hatte sein Antidot entdeckt, jene Tätigkeit, die Leiden aufheben kann: das Dichten.
Als eine Zeitschrift Gedichte des Siebzehnjährigen druckte, galt er als Wunderkind, „wobei ich nur Waise war“, wie József kommentierte. Schon bald erschien ein erster Gedichtband, und ihm folgte ein erster Skandal: Das Gedicht „Christus in Aufruhr“ führte zur Anklage wegen Gotteslästerung. Der neunzehnjährige Poet wurde zu einem Monat Gefängnis verurteilt, freilich durch den Obersten Gerichtshof begnadigt. Drei Jahre später erregte das Gedicht „Reinen Herzens“ den Zorn rechter Kreise.
„Christus in Aufruhr“ klagte einen Gott an, der die Armen hungern läßt und ihnen die Schönheit der Rosen vorenthält. „Reinen Herzens“ konzentriert alles, was der junge József damals, März 1925, zu sagen hatte. Er gibt sich als poète maudit, der nicht bloß die bürgerliche Moral provoziert, sondern sich auch zur Tat bekennt:

Reinen Herzens brech ich ein.
Morde gar, so muß es sein.

„Reinen Herzens“ – dieser Titel war nicht bloß die Bezeichnung einer poetischen Rolle: er entsprach dem Wesen des Dichters. József war kein Ideologe, sondern ein praktizierender Idealist. Reinen Herzens und aus den bitteren Erfahrungen seiner Jugend heraus wandte er sich dem Sozialismus zu und der kommunistischen Partei Ungarns. Bei seinem Aufenthalt in Wien (1925/26) las er die Klassiker des Marxismus und nahm die Lehren der Anarchisten in sich auf. Im Herbst 1930 wurde er Mitglied der illegalen Kommunistischen Partei Ungarns und begann, illegale Parteiarbeit zu leisten. Seine Treue zur Partei wurde mehr als strapaziert. Eine moskauer Gruppe ungarischer Literaten denunzierte ihn als jemand, der seinen „Ausweg ins Lager des Faschismus“ suche. Józsefs Essay „Hegel Marx Freud“ wurde von orthodoxer Seite heftig attackiert. In der Tat suchte der Dichter einen Weg, der proletarisches Bewußtsein und das Freudsche Unbewußte zusammenführte.
Zu Sigmund Freuds 80. Geburtstag schrieb er 1936 das Gedicht „Was du ins Herz versteckst“, ein Gegenstück zur Ode an Thomas Mann. Auch dies Gedicht ist ein Schlüssel-Gedicht. Es sagt uns – mehr noch als über Freud – Entscheidendes über den Dichter selbst. Es formuliert seinen Anspruch, die Wahrheit zu suchen und zu bekennen. Es spricht vom Glücksverlangen des Menschen und bringt Glück und Aggression des Liebesverlangens mit dem Regressionsbedürfnis zusammen:

Kinder sind alle, die leben
weh nach dem Mutterschoß.

Besonders die Dichter sind Kinder; und eben auch deshalb Liebende. József war ein großer Liebender – nicht der Zahl seiner Liebschaften willen, sondern wegen der ungebrochenen Intensität seiner Liebe, zu der er jeweils fähig war. Márta Vágó verschaffte József Zutritt zu bürgerlich-liberalen Kreisen; das Ende der Beziehung führte zu einem veritablen Nervenzusammenbruch und zur Einweisung in ein Sanatorium. Ein Schema, das sich wiederholte. So auch in der Beziehung zu der Heilpädagogin Flóra Kozmutza, die sich mit seinem dichterischen Konkurrenten Gyula Illyés verheiratete.
Damit sind wir im Sommer seines Todesjahres und bei der Frage, ob unserem Dichter auf Erden zu helfen war. Offenbar so wenig wie Heinrich von Kleist. Dabei setzte József selbst, von seinen seelischen Problemen schwer bedrängt, in sein Schreiben immer wieder die Hoffnung auf Heilung, ja Erlösung. In seinem Mai 1936 geschriebenen Gedicht „Du hast mich zum Kind gemacht“ drückt sich diese Hoffnung besonders ergreifend aus. Da bekennt er, von den Jahren seiner Heimsuchung fortwährend bedrängt zu sein, und fleht die Geliebte – Flóra Kozmutza – an:

Nähr mich: ich hungere. Schütz mich: ich friere.
Töricht bin ich: nimm dich meiner an.

Er bittet sie, ihm zu seinem eigenen Leben, ja zu seinem Tod zu verhelfen, ja, um die Fähigkeit, sich endlich selbst zu lieben.
Diese Fähigkeit, sich selbst zu akzeptieren – wie stark war sie wirklich? Wir wissen, daß die vielen Gedichte, die sich an Flóra richteten, letztlich Selbstrettungsversuche sind – und zugleich die schönsten Perlen von Józsefs Poesie. Freilich mischt sich auch hier der Todeswunsch ein, der sich schon lange angekündigt hatte. Nicht bloß der Wunsch, auch die Todesart.
Schon der Siebzehnjährige schrieb ein Gedicht „Betrunkener auf den Gleisen“. Es läßt noch offen, ob der herannahende Zug ihn überrollt. Und 1934 heißt es in „Hellsinn“:

Ich wohne schienen-nah

An diesen Gedichten ist nicht eine Prophetie zu bewundern, die sich selbst erfüllt, sondern das, was der Dichter als „Hellsinn“ bezeichnet: die Fähigkeit, die Wirklichkeit zu durchdringen und zu erhellen. Große Dichtung – wie die Attila Józsefs – ist Zauber und Gegenzauber zugleich.
„Ein wilder Apfelbaum will ich werden“, wünscht sich ein frühes Gedicht:

Alle Hungernden äßen von meinem
Riesigen Leib, alle Kinder
Säßen unter meinen Zweigen.

Von diesem Gedicht hat auch die opulente zweisprachige Ausgabe ihren Titel. Sie ist mit informativen Dokumenten gut bestückt und bringt einen Essay von György Dalos, sowie ein liebevolles Charakterbild des Dichters, das Ferenc Fejtő verfaßt hat, der wohl letzte überlebende Freund Józsefs.
Der ungarische Lyriker und Übersetzer Daniel Muth präsentiert in seiner Übertragung die Essenz von Józsefs dichterischem Werk. In seiner Nachbemerkung reflektiert er das Problem, die Virtuosität, den Anspielungsreichtum und die Formenvielfalt der Originale in Deutsche zu bringen. Seit Ende der zwanziger Jahre schrieb József keine freien Verse mehr; und so hat sein Übersetzer versucht, in Reim und Metrum wenigstens Analogien zum Ungarischen herzustellen. Das ist ihm – wie kann es anders sein – nicht überall gelungen. Am schönsten wohl in den Liebesgedichten Attila Józsefs. Ein neuer Anfang ist jedenfalls gemacht, das Genie des Schmerzes auch als Genie der Kunst sichtbar zu machen.

Harald Hartung, als: Und alle Kinder säßen unter meinen Zweigen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.4.2005

Ein wilder Apfelbaum will ich werden

– Zum 100. Geburtstag von Attila József. –

Zum 100. Geburtstag des frühvollendeten Budapester Dichters Attila József erscheint eine zweisprachige Ausgabe mit einem Querschnitt seines Werks. Die Gedichte werden durch Essays und Fotos ergänzt. Sein mit 16 niedergeschriebenes Lebensmotto Ein wilder Apfelbaum will ich werden! betitelt den Band.

Ich hab kein Land. Keinen Gott.
Keinen Vater. Mutter nicht.
Keine Wiege. Grabtuch keins.

Diese Verse schreibt Attila József aus Budapest kurz vor seinem 20. Geburtstag.

Reinen Herzens brech ich ein.
Morde gar, so muß es sein.

Das ist mehr als ein Gedicht. Solche Art Lyrik versteht man im Ungarn des Jahres 1925 als Kriegserklärung an das autoritäre System, und prompt erhält der Poet eine Anklage wegen „Gotteslästerung“. Die erste…
József, Attila, geboren 1905 als Sohn eines Seifensieders und einer Waschfrau: Der Name des Hunnenkönigs sollte dem Lebenslauf des Jungen Schwung verleihen, doch es wird eine tragische Biographie. Als Attila drei ist, verlässt der Vater die Familie; elf Jahre später stirbt die Mutter an Krebs. Attila arbeitet hart, er stiehlt und bettelt, und dann macht er – ein Hochbegabter – sein Abitur. Später beklagt er sich:

Man hielt mich für ein Wunderkind, wobei ich nur Waise war.

Er studiert, will Lehrer werden, doch die Professoren werfen ihn hinaus. Nun wird er Dichter im „Hauptberuf“ und schafft ein Werk ohnegleichen: mal anrührend zart und spielerisch, mal pure soziale Anklage, Sprengstoff in Versen. „Nicht ich bin es, der schreit, die Erde dröhnt“, vermerkt er.
1930 wird József Mitglied der illegalen KP. Nun predigt er die Revolution, „Ein Hoch den Sowjets, den Arbeiterräten!“, aber nur wenige Jahre später verstößt auch die Partei den Rebellen.
Auf ewig ist dieser Attila József ein Außenseiter, verfemt, „ein zum Ungarsein Verbannter“. Er leidet an seinem Land, er leidet an dieser Zeit, am Triumph des Faschismus. Und der Hunger bleibt sein Begleiter. Die Welt scheint voller Dämonen zu sein. Attila József hat Depressionen, dann auch Schübe von Schizophrenie. „Ich lausche den Nachrichten, die eine Stimme aus meiner Tiefe bringt“, notiert er. Am Ende sind die Dämonen stärker als der Dichter. Im Winter 1937, mit eben 32 Jahren, wirft er sich bei einem kleinen Ort am Balaton vor einen Güterzug.
In der Ära des Sozialismus wird der „ungarische Majakowski“ als angeblich linientreuer Marxist vereinnahmt. Aber längst gilt der Sprachkünstler als Klassiker der Moderne. Im heutigen Ungarn ist József – der Sänger der Liebe und Herold der Heimat – eine Vaterfigur, fast ein Heiliger.
In Deutschland – Ost und West – wurde der melancholische Budapester recht spät entdeckt, erstmals vor 1960 durch Stephan Hermlin und Hans Magnus Enzensberger. Franz Fühmann, Peter Hacks und Ernst Jandl schufen Nachdichtungen auf der Basis von Interlinearübersetzungen. Eine angemessene Würdigung stand jedoch aus.
Zum 100. Geburtstag des Frühvollendeten hat der Zürcher Ammann-Verlag die Lücke nun geschlossen: mit einer aufwendigen zweisprachigen Ausgabe, 500 Seiten im Großformat, samt Fotos und Essays. Der Band, ein Querschnitt des Werkes, ist ein erstmaliger Versuch, die Gedichte direkt aus dem Original zu übertragen. Ein verdienstvolles Projekt, nur, leider: an die erwähnten Nachdichtungen namhafter Lyriker reichen die deutschen Textfassungen nicht heran. Spröde klingt hier mancher Vers, gekünstelt, wenig elegant.
Dennoch: Wer in dem liebevoll gestalteten Großband blättert, fühlt sich bald wie verwandelt. Ein Refugium ist diese Poesie, Zuflucht in lauter Zeit. Oder eine Art Picknickkorb, randvoll mit Delikatessen. Schon der Dichter hat sein Werk so verstanden. „Ein wilder Apfelbaum will ich werden!“, schrieb József mit 16,

Ein weitverzweigter Apfelbaum;
Alle Hungernden äßen von meinem
Riesigen Leib, alle Kinder
Säßen unter meinen Zweigen.

Uwe Stolzmann, Deutschlandradio Kultur, 11.5.2005

Der ungarische Majakowski

– Attila József, unglücklicher Dichterkönig, ist in einer wunderbaren Edition wiederzuentdecken. –

Am Ende seines kurzen Dichterlebens taugte die selbstverordnete Heiterkeit nicht mehr als Antidot gegen die bedrückende Seelenqual.

Gut war er, heiter. Als verdrießlich auch bekannt
Wenn man verlachte, was er seine Wahrheit nannt’.

So hatte sich der ungarische Dichter Attila József 1928 in einem ironischen Nachruf zu Lebzeiten porträtiert: Als einen stets auf seiner poetischen Subjektivität und Widerspruchslust beharrenden Außenseiter, der in keiner Kirche der Welt, sei sie politischer oder religiöser Natur, seinen Frieden finden kann.
Bereits als Schüler hatte József zwei Selbstmordversuche unternommen, als er keinen Ausweg aus dem Elend mehr sah, in dem er seit seiner frühesten Jugend gelebt hatte. Seine späten Verse zeichneten den Weg in den Abgrund vor:

Starr, schmerzschwer, abgestürzt in Kot
lieg ich im Abgrund, hebt mich keiner.
Nimm mich, nimm deinen Sohn, mein Gott,
ich will nicht Waise sein, kein Ärger.

Zurückgewiesen von seiner großen Liebe und verlassen von seinen literarischen Freunden, warf sich der gerade mal 32jährige Dichter am 3. Dezember 1937 in der ungarischen Provinzstadt Balatánzarszó vor einen Güterzug.
Ein derart vom unglücklichen Bewusstsein zerquälter Dichter eignet sich in der Regel nicht zum literarischen Nationalhelden. Aber bei Attila József hat der anhaltende Ruhm sehr viel mit der selektiven Wahrnehmung des Publikums zu tun. Inständig verehrt wird nicht der tragisch Gescheiterte, sondern der hinreißende Liebeslyriker, der begeisterte Verkünder des „Ungarntums“ und gewiss auch der wortmächtige Plebejer und „ungarische Majakowski“.
Als Gerhard Falkner 1999 zu einem Streifzug durch die junge ungarische Lyrik-Szene (in der DuMont-Anthologie Budapester Szenen) startete, musste er feststellen, dass auch im postsozialistischen Ungarn noch immer alle Wege zu Attila József führen. Gerhard Falkner stieß zwar auf sehr westlich anmutende Bewusstseinshaltungen, auf Attitüden des Undergrounds, wie sie auch hierzulande auf jedem „Slam Poetry“-Abend zu erleben sind. Aber Falkners lakonisches Fazit lautete:

Am Ende hat es dann doch mehr zu tun mit Attila József als mit der Acid-Party.

Die fortdauernde Popularität des Dichters József in seiner Heimat korrespondiert indes nur punktuell mit einer vergleichbaren Wertschätzung im Westen. Obwohl ihn Hans Magnus Enzensberger 1960 in sein Museum der modernen Poesie aufgenommen hatte, sprang der ästhetische Funke zumindest in der westdeutschen Rezeption nicht über. Die literarische Einbürgerung des Dichters József ist zuvorderst Stephan Hermlin zu verdanken, der bereits 1954 und 1958, in zwei Ausgaben von Sinn und Form, nachdrücklich auf die Gedichte Józsefs hingewiesen hatte und dessen „große proletarische Dichtung“ in den Kanon einer sozialistischen Literatur integrieren wollte.
Die von Hermlin 1960 im Verlag Volk & Welt herausgegebene Gedichtauswahl prägte denn auch das Bild vom „plebejischen Dichter“ Attila József der aus den Elendsvierteln der Budapester Vorstadt zum Apostel einer volksnahen marxistischen Poesie aufstieg.
Hermlin hatte dem „ungarischen Majakowski“ eine proletarische Muster-Biographie auf den Leib geschrieben. Tatsächlich hatte der am 11. April 1905 in Budapest geborene Sohn eines Seifensieders und einer Wäscherin zeit seines Lebens unter bitterster Armut zu leiden. Sein Vater verließ die Familie, als der Junge gerade drei Jahre alt war. Mit seinen Schwestern wurde der Junge zu Pflegeltern aufs Land geschickt, wo er Schweine zu hüten und unter brutalen körperlichen Demütigungen zu leiden hatte. Für eines seiner ersten Gedichte unterzog man den hochbegabten Schüler, der mit siebzehn Jahren seine ersten Texte veröffentlichte, einem Gotteslästerungsprozess. Was Hermlin aber besonders an József schätzte, war sein lange Jahre unerschütterlicher Marxismus, mit dem der Dichter dem prä-faschistischen Horthy-Regime die Stirn bot. Was Hermlin in seiner biographischen Skizze vernachlässigt, ist Józsefs konstitutionelles Ketzertum, begründet u. a. in seiner Passion für die Psychoanalyse, die ihn nach einigen Jahren in schwerste Konflikte mit der damals verbotenen KP brachte.
Wie wenig sich József als heldenhaft plebejischer Dichter vereinnahmen lässt, zeigt nun die erste umfassende und wunderbar bibliophile Auswahl seiner Gedichte im Ammann Verlag, die der Übersetzer Daniel Muth mit Hilfe der ungarischen Dichterin Zsofia Balla ins Deutsche gebracht hat. Zum erstenmal liegt hier eine József-Übersetzung vor, die in akribischer Arbeit am Originaltext entstanden ist. Die von Hermlin publizierte Auswahl hatte sich – wie alle bislang erschienenen Ausgaben – noch auf Interlinear-Versionen gestützt. Als des Ungarischen unkundiger Leser muss man verblüfft zur Kenntnis nehmen, dass Abgründe zwischen den Nachdichtungen Hermlins und den am Original orientierten Übertragungen Muths liegen.
Während Muth der Wörtlichkeit und den ursprünglichen Bildfügungen treu bleiben will, nimmt sich Hermlin wesentlich größere Freiheiten heraus. Seine Nachdichtungen erfinden Józsefs Texte neu in eleganter und geschmeidiger Prosodie. Was Hermlin an Pathos und Plastizität gewinnt, entnimmt er im Zweifelsfall eher dem eigenen Bildervorrat als dem Józsefschen Original. An einem berühmten proletarischen Genrebild Józsefs lässt sich die Differenz zwischen den Übersetzungen ermessen. Das Gedicht „Hunger“ überträgt Hermlin in weitaus größerer rhythmischer Dynamik und ans Original angelehnten Reimen:

Die Dreschmaschine steht. Der Staub treibt weg
Wie Nebel, die im Herbst sich lang verspäten,
Senkt auf die krummen Rücken, die verdrehten
Hälse sich. Und sie essen. Starr von Dreck.

Im Vergleich dazu hat Muths etwas spröde Übertragung Mühe, sich gegen den Nachhall der geschmeidigen Hermlinschen Pathetisierungen zu behaupten:

Die Maschine steht. Müder Staub wirbelt
in der Luft wie herbstliche Nebeldünste,
befällt die krummen Nacken und die Brüste
der Menschen. Sie essen jetzt. Dreck durchschwitzt.

– Trotz der gelegentlichen Sprödigkeit der Übersetzung ist diese Edition des Ammann Verlags als verlegerische Großtat zu rühmen. Mit Attila József ist eine Portalfigur der lyrischen Moderne endlich jener intellektuellen Trägheit entrissen worden, in die schwierige Dichter im deutschen Literaturbetrieb in unschöner Regelmäßigkeit versinken.

Michael Braun, Frankfurter Rundschau, 20.4.2005

Ein wilder Apfelbaum will ich werden

– Vor hundert Jahren wurde Attila József, einer der bedeutendsten ungarischen Dichter, geboren. Nun liegt eine Auswahl seiner Gedichte in einer prachtvollen Ausgabe vor. –

Attila József stammt aus ärmlichen Verhältnissen und wächst in einer Vorstadt von Budapest auf. Sein Vater, ein Seifensieder, verschwindet, als der Knabe drei Jahre alt ist. Die Mutter muss sich und ihre drei Kinder als Waschfrau alleine durchbringen. Zusammen mit seiner Schwester Etel verbringt Attila einen Teil der Kindheit bei Bauern auf dem Land. „Ich arbeitete bereits damals – wie es unter armen Dorfkindern üblich ist – als Schweinehirt“, schreibt er später in seinem Lebenslauf.
Attila ist sieben, als er wieder nach Budapest zurückkehrt und eingeschult wird. Armut, Hunger und Entbehrungen bleiben seine ständigen Begleiter. Mit neun versucht er zum ersten Mal, seinem Leben ein Ende zu setzen. Im gleichen Jahr erkrankt seine Mutter an Krebs und stirbt fünf Jahre später.
Attila beendet das Gymnasium und publiziert 1922 seine ersten Gedichte. Den Durchbruch schafft er, als ein Jahr später auch die führende Literaturzeitschrift Nyugat („Westen“) drei seiner Gedichte veröffentlicht. Er lernt die bedeutendsten zeitgenössischen Literaten der Zeit kennen, unter anderen auch Dezso Kosztolányi, dessen surrealer Schelmenroman Ein Held seiner Zeit kürzlich auf Deutsch erschien.
Sein Gedicht „Christus in Aufruhr“ bringt József eine Anklage wegen Gotteslästerung ein – es wird aber nicht das letzte Mal sein, dass er wegen seiner Texte mit dem Gesetz in Konflikt gerät. Sein Gedicht klagt einen Gott an, der die Armen hungern lässt:

Wahrlich, ich sag, Du hast noch keinen Blick,
Du siehst jetzt noch nichts. Sei endlich gerecht,
Gott! Gott!

József studiert in Szeged Literatur und Philosophie und wechselt nach einigen Semestern nach Wien und später nach Paris.
Im Ausland kommt er mit den führenden Köpfen der linken ungarischen Emigration in Kontakt, so auch mit György Lukács und Béla Balázs. Wieder zurück in Ungarn, wird er 1930 Mitglied der illegalen Kommunistischen Partei.
Im Alter von 25 Jahren erleidet er zum ersten Mal einen Nervenzusammenbruch und beginnt, sich intensiv mit der Psychoanalyse zu beschäftigen. Er veröffentlicht mehrere Gedichtbände und erhält auch einige literarische Auszeichnungen, immer wieder aber werden seine Texte scharf kritisiert oder gar verboten.
Seine zahlreichen Liebschaften enden zumeist unglücklich, und die Armut bleibt sein ständiger Begleiter. Im Sommer 1937 erleidet er einen zweiten Nervenzusammenbruch und begleitet im Herbst seine Schwester nach Balatonszárszó, wo sie eine Pension zu leiten versucht. Am 3. Dezember 1937 wirft er sich dort vor einen Güterzug.
Attila József gilt in Ungarn als einer der grössten Lyriker des 20. Jahrhunderts, zahlreiche Strassen, Schulen und die Universität von Szeged sind nach ihm benannt. Aber ausserhalb Ungarns ist József kaum bekannt, seine Gedichte galten bisher als kaum übersetzbar. Für die deutsche Sprache hat Daniel Muth nun den Gegenbeweis angetreten. Wer die ungarischen und deutschen Gedichte parallel liest, kann nur staunen, wie exakt und präzis Muth hin und wieder Stil und Tonfall, manchmal auch den Rhythmus des Originals ins Deutsche hat übertragen können.
Dass dabei etliche Formulierungen holprig und holzig geraten sind, ist zu bedauern, scheint – mit Blick aufs Original – aber verzeihlich. Vielleicht wäre aber eine strengere Auswahl der Gedichte hilfreich gewesen, denn nicht alles, was sich in einer Sprache formulieren lässt, kann in eine andere Sprache übertragen werden.
Mehrere einführende Texte runden das voluminöse Buch ab.

Peter Haber, Tages-Anzeiger, 2.6.2005

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Cornelius Hell: Bettler der Schönheit
Die Furche, 7.4.2005

 

Das Verhältnis von Tradition und Neuerertum,

Parteiarbeit und revolutionärer Lyrik

In den Reihen der Kommunistischen Partei
Józsefs Gedichtzeile aus dem Jahre 1926: „Weil schon die Zeit auf unsrem Erdenfeld / unmerklich, aber furchterregend reift!“1 hatte Ende der zwanziger Jahre nichts an Aktualität eingebüßt – im Gegenteil. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise von 1929 und unter dem Eindruck des Erfolgs der Sowjetunion mit ihrem ersten Fünfjahrplan bewegte eine revolutionäre Unruhe ganz Europa. Es schien so, als krachte das alte System in seinen Fugen und die siegreiche Weltrevolution hielte bald Einzug. Im konterrevolutionären Ungarn wuchs der Einfluß der illegal wirkenden Kommunistischen Partei. Agrarstreiks und Arbeiterdemonstrationen, Unruhen und Flugblätter sowie Bankschließungen und revolutionärer Aufruhr im Geistesleben kennzeichneten diese Periode. Am 1. September 1930 ging erstmals nach elf Jahren die Budapester Arbeiterschaft in großer Masse auf die Straße. Es war eine stürmische und unheilschwangere, doch verheißungsvolle Zeit, als mit den Besten des ungarischen Geisteslebens sich auch der junge Attila József dem Sozialismus zuwandte. Nach langem Suchen, seit der Demonstration vom 1. September, die ihn zu dem Gedicht „Masse“2 anregte, gehörte er nun der illegalen KPU an.
Józsefs Entschluß, aktives Mitglied der KPU zu werden, gingen unterschiedlichste Erfahrungen voraus: frühe Jugenderlebnisse und die Erinnerung an die Räterepublik ebenso wie seine Mitgliedschaft in der sozialdemokratischen Partei seit 1924, die Periode seines „idealen Anarchismus“ bzw. seine Tätigkeit in der legalen Tarnorganisation der KPU, der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei3 (1925 bis 1927). Und nicht zu vergessen sind die Aufenthalte in Wien und insbesondere in Paris, wo er die Schriften Lenins studiert und der Erinnerung einiger Zeitgenossen zufolge bereits um Aufnahme in die Partei ersucht hatte. Das Suchen widerspiegelt sich auch in Józsefs Lyrik und Prosa jener Jahre. Die unmittelbare Annäherung an die illegale KPU seit 1929 ging nicht zuletzt auch auf die Bemühungen von Péter Pál Lakatos,4 József Sollner5 und anderen sowie auf den entschiedenen Einfluß von Judit Szántó zurück, die 1930 seine Lebensgefährtin wurde. So betätigte sich József zunächst in Gewerkschaften und halbillegalen Kulturorganisationen; er nahm an Seminaren teil und leitete sie später. Seit Herbst 1930 wurde József dann in die illegale Parteiarbeit einbezogen, worüber er sich u.a. in einem Brief vom 3. September 1931 an Zoltán Fábry6 äußert:

Seit über einem Jahr bin ich aktives Mitglied der illegalen kommunistischen Partei… Als Parteimitglied tippte ich anfangs Flugblatt-Schablonen, heute habe ich sieben Seminare, und sonntags halte ich vor Hunderten Vorträge im Freien7

Gleiches bekunden diejenigen, die seiner illegalen Arbeit aufmerksam folgten, seine ehemaligen Verbindungsleute oder Seminarteilnehmer (Gyula Andrásfi,8 András Köves,9 József Sollner) ebenso wie die Erinnerungen seiner Freunde und näheren, auch parteilosen Bekannten.
Zudem kann auf Grund von Dokumenten, die im Institut für Parteigeschichte beim ZK der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei aufbewahrt werden, sowie vielfach übereinstimmenden Erinnerungen festgestellt werden, daß Attila Józsefs Verbindung mit der Partei allen Forderungen des Organisationsstatuts gerecht wurde: Er gehörte einer illegalen Zelle an, hatte seine Verbindungsleute (im Bezirk Újpest-Rákospalota)10 und leistete illegale Parteiarbeit, indem er teils bei sich zu Hause, teils in den Budapester Außenbezirken Seminare für Arbeiter leitete, unter denen er sich heimisch fühlte. Ihm wurde bewußt, daß er gebraucht wurde; er hatte sein Gleichgewicht und seinen Weg gefunden. In den Seminaren – die er gewissenhaft abhielt – sprach er mit Temperament und Leidenschaft, seine Zuhörer mochten ihn sehr. Hatte er kein Geld für die Straßenbahn, so legte er den Weg bis zum Stadtrand nicht selten zu Fuß zurück. Es kam auch vor, daß die Genossen im Seminar ihrem hungrigen Leiter zu essen gaben. Die illegale Parteiarbeit war ihm zur Herzenssache geworden.
In dieser Zeit entstandene Gedichte der Bände So hau den Stamm um11 und Nacht in der Vorstadt12 enthalten ebenfalls klare und unmißverständliche Hinweise auf Józsefs unmittelbare Zugehörigkeit zur Partei. Ebenso deutliche Aussagen gibt es in seinen Prosaschriften, die wie die Gedichte von kämpferischer Entschlossenheit, unmittelbarer Revolutionserwartung und zuweilen von einer allzugroßen Ungeduld geprägt sind (so die Rezensionen über Werke von László Mécs,13 Zsigmond Móricz14 und Lajos Kassák15 sowie die Artikel „Marxistische Arbeiterschulung“16 und „Unsere Jugend und die Volkskunst17). Einige 1932 entstandene Arbeiten wären ohne eingehende Beschäftigung mit der marxistischen Ökonomie und Philosophie, d.h. ohne den Parteiauftrag, dieses Wissen in den Seminaren zu vermitteln, sicher nicht geschrieben worden. Dabei ist nicht zu leugnen, daß die Kompliziertheit des einen oder anderen Artikels, die darin anzutreffenden spekulativen Elemente sowie die Tendenz, Gedanken ad absurdum zu führen, störend wirken (siehe die Arbeiten „Naturwissenschaft und Marxismus“,18 „Individuum und Wirklichkeit“,19 „Sexuelle Probleme der Jugend“,20 „Kapitalistische Planwirtschaft oder marxistische Theorie?“21).
Ohne Zweifel vollzog sich um 1930 in Józsefs Leben und Dichtung eine entschiedene Wendung. Dabei half ihm Judit Szántó, die der illegalen Partei angehörte, abends und an den Wochenenden Gedichte rezitierte und tagsüber in einer großen Regenschirmfabrik arbeitete. In ihr hatte er eine Frau gefunden, die – wie József es einmal formulierte – kochen und küssen konnte; sie behütete ihn, unterstützte ihn bei seiner Arbeit und ebnete ihm den Weg, wo sie es nur vermochte.

Der Gedichtband So hau den Stamm um
Die Jahre 1930/31 könnten in Józsefs Dichtung als revolutionäre Sturm- und Drangzeit bezeichnet werden. In dem Band So hau den Stamm um22 suchte er mit ganzer Kraft und allen Mitteln seiner Dichtkunst der Weltrevolution und der so nahe scheinenden Umwälzung in Ungarn zum Durchbruch zu verhelfen. „Hirsch, das war ich einstens. / Wolf werde ich leider sein“,23 heißt es in einem Gedicht. An dieser und anderer Stelle lautet dabei die Grundfrage: Wie kann ich Revolutionär werden, möglichst hart, unerbittlich und entschlossen?
Der obengenannte schmale Band wurde bei seinem Erscheinen Ende 1930 beschlagnahmt. Die in ihm enthaltenen Gedichte stellen einen neuen Abschnitt der Józsefschen Lyrik dar; unter ihnen kommt einer bestimmten Art von Landschaftsgedichten besondere Aufmerksamkeit zu. Die Landschaft, die Natur erhielt hier einen tieferen Sinn, sie wurde eins mit dem Dichter selbst und steht darüber hinaus für das ganze Land, für die gärende Zeit und zunehmenden Spannungen. Immer häufiger erscheinen Bilder des Winters, der Froststarre und der knirschenden Kälte; andererseits verbirgt sich auch hinter dem feenhaft-flüchtigen Sommer, den sanften Hügeln und Hängen sowie der Monotonie des Regens eine tiefere Bedeutung – die Mahnung und der Aufruf zu Taten:

So hau den Stamm um, mach dich dran,
Und jammre nicht bei jedem Span!
Hau auf das Schicksal ohne Plärren,
Dann kreischt das Heideland der Herren.
Dein breites Haubeil lächelt nur.
24

Neues Leben und neue Inhalte erfüllen die Landschaftsbilder; sie werden zu Trägern der Revolution und zerbersten beinahe auf Grund der inneren Spannung. So z.B. in dem Gedicht „Sommer“; hier erscheint ein ungarischer Dorfanger in dem Bild der „Ranunkel auf dem goldenen Feld“.25 Doch dieses Idyll wird sogleich als Pseudoidyll erkennbar, denn hinter der scheinbaren Ruhe und Harmonie stauen sich elementare Leidenschaften, formieren sich historische Kräfte, die bereit sind loszuschlagen. Aus dieser Spannung resultiert dann auch der Ausklang des Gedichts: Sturmwolken schieben sich vor die Sonne, ein nunmehr gesellschaftlich-historisches „Gewitter“ hat sich zusammengebraut, das in der traditionellen Symbolik des revolutionären Bauernaufstands losbricht:

Der Himmel grollt, schon blitzt es toll,
Genossen, was? Das Sensenblatt!
26

Neben diesen metaphorisch angelegten Gedichten entstanden in jenem Zeitabschnitt offene, direkte Verse, gleichsam Marschlieder für die Massenbewegung, unmittelbar zum Kampf aufrufende, mobilisierende, begeisternde politische Appelle: „Geh, Gedicht, sei Klassenkämpfer!“,27 heißt es z.B. in dem Gedicht „Sozialisten“. Dieses, das Gedicht „Masse“28 und andere, in denen die poetischen Leistungen der agitatorischen Dichtung der Arbeiterbewegung summiert sind, waren auf Grund ihrer einfachen, in die Nähe der Prosa gerückten Formen geeignet, von den legalen oder halbillegalen Sprechchören vorgetragen zu werden. Den ungarischen Lyrikern dieses Genres (Antal Hidas,29 Laszló Gereblyés,30 Aladár Tamás31) diente dabei u.a. die deutsche kommunistische und linksorientierte Lyrik als Vorbild; Gedichte und Sprechchöre von Johannes R. Becher, Bruno Schönlank, F.C. Weiskopf und Kurt Tucholsky waren im Original bekannt und wurden übersetzt.
Diese mit der Arbeiterbewegung verbundene Dichtung hob József auf eine hohe künstlerische Stufe und brachte sie zur Reife. Zugleich aber nahm er auch Abschied von dieser Art Lyrik, um – ihre bisherigen Ergebnisse nutzend – mit seiner Dichtung neue, umfassendere Perspektiven zu erkunden.
In diesen frei rhythmisierten Gedichten und Sprechchören ist die Kraft der ungarischen Arbeiterklasse und ihrer Partei unverkennbar. Ein Echo auf die mitreißende Demonstration vom 1. September 1930, als die Massen das Gefühl, die Leidenschaft und die Überzeugung beseelte, daß eine reale Möglichkeit für den Sieg der Revolution gekommen sei, ist das Gedicht

MASSE

Arbeit – Lohn und Brot!
Arbeit – Lohn und Brot!
Es kommt die Masse, die Masse!
Wie aufgescheuchter Fliegenschwarm,
so fliegen Steine vor ihr her,
ein Felsenflug,
ein Funkenstieb –
wie Augen, schreckhaft aufgetan
von einer Eisenstange Hieb –
die Masse kommt, die Masse!
Sie kommt heran wie Riesenwald,
und macht die Masse manchmal halt
in ihrer wilden, großen Wut,
dann wurzelt sie mit ihrem Blut.
Die Erde ist ihr Sohlenpaar –
das Feld die Hand – der Wald das Haar
und alles, was je fruchtbar war!
Gebirge sind der Masse Brot,
den Durst löscht keine Wassersnot,
wäscht Regen auch Gebirge blank,
die Masse hat nicht Brot noch Trank!

Wie Hefe quillt sie immerzu,
sie schwillt und wälzt sich ohne Ruh –
die Masse!

Sie ist der feste Zellenkeim,
hält zäher als der Lebensleim,
sie reckt und streckt die Fühler aus,
wächst wie ein großer Bovist aus,
sie treibt und zieht sich wie ein Schwamm,
sie spaltet sich amöbenhaft
und mehrt damit nur ihre Kraft,
und alles wächst zu ihrem Stamm!

Welt, dich wird die Masse schlingen!
Sieh, durch ihre Nasenlöcher
Stürme und Gewölke dringen,
ihrer hohlen Zähne Köcher
sind die krummen, stummen Fernen
ihrer grauen Mietskasernen.

Die Masse faßt, die Masse greift
nach allem, was ihr Atem streift.
Sie greift nach Scheuer und Fabrik,
nach Acker, Reichtum und nach Glück,
will Siebenstundenarbeit haben,
den Großen Bären, die Plejaden!
Sie greift die wasserreichen Brunnen
in eurem wohlversorgten Dorfe,
he, meine Väter, meine krummen,
vermoderten, geplagt vom Schorfe,
he, meine armen kranken Schwager
und meine Mädchen, lieb und mager:
Das ist die Masse, die Masse –
ihr heißer Sog auch euch erfasse!

Von rauchenden Revolverläufen
umbellt, im Blute zu ersäufen
die Masse, in der Masse Blut!
Der Strohhalm stochert in der Flut,
der Strohhalm will etwas vom Fluß.
Er reißt ihn weiter, schon ist Schluß!
Die Flut reißt mit, was stockt und stört,
weil alles dieser Flut gehört!
Trägt Kisten, Wagen auf den Wogen,
Dragonersäbel, krummgebogen,
mit Pferden, Bänken, andren Möbeln
und Tschakos, die mit Fluten pöbeln!

Oh, alles andre ist vergebens,
das Feilschen, Fluchen, Schweigen, Reden.
Die Masse ist der Kern des Lebens,
die Masse überrumpelt jeden!
Sie ist das Haus und der Erbauer,
der Grundstein und das dichte Dach,
sie ist der Planer, der Erschauer,
der Arbeitsmann in jedem Fach!
Hoch jetzt die Arbeiterklasse,
hoch jetzt die Bauernklasse!
das ist die Masse, die Masse!
Was, Bürgerschläue kommt zum Streite –
die Masse stößt sie auf die Seite
bei ihrem Marsche in die Weite.
He, Masse, weiter, weiter, weiter!
32

Das Gedicht setzt mit jener Losung der Arbeiterklasse ein, die jahrzehntelang ihre Hauptforderung zum Ausdruck brachte – auch an jenem Septembertag in den Straßen von Budapest. Nach dieser Einleitung erscheint auf der Bühne der Hauptdarsteller: die Masse, eine gewaltige, mit einem Eigenleben ausgestattete Einheit, die ihre eigenen Gesetze hat. Sie mutet zwar wie ein mythischer Gigant an, ist jedoch das von der Arbeiterklasse geführte Volk. Die im ersten Teil des Gedichts undifferenzierte, einem Lebewesen gleichende Masse setzt sich indessen im Gegensatz zu vielen anderen Gedichten und Gemälden jener Zeit nicht aus gesichtslosen Phantomen zusammen, sondern aus einer Vielzahl individualisierter Menschen. Diese stehen dem Dichter nahe – als Verwandte, Freunde, Väter und Töchter kenntlich gemacht. Sie verkörpern das ungarische Proletariat, aus dem er selbst hervorgegangen ist. Aufgebrochen aus den Vorstädten und den „krummen, stummen Fernen ihrer grauen Mietskasernen“, kämpfen sie für die Ziele eines neuen sozialistischen Ungarn: um die Scheuern und Fabriken, um eine menschlichere Arbeitszeit und für eine Aufwärtsentwicklung des ungarischen Dorfes. Zugleich wird dieser Kampf – einer der beeindruckendsten und größten Gedanken Józsefs – um den Großen Bären und die Plejaden geführt, d.h. um die menschliche Schönheit, um die grenzenlosen Möglichkeiten und die Größe des Menschen.
Diese Masse, zu der auch der Dichter gehört, reißt wie eine gewaltige Flut alle Requisiten der herrschenden Ordnung fort. Am Kulminationspunkt des Gedichts wechselt dann plötzlich der Ton; nach einem leidenschaftlichen „Oh!“ folgt anstelle der stürmenden Flut die Summierung, der historische Urteilsspruch, in einer Reihe von Fakten – in lakonisch, logisch geformten geometrischen Bildern: Die Masse ist „das Haus und der Erbauer, der Grundstein und das dichte Dach, sie ist der Planer“, der die neue Gesellschaft entwirft. Hier offenbart sich bereits ein Grundgedanke, der in den proletarischen Gedichten des Marxisten József häufig wiederkehrt: Die Arbeiterklasse und die Masse verkörpern jene Kraft, die imstande sein wird, anstelle der anarchisch zerfallenden eine neue, sich harmonisch entwickelnde Wirtschaft und Gesellschaft zu konzipieren und aufzubauen. Dieser Gedankengang  schlägt sich am Ende des Gedichts „Masse“ deutlich nieder: Nach dem eingangs der Blick über die Budapester Straßen und die Kundgebung schweifte und das Gedicht in der anschaulichen Vergegenwärtigung des historischen Prozesses gipfelte, werden die Massen erneut im Abschlußbild mit einem vieldeutigen „Weiter!“ zitiert.
Zukunftserwartung, die unmittelbar bevorstehende Revolution, die Rolle der Massen im Kampf gegen die herrschenden Klasse, gegen Not, Unterdrückung und Faschismus – diese Themen sind in dem Band So hau den Stamm um33 auf unterschiedliche Weise gestaltet. Ein Beispiel liefert dafür das Gedicht „Weizen“,34 das thematisch mit „Masse“35 und „Sozialisten“36 zwar verwandt, in der Form jedoch stärker an der klassischen Tradition orientiert ist. Es stellt gleichsam ein für Arbeiterchöre geeignetes schwungvolles Marschlied mit durchgehendem Refrain dar, das den Gedanken eines gegen den Faschismus gerichteten Zusammenschlusses von Arbeitern und Bauern zur Sprache bringt. Judit Szántó erinnert sich im Zusammenhang mit diesem Gedicht an folgende Begebenheit:

1931, als Attila einen Vortrag hielt, übte ich mit Metallarbeitern in einem abgelegenen Raum das Gedicht „Weizen“ ein. Wir bildeten einen Sprechchor, und die Kraft des Gedichts riß dreißig junge Arbeiter derart mit, daß das drohende Gemurmel zu den Seminarteilnehmern hinüberdrang, als der Chor die letzte Strophe mit gedämpfter Leidenschaft skandierte:

Hierher, alle Ackerbauern!
Hierher, die Traktoren bauen!
Proletarier, steht zusammen!
Rausche, Weizen!37

Attila hielt es nicht bei seinem Vortrag, und seine Zuhörer erhoben sich, ohne zu fragen, fast gleichzeitig mit ihm und kamen zu uns herüber, er stellte sich in den Chor, und wir sprachen mit ihm das ganze Gedicht; seine Stimme übernahm die Führung und dirigierte so daß der Rhythmus seines Gedichts wie die Salve eines Maschinengewehrs im Kampf das drohende Rauschen des Chors durchdrang. Mit leuchtenden Augen lobte er das Gedicht und vergaß beinahe, daß er selbst es geschrieben hatte, so war er vom Elan der Gruppe mitgerissen worden. Die Genossen umarmten und küßten ihn und waren nahe daran, ihn in ihrer glühenden Begeisterung auf die Schultern zu heben.38

Bezeichnend für den Band So hau den Stamm um ist die Vielfalt an Formen zeitgenössischer europäischer Dichtung und der Folklore, in denen der gleichbleibende revolutionäre Inhalt zum Ausdruck gebracht wird. So sind z.B. in dem Gedicht „Die Flut“39 Formen des finnischen Nationalepos Kalevala40 verwendet, das József zu der Zeit durch die Übersetzung seines väterlichen Freundes Béla Vikár41 kennenlernte. Gedankenrhythmus, Parallelismus und Alliterationen des Kalevala dienen als adäquate Mittel zur Darstellung der Unterdrückung, des Aufruhrs und der Befreiung der Bauern. Und in dem Gedicht „Zwiesprache“42 wird eine Auseinandersetzung zwischen Bourgeois und Proletarier an der Schwelle eines Streiks ausgetragen – dieses Mal in Hexametern, einer Form also, die traditionell völlig anderen Inhalten vorbehalten ist. Dies Gedicht ist tatsächlich anläßlich eines Streiks entstanden und in der ungarischen Lyrik insofern bemerkenswert, als sich die in der Arbeiterbewegung entstandene Flugblatt-Diktion erstaunlich exakt und ohne jede Gezwungenheit in die klassische Form einpaßt.
Neben den unmittelbar revolutionären Gedichten enthält der genannte Band auch eine Gruppe von Gedichten, in denen Elemente und Bilder aus der biblisch-religiösen Vorstellungswelt des Volkes in soziale Beziehungsfelder übertragen wurden (Bethlehem43, „Drei Könige in Bethlehem“44).
Einem weiteren Gedichttyp dieses Bandes liegt die Überlegung zugrunde, daß der Dichter seine eigene Individualität verändern müsse, um ein revolutionärer Kämpfer und Dichter sein zu können. Die Problematik dieser Forderung wog bei József um so schwerer, da er bekanntermaßen eher zu Sanftheit und Güte, Zärtlichkeit und Charme neigte. Und dennoch hatte er das Gefühl, es werde ein Moment kommen, da er, ohne von der Güte und Liebe abzulassen, sich in Härte werde bewähren müssen. Diese Absicht, im entscheidenden Augenblick hart sein zu wollen, korrespondiert offenbar mit ähnlichen Thesen in einigen frühen Stücken von Bertolt Brecht. Die Wandlung zum Revolutionär bestimmt u.a. die Grundaussage in dem Gedicht „Kummer“,45 das in der Form auf Volksballaden zurückverweist. Darin ist die Rede vom Hirsch, der einst scheu durch die Wälder zog, jedoch zum Wolf werden mußte und sich nur in Träumen an sein Hirsch-Dasein erinnert. Dieses Hirsch-Motiv taucht auch in der um die gleiche Zeit entstandenen Cantata profana46 von Bela Bartók auf und geht bekanntlich auf eine rumänische Volksballade zurück. Doch haben Wald, Hirsch und Wolf bei dem linksbürgerlichen humanistischen Komponisten und dem revolutionären Dichter jeweils eine andere Bedeutung; ein Beispiel dafür, wie sich der Sinn der Symbole bzw. Zeichen je nach dem Kontext wandeln kann.
Ein anderer Aspekt revolutionärer Haltung ist in dem Gedicht „An die Akazien“47 ausgedrückt. Hier setzt sich József mit dem Verhältnis des Revolutionärs zu den Massen auseinander, er bedient sich der in der europäischen Lyrik und Malerei häufig benutzten Baum-Metapher. Die Akazie ist der für das ungarische Dorf typische Baum, der auch im Flugsand Halt und Nahrung findet – dann sieht der Dichter die exemplarische Bedeutung: Wurzeln schlagen in den Massen, säuseln auf jedes Vertrauen48, wissen um alle Sorgen und Probleme der Menschen. In diesem Bild ist das Lebensprogramm des kommunistischen Parteiarbeiters gefaßt, denn die Akazie steht nicht allein, sondern mit anderen zusammen am Dorfrand, und das gibt Kraft, denn „nicht Schicksal ist das Einzellos“.49 Ebenfalls um die Frage von Individualismus und Kollektivität geht es in dem Gedicht „Der Kleinbürger“.50 Die Stoßrichtung ist unmißverständlich, auch selbstkritisch, wenn sich József gewissen Illusionen seines früheren Ichs stellt und in kraftvollen poetischen Bildern vor den Konsequenzen der Schwäche und der Hinfälligkeit des isolierten Individuums warnt.
Auf diese Weise entsteht bei József ein Bild des Revolutionärs, d.h. des mündigen Menschen, für den die Ausgewogenheit von Güte und Härte, Gefühl und Verstand, Ruhe und Kampf kennzeichnend sind. Und auf diesem schweren Weg zum Revolutionär und mündigen Menschen tauchte nach langer Zeit aus der Erinnerung wieder das Bild der Mutter auf:

MEINE MUTTER

Sie faßte mit den beiden Händen
das Töpfchen gegen Sonntag abend.
Sie lächelte still vor sich hin
und saß ein Weilchen in der Dämmrung.

In einem Teller bracht sie Essen
nach Haus von ihren Exzellenzen.
Im Bett dachte ich darüber nach,
daß die wohl einen Topf voll essen.

Die Mutter ist zu früh gestorben,
denn kurz leben die Wäscherinnen.
Es zittern ihnen leicht die Beine,
und Kopfweh kriegen sie vom Bügeln.

Gebirge heißt für sie: Schmutzwäsche.
Nervenberuhigend soll Dampf sein.
Dachböden bieten Möglichkeiten
für sie zur Luftveränderung.

Sie blieb bei ihrem Bügeleisen.
Die Arbeit beugte ihre zarte
Gestalt. Sie wurde immer schmäler. –
Denkt daran, denkt daran, Proleten!

Sie wurde langsam krumm vom Waschen.
Ich wußte nicht, daß sie noch jung war.
Im Traume trug sie saubre Schürzen.
Der Briefträger grüßte sie manchmal
.51

Aus den Tiefen der Erinnerung und des Traums wird hier zunächst das Bild einer Frauengestalt heraufbeschworen, die nur allmählich reale Konturen annimmt. In der zweiten Strophe tritt der Dichtet selbst hervor, und erst in der dritten wird offenkundig, daß es „die Mutter“ (im Original „meine Mutter“) ist. Die Vision der Mutter erscheint in einem realen Kontext und erhält dadurch die weiter gefaßte Bedeutung der proletarischen Mutter überhaupt. Das persönliche Bekenntnis erfährt seine neue Dimension, spricht eine allgemeingültige Erfahrung aus und wird zum Memento:

denn kurz leben die Wäscherinnen.

Ihr schweres Los ist in der vierten Strophe aus der Distanz und mit Sarkasmus veranschaulicht. Die Mutter hält beim Bügeln inne, und es folgt – im Original mit harten Stabreimen – die knappe und unumstößliche Lehre:

Die Arbeit beugte ihre zarte Gestalt (Törékenv termetét a tőke megtörte).52

Dann erneut das Traumbild, in dem ein zweiter Traum, der der Mutter, zitiert wird:

… trug sie saubre Schürzen. Der Briefträger grüßte sie…

Das Gedicht kennzeichnet ein spezifisches Gleichgewicht von lyrischer Zartheit und politischer Härte, kindlich-persönlicher Anhänglichkeit und allgemeiner Situationsbeschreibung, von proletarischer Erlebenswelt und hohem Grad künstlerischer Gestaltung von Traumbildern und der Wirklichkeit. Es ist gleichsam ein Beispiel dafür, welch hohes ästhetisches Niveau diese neue revolutionäre Lyrik hat, die von einem tiefen persönlichen Erleben durchdrungen ist. Die Mahnung Józsefs: „Denkt daran, denkt daran, Proleten!“ bestimmt auch seine nachfolgende Dichtung, die letztlich mit zum Bewußtwerdungsprozeß der Proletarier beitrug.
Die Frage nach der Bedeutung der revolutionären Sturm- und Drang-Periode Józsefs, also der Zeit unmittelbar agitatorischer Tätigkeit, kann unterschiedlich beantwortet werden. Einige erblickten darin den Höhepunkt und die Vollendung, ja den einzigen Sinn seines gesamten Lebenswerkes, andere hingegen würden – auch heute noch – diese Jahre am liebsten aus seinem Leben streichen. Für uns stellen sich die Gedichte des Bandes So hau den Stamm um nicht als unübertroffene Gipfelleistung eines Werkes dar, da József nach unserer Überzeugung in der darauffolgenden Zeit tiefer in das Wesen der Dinge eindrang; doch dürfte diese kurze Zeitspanne den Wendepunkt in seiner Lyrik markieren. Der Anschluß an die organisierte Arbeiterbewegung, die Tatsache, daß József zu den Arbeitern zurückgefunden, die Wirklichkeit genauer kennengelernt sowie ein Zuhause und die innere Ausgeglichenheit wiedererlangt hatte, halfen ihm später unter weit schwierigeren Bedingungen menschlich und künstlerisch zu bestehen.

Auf neuen Wegen: Marxistische Arbeiterdichtung
Die Jahre von 1931 bis 1934, in denen die Gedichtbände So hau den Stamm um (1930), Nacht in der Vorstadt (1932) und Bärentanz (1934) erschienen, waren vor allem im Hinblick auf die politische Entwicklung äußerst schwer. Die Welle der Revolutionserwartungen war vorüber, und beinahe zeitgleich mit der Machtergreifung Hitlers in Deutschland traten auch in Ungarn offen faschistische Kräfte die Macht an. Bereits 1931 wurde das Standrecht verkündet, und im Juli 1932 wurden zwei hervorragende Führer der illegalen KPU, Imre Sallai53 und Sándor Fürst,54 festgenommen und allen Protesten zum Trotz (auch Attila József verfaßte ein aufrüttelndes Flugblatt gegen die Todesstrafe55 und ließ es von Schriftstellern mitunterzeichnen) am 29. Juli hingerichtet. Die 1932 unter Ministerpräsident Gyula Gömbös56 gebildete Regierung setzte sich aus der jüngeren, aggressiveren zweiten Generation konterrevolutionärer Kräfte zusammen und leitete eine demagogische Radikalisierung nach rechts ein. Die faschistische Machtübernahme in Deutschland und der Rechtsruck in Ungarn wirkten sich auf breite Kreise der Intelligenz deprimierend aus; hinzu kamen die Dezimierung der illegalen Kommunistischen Partei, die Aktionsunfähigkeit der legalen Arbeiterbewegung und die Schwäche liberaler bürgerlicher Gruppen. Dies alles rief unter den Intellektuellen eine Art Panik hervor. So berechtigt man um 1930 von einer Linkswendung im ungarischen geistigen Leben sprechen konnte, so offensichtlich war dann bei vielen 1933/34 die tiefe Entmutigung. Die einen resignierten infolge totaler Perspektivlosigkeit, andere suchten die Lösung auf einem spezifischen dritten Weg. Diese Orientierung bedeutete Abkehr von der Arbeiterbewegung sowie den Versuch eines Arrangements mit der Regierung oder eine ausschließliche Hinwendung zur Bauernschaft. Aus dieser Krisensituation heraus entstand die heterogene sogenannte Volkstümlerbewegung,57 die viele demokratische und plebejische Bestrebungen in sich vereinigte, aber auch gefährlichen Versuchungen ausgesetzt war. József schlug keinen dieser Wege ein, sondern gehörte zu den wenigen Schriftstellern, die auch unter den zunehmend schwierigen und komplizierten Bedingungen ihren Ideen, dem Marxismus, der Arbeiterbewegung und der sozialistischen Lyrik treu blieben.
Zum verstärkten Druck und den Bedrohungen der Umwelt gesellte sich im persönlichen Leben des Dichters die unmittelbare materielle Not: Seine Frau wusch Fußböden auf, und er rannte umher, um „sich zu verdingen / für irgendeine Schreibarbeit“.58 Ohne feste Arbeit, nur mit einem geringen Einkommen, hatte sich der kommunistische Dichter nach mehreren Attacken gegen die bürgerlichen literarischen Foren den Zugang dorthin so gut wie versperrt. Die materiellen Sorgen hörten indessen nicht auf. Die Wohnung ungeheizt, die Schuhe unbesohlt, mit der Miete im Rückstand, die Schreibmaschine in der Pfandleihe – was hier romantisch anmuten mag, war für den Dichter Mitte der dreißiger Jahre bittere Realität. Wie bedrückend diese Not war, zeigt Józsefs schlichte Feststellung in einem Brief:

An den Hunger hab ich mich gewönt.59

Hinzu kam sein sich verschlechternder Gesundheitszustand, der ihm hart zusetzte und seine Konstitution zusehends schwächte; eine um diese Zeit eingeleitete psychoanalytische Behandlung wurde vom nüchtern abwägenden Arzt als aussichtslos abgebrochen.
Und doch war dieser Zeitabschnitt der zunehmenden Vereinsamung und Isolierung, des bedrückenden Elends und der fortschreitenden Krankheit für den Dichter auch eine Zeit ununterbrochenen Aufstiegs.
Eine neue originäre Variante des Realismus erschien in seiner Dichtung. Das Ende 1931 entstandene Gedicht „Arbeiter“60 markierte diese Wende. Hier ist keine Spur mehr von Allgemeinplätzen über den Arbeiter schlechthin, über den schemenhaft abstrahierten und stilisierten Arbeiter, wie sie sich in der Nachfolge der expressionistischen Dichtung in der Lyrik der Arbeiterbewegung eingebürgert hatten. Hier spricht der Dichter, der das Leben zutiefst kennt, der auch die Hinfälligkeit und die Widersprüche des Arbeiterschicksals klar sieht, miterlebt und keineswegs beschönigt. Als József auf Ersuchen der Roten Hilfe61 das Gedicht „Die Solidarität“62 schrieb – übrigens in der Form Villonscher Balladen –, erhielt es seine Wirkung durch äußerste Konkretheit in der Darstellung der Wirklichkeit, durch die erschütternden Bilder, und dies macht die Authentizität seines politischen Bekenntnisses aus. Doch József verharrt nicht beim Aufdecken der vorurteilslos erkannten Realität; das Bild faßt er in ein gedankliches System, in eine intellektuelle Konzeption. „Das Kapital bewegt die gelben Kiefer“63 – so beginnt das Gedicht „Arbeiter“ und endet mit einer Vision von den Kommunisten, die für die Arbeiterschaft kämpfen:

Denn auf dem mächtigen Fließband der Geschichte
montiern sie ihre kühn entworfne Welt,
in der ihr Stern mit nelkenrotem Lichte
die alte Feindin, die Fabrik, erhellt
.64

Für József war das Kunstwerk eine „durch Inspiration fixierte Wirklichkeit“,65 und darin – wie beide, Realität und gedankliche Durchdringung, kleine Details und umfassende Konzeption, exakte Beobachtung und totale Wirklichkeitssicht im Einzelnen und im Ganzen eine Harmonie bilden – liegt die einmalige Größe des Gedichts.
Auch dieses Gedicht geht in der Form auf Villonsche Balladen zurück; das Neue resultiert aus dem Inhalt und ist in zwei konstitutiven Elementen faßbar. Zum einen ist es die marxistische Weltanschauung, und zwar die dem Wortsinn gemäße „Anschauung“ des Dichters von der Welt und den gesellschaftlichen Prozessen. Diese wiederum werden in sinnlich anschauliche poetische Bilder umgesetzt. So erscheint das Kapital als Ungeheuer mit „gelben Kiefern“, oder es wird vom „mächtigen Fließband der Geschichte“ gesprochen. Die aus der persönlichen Sicht geschaffenen Bilder mit marxistischem Ideengehalt entstammen beinahe ausnahmslos der Lebens- und Arbeitssphäre des Industrieproletariats. In der ungarischen Lyrik ist weder vor noch nach József der Komplex der Industriebetriebe mit solch einer Eindringlichkeit und Plastizität gestaltet worden. Zum anderen war es etwas völlig Neues, vom Alltag des ungarischen Proletariats ein illusionsloses, eben reales Bild zu erhalten das sich aus vielen genau beobachteten Details zusammensetzt und in eine einheitliche Anschauung fügt. Konsequenterweise fehlt in Józsefs Bild vom Arbeiter auch nicht die Verelendung und Verzweiflung, doch zugleich – denn dies wäre nur die halbe Wahrheit – gewinnt am Schluß des Gedichts das „Trotzdem“ Gestalt: Denn trotz der Verelendung ist es die Arbeiterklasse, die eine neue Ordnung, „ihre kühn entworfene Welt“,66 schaffen wird.
Józsefs Überzeugung, daß es eine Lösung gibt und der „Stern mit nelkenrotem Lichte (die alte Feindin, die Fabrik, erhellt“,67 gründet sich auf die Kenntnis des Geschichtsverlaufs und resultiert aus dem Wissen, daß die Kommunisten diesen Geschichtsverlauf lenken. Poetisch umgesetzt ist dies im Schlußbild, in dem „die siegreiche Logik der gesellschaftlichen Kräfte in der modernsten, attraktivsten Konstruktion der großbetrieblichen Technik personifiziert wird“.68
Leitete das Gedicht „Arbeiter“ mit dem für József charakteristischen poetischen Formenreichtum eine neue Periode ein, so gilt das Augenmerk im folgenden einem Gedichttyp, den wir für seinen wichtigsten Beitrag zur Entwicklung der ungarischen Lyrik erachten. Gemeint sind die Gedichte „Nacht in der Vorstad“,69 „Am Rand der Stadt“,70 Winternacht“,71 „Ode“,72 „Elegie“73 und „Gelegenheitsgedicht“,74 mit denen József ein neues Modell der marxistischen Gedankenlyrik in Ungarn schuf.
Von der Form der lyrischen Rhapsodie in Verhaerens Großstadtfresken dürfte József manche Anregung erhalten haben, so auch für das Gedicht „Nacht in der Vorstadt“. Nur ist ihm jede symbolistische Verschwommenheit der Konturen fremd, denn seine aus scheinbar heterogenen Elementen aufgebauten lyrischen Rhapsodien werden durch eine außerordentlich straffe und exakte innere Komposition zusammengehalten. Eines der organisierenden Prinzipien der Nacht in der Vorstadt ist dabei die Stille. Diese trägt eine Reihe bestimmter Bedeutungen; unter ihrer Oberfläche wirken Leidenschaften und heftige Spannungen, Kontrast und Widerspruch, die u.a. in der scheinbaren Gleichgültigkeit der Massen und den auf „Auferstehung“ harrenden Betrieben zum Ausdruck kommt. Am Rand des Bildes taucht dann der Dichter selbst auf und wacht, wie später in der „Winternacht“, über den Schlaf seiner Brüder und den Gang der Geschichte.
Zur „Nacht in der Vorstadt“ und „Winternacht“, aber auch zu anderen Nacht-Gedichten gibt es Analogien in der Nachtmusik und in einigen weiteren Kompositionen des großen Zeitgenossen Bela Bartók.
Dazu schrieb der Musikwissenschaftler Bence Szabolcsi75:

Es geht nicht etwa darum, ob Bartóks Werk in irgendeiner Weise, mittelbar oder unmittelbar, József beeinflußt hat. Hier handelt es sich um voneinander unabhängige Formen und Kompositionen, die jedoch in der Aussage und im Entwurf einen gemeinsamen charakteristischen Zug aufweisen. Uns scheint, daß diese großen Nacht-Phantasien bei aller Unabhängigkeit zutiefst miteinander verwandt sind, da in ihnen die Situation des Menschen im All, genauer: die Stellung des wachenden Menschen in einer öden und teilnahmslosen, dennoch alles vereinnahmenden nächtlichen Welt ähnlich oder in gleicher Weise empfunden und sinnfällig vergegenwärtigt wird. Der Mensch wacht, denn so kann er Bruder und Herr des ihn umgebenden Universums werden, das stumm ist und doch hell tönt, schläft und dennoch wirkt.
Vielleicht sind es dieser Ton und dieses Weltbild, in denen sich die beiden Dichter einer finsteren Zeit einander am nächsten kamen. Im Gebot des Wachens manifestierte sich ihre tiefe Verwandtschaft, und dieses Mahnwort scheint eine gemeinsame Antwort auf die Frauen der großen Nacht gewesen zu sein, die alle fiebernden und hoffenden Menschen jener Zeit umgab
.76

In dem Gedicht „Winternacht“, das mit der Zeile „Nimm dich in acht!“77 – einer Mahnung des Dichters an sich selbst – beginnt, ist die Szenerie mit ihren Perspektiven noch weiter gefaßt und von einer beinahe schon kosmischen Kälte durchdrungen. Spuren menschlicher Wärme lassen lediglich die fernen Dörfer und Betriebe erkennen, und Bewegung in der Starrheit zeigt sich, wenn ein Güterzug ins Flachland hinausrollt oder der Bauer müde heimkehrt, „als ginge er aus dem Leben fort“.78 Der Gegensatz zwischen menschlicher Wärme und Kälte der Zeit ist hier nahezu universell und die Stille der Frostnacht letztlich mit dem unerbittlichen Vergehen und dem Tod gleichzusetzen. Und dennoch wacht der Dichter auch in dieser Frostnacht, kämpft er bereits erbittert gegen das Gesetz, das dieser Ordnung zugrunde liegt, und gegen die Kälte der Natur an. Er gibt sich nicht von vornherein geschlagen, nimmt die Isolierung nicht als letzten Urteilsspruch hin, sondern ringt um eine Rückkehr aus der Kälte der Zeit in die Hoffnung, in die Gemeinschaft der Menschen und zum wärmenden Feuer der Revolution.

Die großen philosophischen Gedichte: „Elegie“, „Am Rand der Stadt“ und „Ode“
Die Gedichte „Elegie“, „Am Rand der Stadt“ und „Ode“ wurden von József als Tryptychon konzipiert und in hoher künstlerischer Vollendung ausgeführt. Sie repräsentieren seine bereits mehrfach erwähnte Gedanken- beziehungsweise Weltanschauungslyrik.

ELEGIE

Wie unter bleiernem Himmel der Rauch
träge über das traurige Land zieht,
so schwebt meine Seele auch,
die tief hinab sinkt.
Schwebt, nicht schwingt.

Du harte Seele, du sanfte Phantasie!
Folgst du der Wirklichkeit schweren Spuren
bis hin zu dir, wo du geboren –
schau nieder hier!
Hier, wo unter seichtem Himmel die kahlen
Brandmauern einsam ragen,
fleht und droht
die gleichgültige Stille der Not,
löst die verkrusteten Schmerzen
von den sinnenden Herzen
und vereint
millionenfaches Leid.

Hier keimt
die ganze menschliche Welt. Trümmerhalden.
Wolfsmilch öffnet zählebig
in öden Werkhöfen ihre Dolden.
Auf fahlen Stufen steigen
die Tage brüchige Fensterscheiben
hinab in das klamme Halbdunkel.

Sprich!
Von hier bist du,
daß dieses düstre Verlangen
dich ständig festhält,
wie all die Elenden zu sein,
aus denen diese Zeiten schrein,
die Gesichter gezeichnet, entstellt?

Hier ruh dich aus, wo dies gefräßige System
morsche Bretterzäune umstehn
und behüten,
geifern, wüten.
Erkennst du dich? Hier erwarten die Seelen
eine durchkonstruierte, beständige, bessere Zeit
so leer, wie sich unbebaute Flächen quälen
im dumpfen, selbstvergessenen Traum
von lärmender Geschäftigkeit
und hohen Häusern. Ihr geschundenes Gras
beschaut schlammverkrustetes Glas
mit glanzlosen, starren Augen.
Ein Fingerhut Sand rieselt zuweilen
von den Halden. Drüber schwirren, eilen,
blaue, grüne oder schwarze Fliegen,
die von feineren Gegenden hierherziehen
Plunder und
Schutt.
So hat Mutter Erde auch hier gedeckt, daß
sie auf eigene Art
ihre Zinsen abzahlt.
In einem Eisentopf wächst gelbes Gras.

Ist dir bewußt,
welchen Bewußtseins kärgliche Lust
dich zieht und lockt, niemals von hier zu scheiden
und welch reiches Leiden
dich hierher stößt?
So flüchtet zu seiner Mutter der Sohn,
der in der Fremde nur Schläge fand und Hohn.
Wirklich
kannst du nur hier lächeln, nur hier weinen.
Hier nur bist du mit dir selbst im reinen,
o Seele! Dies ist mein Land
.79

Über dieses Gedicht sagte József in einem Gespräch, das am 5. Juli 1936 in einer Zeitung abgedruckt wurde:

Da ist zum Beispiel die „Elegie“, in der ich eine Vorstadtlandschaft beschreibe. Um ein Gefühl der Öde auszudrücken, kommt es gelegen, daß es solche Vorstadtpartien gibt, in die ich dieses Gefühl hineingießen, hineinweinen kann. Andererseits kann einen solch ein Gefühl der Öde überkommen, weil es solche Vorstadtpartien gibt.80

Die „Elegie“ ist im Grunde genommen eine Antwort Józsefs an sich und seine Zeitgenossen auf die Frage nach der Klassenzugehörigkeit, nach dem Woher und Wohin. Entdeckten andere Schriftsteller jener Zeit ihre wohlbehütete bürgerliche Kindheit oder redeten einer romantisierten dörfischen Herkunft das Wort, so bekannte er sich mit trotziger Anhänglichkeit zur Vorstadt, zu der dort verbrachten proletarischen Kindheit. Der tiefhängende Rauch, mit dem die Bilderfolge der „Elegie“ einsetzt, beschwört gleichsam die Stimmung der Budapester Industrielandschaft und die des Dichters herauf, der mit der öden Landschaft zugleich seine eigene vereinsamte Situation ausschreitet. Illusionslos folgt er „der Wirklichkeit schweren Spuren“, ohne sich in Träume zu flüchten, steigt er „hinab in das klamme Halbdunkel“, der Selbstkonfrontation entgegen. Die harte, kahle Landschaft ist das Zuhause einer Menschengemeinschaft, in der seine Einsamkeit und seine Gedanken aufgehen können und die individuelle und kollektive Not als eins faßbar wird. Es folgen aufeinander zwei kurze einfache Aussagesätze, die Urworten gleich in das Gedicht eingesetzt sind. Der eine: „Hier keimt die ganze menschliche Welt“, knüpft an den Grundgedanken des Gedichts „Arbeiter“ an, daß nähmlich die Arbeiterklasse aus solcher Landschaft aufbricht, um die Welt zu verändern. Und der andere: „Trümmerhalden“, deutet auf den finsteren, unfertigen, vorzeitlichen Zustand hin.
Der Dichter entdeckte und gestaltete das spezifisch Schöne, wenn man so will, das Ästhetische in der Vorstadtlandschaft („In einem Eisentopf wächst gelbes Gras“). Er fragt sich selbst, was ihn an dieses von einem „gefräßigen System“ ausgelaugte Stück Erde, umstellt und bewacht von „morschen Bretterzäunen“, bindet, „welchen Bewußtseins kärgliche Lust“ ihn zieht und lockt. Die Antwort lautet: „Wirklich / kannst du nur hier lächeln, nur hier weinen. / Hier nur bist du mit dir selbst im reinen“; die Überwindung seiner Einsamkeit und der Anspruch, seiner Dichtung einen Sinn zu geben, erforderten geradezu diese Heimkehr und Identifizierung mit den Menschen der Vorstadt. Gab es in der ungarischen Literatur bis dahin Hymnen auf die Einöde des Tieflands, auf versteckte kleine Dörfer und die Lichter der Großstadt – so brachte József insbesondere mit diesem Gedicht die Vorstadt als Thema in die ungarische Lyrik ein.
Als Gegenstück zur „Elegie“ entstand gleichsam ein in Dur-Tönen gehaltenes Gedicht, das József zuerst „Ode“ nannte, dem er jedoch später den Titel „Am Rand der Stadt“ gab. Damit ist zugleich die Gegend bezeichnet, in der er damals wohnte: am Fuß eines Eisenbahndamms, inmitten qualmender Fabrikschornsteine.
Alle bisherigen Gedichtaussagen zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Proletariats sind hier gewissermaßen noch einmal in Thesen zusammengefaßt. ,,Obgleich das Gedicht auch eine Folge von Illustrationen zum wohlverstandenen historischen Materialismus sein könnte, ließen die individuelle Logik und Phantasie den Dichter auch dieses Mal nicht im Stich“, schreibt András Fodor, ein Vertreter der ungarischen Gegenwartslyrik, und er fährt fort:

Die schneidend-einprägsame Bestimmtheit der Begriffe und die entdeckerische Frische der Metaphern geleiten den Leser von Strophe zu Strophe. Häufig ist es gerade die ungezwungene Schlichtheit der Beobachtung, die einzelne Feststellungen zu Offenbarungen erhebt.

Auch das brennende Blut, das reinige uns nicht –
wir sind eine andere Schar.
Wir reden anders, und anders klebt
auf unseren Schädeln das Haar.
Fern von Gott ein Volk, das der Materie gehört,
der Materie, die uns gebar,

dem Eisen, der Kohle, dem quellenden Öl.
Das goß uns unbändig und heiß
in die schrecklichste Gesellschaftsform
und gab uns dem Leben preis,
daß wir stehn wie der Fels auf dem ewigen Boden
für die Menschheit und ihren Schweiß.81

Und Marxens Gedanke, daß die Arbeiterklasse Erbin aller von der Menschheit geschaffenen kulturellen Werte sein werde, klingt auf originelle Weise aus Attila Józsefs Zeilen wider:

Nach Priestern, Soldaten und Bürgern sind wir
die Hüter der Tradition,
in uns ist erstanden und lebt und wirkt
der Gesetze getreuer Sohn,
in dem der Sinn allen Menschenwerks braust
wie tiefer Orgelton.82

Das letzte Drittel des Gedichts ist mit der Zitierung der ersten Worte der Internationale (im Original: Föl, föl! = Auf, auf!) ein offenes Bekenntnis zur Klasse der kommenden Siege.83

Die letzte Strophe des Gedichts „Am Rand der Stadt“ war wiederholt Gegenstand von Diskussionen, vielfach interpretiert von Zeitgenossen und Nachfahren. Feststeht, daß József hier einen seiner wichtigsten Gedanken in eine prägnante Form gebracht hat: Der Kampf um die neue Gesellschaft durch Veränderung der Produktionsverhältnisse muß mit dem Kampf um die Umformung des Menschen verbunden werden. Der „Trieb in unserer Brust“84 war für József ein zutiefst persönliches Problem, auch ihn galt es im Kampf gegen die Krankheit zu disziplinieren. „Äußeres“ und „Inneres“, beides verlangte nach der Einheit von Ordnung und Empfinden.

Und wir offenbarn unsre Fähigkeit,
wir sind unsrer Ordnung bewußt,
des Verstands, der das Endlich-Unendliche faßt
und ordnet mit Fleiß und mit Lust:
Draußen die produktive Kraft
und den Trieb in unserer Brust
85

Den Titel „Ode“ erhielt 1934 Józsefs großes materialistisches Liebesgedicht, das in bezug auf die künstlerische Aussagekraft und Universalität in der ungarischen Lyrik zwischen den beiden Weltkriegen kaum seinesgleichen hat:

1
Hier auf der glitzernden Felsenwand
sitz ich; ein Lüftchen
des jungen Sommers schwebt sanft wie die Wärme
eines behaglichen Abendmahls.
Stille ringsum. Hier gewöhn ich an sie
leichter mein Herz…
Schon drängt heran, was seit langem entschwand.
Der Kopf ist gesenkt, und es hängt meine Hand
erdwärts.

Mein Blick streift Mähnen von Hügeln –
und ich seh: Ihre Blätter all spiegeln
deiner Stirne Glanz.
Menschenleer sind die Wege, zerklüftet,
doch ich sehe: Der Wind springt und lüftet
deinen Rock wie beim Tanz,
und in dem spröden Sträuchergezelt
seh ich dein Haar, wie nach vorn es fällt
über die zarte Brust, und
– springt die Szinva über Steine,
weiße, runde – seh ich deine
Zähne, und es springt dein Lachen
zaubrisch aus des Baches Grund.

2
O wie heiß
liebe ich dich,
die du im tiefsten Herzabgrund der tückischen Einsamkeit
und die du dem All
gleicherweise Rede verleihst!

Dich, die wie der Wasserfall vom eigenen Gedröhn
sich von mir löst und mir flink entstiebt,
während ich vor meines Lebens steilsten Höhn
in der Näh der Ferne sing und klage,
mich am Himmel und mich an der Erd zerschlage,
daß ich dich, du süße Bitternis, daß ich dich lieb!

3
Ich liebe dich wie seine Mutter das Kind,
wie die Grotten den Ort, wo ihr Dunkel beginnt,
wie die Hallen das Licht, das sie durchrinnt,
wie die Seele Unrast, der Leib Rast,
wie das Leben lieben, die sterblich da sind,
bis der Tod nach ihnen faßt.

Ich bewahre von dir jeden Hauch, jeden Hall,
wie die Erd, was ihr zufällt, bewahrt.
Ich grub dich mit meinen Instinkten all
in den Grund des Gehirns, so wie in Metall
Säure ein Bild ätzt. So füllst du prall
meine Leere mit deiner Art.

Die Sekunden ziehn mit Gerassel dahin,
du schläfst stumm in meinem Ohr.
Die Sterne steigen und stürzen hin,
du stehst still mir im Aug, trittst nicht vor.
Wie Schweigen in einer Höhlung schwingt,
so fühl ich, wie kühl meinen Mund durchdringt
der Geschmack deines Munds. Und vertraut
aus dem Wasserglas, dem sprenkligen, springt
die Äderung deiner Haut.

4

Welch ein Stoff war’s, der in mir Gestalt gewann,
daß dein Blick mich so formt und füllt?
Welche Flamme hob mit mir zu brennen an,
daß den Nebel des Nichts ich durchdringen kann
und begehen talabwärts und hügelan
deines Leibes fruchtbares Gefild?

Und daß ich eingehen kann in deine Geheimnisse, wie das
Wort eingeht in einen erschlossenen Sinn…
Rosensträucher, vom Winde bewegt,
so zittert dein kreisendes Blut,
ewiger Strom, der das Leben trägt,
daß mein Lieben entfacht deiner Wange Glut
und segne die Frucht, die im Schoß dir ruht.

Humusgrund ist dein Magen, von jungen
säftepumpenden Wurzeln durchdrungen,
Fäden, gelöst bald und wieder verschlungen,
deinem blühenden Gewebe verdungen,
nähren die Zellen mit winzigen Zungen,
daß das Gebüsch deiner laubigen Lungen
rausche den Ruhm seiner Herrlichkeit!
In dir wandern selige Schwärme
ewigen Stoffs im Kanal der Gedärme,
und der kochende Sprudel der Nieren
ist’s, der selbst Schlacken Verjüngung verleiht.
In dir erheben sich Hügel, die wogen,
Nordlichter flimmern und Regenbogen,
Werkhallen tosen dort, fließbanddurchzogen,
in dir jauchzt von lebendigen Tieren
wimmelnd eine Millionenheit:
Algen,
Hydren,
Tang,
Güte und Grausamkeit,
Sonnen, Saturne, ein Sternbild, das schwindet,
und in deine Materie mündet
unbewußt alle Ewigkeit.

5
Brocken geronnenes Blut
Fällt Wort um Wort
rot vor dich hin.
Das Leben stottert im trunkenen Mut.
Das Gesetz aber spricht mit nüchternem Sinn.
Meine Zellen, die rastlos sich mehren,
mich alltäglich neu zu gebären,
sind bald verdorrt.

Doch bis zu dieser Stund brülln sie nach dir!
Du: Eine, Einzige, auserlesen
aus zwei Milliarden Menschenwesen,
wohnliche, weiche Wiegestätt,
Grab voll Kraft, lebendiges Bett,
nimm mich in dich!

Wie hoch doch der Himmel sich aufwölbt im Morgen, der dämmert!
Heere glitzern in seinem Erz.
Der Speer seines Lichts sticht mein Aug aus.
Ich bin verloren.
Über mir hämmert
mein Herz.

6
(Nebenlied)
Der Zug rollt an. Ich fuhr dir nach.
Vielleicht find ich dich heute noch.
Vielleicht verlöscht mein Glutgesicht.
Vielleicht sprichst du dann leis zu mir:

Das Wasser plätschert. Wasche dich.
Hier hängt das Handtuch. Trockne dich.
Hier zischt am Herd das Fleisch im Fett.
Hier, wo ich liege, ist dein Bett
.86

Das Gedicht entstand auf Grund einer zufälligen, flüchtigen Begegnung mit einer Frau und ist der sehnsuchtsvolle Ausdruck einer nie zustande gekommenen Beziehung. Und doch ist in dieses Traumgedicht die ganze Welt miteinbezogen, wird in einer einzigen großen Vision der Weg aus der Vergangenheit zur möglichen Zukunft heraufbeschworen. Dieser führt – um nur die Weite des Bogens anzudeuten – von der nachdenklichen Stille der Einsamkeit zur Vereinigung mit der Gefährtin, von impressionistischen Bildern bis zum ekstatischen Aufflammen. In klaren einfachen Bildern und Vergleichen („Ich liebe dich wie seine Mutter das Kind… wie die Seele Unrast, der Leib Rast“) dringt der Dichter bis an die Grenzen der Beziehungen zweier Menschen vor. Die Liebe der Gefährtin wird ihm unabdingbare Voraussetzung für die volle, harmonische Entwicklung seiner Persönlichkeit, und so sehnt er sich nach einer Frau, „auserlesen aus zwei Milliarden Menschenwesen“ durch das scheinbar blinde, aber erhebende und sinngebende Gefühl der Liebe. Neben den politischen Zielsetzungen ist es in der Folgezeit gerade diese Forderung nach der vollen Ausbildung und Harmonie der Persönlichkeit, die stets aufs neue verkündet wird. Damit folgt József bewußt dem Anspruch Petőfis auf „Freiheit und Liebe“87 und geht über diesen hinaus, indem er „Geist und Liebe“ als Erzeuger der Menschheit88 faßt.
Wie so viele Gedichte Józsefs ist auch die „Ode“ auf einige grundlegende Gegensatzpaare aufgebaut, von denen sich das folgende: „Das Leben stottert im trunkenen Mut. / Das Gesetz aber spricht mit nüchternem Sinn“, durch sein gesamtes Lebenswerk zieht. Die Erkundung dieses Verhältnisses von Sein und Gesetz wird in dem Gedicht überdies durch die sinnlich-anschauliche Gestaltung des Gegensatzes und der Identität von Äußerem und Innerem, von Körper und Geist vertieft. In einem Teil des Gedichts wird „das fruchtbare Gefild des Leibes“ der geliebten Frau beschrieben, und zwar überaus einfühlsam und leidenschaftlich. Auch in diesem biologisch anmutenden Teil ist ein neuer Gedanke, der der Gleichberechtigung von Mann und Frau, auf eine in der ungarischen Literatur unvergleichliche Weise poetisch geformt: Denn der Mann tritt hier weder in gesellschaftlicher, emotionaler noch sexueller Hinsicht als ein Eroberer auf, der sich der Frau bemächtigt, sondern erweist sich als gleichrangiger Partner in der Vereinigung und Gemeinsamkeit zweier Menschen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die sehnsuchtsvolle schlichte Melodie des Nebenlieds, das sich den hymnischen Odenpartien anschließt. Attila Tamás89

bemerkt dazu:

Die im Grün des dichten, von einem Lufthauch bewegten Blattwerks erblickte geliebte Gestalt und die Wege der ,ewigen Materie‘, die sich in ihrem Leib abzeichnen und mit dem Bild des Geästs, des Laubs und der Sträucher korrespondieren, suggerieren zusammen das komplexe Erlebnis: Die Materie ist wunderbar, denn die hat ihm die Geliebte gegeben, und auch diese ,liebe, schöne Gestalt‘ kann so staunend, mit solch schwärmerischer Hingabe lieben, weil sie in ihrem Leib die Zauberhaftigkeit der ,ewigen Materie‘ birgt und verkörpert.
… Die unmittelbaren Determinanten des Gedichts – jene Erlebnisse also, die seiner Entstehung vorausgingen – lassen sich schwerlich, vermutlich überhaupt nicht exakt erkunden. Die gesellschaftlichen Determinanten hingegen sind genauer zu ermitteln, allerdings wurden sie für das Gedicht erst durch das individuelle Erlebnis bestimmend… Unverkennbar sind die Elemente der modernen naturwissenschaftlichen Anschauung, die Liebe zu den Werkhallen, die berufen sind, das Leben des Menschen zu verbessern, die starke Sehnsucht nach Schönheit und Glück, die Fähigkeit, das Tragische klar und nüchtern zu erfassen, der verborgene Aufschrei des mutterlos gebliebenen Kindes – all die persönlichen Erlebnisse des Dichters, der sich am Farbenreichtum der Landschaft bei Lillafüred
90 erfreut, die Erinnerung an den Zauberberg in seinem Bewußtsein bewahrt und unerwartet in Liebe entbrannt ist. Doch wie jedes wirkliche Meisterwerk hat auch die „Ode“ ohne Kenntnis des wertvollen historischen Hintergrunds dem Menschen etwas zu sagen, der aus dem Sperrkreis seiner Individualität auszubrechen sucht, der sich danach sehnt, in der zeitlosen Unendlichkeit der Welt aufzugehen und dennoch, ihre Gesetze erfassend, als Mensch im Jetzt zu leben. Ein Mensch also, der sich auf den Weg macht, die Möglichkeiten eines reicheren Lebens zu erkunden und bereit ist zu handeln.91

In der „Ode“ erfahren die Probleme des persönlichen Lebens ihre Lösung in der Kollektivität. Der gewaltige Bogen des Gedichts erstreckt sich vom Konkret-Anschaulichen bis hin zum Allgemeinen, von der Erde bis zum Himmel, vom Verlangen bis zur Erfüllung.
Offensichtlich hat József mit diesem Werk ebenfalls ein neues Genre, einen Gedichttyp, gestaltet. 1933/34 ging es ihm darum, Beispiele für die Erneuerung der traditionellen Formen, der Ode und der Elegie, zu schaffen. Die Gedichte „Elegie“ und „Am Rand der Stadt“ sind von daher exemplarisch konzipiert, doch das unübertroffene Beispiel für diesen neuen Gedichttyp wurde mit „Besinnung“ erreicht.

(…)

Miklós Szabolcsi, aus Miklós Szabolcsi: Attila József, Akademie Verlag, 1981

 

ATTILA JÓZSEF

Gut war er, heiter. Als verdrießlich auch bekannt,
Wenn man verlachte, was er seine Wahrheit nannt.
Er liebte, gut zu essen. Was als sicher gilt:
In ihm selbst sah man manchmal Gottes Ebenbild.

Ein jüdischer Arzt ließ ihn nicht ohne Mantel gehn.
Die Seinen nannten ihn Laß-dich-nicht-wieder-sehn.
Hat in der Kirche seinen Frieden nicht gefunden.
Nur Pfaffen.
aaaaaaaaaaStürze viel bedeckten ihn mit Wunden.
Sehr hat sein Bettlerlos zwar diese Welt gestört,
Doch hat die Sorge um ihn endlich aufgehört.

1927
Stephan Hermlin

 

Attila József und seine Dichtung im Kreuzfeuer der Ideologien –  ein Feature von Anat-Katharina Kalman 

 

Fakten und Vermutungen zum AutorIMDb + Kalliope
Zum 80. Todesjahr von Attila József: literaturkritik

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