Ernest Wichner (Hrsg.): Balkanische Alphabete: Rumänien

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ernest Wichner (Hrsg.): Balkanische Alphabete: Rumänien

Wichner (Hrsg.)-Balkanische Alphabete: Rumänien

MANCHMAL SEHNTEN WIR UNS
nach der tiefschürfenden Horizontalen der Schlichtheit
wir kauften einen Spiegel mit hohen Ufern
legten ihn rücklings mitten ins Zimmer
und es sah danach aus als würde alles zu einem
aaaaaernsthaft absurden Spiel

Wir waren nicht viele wir setzten uns um den Spiegel
auf den Boden oder auf die Stühle von einem namens
aaaaaSoundso
jeder hatte eine Angel die er in den Spiegel auswarf
im Zimmer herrschte heiteres Wetter es wehte kein Lüftchen
keine Kräuselung auf dem Spiegel keine Falte nichts
und aus dem Spiegel fingen wir prachtvolle Fische
alle waren wir froh über einen Spiegel von solcher Beständigkeit
wir fanden es prima unser Spiel der unbefleckten Absurdität
Frischfisch bis zum Abwinken!

Iulian Tănase
übersetzt von Hans Thill

 

 

 

Vorwort

Wer Constantin Acosmei, den großen Schweiger unter den jüngeren Dichtern Rumäniens, kennt, ist nur allzuleicht versucht, seine Gedichte, die unter dem Titel Spielzeug des Toten 1995 und in zweiter Auflage 2002 erschienen sind, für authentische Bekenntnisse im Prozeß einer poetischen „Selberlebensbeschreibung“ zu halten, für den Ausdruck eines reduzierten Lebens in einem kargen und in jeder Hinsicht verarmten Milieu. Die Schlichtheit und Sparsamkeit der konkreten Mitteilung als getreues Abbild eines auf elementare Gesten und Wahrnehmungen beschränkten Erlebens zu verstehen. Doch dies wäre weitaus weniger als die halbe Wahrheit. Denn Constantin Acosmei, 1972 in der nordostrumänischen Kleinstadt Tîrgu Neamţ geboren, ist ein urbaner Mensch. Er hat Literatur studiert und arbeitet als Bibliothekar in der Universitätsstadt Iaşi. Wir haben es mit einem belesenen Autor zu tun, der sich – wie manch ein äußerlich bescheidener Bibliothekar – auskennt in der Weltliteratur. Und bei den Gedichten von Constantin Acosmei haben wir es mit Texten zu tun, die anders gedacht sind als das meiste dessen, was die Dichter seiner Generation in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts – also –, im ersten Jahrzehnt nach dem Ende der Ceauşescu-Diktatur – geschrieben und veröffentlicht haben. Wenn andere sich in spektakulären, provokativen, auf Überbietung angelegten Texten meinten Raum schaffen und die neu gewonnenen Freiheiten zu permanenten Grenzüberschreitungen nutzen zu müssen, wendet er sich davon ab und schlägt den entgegengesetzten Weg ein. Ihm kommt es darauf an, den Raum um den Sprechenden möglichst eng zu ziehen. Die Vielfalt der möglichen Sprechweisen einzugrenzen auf das schier Elementare, die schlichtest mögliche alltägliche Wahrnehmung, das kleinste Vorkommnis sich zu vergegenwärtigen und dazu das zu sagen, was gerade noch sagbar erscheint. Im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Handeln wird eine Wirklichkeitsschicht sichtbar, die ihren Ort etliche Stufen unterhalb der allgemein für gültig gehaltenen Realität zu haben scheint. In einer der Wirklichkeit verwandten Zone künstlicher Banalität, einer mit den Mitteln der Poesie hergestellten Parallel-Misere des Alltags. Die Entauratisierung des Poetischen, von den Dichtern der amerikanischen Pop- und Beat-Generation der sechziger Jahre ebenso betrieben wie von den deutschen Alltagspoeten der siebziger Jahre, findet in Constantin Acosmeis scheinbar naiven Notaren aus dem peripheren Leben ihre rumänische Variante. Paradox nur, daß auch jüngere rumänische Literaturkritiker noch meinen, dieser poetischen Kartographie des Subnormalen mit den großen Formeln der Lyrikkritik beikommen zu können; es hieße, sie gegen ihre Intention mit einer Last zu befrachten, der sie sich doch eben noch sehenden Auges und wachen Verstandes zu entledigen versucht hatten.

Der Autor von Spielzeug des Toten illustriert wie wenige andere die extremen Folgen aus dem Nihilismus der Modernität: die Zurückweisung der göttlichen Transzendenz macht uns zu Opfern der Immanenz des Dämonischen, die entzauberte Welt hellt sich nicht auf, im Gegenteil, sie wird von Gespenstern geplagt, der Übermensch ist in titanischen Blutbädern gescheitert und hat die Wucherungen des Untermenschen [sic] beschleunigt. Der Dichter fühlt und verzeichnet die Krise. (O. Nimigean)

V. Leac – seinen Vornamen Vasile hat er abgekürzt und möchte ihn mit dem Nachnamen verbunden gesprochen wissen, so daß VLeac zu sprechen wäre: fleac allerdings heißt im Rumänischen die Nichtigkeit oder Kleinigkeit, und leac nennt man auf Rumänisch das Heilmittel, die Arznei –, V. Leac ist 1973 in der Kleinstadt Năsăud geboren und hat seit seinem ersten Gedichtband Die Apokryphen des Dschingis Khan (2001) fünf Gedichtbände veröffentlicht. Die hier vorgestellten Gedichte stammen aus den Bänden seymour: sonate für ein papierkornett (2005) und Traumwörterbuch (2006).
Durch zahlreiche Gedichte von V. Leac zieht sich eine Figur, die J.D. Salingers Seymour nachgebildet ist, einer Person aus der zweiten Erzählung des Bandes Franny und Zooey, die sieben Jahre vor der erzählten Geschichte Selbstmord begangen hat und mit ihren Ratschlägen einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der jugendlichen Helden ausübt. Dieser imaginierte Seymour ist ein Doppelgänger des lyrischen Ich, welches gekonnt den Dichter V. Leac vertritt, der – siehe Nichtigkeit – sich gerne hinter seinen Texten verschwinden sähe. Von alltäglicher Geringfügigkeit sind die Anlässe für V. Leacs Gedichte, anscheinend der spielerischen Lust an der Travestie entsprungen. So erzählt das eine Gedicht ganz unspektakulär davon, wozu ein Aschenbecher gut ist; im Zentrum eines anderen Gedichtes steht ein kleines Plastikfeuerzeug oder ein Taschenwörterbuch. Banale Gegenstände befördern eine durchaus spannungsvolle poetische Narration, die in ihrem Verlauf hie und da wie selbstverständlich den Erwartungshorizont des Lesers um eine kleine Nuance verrückt und eine Öffnung auf das Unerwartete hin sichtbar werden läßt, um sie sogleich wieder aus dem Blick zu verlieren und zurückzukehren zu einem Sprechen, das sich nicht mehr vornimmt, als ganz bei sich zu bleiben, ja dieses Bei-Sich-Sein erst im Gedichtraum herzustellen. Ganz anders zwar als Constantin Acosmei betreibt jedoch auch V. Leac eine Enthierarchisierung des poetischen Sprechens, arbeitet auch er daran, den normalen Alltag mit dessen kleinen Sensationen als gedichtfähig zu etablieren.

Iulian Tănase, 1973 in Moineşti, einer Kleinstadt im Nordosten Rumäniens, geboren, lebt als Dichter und Mitarbeiter eines Rundfunksenders in Bukarest. Seine Poesie ist vom ersten veröffentlichten Band an – Ingerotica (Englerotik), 1999 –, stark geprägt von der Tradition des Surrealismus, ganz besonders von jener Spielart dieser künstlerischen Strömung der internationalen Moderne, die der rumänische Dichter Gellu Naum in seiner Pohesie ausgeprägt hatte. So finden sich in seinem mittlerweile schon recht umfangreichen poetischen Werk Gedichte, Text-Bild-Collagen, Gedicht-Essays und systematisierende poetische Traktate, die mit viel Humor und Sinn für paradoxe, quasireal oder surreal konstruierte Sachverhalte eine realistische oder vermeintlich verläßliche Wahrnehmungsweise der Welt hintertreiben und mit der Gewißheit Zusammenhänge konstruieren oder imaginieren, daß die Plausibilität oder gar Evidenz dieser Konstruktionen von der dadurch herausgeforderten, mithin verstärkten Phantasieleistung des Publikums eines Tages eingeholt würde.

Es bringt uns nämlich nicht weiter, die rätselhafte Seite am Rätselhaften pathetisch oder fanatisch zu unterstreichen; vielmehr durchdringen wir das Geheimnis nur in dem Grade, als wir es im Alltäglichen wiederfinden, kraft einer dialektischen Optik, die das Alltägliche als undurchdringlich, das Undurchdringliche als alltäglich erkennt.

Dies schrieb Walter Benjamin in seinem 1929 erschienenen Sürrealismus-Aufsatz; und die damit verwandte, um den revolutionären Gestus der Surrealisten der ersten Stunden gemilderte Haltung findet sich auch in der rumänischen Dichtung wieder, die sich in die Tradition des Surrealismus stellt. Und es spricht überhaupt nichts dagegen, dem Alltag dieses oder jenes Geheimnis hinzu zu erfinden – wie es etwa Iulian Tănase tut –, denn die Konsistenz des Wirklichen läßt sich auch daran überprüfen, wie sie mit unerwarteten Herausforderungen umzugehen weiß.

Wir – Sabine Küchler, Hans Thill und Ernest Wichner – haben im Mai 2008 anhand von Interlinearübersetzungen der Gedichte von Constantin Acosmei, V. Leac und Iulian Tănase, die von Gabriel Horaţiu Decuble und Carina Bernic angefertigt worden waren, die jungen rumänischen Dichter in unser je eigenes Deutsch gebracht. Dabei mußte, wie bei aller Lyrik-Übersetzung, einiges aus dem kulturellen Kontext, auf den sich die Gedichte der rumänischen Dichter beziehen und vor dem sie erst ihre Qualität als gegenwärtige rumänische Gedichte beziehen, unübersetzt bleiben. Daran läßt sich vorerst nichts ändern; es sei denn, man lernte die Sprache und vertiefte sich in die rumänische Literatur- und Kulturgeschichte. Dies konnten die Nachdichter nicht leisten. Mithin müssen sie darauf vertrauen, daß ihnen irgendwann einmal jene nachfolgen, die aus profunder Kenntnis der rumänischen Sprache und Kultur gegenwärtige Dichter aus Rumänien so zu vermitteln wissen, wie es einer Dichtung gebührt, die allein schon durch ihre in der europäischen Kultur auffällig gewordenen Repräsentanten (Tristan Tzara, Emil Cioran, Eugen Ionescu, Mircea Eliade u.a.) anzeigt, daß die politische Bedeutungslosigkeit dieses Landes in umgekehrtem Verhältnis zu seinem kulturellen Rang in Europa steht.

Ernest Wichner, Vorwort

Diese Anthologie ist das Ergebnis

der vom Künstlerhaus Edenkoben initiierten Übersetzungswerkstatt Balkanische Alphabete unter der Leitung von Ernest Wichner. Die deutschen Dichter waren vom 14. bis 18. Mai 2008 zu Gast in Rumänien. Als Gäste von Mircea Dinescu im Kulturhafen Cetate trafen sie sich mit ihren rumänischen Kollegen, um gemeinsam mit ihnen an den Übersetzungen der Gedichte zu arbeiten – mit philologischer Unterstützung von Carina Bernic. Eine weitere Werkstatt ist in Griechenland geplant.

 

Über dieses Buch

Ins Deutsche übersetzt nach Interlinearversionen von Corina Bernic. Drei wichtige Vertreter einer neuen Generation von rumänischen Lyrikern präsentiert dieser zweite Band der Reihe Balkanische Alphabete.
Dieser Band der Balkanischen Alphabete stellt das Ergebnis einer Übersetzerwerkstatt in Cetate vor, einer von Mircea Dinescu initiierten Künstlerfarm im rumänischen Donaudelta. Die jungen rumänischen Lyriker sehen sich nicht mit einem sozialistischen Regime konfrontiert, sondern mit einer weniger tragischen, aber doch durchaus grotesken Gegenwart. Die künstlerischen Mittel dieser Dichtergeneration sind Ironie und ein mit Witz gepaarter Sinn fürs Groteske. Bei allen drei Lyrikern sind Einflüsse der klassischen Moderne nicht zu übersehen. Mit seinen hypersensiblen Körpergedichten ist Constantin Acosmei ein neuer Vertreter des Absurden, Vasile Leac dagegen ein Dichter des Surrealen, wie es aus dem Alltäglichen aufscheint. Der weltgewandte Iulian Tănase ist Kolumnist einer viel gelesenen Tageszeitung der Jungen Generation und gilt in Rumänien bereits als Star. Seine Gedichte sind seltsam changierende Innenbilder, teils witzig, teils rätselhaft.

Wunderhorn Verlag, Ankündigung

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Gespräch 12 +
Johann-Heinrich-Voß-Preis
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Dirk Skibas Autorenporträts + deutsche FOTOTHEK

 

Fakten und Vermutungen zu V. Leac

 

V. Leac liest in Satu Mare zum Festivalul International Poes:s.

 

Fakten und Vermutungen zu Iulian Tănase

 

Iulian Tănase während einer Straßenlesung 2009.

 

Constantin Acosmei liest im Juli 2009 auf dem Festival Poezia e la Bistrita.

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