Ilse Aichinger: Verschenkter Rat

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ilse Aichinger: Verschenkter Rat

Aichinger-verschenkter Rat

DURCH UND DURCH

Wir sind alle
nur für kurz hier eingefädelt,
aber das Öhr
hält man uns seither fern,
uns Kamelen.

 

 

 

 

Editorische Nachbemerkung

Ilse Aichinger hatte 1978 für ihre Gedichtsammlung Verschenkter Rat Gedichte aus mehr als zwei Jahrzehnten nicht chronologisch, sondern nach ihren inneren Bezügen und Verweisen angeordnet. Die Rezensenten waren unter anderem von der Geschlossenheit und der Einheitlichkeit in der Tonlage der über einen so langen Zeitraum hinweg entstandenen Gedichte überrascht (vgl. hier die Rezension von Hilde Spiel und Gisela Lindemann in Samuel Moers Materialienband zu Ilse Aichinger, Frankfurt a.M.: 1990, Fischer Taschenbuch Bd. 6888).
Diese Geschlossenheit ist um so verblüffender, als Ilse Aichingers Prosa sich von Der Gefesselte (1953) zu Eliza Eliza (1965) und noch einmal zu Schlechte Wörter sehr stark wandelt, ebenso wie ihre Sprachbehandlung im Hörspiel, von Knöpfe (1953) zu Gare maritime (1976).
Der Rang der Gedichtsammlung Verschenkter Rat innerhalb der deutschsprachigen Nachkriegslyrik ist unbestritten. Im Anhang der vorliegenden Ausgabe werden die einzelnen Gedichte erstmals genau in ihren Erstdrucken und Entstehungsdaten erfasst. Dabei kam dem Herausgeber zu Hilfe, daß Ilse Aichinger im Unterschied zur Prosa die meisten ihrer Gedichtmanuskripte datiert hat. Wo dies nicht der Fall war, stehen Gedichte – wie die meisten Prosaarbeiten Ilse Aichingers und Hörspiele Günter Eichs – auf der Rückseite von (datierter) Korrespondenz des „Evangelischen Pressedienstes“ (Eid), woraus sich ein Terminus post quer ergibt.
Die genaue bibliographische Erfassung der Gedichte nimmt aber dem Band nichts von seiner geheimnisvollen Geschlossenheit, im Gegenteil: Es ist verblüffend zu sehen, wie Gedichte offenbar phasenweise heranwachsen, mit zeitlichen Knotenpunkten in der Mitte der fünfziger Jahre und um 1977/1978. Und die Einheitlichkeit des Bandes wird für den Interessierten auch empirisch einsehbar: So wirken etwa die Gedichte „Ortsanfang“ und „Ortsende“ in zeitlicher Nähe entstanden – tatsächlich aber stammt das eine aus dem Jahre 1959, „Ortsende“ hingegen aus dem Jahr 1977.
Die sorgfältige Komposition des Bandes schafft allerdings ein editorisches Problem: Seit 1978 sind neue Gedichte entstanden, darunter so wichtige wie „Lose Sprossen“ und das sich auf Günter Eich beziehende „Erwiderung“. Kann nun in den Band Verschenkter Rat überhaupt irgend etwas neu eingefügt werden, ohne die Einheitlichkeit zu stören? Immerhin: Anders als die Gedichtbände Rilkes oder Celans, wo jeder einzelne Band in sich abgeschlossen eine Entwicklungsstufe markiert, ist Ilse Aichingers Sammlung über Jahrzehnte hin gewachsen – eine Erweiterung würde also durchaus in der Logik dieser Jahresringe liegen.
Ilse Aichinger hat die neuen Gedichte in ihre damalige Anordnung eingegliedert: „Lose Sprossen“ und „Erwiderung“ stehen nun vor dem Gedicht „An einen jungen Gerber“. Das 1978 versehentlich nicht aufgenommene Gedicht „St. Gilgen“ und das neue Gedicht „Heu“ sind nach dem Gedicht „Spaziergang“ eingeordnet worden. Das neue Gedicht „Das Geburtshaus“ steht nach dem Gedicht „Verlorenes Manöver“; ihm wurde das Gedicht „Sommerfest“ gegenübergestellt. An dessen frühere Stelle rückt jetzt das neue Gedicht „Fahndungsbild“.
Bei den Gedichten auf den Seiten 35, 59 und 78 hat Ilse Aichinger den Zeilenfall gegenüber dem Erstdruck abgeändert.

Richard Reichensperger, Nachwort, aus Taschenbuchausgabe in acht Bänden, S. Fischer Verlag, 1991

 

Über dieses Buch:

In diesem Band stellt Ilse Aichinger zum ersten mal ihre zwischen 1958 und 1978 entstandenen und bislang nur verstreut oder noch gar nicht publizierten Gedichte geschlossen vor, in einer Anordnung, die ihre Entstehungszeit unberücksichtigt läßt.
Bilder und Themen aus der Umwelt, Alltagsbeobachtungen und Erinnertes erscheinen in neuen Bezügen, surrealistisch verfremdet. Es sind kurze Gedichte in einer knappen auf das unbedingt Notwendige reduzierten Sprache. Dabei wird eine Welt erkennbar, die in der Sprache entsteht. Zum Entstehungsprozeß, merke ich, daß ich eigentlich die Form zu finden und gefunden habe, im Fall des Textes, die Form zu lesen, und daß Lesen und Schreiben wie Suchen und Finden sich einander bis zur Identität annähern können.

Fischer Taschenbuch Verlag, Klappentext, 1981

Ilse Aichingers Gedichtsammlung Verschenkter Rat

gilt seit ihremm Erscheinen 1978 als ein Höhepunkt deutschsprachiger Nachkriegslyrik. Sie wird in der vorliegenden Ausgabe um sechs neue Gedichte – und eine Bibliographie erweitert.

Hör gut hin, Kleiner,
es gibt Weißblech, sagen sie,
es gibt die Welt,
prüfe, ob sie nicht lügen

Die Aufforderung zur Unabhängigkeit, zum Nichteinverstandensein mit staatlichen, gesellschaftlichen und religiösen Verhaltenserwartungen wird in schlichten, in ihrer Zurückgenommenheit aber um so subversiveren Versen proklamiert. Von Verlust, von Trauer und von Hingabe sprechen diese Gedichte, von den verlorenen Orten der Kindheit, von Gewalt und errungener Gewaltlosigkeit, vom Glück gesteigerter Wahrnehmungsfähigkeit und vom Widerstand, den die Betrachtung lehrt.
In einem aus sinnfälligen, überaus konkreten und einfachen Dingen geformten Wortschatz – Kohlen, Hölzer, Schnee, Gebirge, Gräser – werden Weltbilder umgestülpt, Alltagssätze unterwandert. Diese Gedichte, meinte Erich Fried, „wollen sich um keinen Preis einen Reim auf das machen, was gegen uns steht… weil hier Kritik an dieser Welt geübt wird, die darum, weil sie nicht tagespolitisch ist, um nichts weniger radikal ist.“

S. Fischer Verlag, Klappentext, 1991

 

Ilse Aichinger,

seit langem ein großer Name in der deutschen Literatur, legt einen Band mit Gedichten vor, genauer: ihren ersten Gedichtband überhaupt, enthaltend Verse aus zwei Jahrzehnten, die bisher nur verstreut erschienen sind. Auffallend und nicht unwichtig ist schon deren Anordnung. Die Gedichte sind weder datiert noch chronologisch eingereiht, und so sind sie auch zu lesen: nicht als Stufen einer Entwicklung, nicht psychologisch aufzuschlüsseln, auch nicht als ein Kapitel der Literaturgeschichte, nicht in Beziehung zu setzen mit anderen Lyrikern, sondern gewissermaßen absolut, als sprachliches Abbild innerer Erfahrung.
Daß der Dichter nicht Wirklichkeit nachahmt, sondern eine eigene Welt schafft, das wird wohl kaum so unwiderlegbar deutlich wie bei der Lektüre dieses Bandes. Eine persönliche, unverwechselbare Weise des Sehens, Erlebens, Denkens ist in diesen Gedichten Sprache geworden, ohne Rückfrage, ob die eigene Art des Erfahrens und Schreibens den allgemeinen Wahrnehmungsmustern entspreche. Auf die Spielregeln dieser durch Sprache geschaffenen Welt muß der Leser eingehen, rückhaltlos, falls er in die Gedichte eingelassen werden will.
Es ist nicht die Sprache, die ihm den Zugang erschwert. Noch mehr vielleicht als in ihrer Prosa hält sich Ilse Aichinger in den Gedichten an das einfache Wort, das sie sogar dem Bereich des Banal-Alltäglichen entnimmt. „Mägdemangel“ heißt der Titel eines Gedichts; andere halten einfach Zeit oder Ort fest, in den grundlegenden Kategorien unseres Wahrnehmens: Attersee, Breitbrunn, Winteranfang, März, Ortsanfang, Ortsende. Wie in ihrer Prosa hat Ilse Aichinger in diesen Gedichten das geschrieben, was sie in einem ihrer schönsten Texte eine „kleine Sprache“ nannte; sie geht keinen Schritt darüber hinaus. Es gibt denn auch Gedichte, die von einer bestürzenden Einfachheit sind, sich fast zu rasch aufzuschlüsseln scheinen.

Wir sind alle
nur für kurz hier eingefädelt,
aber das Öhr
hält man uns seither fern,
uns Kamelen.

Aber man braucht nur ganz wenig an dieser Einfachheit zu rütteln, und sie öffnet sich ins Vieldeutige und Grenzenlose. An anderen Gedichten freilich braucht man nicht erst zu rütteln, die rütteln den Leser selbst. Mit ihrer kleinen Sprache zerstört Ilse Aichinger unablässig das Selbstverständliche, die Beruhigung beim Greifbaren, die Vorstellung, das Kleine sei identisch mit dem Beschränkten und Sicheren.

Wir kommen abends wieder,
wir kommen nimmermehr,

heißt der Schluß eines Gedichts und noch radikaler der eines anderen

eine Hilfe, aber keine Hilfe,
kein Trost, aber ein Trost,

ohne daß der Widerspruch erklärt oder aufgehoben würde, als ob das Widersprüchliche und Unvereinbare das Selbstverständliche wäre.
Vielleicht liegt darin das Unvergleichliche dieser Gedichte: sie widersprechen Satz für Satz, Zeile für Zeile der Lesererwartung, setzen das Selbstverständliche außer Kraft – aber ohne Provokation, leise. Man geht denn auch an ihrem Eigentlichen vorbei, wenn man darin vor allem die Neigung zum Surrealen sucht, das Spiel mit Einfällen und Gedanken, wenn man das Unerwartete als Effekt genießt: die Texte sind nicht spielerisch, sondern verbindlich gemeint:

Zwischen Leiter und Nordwand
Besuch am Nachmittag und verworfenem Holz,
Apfel- und Schneeresten
ein Verhältnis herzustellen,
das unaufhebbar ist.

Diese Verse geben eine knappe lyrische Formel für das Schaffen Ilse Aichingers. Was nicht zusammenzugehören scheint, wird in eine Beziehung gesetzt, die ihrerseits willkürlich anmuten mag und doch „unaufhebbar“ ist. Es ist denn auch auffallend, wie viele Gedichttitel ganz leicht ans Lehrhafte anklingen: „Anweisung“, „Mittlerer Wahrspruch“, „Kleine Summe“, „Zeitlicher Rat“. Sie weisen darauf hin, daß die Gedichte trotz ihrer überraschenden, ja bestürzenden Eigengesetzlichkeit nicht esoterisch und nicht hermetisch sind; sie gehen den Leser an, aber freilich entzieht sich ihre Verbindlichkeit der Norm und dem Festlegbaren. Bezeichnend ist die Überschrift des Titelgedichts (es gehört vielleicht nicht zufällig zu den schwierigsten): „Verschenkter Rat“. Nicht erteilt und nicht gegeben wird der Rat, sondern eben verschenkt; damit wird das Feierlich-Ernsthafte ausgeschlossen, das sonst der Belehrung leicht anhaftet; da klingt etwas an vom Zufall, dem der Ratschlag überlassen wird, von Vertun und Verschleudern sogar, sicher von Freiheit im Umgang mit der eigenen Einsicht. Die Gedichte Ilse Aichingers sind verbindlich und beruhen doch auf dem Wissen, daß es das Verbindliche nicht gibt.

Elsbeth Pulver, Neue Zürcher Zeitung, 8.12.1978

Guter Rat ist teuer,

so weiß es der Volksmund. Nicht so bei Ilse Aichinger, da ist er eigentlich ein Geschenk. Doch da man wohl davon auszugehen hat, daß geschenkten Rat kaum jemand annimmt und zu würdigen weiß, ist es verständlich, wenn die Autorin ihren Rat von vornherein als verschenkten ausgibt. Falsche Hoffnungen macht sie weder sich noch anderen; sie, die einst mit dem Roman Die größere Hoffnung debütierte, in dem die einzige Hoffnung des Mädchens Ellen darin bestand, zu den Ausgestoßenen – das waren damals die mit dem Judenstern auf der Brust – gehören zu dürfen, sie gestattet sich auch heute noch keine größere Hoffnung als beharrliche Verzweiflung und verzweifelte Beharrlichkeit.
Es ist dies eine Verzweiflung, die niemals selbstgefällig in der Märtyrerpose erstarrt, sondern als lebendige Substanz begriffen wird, als die geheime Goldreserve unserer Existenz. Daß wir nur nach dem Grad unserer Verzweiflung und Untröstlichkeit existieren und gemessen werden, das ist für Ilse Aichinger die Grundvoraussetzung ihres Denkens und Fühlens. „Wo es nicht mehr wehtut, dort wird es gefährlich“, so heißt es zu Ende des Romans Die größere Hoffnung.
In den Gedichten ihres ersten Lyrikbandes, der Verse aus zwei Jahrzehnten versammelt, tut es noch weh, jedes Wort schmerzt da; doch dieser Wörterschmerz ist zugleich immer schon Trost – eine dichterische Dialektik, für die das frühe Gedicht „Briefwechsel“ als bewegendes Beispiel stehen mag:

Wenn die Post nachts käme
und der Mond
schöbe die Kränkungen
unter die Tür:
Sie erschienen wie Engel
in ihren weißen Gewändern
und stünden still im Flur.

Davon geht Ilse Aichinger also aus, daß alles, was von der Welt kommt, nur Kränkung sein kann. Aber indem sie dies akzeptiert, indem sie sich – wie in dem programmatisch „Neuer Bund“ überschriebenen Gedicht – fortbegibt „aus diesem Frieden, / aus diesem lieben Frieden / in den Schatten / zu meinen lieben Schweinen“, indem sie sich freiwillig zum Schlachtvieh gesellt, weckt sie auch das Verlangen nach Aufhebung der allgemeinen Weltkränkung.
Es ist mir ganz unverständlich, wie man diese Gedichte vom Surrealismus ableiten und als hermetisch mißverstehen konnte. Nicht Hermetik – also künstliches Dunkel, bestimmt sie – sondern die Verweigerung künstlicher Illumination. Und wenn etwas an ihnen rätselhaft ist, dann die große Ferne, aus der ihre lakonische Weisheit und ihr Sinn für das Paradoxe kommen – man darf da durchaus einen weiblichen Angelus Silesius unseres Jahrhunderts assoziieren, auch wenn sich Ilse Aichingers Botschaften nicht mehr reimen, ihre Konzentration auf Weltdurchdringung hat jedenfalls den gleichen mystischen Urgrund wie der „Cherubinische Wandersmann“. Seit Ernst Meister und Günter Eich hat niemand mehr so welthaltige Warnungen vor der Welt so suggestiv in Verse gebracht wie Ilse Aichinger.

Peter Hamm, Die Zeit, 28.5.1982

Über Gedichte Ilse Aichingers

Hier soll einiges über Gedichte von Ilse Aichinger ermittelt werden, Gedichte aus dem Band verschenkter Rat, der Verse aus der Zeit zwischen 1958 und 1978 enthält.
Ich will versuchen, von den Texten selbst auszugehen. Fast nur von ihnen, auch wenn die Art dieser Gedichte eine vollständige Erklärung nicht zuläßt, wobei es natürlich fraglich bleibt, ob lyrische Gedichte überhaupt vollständig erklärbar sind.
Was diese Gedichte schwerer erklärbar macht als z.B. fast alle Brecht- oder Rilke-Gedichte, ist, daß in vielen dieser Verse die Grundstimmung die einer Verzweiflung ist, die sich nicht zu überwinden versucht, indem sie ihre eigenen Ursachen aufgraben und aufdecken will, sondern die ihre Klage über den Zustand der Verzweiflung, beziehungsweise darüber, daß Menschen in diesen Zustand getrieben werden, einfach durch die Darstellung des Zustandes selbst lautwerden läßt. Es ist aber niemals eine geschwätzige Klage oder geschwätzige, vielredende Darstellung; es ist nie eine Klage, die sozusagen ihre eigene Geschichte und ihr eigenes Leid mitteilen will – diese Gedichte wären sonst unendlich weniger gut −, sondern es ist eine Klage, die das Mitteilenwollen fast aufgibt, bis auf jenen letzten Trost Grabbes: „Aus der Welt kann ich nicht fallen.“ Die Klage teilt sich mit, indem sie gerade noch in der Welt ist, indem sie sich an keinen Menschen anzuklammern versucht, sondern traurig mit ihren eigenen Inhalten spielt. – Eine vulgärmarxistische Kritik hat bei Ilse Aichinger vor Jahren bedauernd festgestellt, „Metaphern, Symbole, Chiffren, Parabeln, bislang als poetisch erhöhtes Verständigungsmittel gebraucht, sind austauschbar geworden, ihre Bindung an Wirklichkeit und Sprachrealität ist aufgegeben.“ (Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller, Bibliographisches Institut, Leipzig 1967.) Fast ganz richtig festgestellt, aber ganz falsch verstanden und bewertet! Die Austauschbarkeit als Vorwurf trifft nämlich nicht, weil in den hier dargestellten Bereichen tatsächlich die Austauschbarkeit von Bildern, die Trennung von der Sprachrealität höchste Realität ist. Genau so gut hätte man Shakespeare vorwerfen können, daß er seine Ophelia gelegentlich wirres Zeug reden läßt!
Und wenn der Kritiker gesagt hat, die Bindung an Wirklichkeit und Sprachrealität sei aufgegeben, so hat er ein Wort gefunden, das wahrer ist, als er es selbst gemeint hat: Sie ist nämlich uns allen aufgegeben. Das, was sich aufgibt, kann uns zur Aufgabe werden: Durch Eingehen auf diese Texte die vielfachen Querverbindungen zur Sprachrealität – allerdings nicht zu einer bloß unaufgeklärt aufklärerischen – wieder zu entdecken. Verzweiflung in einem Text ist in diesem Sinne auch die äußerste Herausforderung an uns, durch Verstehen und Sympathie den Ursachen dieser Verzweiflung entgegenzuwirken.

Dies will ich an einigen Textbeispielen erläutern.
In dem Gedicht mit dem Titel „Restlos“ lautet die erste Zeile: „Die Jungen mit den Totenscheinen“, die letzte Zeile: „und ihr Untergang“. Es ist ein Gedicht über restlosen Untergang, über einen Ritt der Vergangenheit in die Vergangenheit. „Auf gewesenen Pferden“

— Das Wort wirft die Frage auf, ob auch ein Anklang an Verwesen in den gewesenen Pferden liegt? Nichts so Absichtliches wie eine gewollte Anspielung, ich beschränke mich auf dasWort Anklang.
Und schließlich in der viertletzten Zeile des Gedichts: „die Spuren der Verwerfung“ ist es eine Verwerfung der geologischen Schichten, die uns von den Sauriern trennen, also ein Fachausdruck dafür, daß Schichten nicht nur verzerrt sind, sondern ihre Kontinuität zerstört ist? Oder ist es die Verwerfung des Weiterlebens, oder sind wir, jenseits der Kontinuität die vom urzeitlich Älteren Verworfenen? Ich ergehe mich abermals nur in Assoziationen, unterstelle keine unbedingt bewußte oder gar von der Dichterin listig konstruierte Anspielung. Einfälle sind größer, vielschichtiger als die jeweilige Absicht des Schreibenden, und Ilse Aichinger hat schon immer, auch schon in der dichterischen Prosa ihres ersten Buches Die größere Hoffnung glücklicherweise zu jenen Dichtern gehört, die mehr tun, als sie selbst beim Schreiben wissen. Zurück zum Text. Die beiden letzten Zeilen lauten:

Hilfe und Hinweis
und ihr Untergang.

Im Zusammenhang war klar, daß uns dies zu bedenken bleibt, zunächst die List der Saurier, wie sie kleiner wurden bis zu unserem Maße. Zu bedenken auch, daß dies die eigentlichen Saurier nicht retten konnte, auch wenn unsere kleinen Echsen noch leben… Vielleicht ist es aber auch der Untergang der Jungen mit den Totenscheinen und ihrer gewesenen Pferde, ja auch der Basare – also der Exotik, etwa des Todes in Samara, in die der Gedichtanfang uns flüchtig versetzt hat. Hilfe und Hinweis ist dann vielleicht das Denken sowohl an den Versuch der listigen Anpassung als auch an die Verwerfung, die dennoch folgt, ans blanke Ende.

Wenden wir uns einem anderen Gedicht zu: „Schneeleute“.
Schneeleute, also Schneemänner, Schneefrauen… vermutlich auch Schneekinder, warum nicht? Und obwohl das Gedicht mit den Worten anfängt, „Ich mische mich nicht leicht / unter die Fremden aus Schnee“ hat die Dichterin sich doch gerade mit diesen Worten irgendwie unter sie gemischt und uns mitgezogen. Indem sie sie die „Fremden aus Schnee“ nannte, hat sie zwar für sich (und für uns) Abstand gewahrt, gleichzeitig aber den „Schneeleuten“ von vornherein Menschenrang zugebilligt, ja sogar eine scheinbare Überlegenheit den anderen Menschen gegenüber:

Manche mit mehr Gesichtern
als mit einem.

Wenn ein Mensch mehr als ein Gesicht hat, dann stellt er es gewöhnlich nicht heiter prangend zur Schau.
Und nun wird in das Gedicht ein gespenstischer Rollentausch eingeführt. Wenn das Tauwetter den Bann, die Starrheit der Schneeleute tödlich zu lösen beginnt, daß sie in ihrer Hinfälligkeit vorübergehendes Leben zu gewinnen scheinen, wenn die Kohlenaugen und die Rübennasen fallen, Knöpfe und rote Lippenbänder sich zu lösen beginnen, dann sieht die Ichperson des Gedichtes, der Mensch „es steif mit an / und ohne Laut“, starr also, wie ein gefrorener Schneemann oder eine Schneefrau „ich eile nicht zu Hilfe“, sagt sie noch und, ein wenig später:

Es soll nicht ans Licht kommen. Und darum Stille.

In dem Augenblick, in dem die „Schneeleute“ aufhören, erstarrt zu sein, erstarrt die menschliche Ichperson desGedichtes, – vielleicht, um ihnen nicht zu Hilfe zu kommen. Aber wir wissen, daß Hilfe ohnehin nicht möglich gewesen wäre. Ja, der Gedanke, daß man „Schneeleuten“ möglicherweise helfen wollen könnte, wird in dieser Verneinung überhaupt erst eingeführt! Doch sie sieht sich auch als Konkurrentin dieser „Schneeleute“. Das deutet sich vielleicht schon in der Beschreibung an, daß sie „heiter prangen / manche mit mehr Gesichtern / als mit einem.“ Viel deutlicher aber deutet es sich an, nachdem schon vom Zerfallen der Schneeleute die Rede war. Nach den Worten „ich eile nicht zu Hilfe“, und vielleicht als Begründung dieser Worte, heißt es:

Vielleicht sprechen sie
das Mailändische
schöner als ich, es soll
nicht ans Licht kommen.

Fragt sich, was das Mailändische in diesem Gedicht sein soll. Das könnte man eigentlich am besten die Dichterin selbst fragen. Als spezifischer italienischer Dialekt könnte es ihr kaum so intensiv aufgefallen sein, daß sie jetzt einzig und allein deshalb „das Mailändische“ sagt. Vielleicht ist es, zumindest unter anderem, auch eine querlaufende Assoziation, vielleicht bedeutet es auch Mai, den ersten Monat ohne „R“ und ohne Schnee. Vielleicht ist das Mailändische eine Sprache des ganzen Bereiches ohne „R“, also mindestens Italiens, des Südens, der Wärme, des Frühlings? Und darüber hinaus einer dieser Orte, wie Dover in einem ihrer Prosatexte? Ganz zuletzt aber, wenn es heißt, daß das Licht die Schneeleute „leicht / genommen hat“, sagt sie auch noch, daß das Licht sie genommen hat „mit allem, was sich da / zwischen mailändisch / und mailändisch verbirgt“ und sie fügt hinzu, ganz einfach, gerade dadurch erschütternd und erschüttert:

dann auch mit mir.

Zuletzt also teilt sie doch das Schicksal der vergänglichen Schneeleute.

Nicht alle Gedichte dieses Bandes haben den Grundton Verzweiflung. Eines der ersten, „Marianne“, das den Titel und dem Inhalt nach eine konkrete, an einen bestimmten Menschen anknüpfende Kommunikation ist, sucht und vermittelt Trost.
Aber das ist in diesem Band eher eine Ausnahme.
Häufig sind Fragegedichte oder Fragen in Gedichten, Fragen sehr verschiedener Art. In dem Gedicht „Mägdemangel“ heißt es:

Wer hilft uns noch,
wer läßt der Sonne jetzt
ihr leichtes Spiel?
Sind wir von Baum zu Baum
allein geblieben
oder bewegen sich die
Schatten
diese Tröster,
aus ihren Netzen
bald herab zu uns?

Das sind trostlose verlassene Fragen, nicht zuletzt, weil die tröstenden Schatten, die vielleicht bald aus ihren Netzen zu uns herabkommen, eine so unheimliche Ähnlichkeit mit Spinnen haben. Aber auch schon der Anfang des Gedichts:

Wer bleibt den Felsen auf der Spur,
wer säumt die Gräser,
wer riegelt uns die Plätze
jenseits der
Straßen ab?

besteht aus Fragen. – Nicht alle gleicher Art. „Wer bleibt den Felsen auf der Spur“ ist eine ganz andere Art Frage als etwa „Wer hilft uns noch“.

In anderen Gedichten tauchen Fragen auf, die stark an Fragen in Hans Arps Gedichten erinnern, etwa in seiner „Klage um Kaspar“.

Wer ißt nun mit der ratte am einsamen tisch, wer verjagt den teufel, wenn er die pferde verführen will. Wer erklärt uns die monogramme in den sternen.

Oder:

Wer trägt nun die brennende fahne im zopf. Wer dreht die kaffemühle. Wer lockt das idyllische reh.

Ilse Aichingers Gedicht „Bobingers Klage“ hat folgenden Text:

Meine Freunde sind ausgegeben,
zwischen den Blättern und Ästen
verlor ich sie.
Wer löst mir das Bild,
wer holt ihre leichten Gestalten
neu aus dem Regen hervor,
wer fängt ihnen Wolkenhauben,
wer dreht mir die Sonnenuhr?

Die Ähnlichkeit mit Arps Fragen in seiner „Klage um den Tod des guten Kaspar“ ist unverkennbar, aber dennoch bleibt in Arps Fragen in der ausufernden Unmöglichkeit ihrer Zusammenstellung etwas mehr verzweifelte Lustigkeit.
Wobei wir vielleicht bedenken sollten, daß es sich bei scheinbar sinnlosen Fragen, wie bei allem, was in den Bereich des Nonsensgedichts oder Unsinnsgedichts hineinspielt, um eine tiefe Verzweiflung an der Sinnhaftigkeit des Tuns und Treibens dieser Welt handeln kann, bei Christian Morgenstern und Hans Arp genau wie bei Ilse Aichinger oder bei Günter Bruno Fuchs.
Zu dem Gedicht „Bobingers Klage“ sei hier noch erwähnt, daß der Anfang:

Meine Freunde sind ausgegeben,
zwischen den Blättern und Ästen
verlor ich sie

ja sogar die zwei Rätselfragen der nächsten drei Zeilen:

Wer löst mir das Bild,
Wer holt ihre leichten Gestalten
neu aus dem Regen hervor,

ihre Lösung möglicherweise in dem unmittelbar vorhergehenden, aber ebenso langen Gedicht finden, das im Buch links von Bobingers Klage auf der gegenüberliegenden Seite abgedruckt ist und „Kartenspiel“ heißt.

Die schwarzen Winkel vergessend,
Gesichter
und das Gold unter der Mauer,
wir lassen alles dahin,
die Schaukel mit den Eisenmännern,
die Muster, die uns blind machten,
und unter der Küchenbank
ein Nashorn, vom Lichte erwärmt.

Vielleicht sind die ausgegebenen Freunde, verloren zwischen den Blättern und Ästen, einfach Spielkarten, freilich Spielkarten als Symbol für das Spiel des Lebens, in dem wir Karten, Spieler, Einsatz und fragende Beobachter unserer Umgebung sind, alles zugleich.
Mitten in demkurzen Gedicht gibt es die Formulierung:

Wir lassen alles dahin.

Ungewöhnlich im Deutschen, eine Zusammenziehung aus „wir lassen“ und vielleicht auch aus „dahin fahren lassen“ (Ich denke z.B. an die Zeile „laßt fahren dahin“ aus Luthers „Ein festeBurg ist unser Gott“), aber trotz derUngewöhnlichkeit sofort völlig verständlich. Und was wir dahinlassen, ist „die Schaukel mit den Eisenmännern“, was allenfalls noch an Arp erinnern könnte, dann aber sind es „die Muster, die uns blind machten“. Das ist schon todernst und wirft die Frage auf, ob nicht vielleicht auch schon die Eisenmänner recht ernstgenommen werden könnten, z.B. als gepanzerte Krieger, und schließlich, wieder an Arp erinnernd, surrealistisch oder dadaistisch:

unter der Küchenbank
ein Nashorn, vom Lichte erwärmt

Entschieden kein Verzweiflungsgedicht, auch abgesehen vom heiter anmutenden Schluß, dem vom Licht erwärmten Nashorn unter der Küchenbank. – Freilich, so ganz heiter auch wieder nicht. Immerhin ist das Nashorn nur ein Teil der Aufzählung dessen, was wir lassen – dahinlassen – müssen. Und was an Heiterkeit da zu sein scheint, ist vielleicht nur das Ergebnis einer zeitweiligen Verdrängung. Nicht umsonst beginnt das Gedicht programmatisch mit den Worten:

Die schwarzen Winkel vergessend.

Aber wenn schon das vom Licht erwärmte Nashorn unter der Küchenbank etwas Märchenhaftes hat, so finden sich in einem anderen Fragegedicht die Märchenfragen noch viel deutlicher: Es heißt: „Winterantwort“ und ist das zweite Gedicht im Band. „Großmutter, wo sind deine Lippen hin?“ Nicht der Inhalt dieser und der folgenden Fragen, wohl aber die Form der Frage an die Großmutter – und auch der Wald – erinnern (wohlgemerkt nur auf einer der vielen Ebenen dieses überdeterminierten Gedichtes) an das Märchen von Rotkäppchen und dem Wolf, den es für seine Großmutter hält. Vier Seiten später in diesem Gedichtband findet sich das Gedicht „Widmung“, in dem es heißt:

Wir ließen uns sacht die Monde hinunter
und läge die erste Rast noch bei den
aaaaaaaaaawollenen Herzen,
die zweite fände uns schon mit Wölfen
aaaaaaaaaaund Himbeergrün

Die Lebens- und Sterbensreise, von der auch in diesem Gedicht die Rede ist, kann also durchaus durch eine Märchenlandschaft mit gefährlichen Wäldern, Wölfen und (der Form nach rotkäppchenhaften) Fragen an die Großmutter stattfinden. – Diese Fragen aber, in dem vorhin zitierten Gedicht „Winterantwort“, sollen jetzt noch etwas genauer angesehen werden.

Großmutter, wo sind deine Lippen hin,
um die Gräser zu schmecken,
und wer riecht uns den Himmel zu Ende,
wessen Wangen reiben sich heute
noch wund an den Mauern im Dorf?

Ich will nicht unterlassen, einen pedantischen Einwand zu erwähnen, den ich beim Vorlesen dieses Gedichtes einmal gehört habe:

Man schmeckt doch nicht mit den Lippen, sondern mit der Zunge, vielleicht auch mit dem Gaumen.

− Dagegen ist natürlich zu sagen, daß ein Kind findet, man schmeckt mit dem Mund. Der Mund ist ihm vor allem durch die Lippen gekennzeichnet. Die Frage, wie anatomisch falsch gestellt sie auch sein mag, ist also als Kinderfrage an die Großmutter ganz richtig. – Doch weiter: Wenn die Großmutter keine Lippen mehr hat, ist sie vermutlich tot, ein Schädel. Und tatsächlich wird hier die Welt von einer Stelle schon jenseits der Sinnesorgane her betrachtet „keine Augen mehr, um die weißen Wiesen zu sehen“ (Weiß vom Schnee, das Gedicht heißt ja Winterantwort). Keine Ohren, und vermutlich wie aus der Frage nach dem Zu-Ende-Riechen des Himmels und den Wangen hervorgehen dürfte, auch keine Nase und keine Wangen mehr… Der finstere Wald, die Kinder, die an seinem Rand wohnten, kommen wieder ganz und gar aus dem Märchenreich, archetypisch, auch dann, wenn es längst nicht nur der Kindermärchenwald ist, sondern auch der gefährliche Wald, in den sich Dante am Anfang seiner Reise durch die Unterwelt auf halbem Weg des Menschenlebens verschlagen findet.
Stimmt die Antwort, daß der Wald nicht finster ist? Ja und nein. Sie stimmt, wenn diese Welt aus dem Stoff ist, der Betrachtung nicht nur mit den Sinnesorganen verlangt. Aber wie ist es mit Betrachtung nach Wegfall der Sinnesorgane, wenn es keine Augen, keine Ohren, keine Lippen mehr gibt? Betrachtungen nach diesem Leben? Hier verlieren wir uns in metaphysische Bereiche. Ich könnte natürlich sagen, daß ich mir vorbehalte, falls wir uns nach dem Tod wiedert reffen, noch weitere wichtige Ergänzungen zur Erklärung dieser Texte vorzuschlagen; – aber auch vielleicht noch diesseits des Todes aller von uns gäbe es da eine Bemerkung zu machen: Nämlich diese Gedichte sind von der Art , die von einigen Überlebenden nach einem Atomkrieg, falls es die gibt und falls sie noch an Gedichte denken, leichter und besser verstanden werden könnte als heute. Dies nur nebenbei.

Ich will auch nebenbei darauf hinweisen, daß die Gestalt der Großmutter, als Bezugsperson, die stirbt, auch in Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung eine wichtige und ebenso inhaltlich wie literarisch bemerkenswerte Rolle spielt.
Mit diesem Hinweis will ich ganz bewußt auf Querverbindungen aufmerksam machen. Man kann das Werk einer Dichterin wie Ilse Aichinger im Grunde überhaupt nicht verstehen, ohne solcher Querverbindungen zumindest eingedenk zu sein. Die Querverbindungen verbinden Prosa, Gedichte, Hörspiele sowohl als ein Gedicht mit dem anderen. Erinnern wir nur noch einmal an das Gedicht „Widmung“ und die Zeile: „die zweite fände uns schon mit Wölfen und Himbeergrün“ so finden wir im unmittelbar vorhergehenden Gedicht „Außer Landes“ die Erwähnung von Orten „mit ihrem Himbeergesträuch“. Daß zwischen diesen Texten irgendein Zusammenhang bestehen muß, ist anzunehmen. Aber zu glauben, daß Himbeergrün und Himbeergesträuch für Ilse Aichinger nur irgendeinen mystischen oder gar künstlich ausgeklügelten Stellenwert oder Symbolwert haben müssen, wäre wohl vorschnell. Ich glaube, sie fußt auf vielen starken Eindrücken, die sie von ihrer Umgebung tatsächlich empfangen hat, teils, vielleicht sogar vor allem, Eindrücken aus der Kindheit, die deshalb paradigmatisch werden konnten, aber vielleicht auch Eindrücken, die später erlebt oder doch neu aufgefrischt und bestärkt wurden, etwa, wenn sie sie mit ihren Kindern wiedererlebte. Ich will jetzt noch ein ganz anderes Beispiel für solche Bildursprünge aus der wirklichen Kindheitsumgebung geben: Das Gedicht „Die trüben Stunden nutzend“ lautet:

Laß das Gelichter
auf den Feldern rasten,
im Dunst, der aufsteigt,
denn nichts leuchtet dir.
Die Grottenbahnen auf den Hügeln
sind jetzt geschlossen,
die Rüben lange aus der Erde,
die Kinder fort.
Die Blumenflechter sind die letzten,
die noch blieben,
sie brennen Öl,
mit ihnen läßt sich reden.

Da haben wir die Zeilen:

Die Grottenbahnen auf den Hügeln sind jetzt geschlossen.

Manche Leser könnten da ohne weiteres etwa an Hügel mit Tropfsteingrotten denken, durch die Bahnen führen, die aber jetzt, vielleicht weil es Nacht ist, geschlossen sind. Natürlich, wer die Wiener Umgebung der jungen Ilse Aichinger kennt, wird diesen Fehler nicht machen, sondern genau wissen, was die Grottenbahn im Prater bedeutet. Es liegt nahe, daß viele Bildelemente in diesen Gedichten ähnlich zustande kamen, auch wenn ihre Spur nicht so leicht verfolgbar ist wie die der Grottenbahnen.
Dieses Gedicht „Die trüben Stunden nutzend“ steht im Band als übernächstes nach dem Gedicht „Widmung“, in dem eine erste, zweite und dritte Rast beschrieben war. Die erste Rast „noch bei den wollenen Herzen, / die zweite fände uns schon mit Wölfen / und Himbeergrün“ – Hier, in diesem Gedicht nun, soll man das „Gelichter auf den Feldern rasten“ lassen und dann erkennen, daß nichts mehr leuchtet, daß die Grottenbahnen geschlossen sind, die Rüben geerntet, die Kinder fort sind. Es ist eine ziemlich verlassene Welt, wieder eine Landschaft der Trauer, nicht weit von Verzweiflung „Die Blumenflechter sind die letzten, / die noch blieben“ Blumenflechter? Das sind vielleicht Flechter von Grabkränzen. – „Sie brennen Öl, / mit ihnen läßt sich reden“. – Das könnte sich auch auf Ölöfchen beziehen, wahrscheinlich ist aber an Öllampen gedacht, eine uralte und fast so trübe Beleuchtungsart, wie das innere Licht. Öllampen, die auch auf Gräbern brennen. Eine Beleuchtungsart, die Transzendenz-Tendenzen Vorschub leistet und übertragenen Bedeutungen, und mit solchen operieren diese Gedichte immer wieder.
Das kurze Gedicht, das in diesem Gedichtband darauf folgt, heißt

„Dorfweg“:

Die Stare lästern im Herbst
und manchmal höre ich die Türen
aaaaaaaaaazweimal schlagen,
einmal davon im Traum.

Wer gab uns die Bilder,
die roten Äpfel
im Garten des Kohlenbrenners,
ungereimt, aber gesonnen zu
aaaaaaaaaaunterliegen mit uns.

Dieses Gedicht könnte zum Teil geradezu zur Bestärkung dessen dienen, was wir zuvor zu erarbeiten suchten. Wurde im vorigen ein bedeutungsträchtiger Beruf erwähnt, die Blumenflechter, so befinden wir uns diesmal im Garten des Kohlenbrenners. Und dieser ebenfalls schon archetypische Beruf kommt in einem Satz vor, der geradezu nach der Herkunft der Bilder fragt, zuletzt aber auch etwas über die Funktion dieser Bilder aussagt :

Wer gab uns die Bilder
die roten Äpfel
im Garten des Kohlenbrenners
ungereimt,

aber gesonnen zu unterliegen mit uns.

Es wird ausdrücklich gesagt, daß die Bilder ungereimt sind, und es wird ausdrücklich gesagt, daß die Tendenz dieser Bilder nicht ist, irgendeinem lehrhaften oder politischen Zweck zu dienen, irgendein positives Ziel zu erreichen. Ihr Sinn ist, „zu unterliegen mit uns“.

Sprengen wir hier nun wenigstens einmal den Rahmen, den diese Ermittlung sich gesteckt hat, um die wichtige Frage zu stellen, ob das denn wirklich nur ein „Unterliegen“ ist. Die Frage stellen heißt sie verneinen. Ein Unterliegen, das nicht auch der Entfremdung unterliegt, der Verdinglichung, ein Freibleiben davon, sei es auch um den Preis des Unterliegens, ist kein völliges, kein wirkliches Unterliegen. Sowie schon in dem Buch Die größere Hoffnung Ellen und ihre Großmutter und all die anderen Unterlegenen nicht die wirklichen Unterlegenen waren. Ein Trost, der nicht genügt, und doch einTrost.

ungereimt, aber gesonnen zu unterliegen mit uns

Auch deshalb gesonnen zu unterliegen mit uns, weil sie sich um keinen Preis einen Reim auf das machen wollen, was gegen uns steht, weil sie sich nicht mit einem Reimwort einfügen und anpassen wollen, weil hier Kritik an dieser Welt geübt wird, die darum, weil sie nicht tagespolitisch ist, um nichts weniger radikal ist. Als dieser Gedichtband Verschenkter Rat erschienen war, hat Gisela Lindemann, eine der genauesten, sensitivsten unter den Interpreten deutscher Lyrik, in ihrer Rezension in der Zeit (20. Oktober 1978) auch darauf hingewiesen.
Sie nimmt ein vierzeiliges Gedicht zum Anlaß:

NACHRUF

Gib mir den Mantel, Martin,
aber geh erst vom Sattel
und laß dein Schwert, wo es ist,
gib mir den ganzen.

Es ist nicht das erste Mal, daß St. Martin in deutschen Versen nicht getreu der Legende angegangen wird. Vielleicht kannte auch Ilse Aichinger die Bettelreime

Sankt Martin, der du dem Bettelmann
deinen halben Mantel teiltest,
ach, wenn du mir doch dann und wann
meinen ganz zerrissenen heiltest!

Aber Ilse Aichingers Gedicht ist radikaler. Gisela Lindemann trägt der Schärfe der Dichterin Rechnung und sagt: „Zu Grabe getragen wird eine Heldenlegende.“ Sie sagt auch:

Für Begütigung und Akklamation ist keine Zeit mehr, denn auf die Gewährenden ist kein Verlaß… Der glänzende Ritter, dem erst der Bettler zu seinem Glanz verhalf, ist dem ,plebejischen Blick‘ ausgesetzt, er steht nun eher halbherzig da und mit zu groß geratener Geste. Mißtrauen gegen seine Güte ist angezeigt, das Anrecht auch des Schwächeren wird eingeklagt. Das Wort Schwert ist ein anderes in diesem Gedicht als das Wort Schwert in der Legende; auch hoch zu Roß heißt hier etwas anderes als dort.

Ganz ähnlich zeigt Gisela Lindemann auch im Gedicht „In und Grimm“ die unerbittliche Kritik, die Anklage, aber auch, wie die zwei Wörter „In“ und „Grimm“, deren Verlust das Gedicht beklagt, gerade durch diese Klage wieder gerettet werden.
„Wo warst du“ fragt Ilse Aichinger keinen Geringeren als den jüngsten Richter, wenn er kommt:

Auf euch will ich mich versteifen,
wenn der jüngste Richter kommt
und will ihn fragen:
weshalb hast du mich nicht geweckt,
damals im Juli,
wo warst du,
als die beiden Wilden ertranken,
meine Rotfelle und deine,
von denen eines hoffte,
das andere nicht?

Die Rezensentin zeigt vieles anhand dieses Gedichtes, wie Ilse Aichinger „den entferntesten Fluchtpunkt beschwört, den je Menschen erdacht haben“, daß sie immer die List ihrer Gedichte, das gleichsam kindliche, scheinbar verspielte Durchschauen der Welt (wieder wie in dem Buch Die größere Hoffnung) immer aufs Ganze geht, daß sie nur so ihre zwei Wilden, deren Verlust sie beklagt, vor der Welt der Planierer, die den Ingrimm entwertet haben, wieder retten kann, – ,wieder wild machen‘ möchte ich hinzufügen. Und ich möchte vielleicht auch noch hinzufügen, daß sie – zum Unterschied etwa von Karl May, (laut Ernst Bloch dem deutschen Indianerutopisten) nicht Rothäute sagt, sondern Rotfelle, vielleicht weil es ja nicht Menschen sind, sondern Wörter, und möglicherweise auch, weil das Gedicht nicht nur von heute handelt, sondern auch von gestern und morgen, von Fällen, die schon vorgefallen sind, und von solchen, die erst fälligwerden.
Hier könnten die Erklärungen und Deutungen weitergehen. Wir sind weit davon entfernt, alles in ihnen erklären zu wollen. Ich bezweifle auch, ob es Absicht der Dichterin war, alles zu erklären, alles auszuplaudern, was in ihr anklang. Aber durch die Querverbindungen der Worte und Bilder, durch das, was eines über das andere immerhin aussagt, sind wir vielleicht doch in der Lage, ein wenig besser zu erkennen, was uns in der Landschaft dieser Gedichte anspricht, vielleicht bewegt, vielleicht nur betroffen und traurig macht. Man kann Gedichte mehrmals lesen, mehrmals sich durch den Kopf gehen lassen, manchmal mehrmals hören, im Wachen und vielleicht auch anders – so wie Ilse Aichinger gesagt hat: „und manchmal hörte ich die Türen zweimal schlagen / einmal davon im Traum.“

Erich Fried, Neue Rundschau, Heft 4, 1981

Einübung ins Unangepaßte

− Ilse Aichingers erste Gedichtsammlung. –

Wer versuchen wollte, Ilse Aichinger in die gängigen literarischen Normen einzupassen, würde kein Glück haben. Ilse Aichinger ist Grenzgängerin, von Anfang an, Partisanin im schwierigen, unerkundeten Gelände, ausgestattet allein mit ihrer geschärften Wortwaffe. Ihre Dichtungen lesen sich wie fortschreitende Einübungen in das Unangepaßte, in Widerstand und Verweigerung. Das betrifft den ersten und einzigen Roman Die größere Hoffnung, den die Autorin siebenundzwanzigjährig 1948 veröffentlichte, und kennzeichnet noch konsequenter ihre Hörspiele und Prosastücke.
Zumal die Prosastücke entführen in ein „anderes, fremdes Land“, wie Jürgen Becker bemerkte, das nicht leicht, nicht auf gewohnten Wegen zugänglich ist. Was sich als Mitteilung herausschält, im Aufriß hautnaher Erfahrungen und Erkundungen, ist reduziert auf eine unmittelbare poetische Realität, verzichtet auf vorgegebene, vorgetäuschte Zusammenhänge, auf logische oder chronologische Abläufe. Dabei geht es nicht um eine formale Manier, etwa nach dem Muster des Surrealismus, sondern um ein Grundverhalten, von dem Ilse Aichinger selbst sagt:

Wenn ich die Form zu suchen gefunden habe, merke ich, daß ich eigentlich die Form zu finden gefunden habe, im Falle des Textes, die Form zu lesen, und daß Lesen und Schreiben wie Suchen und Finden sich einander bis zur Identität annähern können.

Wie die Prosastücke oft in eine poetische Sprechweise übergehen, grenzgängerisch auch hier durch Reduzierung auf eine sprachintensive bildhafte Wörtlichkeit, so gilt das Gesagte ebenso uneingeschränkt für die Gedichte. Der Band Verschenkter Rat (S. Fischer Verlag) versammelt 86 Gedichte aus zwanzig Jahren, frei geordnet, ohne Rücksicht auf die Entstehungszeiten. Einige Gedichte wurden aus dem Band Wo ich wohne (1963) übernommen, andere las man in Zeitschriften und Zeitungen, die meisten sind unveröffentlicht. Aber es würde auch schwerfallen, die Gedichte bestimmten Entwicklungsstufen zuzuordnen.
Bereits das erste Gedicht Gebirgsrand schlägt den Grundton an, die Auseinandersetzung mit einer irrealen Realität, fixiert im Niemandsland zwischen Tagwissen und Traumerfahrung, zwischen Morgen und Schatten.

Denn was täte ich,
wenn die Jäger nicht wären, meine Träume,
die am Morgen
auf der Rückseite der Gebirge
niedersteigen, im Schatten.

Es ist ein paradoxer Vorgang, ein fortwährendes Gehen über dem Bodenlosen, die Welt auszulassen oder durch sanfte Nötigung „meine Träume“ einzuholen. Viele Gedichte sind von der Art, daß allein aus apodiktisch gesetzten Worten ein Zwischenreich entsteht, mit „Säulen aus Staub, die Tempel tragen“ oder wo „das Erträgliche sich verdächtig macht“. Das Eigentümliche ist nun, daß diese Gedichte keiner spielerischen Verfremdung anheimfallen, daß die poetische Phantasie der Autorin keineswegs in eine private oder abgesonderte Unverbindlichkeit gerät.
In scharf geschnittenen, niemals kalligraphischen Bildern teilt sich eine radikale Erfahrung mit, die kein Abgleiten, keine Vertuschungen oder Kompromisse zuläßt. „doch was sie singen, / dringt nicht mehr zu mir“, heißt es einmal, und am Ende desselben Gedichts:

Wie schwarz mein Land wird,
nur tief unten krümmt sich
grün die Zeit.

Ilse Aichinger macht es sich und ihren Lesern nicht leicht. Nicht nur, weil sie Zusammenhängen mißtraut und konsequent dagegen die Erfahrung des Ungesicherten setzt. Sie überträgt unmittelbar in ihre Verse wie in ihre Prosa, was der Lebenswirklichkeit an Paradoxien und Irritationen, an Ängsten und Widersprüchen mitgegeben ist. Die schönen Übereinkünfte zählen nicht mehr,

lieber wollen wir warten,
bis uns die goldenen Füchse
im Schnee erscheinen

Es sind allein die Gedichte, die aus Worten geschaffene Zwischenwelt, die sich unbeirrbar behaupten. Doch auch die Worte erbauen keinen Wohnort, wo sich der ausgesetzte und umstellte Mensch einrichten könnte. Ausgreifende Begütigung oder Trost bieten die Gedichte nicht, sondern:

alles so wie es ist
und so wie es nicht ist,
Schnee und Schlemmkreide,
eine Hilfe, aber keine Hilfe,
kein Trost, aber ein Trost.

Ein genaueres, kompromißloseres Festhalten des Auf-sich-Gestelltseins ist kaum möglich. Wie weit Ilse Aichinger geht, einen vorhandenen oder scheinbar vorhandenen Trostvorrat zu entlarven, zeigt die bittere, radikale Umkehr der bekannten Martins-Legende, in einem Vierzeiler mit dem Titel „Nachruf“, aus der Sicht des Bettlers gesprochen:

Gib mir den Mantel, Martin
aber geh erst vom Sattel
und laß dein Schwert, wo es ist,
gib mir den ganzen.

Was immer die Gedichte vermitteln, zielt natürlich auf ein Verhalten in der Welt, auf eine ungemein wache, sensibel ausgelotete Gegenwärtigkeit. Die Welt als erfahrenes und erkundbares Gegenüber ist übermächtig vorhanden, ist auszuhalten mit ihrem ganzen bedrohlichen Gewicht im Rücken. Sie drängt von der „Rückseite der Gebirge“ heran oder „krümmt sich tief  untern“.
Die bittere Wahrheit, die in den Gedichten aufscheint, ist nicht auf fertige Rezepte und schöne Einbildung aus, sondern auf den nie zur Ruhe kommenden Prozeß des Sicherkennens, auf ein illusionslos prüfendes Sichbehaupten. Wie weit das überhaupt die poetische Sprache leisten kann, ohne dabei einer neuen, mit Worten herstellbaren Täuschung und Scheinsicherheit zu verfallen, zeigen die Gedichte Ilse Aichingers. „Nimms hin, / wenn du kannst, / da, nimm schon“, heißt es im Titelgedicht „Verschenkter Rat“:

oder willst du lieber
die Blattkehrer
von deiner Wiese treiben
und Ibsens Ziegen
darauf,
gleich weiß, gleich glänzend?
Es gibt Ziegen und es gibt Ibsens Ziegen…

und weiter:

Hör gut hin, Kleiner,
es gibt Weißblech, sagen sie,
es gibt die Welt,
prüfe, ob sie nicht lügen.

Eberhard Horst, Neue Rundschau, Heft 1, 1979

Poetische Phantasie

Alle denkbaren Reduktionen menschenmöglicher Erfahrung auf ihren bitteren kleinen Kern hatte Ilse Aichinger schon vor 30 Jahren, als 27jährige, durchgespielt, in ihrem ersten (und einzigen) Roman, Die größere Hoffnung, der Geschichte von dem halbwüchsigen Mädchen Ellen, das nicht genug „falsche“ Großeltern hatte, um den Judenstern tragen zu dürfen und so doch wenigstens irgendwo heimisch zu sein, nämlich in der Gruppe der Ausgestoßenen, der streunenden Kinder. „Wo es nicht mehr wehtut, dort wird es gefährlich, hat der alte Mann gesagt“, denkt Ellen auf der vorletzten Seite des Buches, auf dessen vorletzter Zeile sie von einer Granate in Stücke gerissen wird.
„Ach was“, denkt Ellen, „der alte Mann. Wo es gefährlich wird, da tut es nicht mehr weh. Das ist besser. Werft die Straßenbahnen um und macht Barrikaden daraus, Recht habt ihr! Gebt es nicht zu, daß euer Herz zum Schlachtfeld wird. Laßt die Beweggründe nicht Sturm laufen in euch. Verschränkt euch ineinander, das ist besser. Versucht es nicht, zu bleiben durch euch selbst.“ Aber dann hört sie den Atem des Verwundeten neben sich; ihre Starre löst sich ein wenig, und sie fährt fort in ihrem Selbstgespräch:

Wie selten hört ihr euch atmen! Und wie ungern hört ihr euch. Entweder – oder, entweder – oder!

Wahrhaft monströs erwachsene Gedanken im Kopf eines halbwüchsigen Mädchens; aber es hatte ja nicht lange zu leben, und seine Erfahrungen hätten für mehrere längere Menschenleben ausgereicht. „Was soll da der Realismus“, heißt es in einem Gedicht des tschechischen Lyrikers Vitezlav Nezval.
Reduktion, Zurücknahme blieb seither der Modus ihres Schreibens, Verweigerung ihr Thema. Berühmtestes Beispiel: die „Spiegelgeschichte“, für die sie 1952 den Preis der Gruppe 47 erhielt. Aber damit fängt es erst an. Denn zu betrachten und mit Verwunderung zur Kenntnis zu nehmen ist das Wasser, das Ilse Aichinger in ihren Texten mit großer Anstrengung doch immer wieder aus diesem Stein geschlagen hat. Es ist wenig und nüchternes Wasser.
verschenkter Rat enthält Texte aus zwanzig Jahren, zum Teil schon früher einmal gedruckte (in dem Band Wo ich wohne, der außer Geschichten Dialoge und Erzählungen enthielt), zum Teil verstreut in Zeitschriften und Zeitungen erschienene, zum größeren Teil bisher unveröffentlichte. Sie erscheinen jetzt, nach dem Willen der Autorin in einer Anordnung, die ihre Entstehungszeit außer acht läßt. Zum Beispiel sind alle Gedichte aus dem Band Wo ich wohne (1963) in die erste Hälfte dieses neuen Buches eingearbeitet und, bis auf das Gedicht „Teil der Frage“, dessen letzte drei Zeilen durch zwei neue ersetzt sind, unverändert übernommen. Es sind aber nirgends Brüche zu erkennen, es herrscht in allen Texten der gleiche strenge, beinahe apodiktische Sprachgestus, mit dem immer neue Paradoxien in die Welt gesetzt und vollkommen ernstgenommen und konsequent durchgespielt werden. Die Entwicklung, nach der man ja immer zuerst einmal ausschaut, wenn man sich so einem Buch mit Texten aus zwanzig Jahren nähert, findet nicht statt. Der Stein, um im Bilde zu bleiben, ist eine ahistorische Sache; nur im Wasser sind Spuren von Zeit und Umgebung, aber es muß doch immer aus dem gleichen Stein geschlagen werden.
So ist wenig Welt in diesen Gedichten, sie müssen nahezu ohne Bilder von außen auskommen, ihre fremd anmutende poetische Strahlkraft muß aus den Wörtern selbst gezogen werden, aus einer Sprache, die sich bei der Arbeit unablässig widersetzt und als Widerpart zum zweiten Subjekt wird. Schon das ist, wenn man so will, eine poetische Setzung, aber sie autorisiert in vielen Texten der Autorin, thematisch in ihrem kurzen Prosastück „Meine Sprache und ich“, in der die Sprache und das Ich zwei Personen sind, die es alles andere als leicht miteinander haben. Ein Beispiel dafür ist ein kurzes Gedicht mit dem Titel

IN UND GRIMM

Auf euch will ich mich versteifen,
wenn der jüngste Richter kommt,
und will ihn fragen:
weshalb hast du mich nicht geweckt,
damals im Juli,
wo warst du,
als die beiden Wilden ertranken,
meine Rotfelle und deine,
von denen eins hoffte,
das andere nicht.

Zwei Wörter sind es, deren Verlust beklagt wird, aber sie sind zugleich doch von neuem bezeugt, der Sprache wieder abgetrotzt: das Wort Ingrimm und das Wort Grimm, „von denen eins hoffte, das andere nicht“. Das Gedicht ist eine Anklage, nein, mehr und zugleich weniger: der Entschluß zu einer Anklage. Dem Entschluß, dem jüngsten Richter Verlustanzeige zu machen und über den Verlust mit ihm zu rechten, verdankt sich das Gedicht. Auch Hiobs Klagegesang besäßen wir nicht, wenn er nicht bis aufs Blut mit seinem Gott gerechtet hätte über sein Elend.
„Weshalb hast du mich nicht geweckt“, so lautet die Anklage, „damals im Juli, / wo warst du, / als die beiden Wilden ertranken.“ Im Juli sind ja einige Daten bezeugt, da Ingrimm und Grimm, die beiden „Rotfelle“, Entschlüsse hervorbrachten und dann im Blut ertranken, zum Beispiel der Bastille-Sturm 1789, zum Beispiel das Hitler-Attentat 1944. Beklagt wird aber, das ist der Einstieg, der Verlust der Wörter: Sie greifen nicht mehr, sie sind der Verachtung der Planierer ausgesetzt, die sie nicht mehr fürchten müssen als Zeugen der Anklage und lieber alles beim alten lassen. Die Wörter haben die Zähne verloren, sind wieder und wieder ertrunken, und es bedarf der größten List, sie von neuem zu nennen und also zu retten, was ja nur heißen kann, ihre ursprüngliche Qualität wieder hörbar zu machen. Sie wird wieder hörbar durch den Zwei-Zeilen-Hinweis „von denen eines hoffte / das andere nicht“. Es bedarf aber, damit dieser Hinweis virulent untergebracht, also sein Kontext gefunden werden kann, des Äußersten: der Beschwörung des jüngsten Richters, also des entferntesten Fluchtpunkts, den je Menschen erdacht haben. Um den Preis dieser Entfernung nur wird die List wirksam (sie geht immer aufs Ganze) und kann der Resignation, der Verweigerung, dem völligen Verstummen neues Leben abgewinnen, neuen Zugriff. Nüchternes Wasser, und wenig.
Diese List ist die Spannfeder der poetischen Phantasie von Ilse Aichinger. Sie handhabt sie ähnlich wie die Kinder, die in einem Pappkarton sitzend Auto spielen und, vom Erwachsenen beim Wort genommen („Hast du ein tolles Auto!“), sofort darauf hinweisen, daß dies natürlich ein Pappkarton sei. Es steckt eine großartige Kraft in dieser List: die Kraft, auf der Basis des immer gerade je anderen das eigene Ich in Erfahrung zu bringen. Es ist, wenn man so will, die Geburt des Individuums, das standzuhalten beginnt gegen die überschwemmende Umwelt, standzuhalten um jeden Preis, ausgenommen den der Gewalt, gegen die es machtlos ist.
Es ist natürlich auch der Beginn der Alleingänge und der Einsamkeit, die dem Leser allzuoft auch in Ilse Aichingers Texten begegnen und zu schaffen machen. Aber dann kommt eben ihre List ins Spiel, die ein Auflachen des Erkennens auslöst und eine kleine Erlösung. So in der Geschichte „Mein grüner Esel“. Sie ist vom ersten Satz an eine einzige poetische Setzung, so daß einen beim Lesen bald schon gar nichts mehr wundert, was über diesen Esel alles gemutmaßt wird, der jeden Tag mit dem ersten unmerklichen Nachlassen des Lichtes über eine Eisenbahnbrücke geht, und dann heißt es plötzlich:

Mir scheint es, als wechselte er dann einige Worte mit den Geleisen, aber das ist wohl nicht möglich. Und zu welchem Zweck auch?

Da ist er, der Pappkarton: das Aufmucken: ich bin so frei: Die paradoxe Grundstruktur der Geschichte macht den verbrauchten Satz „das ist wohl nicht möglich“ wieder diskutabel.
Hier wird sichtbar der Streit eines Autors mit einer längst auf festen Geleisen laufenden, verselbständigten Sprechblasensprache, „in diesem Zeitalter, in dem alles erzählt und nichts angehört wird“, wie es in einem kürzlich veröffentlichten Aufsatz von Ilse Aichinger heißt. Zurückerobert werden in diesem Streit zunächst einmal kleine Nischen oder Höhlen der Sprache, in denen in Paradoxien oder gar doppelten Paradoxien alles auf den Kopf gestellt wird.
Das hat mit strahlender oder auch düsterer Schönheit weit weniger zu tun als mit Arbeit, die an jedem Wort solcher Gedichte getan werden muß, zuerst vom Autor, dann vom Leser. Denn es ist ja sehr anstrengend, eine List konsequent durchzuhalten, auf ähnliche oder doch vergleichbare Weise wie es anstrengend ist, eine Satire bis zum Ende konsequent durchzuhalten, glänzendstes Beispiel: Jonathan Swifts „Bescheidener Vorschlag, wie man verhüten kann, daß die Kinder armer Leute in Irland ihren Eltern oder dem Lande zur Last fallen, und wie sie der Allgemeinheit nutzbar gemacht werden können.“ Ilse Aichingers Hörspiel Knöpfe etwa hat als Ganzes diese unbeirrbare Konsequenz: Die Knöpfe produzierenden Fabrikarbeiterinnen kennen, sind sie erst lange genug dabei, keine größere Sehnsucht als zu ertrinken in ihrer eigenen Entfremdung: nämlich selbst in ein Prachtexemplar der Knöpfe zu verschwinden, deren Tausende sie produzieren.
Wie in jeder guten Satire ist ein solcher Umgang mit Sprache ein subversives Unternehmen: ein Gegenangriff gegen ihre Tendenz zur Verallgemeinerung, die ja nur scheinbar interesselos ist. Für Begütigung und Akklamation ist keine Zeit mehr, denn auf die Gewährenden ist kein Verlaß. Es gibt in dem Band ein vierzeiliges Gedicht mit dem Titel „Nachruf“. Zu Grabe getragen wird eine Heldenlegende:

NACHRUF

Gib mir den Mantel, Martin,
aber geh erst vom Sattel
und laß dein Schwert, wo es ist,
gib mir den ganzen.

Auch hier ist alles auf den Kopf gestellt. Der glänzende Ritter, dem erst der Bettler zu seinem Glanz verhalf, ist dem „plebejischen Blick“ ausgesetzt, er steht nun eher halbherzig da und mit zu groß geratener Geste. Mißtrauen gegen seine Güte ist angezeigt, das Anrecht auch des Schwächeren wird eingeklagt. Das Wort Schwert ist ein anderes in diesem Gedicht als das Wort Schwert in der Legende; auch hoch zu Roß heißt hier etwas anderes als dort. „Hör gut hin, Kleiner“, heißt es im Titelgedicht des Bandes „verschenkter Rat“:

Hör gut hin, Kleiner,
es gibt Weißblech, sagen sie,
es gibt die Welt,
prüfe, ob sie nicht lügen.

Nüchternes Wasser, und wenig.
In einer Reihe von Texten lassen sich Spuren entdecken der Suche nach der Identität des lyrischen Subjekts diesseits solcher schönfärbenden Historien- und Legendentradition. Das Gedicht „Tagsüber“ beginnt mit den Zeilen: „Ein ruhiger Junitag / bricht mir die Knochen“ und endet mit der Zeile:

Bleib, lieber Tag.

In dem Gedicht „Kleine Summe“, das insgesamt eine Anfrage an unser Verhältnis zur Geschichte ist, stehen die Zeilen: „Keine Verbindung erwirkt / zwischen den segelnden Napoleonsverehrern, / sie warten noch immer“; und weiter:

auch die Gemeinde der Flaubertisten
noch immer nicht endgültig
zu unterstützen bereit gewesen,
kein Leuchtzeichen entdeckt
zwischen mir und mir selber.

Versucht wird, auf den Graten der Sprache, eine Wanderung zwischen den Welten der fröhlichen Heldenverehrer und der liebenden Spötter, die, wie Flaubert, schreibend ihrem Lebensekel beizukommen trachten oder vielmehr umgekehrt: das Leben als Vorwand zum Schreiben verstehen wollen (der „Flaubertisten“). Doch ist „kein Leuchtzeichen entdeckt / zwischen mir und mir selber“, keine Identität gefunden, und so müssen immer wieder Abstürze, sprich: Kränkungen hingenommen, angenommen, ja, geliebt werden – um des Überlebens willen: die Geburt der Paradoxie.

Ein ruhiger Junitag
bricht mir die Knochen,

Bleib, lieber Tag.

Ein kleines Gedicht aus dem Jahr 1959 hat sich – für einmal – mit dieser Erfahrung versöhnt.

BRIEFWECHSEL

Wenn die Post nachts käme
und der Mond schöbe die Kränkungen
unter die Tür:
Sie erschienen wie Engel
in ihren weißen Gewändern
und stünden still im Flur.

Aber die Post wird wohl auf absehbare Zeit weiterhin „tagsüber“ kommen.

Gisela Lindemann, Die Zeit, 20.10.1978

Gedichte vom Überleben um keinen Preis 

Dreißig Jahre nach dem Roman Die größere Hoffnung, mit dem sie berühmt geworden ist, nach mehreren Erzähl- und Hörspielbänden seither legt die Österreicherin Ilse Aichinger ihren ersten Gedichtband vor, der vielfältig bestätigt, daß diese Autorin eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Gegenwartsliteratur ist. Der Band versammelt Gedichte, die zwischen 1955 und 1978 entstanden sind. Wer den früheren (größtenteils Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre geschriebenen) Gedichten nicht in Lyrikanthologien oder Aichinger-Sammelbänden begegnet ist, wird sie kaum zurückdatieren. Es verhält sich wie mit allem, was Ilse Aichinger geschrieben hat: Nichts davon ist je trend- oder modebewußt gewesen. Von daher auf Zeitferne zu schließen, wäre allerdings voreilig, und zwar ebenso gegenüber den frühen wie den neuen Gedichten des Bandes verschenkter Rat. Zeit ist aber bei Ilse Aichinger heute wie damals eine eingestanden, ja eigensinnig persönliche Erfahrung, und diese Eigensinnigkeit (das Wort ist auch in seine Bestandteile aufgelöst zu verstehen) macht, daß ein Gedicht von 1961 unter denen von 1977/78 in keiner Weise fremd wirkt. Ilse Aichingers Lyrik verändert sich weniger, als daß sie sich weiterentwickelt in der Radikalität der Frage- und Infragestellung, in der Verweigerung aller vorschnellen Tröstlichkeit, in der Demontage der Gläubigkeit und der Rehabilitierung der Ungläubigkeit, in der Gleichzeitigkeit, Gleichwertigkeit von Verschlossenheit und Unmißverständlichkeit.
Es lassen sich in der Sammlung Motive verfolgen und benennen: die Jäger, die Wölfe, die Schatten, die Kinder, die Engel, die Könige beispielsweise. Oder, besonders häufig, das Motiv von Schnee, Eis, Winter. Aber eine derartige Benennung der Motive ist wenig hilfreich, weil sie nichts aussagt über die Aichingerschen Methoden, systematisch über jegliche Leseerwartungen, die mit Motiven zusammenhängen, hinwegzugehen, sie durchwegs paradox und gegen den Strich zu verwenden, damit sie, vielleicht, in ihrer Unvertrautheit etwas in Bewegung bringen und aufklärerisch statt bestätigend wirken. Das ist am durchgehenden Motiv der Träume zu zeigen. „Denn was täte ich, wenn die Jäger nicht wären, meine Träume“, heißt es am Anfang des ersten Gedichts, „Gebirgsrand“. Wer sich darauf einrichtet, diese Verse als programmatisch zu verstehen, als Hinweis auf die Traumhaftigkeit der Aichingerschen Wirklichkeitserfahrung, wird später auf den „Befehl des Baumeisters beim Bau der Prinz-Eugen-Straße“ stoßen und die Eingangsverse dieses Gedichts:

Gleich zu Beginn
ein breiter Streifen Wind,
an einem Rande pflanzt den Essigbaum,
vergeßt die Tauben nicht,
und bald, ich schwör es,
geht der Staub
an euren Träumen hoch.

Und da ist nun nicht mehr die Rede davon, daß Wirklichkeit im Traum erfahrbar werde, sondern davon, wie Wirklichkeit die Träume einholt und überwältigt. Das letzte Gedicht des Bandes schließlich, „In einem“, hebt die Problematik überhaupt auf: „Und hätt ich keine Träume, / so wär ich doch kein anderer, / ich wär derselbe ohne Träume“, heißt es darin. Und angesichts dieser kinderreimartigen Verse, in denen das lyrische Ich fast naiv triumphierend auf sich selbst, mit oder ohne Träume, verweist, werden die alten Thesen, daß das Leben ein Traum sei oder Traum ein Leben, vollends ad absurdum geführt, es gibt keine Thesen, es gibt nur ihre Destruktion. Die Thematik Traum scheint ad acta gelegt, das letzte Wort dazu gesprochen – sofern sie nicht im vierten und letzten Vers des Gedichts der unvermuteten, ungehörig zusammenhanglosen Frage „wer rief mich heim?“, wieder aufgenommen ist, sich neu und endgültig unausschöpfbar etabliert.
Denn das ist eine der zentralen Erfahrungen beim Lesen von Aichinger-Gedichten: daß sie immer dort erst anfangen, wo sie aufhören. Äußerlich scheinen sie oft abschließende Gedichte zu sein solche die keine Widerrede zulassen, kein Palaver. Gelegentlich unterstreicht eine bösartig witzige Pointe dies Abschließende, Apodiktische: „Es ist zwölf geworden“, beginnt das Gedicht „Zeitrechnen“ – und das heißt zunächst einmal, daß es nicht mehr fünf vor zwölf ist. Vers vier führt den Gedanken weiter:

Es wird noch mehr werden als zwölf,
wenn es auch mehr als zwölf
so nicht werden kann.
Es wird dann eins.

Was ist hier, lakonisch, unaufwendig, dem Hohn anheimgegeben? Sind es diejenigen, die die Katastrophenmeldungen verbreiten, oder ist es die Tendenz, sie nicht ernst zu nehmen? Die Pointe reißt in Wirklichkeit erst auf, das Abschließende daran ist bloß Schein. Und wenn es auch unverkennbar ist, daß hier jemand mit einem ungeheuerlichem Vorsprung gegenüber einem selber Erfahrungen macht und formuliert: ob der Vorsprung auf Verzweiflung oder Selbstbewußtsein basiert, ist nicht auszumachen. Wahrscheinlich sind sie in Ilse Aichingers Gedichten ohnehin identisch, oder es bedingt das eine das andere und setzt es voraus. In den zahlreichen Gedichten, die Chiffren des Todes enthalten, erscheinen Verzweiflung und Selbstbewußtsein besonders oft auf die eine oder andere Weise gekoppelt. Zumal in den neuen Gedichten besteht immer wieder jemand, gefoltert und geschunden, allen möglichen Todesarten ausgesetzt, darauf, „grimmig und gelassen“ zu überleben. Nicht um jeden, sondern um keinen Preis. Im Sterben, im Tod zu überleben heißt das, „… grimmig und gelassen genug, wie die Schweine die allein… / in unserem stumpfen Wasser / zu ersticken wissen“, („Neuer Bund“). Und in „Tagsüber“ bricht ihr ein ruhiger Junitag in die Knochen, „verkehrt mich, / schleudert mich ans Tor, / … würgt mich / mit seinen frischen Schlingen / solang bis ich noch atme“. Auch dieses „bis ich noch atme“ (statt des eigentlich unausweichlichen: „bis ich nicht mehr atme“) – oder das „solange bis“ statt „solange als“) – ist weit mehr als Pointe, die eigentliche existentielle Erfahrung dieser Verse nämlich, die kulminiert im gleich anschließenden Schlußvers des Gedichts. „Bleib, lieber Tag“, lautet er und zeugt von der subversiven Fähigkeit des Sisyphus, der Fähigkeit zum höhnischen Einverständnis also, oder eben: zum Überleben um keinen Preis. Auch die dritte der „Möglichkeiten“ handelt davon, die Heiterkeit und Unanfechtbarkeit, womit einer „wenn ich zwischen den kranken Stämmen bei uns / schlafen gehe, / zwischen ganz anderen / und gesunden Stämmen, / aber mit einem leichten, kräftigen Seil / bei der Hand / hinaus auf die Wiese geht“.
Bei der Härte wie sie der beschwörende Aufruf zur Unabhängigkeit und zum Nichteinverständnis abverlangt, (wo doch „unser Einverständnis immer vorausgesetzt ist“, wo du „zum ersten, zum zweiten… glauben mußt –, wenn du es aber nicht glaubst, / sage ja / oder nicke willfährig mit dem Kopf, / das nehmen sie auch“), und bei der Illusionslosigkeit, die in diesen Gedichten so unablässig begründet ist, sind die Augenblicke der Zärtlichkeit und der Solidarität dann selten und kostbar. „Hör gut hin, Kleiner / es gibt Weißblech, sagen sie, / es gibt die Welt, / prüfe, ob sie nicht lügen“, heißt es am Schluß des Titelgedichts, und diese Aufforderung zum skeptischen Hinhören ist eine zärtliche. Zärtlich in all ihrer Radikalität und Tödlichkeit ist auch die Solidarität des tollwütigen Fuchses gegenüber dem Findelkind. „Dem Schnee untergeschoben“ ist es, und „den Feen nicht vorgewiesen“. Der Fuchs „erweist ihm rasch die ersten Zärtlichkeiten / bis er sich zitternd und gepeinigt / zum Sterben fortbegibt“. Eine andere Hilfe gibt es nicht, nur die, die der Fuchs dem Kind ist – eine aus dem Sterben, zum Sterben. Mütter, Jäger, Engel lassen das Kind allein:

Dann komm doch noch einmal,
alter, toller Helfer,
schleif dich zurück zu ihm
beiß es, verkratz es,
wärm es, wenn deine Räubertatzen noch warm sind,
denn außer dir kommt keiner,
sei g
ewiß.

„Dir zittern die Knie, / Jonathan, wenn du springst / und dich vorwagst“, heißt es in „Auf Sicht“. Und das ist, obwohl keinesfalls so gemeint, ein schönes Bild für die Gedichte der Ilse Aichinger. Gedichte, die sich weit vorwagen (und nicht in hermetische Räume, sondern ganz konkret erfahrbare), die „eine Hilfe, / aber keine Hilfe, / kein Trost, aber ein Trost“ sind (so heißt es in „Baumzeichen“, natürlich ebenfalls nicht über die Gedichte), deren exzeptioneller Rang weit leichter zu beschreiben ist, als sie selbst es sind.

Heinz F. Schafroth, Weltwoche, 15.11.1978 und auch in: Argauer Tagblatt, 10.2.1979

Eh die Träume rosten und brechen 

Die Grenzen zwischen Prosa und Poesie haben sich längst verflüssigt. Daß ungereimte Sätze nicht ungereimt, sondern schlüssig zu sein hatten, daß ihre Aufgabe eine informative, deskriptive, expressive, aber nicht unbedingt eine assoziative sei, fordert niemand mehr. Gleichwohl ist der Widerstand gegen hermetische Texte epischer Form noch immer ausgeprägter als der gegen lyrische Verschlüsselungen. Man erwartet von ihnen eine andere Art von Aussagewert. Konfrontiert mit langen Perioden metaphorischer Rätselspiele, dazu genötigt, sich über eine gewisse Zeitdauer hinaus in Sprachlabyrinthen aufzuhalten, verweigert der Leser eine Gefolgschaft, die er Gedichten weit eher zu leisten bereit ist, auch wenn er ihnen zuweilen ebenso ratlos gegenübersteht.
Ilse Aichinger ist seit ihrer ersten Veröffentlichung, dem Roman Die größere Hoffnung, zunehmend wirklichkeitsscheuer geworden, hat sich immer mehr in eine Geheimwelt zurückgezogen, die nur Spuren, Signale, Fragmente der äußeren Realität enthält. Das begann mit Eliza Eliza und hatte in ihrem letzten Prosaband schlechte Wörter einen Grad von Unwegsamkeit erreicht, wie er heute nur noch bei ihrer Landsmännin Friederike Mayröcker anzutreffen ist und sich von der „écriture automatique“ der Surrealisten kaum mehr unterscheidet. Auf sie, ja auf ihr großes Vorbild Lautréamont, der zum ersten Mal die „Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ postulierte, kann Ilse Aichinger sich berufen. Jene Regel André Bretons von den zwei voneinander entfernten Wirklichkeiten, die ein desto stärkeres Bild ergeben, je größer die Distanz zwischen ihnen ist, hat sie sich offenbar zu eigen gemacht.
Einige Beispiele aus den schlechten Wörtern mögen dafür zeugen. In dem Text „Sur le bonheur“ die Stelle:

Wo sie die hübschen geschwärzten Steine hernehmen? Steigbügel vielleicht. Da muß ein Joker her, einer, der durchflieht ohne Lichter.

In „Galy Sad“:

Hinunterlassen, Warten, warten, aufhalten. Winnipeg möchte noch einen Strich häkeln, rund um die Knöchel. Winnipeg ist langsam. Schreibt sich falsch und häkelt gerade, immer rundum.

In „Queens“:

Das soll kein Ende sein, wenn es eines sein soll, Enden genug, längsseits und diesseits, zu Füßen und zu Füßen, wenn du willst, Endlein, vierzehn Schnipsel, synthetics, Perlen und Teufel, das macht sich, Mary…

und so fort.
Gewiß läßt sich in den Vexierbildern, mit großer Geduld, dieser oder jene neue Umriß ausnehmen, gewiß lösen diese oder jene Sigel – ein Wort das man der Kurzschrift entlehnen, aber auch in seinem Doppelsinn verwenden darf – bestimmte Gedankenketten aus. Wie weit man Ilse Aichinger jedoch auf ihren verschlungenen Pfaden in der Tat begleitet, an welcher Biegung man abirrt, ist nicht nachprüfbar.
Derlei war zu sagen, bevor die Rede auf ihren jüngsten Band kommt, eine Gedichtsammlung des Titels verschenkter Rat. Denn hier ereignet sich, wenn nicht immer, doch immer wieder, das Pfingstwunder der gelösten Zungen, der gehörten Stimmen, der gelungenen Kommunion. Auch wer gestehen muß, daß er jenes inspirierten Nachvollzuges, jenes imitativen Schöpfungsaktes, der zum Verständnis von Ilse Aichingers später Prosa nötig ist, nicht immer fähig war, kann sich nun, häufig genug, in vollem Akkord mit ihr finden, büßt während eines ganzen Gedichtes die Fühlung mit ihr nicht ein. Wenn Dichter und Leser vorzustellen sind wie Orpheus, der vorangeht durch Dunkelheiten, vorbei an staunenswerten, auch erschreckenden Gesichtern, und Eurydike, die dicht hinter ihm schreitet, die Hand vertrauensvoll auf seine Schulter gelegt, dann gilt das Bild für den Großteil dieses Bandes.
Freilich, wie alle Metaphern hat auch diese ihre Widersprüche. Darf Orpheus Eurydike nicht ansehen, sich nicht umwenden, er verlöre sie denn, so sollte doch der Leser dem Dichter niemals völlig aus dem Blickfeld geraten. Im Gegenteil müßte dieser sich ab und zu vergewissern, daß jener ihm nicht abtrünnig wird, müßte zumindest nach der Hand auf seiner Schulter tasten, um sicher zu sein, daß der Kontakt nicht abgerissen ist. Aber Gleichnisse sollen auch nicht zu weit getrieben werden. Genug daran, daß es leicht, ja beglückend ist, Ilse Aichinger in diesem Gedichtband zu folgen, daß sie uns darin selten entschlüpft, aus den Augen gerät, sich von uns lossagt und uns ratlos zurückläßt. Nein, sie verschenkt hier ihren Rat, und hat sie dem Wort auch einen bitteren Beigeschmack gegeben, als wäre, was sie zu sagen hat, an uns vertan, so sollten wir uns desto mehr dafür bedanken.
Vierundneunzig Gedichte, ohne Hinweis auf ihre Entstehungszeit im Lauf der letzten drei Jahrzehnte aneinandergereiht – auf welche sich beziehen, von welchen handeln? Hier hilft nur äußerste Subjektivität, nur das Eingeständnis, von vielen durchaus, mit Leib und Seele, Haut und Haaren ergriffen worden zu sein und nur von wenigen so kalt, so sehr im Stich gelassen wie von Ilse Aichingers obskurster und unzugänglichster Prosa. Zu den vielen, ihnen allen voran, gehört für die Rezensentin das Gedicht „Widmung“, in dem eine so kühne wie eindringliche Vision den Übergang zum Tod durch einen Gang in den kosmischen Raum enthüllt: 

Ich schreibe euch keine Briefe,
aber es wäre mir leicht, mit euch zu sterben
Wir ließen uns sacht die Monde hinunter,
und läge die erste Rast noch bei
den wollenen Herzen,
die zweite fände uns schon mit Wölfen und Himbeergrün
und dem nichts lindernden Feuer,
die dritte, da wär ich
durch das fallende dünne Gewölk mit
seinen spärlichen Moosen
und das arme Gewimmel der Sterne,
das wir so leicht überschritten,
in eurem Himmel bei euch.

Es heißt, auch die mißlungenste poetische Hervorbringung enthalte zumindest eine Zeile, die das wahre Gefühl und den kreativen Drang ihres Urhebers überzeugend offenbart. Wenn hier auch Auszüge aus Gedichten zitiert werden, dann keineswegs, um eine etwaige Unzulänglichkeit des Restes zu vertuschen. Verblüffend ist vielmehr, wie sehr Ilse Aichinger fast allenthalben den Ton durchhält, wie sie mit keinem Wort absinkt, sondern eine Fülle makelloser Sprachgebilde von einheitlicher Substanz und Konsistenz geschaffen hat, die durch keinen fremden Reiz, keinen weit hergeholten Bildungsbegriff gestört sind. Das mag sich erschöpfen in einem einzigen lyrischen Satz wie „Winterfrüh“:

Eh die Träume rosten und brechen,
laß die Geliebten drauf hinunterfahren,
die Großen und die Kleinen in den grauen
Mänteln,
schaut her, die helle Bahn, das Eis

Und es mag über dreißig Zeilen andauern wie in dem Gedicht „Findelkind“, das beginnt:

Dem Schnee untergeschoben,
den Engeln nicht genannt.

Soll man es wagen, die verschwiegene Chronologie selbst herzustellen etwa in dem Gedicht „Meiner Großmutter“ einen ihrer frühesten Versuche zu sehen? Es wurde ja, zugleich mit anderen dieser Sammlung, bereits in dem vergriffenen Band Wo ich wohne (1963) gedruckt. Wenig spricht für eine Mißachtung des Wunsches der Autorin, hier nicht festgelegt zu werden auf eine literarische Entwicklung, ihre Lyrik als eine immer wiederkehrende, zu sich selbst zurückfindende Ausdrucksform zu sehen. Denn gerade in der Poesie, die zur Esoterik und Hermetik weit eher Anlaß gäbe als die Prosa, verharrt Ilse Aichinger in einer Schlichtheit, einer Geschlossenheit, die etwas Zeitloses, Überzeitliches hat. Das Gedicht „Hochzeitszug“ etwa: 

Wir kamen zum Baum von Holnis
und fanden darunter
viel samtene Kinder,
die schliefen
und hatten die Augen
weit offen im Traum,
es glänzten im Heu die Kirschen
zwischen den Scheunentüren,
das blaue Gekräusel,
alte Wagenräder,
noch Schatten entfernten Jubels,
längst landeinwärts gerollt,
wer sagte, zur See?

Es hätte jetzt wie vor dreißig Jahren verfaßt worden sein können, als Ilse Aichinger mit einer berückend arglosen – und heute noch unverminderten – Mädchenhaftigkeit auf die Szene trat. In jedem Fall geben uns diese schönen, klaren, bis auf den Grund durchschaubaren Erzeugnisse die Hoffnung, daß ihre Urheberin, auch wenn sie sich der ungebundenen Schreibart bedient, die labyrinthenen Wege wieder verlassen und aus ihrem eigenen Wesensgrund die herzzerreißende Gelassenheit schöpfen werde, aus der, unter anderen das Gedicht „Abgezählt“ entstand: 

Der Tag, an dem du
ohne Schuhe ins Eis kamst,
der Tag, an dem
die beiden Kälber
zum Schlachten getrieben wurden,
der Tag, an dem ich
mir das linke Auge durchschoß,
aber nicht mehr,
der Tag, an dem
in der Fleischerzeitung stand,
das Leben geht weiter,
der Tag, an dem es weiterging.

Hilde Spiel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.11.1978

Verschenkter Rat 

Verschenkter Rat1 enthält den Großteil von Aichingers zwischen 1955 und 1977 entstandenen Gedichten, die zum Teil auch in Zeitschriften und Sammelbänden abgedruckt wurden. Die Zusammenstellung der Gedichte ist nicht chronologisch, sondern thematisch. Sie sollen daher im Kontext, in dem sie erscheinen, besprochen werden. Die einzeln veröffentlichten, aber nicht in Verschenkter Rat aufgenommenen Texte sollen anschließend besprochen werden.
Schon Aichingers frühe Lyrik zeichnet sich durch sprachliche Ökonomie aus. Die Aussagen sind hochdifferenziert, weshalb die verwendete reimlose, von Gedicht zu Gedicht variierende, freie Form mit verschieden langen Zeilen adäquater ist als strenge traditionelle Metren und Reimschemata.2 Ausdrucksmittel, Ton, Stimmung und Aussage bilden eine unauflösliche Einheit. Sowohl auf inhaltlicher wie sprachlicher Ebene werden alle Nuancen präzise erfaßt, sei es durch Assoziationsketten, Aussagemodus oder Wortspiele. Manche Gedichte, oft diejenigen, hinter denen sich ein starkes emotionales Engagement vermuten läßt, sind wortarm und enthalten wenig Deskriptives. Andere, meist emotional distanzierter und phantasievoller, fallen durch ihre expressiven Details auf, durch die Farben, die unerwarteten Objekte. Fleming stellt fest, Aichingers Lyrik stehe in Beziehung zu der Dichtung des Alogischen, der somnambulen, halluzinatorischen Inhalte, die aus dem Halbbewußten und Unterbewußten stammen und zieht die Verbindung zu Rimbaud und Lautréamont, weist jedoch auch auf den Okkultismus, die Alchimie und die Kabbala hin. Unter Berufung auf J. Greca stellt sie Aichingers Lyrik in den Zusammenhang mit einer modernen Sehnsucht nach dem Mysterium, „wie sie seit den Romantikern als Reaktion gegen die Rationalität von Humanismus und Klassizismus nachweisbar ist.“3
Obwohl diesen Beobachtungen zum Teil zuzustimmen ist, – letztlich stammen meditative Visionen und Einsichten aus dem Bereich des Halb- und Unterbewußten – erfassen sie nicht den Charakter der Aichingerschen Dichtung vollständig. Im Laufe des Bandes läßt sich eine Wandlung der Ansichten nachweisen, die, ausgehend von der Einleitung durch „Gebirgsrand“ (Rat, S. 7, geschrieben 1958) bis hin zu „In einem“, (Rat, S. 94, geschrieben nach 1974) immer mehr auf eine Balance zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen hinstrebt. Zudem mag die „Dunkelheit“4 der Gedichte nicht einem ästhetischen Prinzip entsprechen, sondern in den Ausgangs- und Bezugspunkten ihrer Dichtung angesiedelt sein. Die Themen, Stimmungen und Probleme, die für Aichingers Prosatexte charakteristisch sind, kehren in den Gedichten wieder, z.B. die Erinnerungen an die Jahre der Verfolgung, die daraus erwachsene Bitterkeit, das Bewußtsein, das den Zeitgenossen diese Erinnerungen unbequem, wenn nicht lästig sind, das Mißtrauen vor dem schönen Schein der Gegenwart und der zur Schau getragenen Stabilität. Die Gedichte loten alle Aspekte der Existenz, der privaten und öffentlichen, mit Vorsicht und Skepsis aus. Die Suche nach einer schlüssigen Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und dem darin eingeschlossenen Leiden, die als fruchtlos erkannt oder irreführend verworfen wird, bestimmen Inhalt und Form zahlreicher Texte. Jedes einzelne Gedicht wirkt als Teil eines Prismas, das eine Teilansicht des verwirrenden Gesamteindrucks wiedergibt, wobei Gedichte einander komplementieren oder aufheben können, ohne daß eine alles überschauende Perspektive je erreicht wird. Die Ablehnung von Dogmen manifestiert sich auch in der Lyrik in der Ironisierung christlicher Vorstellungen und traditionsbedingter Verhaltensweisen, die in verschiedenen Texten als paradigmatisch für Heuchelei und dummnaives Selbst- und Gottesvertrauen auftreten.
Trotzdem entbehrt Aichingers Dichtung der transzendentalen Perspektive nicht. Lächerlich und grotesk ist in ihrem Kontext nur der anthropomorphisierte, persönliche, rechnende, berechnende und rächende Gott, unvorstellbar der Glaube an eine göttliche Rache für die „Sünden“ im perfekter Geschöpfe in einer imperfekten Welt. Statt einer spezifisch gerichteten religiösen Überzeugung werden Zweifel geäußert. Die agnostische Haltung wechselt oft über in mystische Hoffnung und Sicherheit. Die Suche als Prinzip der Expansion im Gegensatz zu erdrückender Starre und Stagnation ist gerichtete Bewegung und Ziel zugleich.
Geborgenheit, ein häufig auftretendes Wunschbild, ist innerhalb des menschlichen Daseins nicht möglich. Der sich auf dieser Ebene manifestierende Pessimismus, das Gefühl der Ausgestoßen- und Isoliertheit, besitzt jedoch einen ihm eigenen Wert: es ist die Treibfeder, die Suche fortzusetzen, und damit die Sicherung gegen die Erstarrung. Durchweg negativ ist die Haltung in den meisten Gedichten die Zukunft der Menschheit durch Fortschritt betreffend. Gedichte, die Optimismus andeuten, indem sie eine, wenngleich gefährdete, friedliche und heile Welt andeuten wie „Marianne“, fallen als Ausnahmen sofort ins Auge.
Trotz der subjektiven Sageweisen und der bereits erwähnten „Dunkelheit“ ist Aichingers Lyrik nicht privat. Es findet sich unter den Gedichten kein explizites „Bekenntnisgedicht“. Ebensowenig existieren unverhüllte Liebesgedichte oder Texte, die von einer unzweideutig persönlichen Situation ausgehen. Emotionen werden nicht ausgesprochen, sondern durch die Verwendung eines spezifischen Sprachmaterials angedeutet. Sie werden durch den Ton des jeweiligen Gedichtes kommuniziert, nicht aber durch konkret gelieferten Inhalt.
Die potentiell intimen Anspielungen sind sorgfältig verschüttet und biographisch begründete emotionale Spannungen sind besonders den Auslassungen zu entnehmen, wofür „Mein Vater“ wohl eines der besten Beispiele ist. Gerade das nicht Gesagte ist der überwältigende Faktor. Der Leser wird gezwungen, zwischen den Zeilen zu lesen und die unausgesprochenen Gefühle von seiner eigenen Perspektive und Erwartung her miteinzubringen. Symbole und Bilder sind chiffrenhafter, das heißt, verhüllender, statt illustrierender Art. Oft erfüllen sie nicht die Funktion der klärenden Bildlichmachung, sondern die des Abschlusses vor dem zu unmittelbaren Zugriff. Es sind gerade die letzteren Elemente, die Aichingers Lyrik ihren unverkennbaren, unsentimentalen Charakter geben. Der Sprecher interpretiert die lyrische Aussage nicht selber und legt sein Herz nicht offen dar. Er sagt so viel, wie nötig ist, um Ton und Stimmung in einen umrißweisen Kontext zu setzen. Verweilen auf seelischen Zu- und Umständen findet nicht statt.
Auf diese Weise wird der Leser aktiv in den dichterischen Prozeß miteingeschlossen. Die Gedichte bilden einen Anstoß zur Meditation – zum Denken, Fühlen, Reagieren, – weil sie frei von Erläuterungen sind. Sie gewinnen ihren universalen Charakter dadurch, daß sie spezifische Bezüge und Zusammenhänge weitgehend aussparen, so daß der Leser angeregt wird, die Skizze, das mentale Bild, zu vervollständigen, seine Assoziationen in den poetischen Kontext zu integrieren. Die Kürze und Offenheit der meisten Texte bedingen diesen bewußt fragmentarischen Charakter, der auch in den späteren Prosatexten einen Hauptaspekt der Textdynamik bildet.
Das Thema „Träume“ bildet den Rahmen für den Gedichtband. Das erste Gedicht „Gebirgsrand“ (Rat, S. 7, geschrieben 1958) nennt Träume, Prozesse der visuellen und akustischen Vorstellung und Konzeptionalisierung, als einen substantiellen Bestandteil für die Persönlichkeit des Sprechers. Die letzte, rhetorische Frage impliziert, daß der Sprecher ohne seine Träume substanzlos sei. Die innere, subjektive, von ihm jedoch als objektiv wahrgenommene Welt steht auf der Wertskala des Sprechers höher als die alltäglichen Erfahrungen. Bei den Träumen handelt es sich nicht notwendigerweise um angenehme, den Eskapismus ermöglichende Erscheinungen. Wie ihre Gleichsetzung mit Jägern deutlich macht, drängen sie sich auf, verfolgen, beängstigen. Der Zeitpunkt des Tagesanbruchs, der die Rückkehr dieser vom Ich unabhängigen Entitäten in die Psyche veranlaßt, ist Thema des Gedichtes. Der sich frei bewegende, unterbewußte Aspekt des Ich wird von dem wachen, kontrollierten abgelöst. Die Emphase liegt auf dem nicht gelenkten Teil der Persönlichkeit, dessen Reich Dunkelheit und Nacht sind, in denen die schöpferischen Qualitäten angesiedelt sind.
Die Idee einer Dichotomie hell-dunkel, rational-kompulsiv, kreativ, die hier anklingt, erinnert an Gedankengut der deutschen Romantik, vielleicht auch an die Vorstellungen von appollinisch-dionysisch, nach denen rationales, waches Dasein und die nächtlich-bedrängende Kreativität einander widersprechen. Jedoch muß dies nicht die Zentralaussage dieses Gedichtes sein. An keiner Stelle wird Künstlertum verbatim erwähnt. In Hinblick auf die Biographie Aichingers kann es sich um bedrängende Träume handeln, die den Sprecher verfolgen, und die, als Jäger, noch immer Vorstellungen aus der Vergangenheit nachjagen, Bilder, die während des Tages ausgelöscht scheinen. Damit spräche der Text eine persönlich begründete Identitätsfrage an. Obwohl bei Tage nicht sichtbar, konstituieren Zwangsvorstellungen und Erinnerungen einen bedeutenden Teil der Identität des Sprechers. Obwohl sie bedrängen, möchte er sich nicht von ihnen lösen, da sie ihn zu dem, was er ist, haben werden lassen. Die Zurückweisung des Schmerzhaften und Getriebenen würde gleichzeitig die Zurückweisung des eigenen Selbst bedeuten.
Das letzte Gedicht des Bandes, zuerst erschienen in Austriaca,5 der Festschrift für den bekannten österreichisch-amerikanischen Germanisten und Schriftsteller Heinz Politzer, qualifiziert interessanterweise die Sichtweise enthalten in „Gebirgsrand“. „In einem“ (Rat, S. 94) wirkt wie eine Antwort auf das ältere Gedicht. Das lyrische Ich bezweifelt seine Identität auch im nichtträumenden Zustand nicht mehr. Es versteht die Träume als eine bedeutende Beigabe, deren Fehlen aber die Existenz des Sprechers nicht in Frage stellt. Rationales und kontrolliertes Dasein hält sich die Waage mit objektivierten, der intellektuellen Kontrolle entzogenen, Visionen als Konstituenten der Persönlichkeit. Der Impetus jedoch liegt auf dem wachen Ich. Auch die Natur der Träume hat sich verändert. Statt kompulsiv zu jagen vermitteln sie das Gefühl für ein unerläutert gelassenes „heim“, (Z. 4) einen ersehnten Ort der Geborgenheit oder metaphysischen Ruhepunkt. Jedoch ist das wache Ich auch ohne diesen erlangt zu haben, eine unabhängige Einheit, befindet sich jedoch in der Fremde. Während das unterbewußte Ich so den Konnex mit tieferen, überpersönlichen Einheiten darstellt, durch die die emotionale Identifikation mit einem Seinsgrund, der Sicherheit bedeutet, möglich wird, ist die wache Persönlichkeit das Element, das den Sprecher begrenzt, isoliert und unverwechselbar macht. Der entgrenzende und begrenzende Faktor werden gegenübergestellt. Die scheinbar ausgewogene Bewertung der Persönlichkeitsteile in „Gebirgsrand“ wird so am Ende der Gedichtsammlung, die in ihren Bewegungen, Entwicklungen und Stellungnahmen eine Suche darstellt, die Suche letztlich nach Weisheit, deren partielle Gewinnung durch die Rat enthaltenden Gedichte reflektiert wird, zurückgenommen und durch eine neue Balance ersetzt, die auf eine persönliche und dichterische Entwicklung hindeutet, nach der sich nun kritisches Verstehen, Emotionalität, Analyse und Inspiration ergänzen.
Der Sprecher bezweifelt seine Identität nicht mehr. Es ist ihm gelungen, die Elemente, die in „Gebirgsrand“ vornehmlich zwanghaft waren, in seinen Intellekt zu inkorporieren, wodurch ihnen die Explosivität und Bedrohlichkeit genommen wird, die die Träume als Jäger besitzen. Der Bereich des Traums und der Vision wird freigesetzt zu Hoffnung und Ruhe. In diesem Sinne kann Verschenkter Rat als ein Versuch der Bewältigung des Unverständlichen, Erregenden, des Grauens, verstanden werden, ein Prozeß, der sich in lyrischen Werken dreier Jahrzehnte widerspiegelt und mit „In einem“ seinen vorläufigen Abschluß erreicht hat.
Die ersten drei Gedichte enthalten den Kontrast einer kindlich-idyllischen, aber entweder verlorenen oder bedrohten Welt und einer trostlosen, gefährdeten Gegenwart. „Winterantwort“ (Rat, S. 8, geschrieben 1960) ist eines der bekanntesten Gedichte Aichingers. Im Zentrum steht eine Welt, die den Anspruch auf Betrachtung (Contemplatio im Sinne eingehender Meditation durch alle Sinnesorgane) erhebt, wohingegen die Fähigkeiten des Betrachters unzulänglich und außerstande sind, diese Betrachtung adäquat vorzunehmen. Der Sprecher wirkt seiner Sinne beraubt und desorientiert. Die Person, die ihm die Anleitung zum richtigen Betrachten geben könnte, die Großmutter, das Urbild der weisen alten Frau, die für den kindlichen Mangel an Erkenntnis ihre Wahrnehmungen liebevoll einsetzen könnte, ist nicht da. Durch den fast beschwörenden Anruf an die ältere Führerin wird der Eindruck wachgerufen, daß einmal, zu einer besseren Zeit in einer früheren Generation, Kontakt zwischen Mensch und Welt noch naiv und unmittelbar möglich war, von dem die Enkel entfremdet sind. Das Erleben der Welt ist verarmt und der Sprecher seines Vermittlers, der über Spontaneität und Weisheit verfügt, beraubt. Die Frage an die Abwesende erinnert an „Rotkäppchen und der Wolf“6 – das Element der mütterlichen Güte ist durch ein destruktives ersetzt worden. Die letzten vier Zeilen distanzieren sich von der kindlichen Aufnahme der Umweltphänomene. Erwachsenes „Wissen“ (Z. 15) nimmt die Stelle der Sinneswahrnehmungen ein, des „Sehens“, (Z. 4) Hörens, (Z. 6) Schmeckens, (Z. 7) Riechens, (Z. 8) des Fühlens. (Z. 9) Orientierung durch direkten Kontakt ist mit abstraktem Wissen vertauscht worden, Intimität durch Ferne. Helligkeit in einer übersichtlichen Landschaft steht an der Stelle des Waldes – Klarheit, wo früher Obskurheit und Geheimnis waren.
Deutlich ist die Melancholie des Sprechers über diese Entwicklung. Die analytischen Fähigkeiten entfremden ihn von der naiven Sinnlichkeit, der Geborgenheit und dem Vertrauen, eingeflößt durch die Weisungen einer mütterlichen Gestalt. Ihr gilt die Sehnsucht des Sprechers noch immer, mit ihr verknüpft sich das Thema des verlorenen Paradieses, ähnlich wie Ellens Sehnsucht der Mutter, ihrem Gesicht, gilt. Im Umkreise einer solchen verlorenen, zärtlichen, weisen Gestalt manifestiert sich der metaphysische Ort, der in „In einem“ als „heim“ bezeichnet wird, der Ausgangs- und Endpunkt des Existierens in der Fremde der modernen erwachsenen Welt.7
Auch „Sonntagvormittag“ (Rat, S. 9) handelt von der Distanz von der Umwelt. Aus der Entfernung betrachtet der Sprecher die Vorgänge an einem Sonntagvormittag, den Kirchgang, Erinnerungen an ein kindliches Gottvertrauen werden wach. Die naive Frömmigkeit, die die ersten drei Zeilen mit einfachsten sprachlichen Mitteln evozieren, ist dem Sprecher nicht mehr geläufig. Das Vokabular zur Darstellung der Anbetung ist unpretentiös und selbstverständlich – wie entliehen aus Kindergottesdiensten und Kirchenliedern. Jedoch befindet sich der Sprecher nicht auf dem Wege zur Kirche, sondern geht zu den Höfen, (Z. 5) er bewegt sich in der entgegengesetzten Richtung. Der nahe Schnee suggeriert Kälte, die sowohl mit dem Sprecher selbst wie auch mit den Beobachteten assoziiert werden kann. Zweifel an der Echtheit der frommen Gefühle kommt auf, an der Ehrlichkeit der Anbetenden, und letztlich an der Möglichkeit, aus der Distanz des Erwachsenen unverstellter Gefühle und eines unbedingten Gottvertrauens fähig zu sein.
„Marianne“ (Rat, S. 10, geschrieben 1955) ist dem Ton nach hoffnungsvoll, beherrscht von dem Motiv des Kindes. Das Kind ist physisch anwesend und bildet den Gegenpol zu dem über es reflektierenden Erwachsenen, dem die kindliche Gegenwart Trost spendet. Wenngleich sich der Sprecher auf diese Weise als Leidender ausweist, ist trotz der Ambivalenzen, z.B. der unmittelbaren Nähe der Schmiede, (Z. 4) eines Ortes gewalttätiger erwachsener Produktion, das Element der Versöhnung, das Kind, in seiner unmittelbaren Nähe. „Goldene Nächte“ (Z. 2) evoziert Pracht und Fülle, materiellen Überfluß, der allein, ohne das schlafende Kind, die Leiden des Sprechers nicht besänftigen könnte. Die Szenerie des Gedichtes ist überschaubare ländliche Einfachheit, angedeutet durch die Schmiede und die Tiere.
Die aufgehende Sonne wird dem Kind zugeordnet, „seine Sonne“ (Z. 5). Die Sonne und das sich ihr anpassende Geflügel, das zur gleichen Zeit wie das Kind erwacht, bilden den natürlichen Tagesablauf, während der Sprecher in seinen „goldenen“ Nächten, die Nacht zum Tage macht. Er hat seinen elementaren Stundenplan, der sich an Planeten und Tieren orientiert, verloren. Während der Morgen des Kindes Unschuld und Frische anklingen läßt, wohnt in den Nächten des Sprechers etwas Dekadentes inne. Jedoch beeinflussen diese Obertöne den harmonischen Gesamteindruck des Gedichtes nur wenig. Die komplette Syntax und der ruhige Ton lassen die Identifikation des Sprechers mit dem Kind als seiner Hoffnung so eng erscheinen, daß er selbst regeneriert wird. Die Zuversicht läßt den Sprecher die Entfremdung überwinden.
Die nächsten beiden Gedichte haben die zersplitterte Gegenwart des Alltagslebens zum Thema. „Außer Landes“ (Rat, S. 11, geschrieben 1959) betont die Aspekte der Fremdheit, die bereits durch die bruchstückhafte Syntax indiziert werden. Der Titel kann zweierlei bedeuten. Zum einen mag er sich tatsächlich auf das Ausland beziehen, zum anderen jedoch auf eine Fremde, verstanden als geistiger Ort, die nicht-anheimelnde und nicht-heimische Gegenwart. „Die erstarkten Tauben“, wie Fleming anmerkt, sind ein Hinweis darauf, daß es sich um ein Land handelt, in dem jetzt Frieden herrscht,8Fleming, S. 285 möglicherweise Deutschland oder Österreich, Länder, die dem Sprecher bekannt, in ihrer Nachkriegssituation jedoch noch immer fremd sind. Die Leihbücher sind wörtlich wie in übertragenem Sinne fremder Besitz, weder als Gegenstände noch den in ihnen enthaltenen Erfahrungen nach, Eigentum des Sprechers. Sowohl die Bücher wie die Tauben, wenn sie als Brieftauben verwendet werden, weisen auf Kommunikation, die Verständigung und Frieden befördern könnte. Der zweite Teil des Gedichtes, bestehend aus einem langen, unvollständigen Satz, der unerwartete und paradoxe Vorstellungen vermittelt, unterminiert die oberflächlichen Signale einer sich anbahnenden Sicherheit. Durch die Exklusivität des „wir“ ordnet der Sprecher sich einer kleinen Gruppe zu, für die er bereits die Flüchtlingssituation projiziert:

Orte, die wir zu verlassen imstande sind. (Zz. 3–5)

Die Lage dieses wir ist die von Außenseitern, gleich fremd und gleich zu Hause, wo immer sie sich befinden.9 Steine oder Sand, außerhalb der Gärten, des menschlich kultivierten Bereiches, werden als verläßlicher betrachtet denn die zivilisierte Umgebung, wodurch die vage Hoffnung auf die Verständigung von Mensch zu Mensch, die sich zu Beginn andeutet, zurückgenommen wird.
Die Transponierung der Substanz von außen nach innen, bis der empirischen Welt das Gewicht genommen ist, ist konträr zu der Welterfahrung in „Marianne“ und „Winterantwort“. Mensch und Umgebung sind aus der Sicht der Großmutter und des Kindes gleich bedeutend. Die Interaktion beider ist essentiell, während in „Außer Landes“ die Details der Umgebung gleichgültig sind. Der Sprecher hat sich gegen sie immun gemacht. Zu seinem eigenen Wohlergehen ist es notwendig, daß sich abschließt und die Fremdheit auf sich nimmt. Gleichwohl ist die Harmonie, die besonders „Marianne“ auszeichnet, verloren und die gewonnene Sicherheit, errungen durch Verlust und die Entwicklung eines Stoizismus, von dem nur die unmittelbare Intimsphäre, das „wir“, ausgenommen ist.
„Widmung“ (Rat, S. 12, geschrieben 1961) konzentriert sich auf die persönliche Loyalität, die bereits in dem „wir“ des zuvor besprochenen Gedichtes angedeutet wurde. Diese läßt sich nicht mit den üblichen Kategorien wie „Heimatgefühl“, zur Schau gestellter Affektion und gesellschaftlicher Formalitäten fassen, ist aber verpflichtender als ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich gesellschaftlich sanktionierter Ausdrucksmittel bedient. Wer das angeredete „ihr“ ist, wird verschwiegen. Deutlich ist nur, daß das Ich mit ihm eine existentielle Identifikation vornimmt. Durch die Intensität dieser Zugehörigkeit bis in den Tod wird eine Personengruppe suggeriert, die in potentieller Unsicherheit und Bedrohung lebt, denn trotz des konjunktivischen Sprechens ist die Bildlichkeit intensiv bei der Beschreibung dieses Todes und vermittelt mehr eine Wahrscheinlichkeit als nur eine entfernte Möglichkeit. Die Sanftheit, die die kosmischen Bilder beherrscht, setzt den Grundton für die positive Gemeinschaft, während das Außen, die anderen, als pervers dargestellt werden. „Wollene Herzen“ (Z. 6) charakterisieren die artifizielle Wärme, die nicht ehrlich gemeint ist. Der Weg der Freunde ist von Raubtieren, Wildnis und Feuer bedroht, Gewalt und Gefahr. Das Ich ist haltlos unter den Fremden, während es durch ein wüstenhaftes Universum taumelt, in dem keine Spur von einer gnadenreichen Transzendenz zu finden ist. Sicherheit und Festigkeit kommen aus dem Zusammengehörigkeitsgefühl mit den als gleich Erkannten. Stabilität wird durch das persönliche Verhältnis, nicht durch abstraktes Vertrauen zu der Welt, ihren Menschen oder einem Gott ermöglicht. Angesichts einer persönlich empfundenen Sicherheit wird selbst der Tod leicht. Ein individuelles Vertrauensverhältnis läßt die Außenwelt, selbst das Überleben, als entscheidenden Faktor für Glück oder Freude in den Hintergrund treten. Die subjektive Geborgenheit ist basiert auf menschlicher Intimität, Vertrauen zu wenigen und einem gemeinsamen Schicksal.
„Mägdemangel“ (Rat, S. 13, geschrieben 1960) und „Die trüben Stunden nutzend“ (Rat, S. 14, geschrieben 1958) kontrastieren die vorigen zwei Gedichte, indem sie Prozesse der Desorientierung und Vereinsamung nachzeichnen, die über den Verlust der persönlichen Sicherheit zum Aufheben der Identität führen. „Mägdemangel“ beschreibt das Fehlen des festen Standpunktes. Die einleitende Fragenserie suggeriert Hilflosigkeit. Es handelt sich, wie durch den Titel vorgeschlagen, um eine Gruppe Herrschender, die nach dem Exodus der Dienenden ihren Bezugspunkt verloren haben. Obwohl die Mägde als Unterprivilegierte behandelt wurden – die primitive Eßweise mit dem Löffel deutet auf ihre kargen Lebensumstände hin – und arm gegangen sind – sie haben nur Steine in ihren Schuhen, wahrscheinlich unter Schmerzen, mit sich genommen – haben sie durch ihren Auszug die Welt der Herren verändert. Die nun vermißten Dienste werden nicht konkret genannt, sondern in Naturbildern chiffriert. Aus diesen geht hervor, daß es sich um Verwaltungs- und Ausbesserungsarbeiten handelte. Jedoch weist das Abriegeln der Plätze (Z. 3) auch auf Handlangerdienste hin. Die Mägde stehen für diejenigen, auf die unbequeme und zum Teil absurde und kompromittierende Arbeiten abgewälzt werden.
Das Resultat der Abwanderung ist Vereinsamung. Mit den Dienenden ist das Bewußtsein der Sicherheit für die Sprecher geschwunden. Die Mägde trennten, wie Stoßdämpfer, die Herrschenden von unmittelbarem Kontakt mit der Realität. Das Trostbedürfnis der Hinterlassenen entsteht aus der nun erst deutlich verspürten Notwendigkeit zur Selbstverantwortung. In Wirklichkeit waren die Herrschenden abhängig von den Dienenden, besonders dadurch, daß sie ihnen die Verantwortung zuschoben. Die absurde Frage „Wer läßt der Sonne jetzt / ihr leichtes Spiel“ (Zz. 10–11) zeigt das Dilemma an. Durch das Verschwinden der Prügelknaben sind den Sprechern die Ausreden genommen, keine dem Mißbrauch zugänglichen „Verantwortlichen“ sind ihnen für den Seelenfrieden verblieben und vor der Notwendigkeit, die eigenen Limitierungen und Verpflichtungen anzuerkennen, gibt es keinen Ausweg mehr.
Verlassenheit ist das Thema in „Die trüben Stunden nutzend“. (Rat, S. 14, geschrieben 1958) Aus der herbstlichen Landschaft sind die sommerlichen Aktivitäten, der Tourismus, die Kinder, verschwunden, und, wie die Sprecher in „Mägdemangel“ sieht sich das Ich mit seiner Umwelt in direkter Konfrontation. Auf der einen Seite ist die Dunkelheit in fast metaphysischer Dimension, „denn nichts leuchtet dir“, (Z. 4) andererseits macht sich durch das Wortspiel auf „Gelichter“ (Z. 1) das sowohl die Assoziation an „Licht“, wie die Bedeutung von „Gesindel“ enthält, das einzige menschliche Element, das zurückbleibt, bemerkbar, zwielichtige und ambivalente Gestalten. Sie werden von dem Ich einer Betrachtung unterzogen. Ob die Blumenflechter mit diesem Gelichter gleichgesetzt werden, bleibt dahingestellt. Auch sie sind im Zwielicht. „Sie brennen Öl“ (Z. 11) und ziehen durch den Schein den Sprecher an. Das Ich und das monologisch angeredete du sind nicht Teil der etablierten Gesellschaft, die sich nach dem Sommer in ihre Häuslichkeiten zurückzieht. Die Stimmung erinnert von Ferne an das Rilke-Gedicht „Herr, es ist Zeit…“ Heimatlosigkeit und Isolierung des sprechenden Außenseiters werden erst im Herbst in der verödeten Landschaft, offenbar. Das Feuer der Randexistenzen wirkt einladend auf das Ich. Eine Affinität mit den auf den Feldern Herumziehenden konstituiert das Grundgefühl, die Basis für die spontane Sympathie mit anderen Außenseitern.
Einem höheren Licht, einer Gottheit etwa, wird bereits zu Beginn des Gedichtes die Existenz, oder zumindest Relevanz für den Sprecher, abgesprochen. Der letzte noch nicht erreichte Ort der Zuflucht ist für ihn die Gesellschaft mit anderen Menschen ähnlichen Schicksals, durch die sich ein „wir“ – vergleichbar dem in „Außer Landes“ – etablieren ließe.
„Dorfweg“, „Briefwechsel“, „Rauchenberg“ und „Spät“ befassen sich mit der Unverständlichkeit menschlicher Leiden und Niederlagen, dem Mangel an Übersicht und Kontrolle, angesichts derer dem Individuum die adäquate Reaktion, ja selbst die innerliche Bewältigung und angemessene Einschätzung seiner Welt nicht möglich sind.
Die Wirklichkeitserfassung des Sprechers schwankt in „Dorfweg“ (Rat, S. 7) zwischen Empirie und traumhafter Vision, die ineinander übergehen und die Widersprüchlichkeit zwischen zwei Sektoren, der rational-empirischen Einsicht und dem intuitiven Verstehen, aufzeigen. Die Impressionen sind ungesichert und vieldeutig. Z.B. wird den Staren eine menschliche Tätigkeit, das „Lästern“ (Z. 1)- Schimpfen und Profanisierung – zugeschrieben.
In einer schnellen Folge reihen sich Bilder aneinander, die das Paradox von Vollendung und Zerstörung, menschlicher Nutznießung und natürlichem Werden, das Selbstzweck ist, hervortreten lassen. Kontrastreich sind die Farben, die Schwärze, assoziiert mit dem Kohlenbrenner, und das lebendige Rot der Äpfel, die in seinem Garten gereift sind. Organische Reife und Niedergang sowie die Bedrohung der Natur durch den Menschen, der ihr Ausbeuter ist, indem er sich ihre Produkte aneignet, sind zentrale Gedanken.
Die Äpfel erinnern an den paradiesischen Zustand, verloren durch den Raub vom Baum der Erkenntnis. Die Schwärze des Kohlenbrenners läßt sich leicht mit der zur Strafe auferlegten Arbeit, der Sünde und dem Bösen, in Beziehung setzen. Die Frage nach dem Sinn und Ursprung dieser Phänomene, beherrschend im zweiten Teil, bleibt unbeantwortet. Die Welt und ihre Erscheinungen wirken absurd. Erklärungen scheinen unmöglich und nur die Zersetzung ist innerhalb der Fülle aller Elemente sicher.
Niederlage emotionaler Art ist das Thema in „Briefwechsel“. (Rat, S. 16, geschrieben 1959) Die Einsamkeit und die mittelbare Kommunikation durch die Post lassen die vom Sprecher erhaltenen Kränkungen zu einer übernatürlichen, übermenschlichen Größe werden.10 Durch die konjunktivische Verschiebung der Zeitpunkte des Eintreffens ergibt sich der Ausgangspunkt für die Vision. Der Tag wird durch die Nacht ersetzt, in der die scharfen, realistischen Konturen verschwinden und die zweite, schöpferisch-ungebundene Wirklichkeit zum Tragen kommt. Die nächtliche Vision transformiert die weißen Briefumschläge in weiße Gewänder, der Inhalt der Briefe wird zu einer transzendentalen Nachricht, deren Boten unerforschlich wie Engel sind. Das Leiden des Sprechers erhält so eine metaphysische Qualität. Es wird zum Mysterium, abstrahiert von irdischen Kausalbezügen. Die (oder der) Schreiber der Unglücksbriefe werden so von ihrer persönlichen Verantwortung freigesprochen. Sie fungieren als Medien, wie die Engel, die einen höheren Willen als den eigenen verkünden.
Auf diese Weise fordern die Botschaften Ehrfurcht und dem möglicherweise Trivialen und Schäbigen wird eine Perspektive der Ewigkeit verliehen. Die Unerklärlichkeit des Leidens, wo keine einsichtige Kausalbeziehung vorzuliegen scheint und die Machtlosigkeit des Individuums einer solchen Gewalt gegenüber sind Themen dieses Gedichtes.
„Rauchenberg“ (Rat, S. 17) stellt eine verfallene, vereinsamte Umgebung dar. Die Elemente des Todes und der Erinnerung werden durch „Kränze an der Mauer“ (Z. 2) evoziert. Die Assoziation an Hingerichtete bietet sich an. „Schatten“ (Z. 3) weisen auf das Gedächtnis an die Toten. Der Sprecher findet durch sie, nicht durch ein vitales Element seiner Gegenwart, seinen Weg. Er konzentriert sich dementsprechend auf Objekte, die ihre Nützlichkeit verloren haben: das Zaumzeug ohne die Pferde, den rostenden Wagen, die eingesunkenen Hölzer – Mahnmale der Vergänglichkeit. „Meine Lieben“ (II, Z. 3) mag sich entweder auf Personen, die dem Sprecher nahestehen, aber auch auf seine Vorlieben, seine Träume und Wünsche beziehen. Diese „Lieben“ sind von gigantischem Ausmaß. Sie neigen sich über das Dach. Diese überwältigende Vorstellung bewirkt eine geisterhafte Stimmung und suggeriert die Allgegenwart der externalisierten Vorstellungen und Erinnerungen, die dem menschlichen Bereich enthoben sind.
Die Anwesenheit einer größeren Entität, ein Gefühl, das sich an verlassenen Plätzen aufdrängen kann, beherrscht das Gedicht. Die Erscheinungen, denen sich der Sprecher nahe fühlt, sind nicht materiell-physischer Natur. Es sind schattenhafte Schemen, Genii eines Ortes, an dem der Sprecher nur Elemente erblickt, die sich selbst überlebt haben oder an den Tod erinnern. Durch die Intensität seiner Wahrnehmungen ordnet sich das Ich zu einem Teil selbst dem sich ihm eröffnenden Zwischenbereich zwischen Materie und Geist zu, drückt seine Identifikation mit den Zeugen der Vergangenheit aus, bekennt sich zu seiner Erinnerung und seiner Affinität zu einem Geisterreich
„Spät“ (Rat, S. 18) konstituiert sich aus einfachsten, ländlichen Elementen. Es ist Winter. Der Gegensatz von innen und außen macht die Dynamik des Textes aus. Während innen vertraute Holzfarben vorherrschen und es dunkel ist bis auf eine entzündete Kerze, vom Menschen nutzbar gemachtes und kontrolliertes Feuer, bietet sich das Außen aus einer unerwarteten Perspektive. Die Naturerscheinungen sind menschlich-belebt und rasch veränderlich, wodurch ein Gegensatz zu der Ruhe des Innen entsteht. Besonders in der zweiten Strophe fällt die andersartige Sicht auf. Die Veränderungen der Sinneseindrücke durch das Zwielicht und den Sonnenuntergang werden auf einfachster, nicht analysierender, Stufe kindlich betrachtet und „wörtlich“ genommen. Danach verändern sich die physischen Erscheinungen tatsächlich, die Gebäude „strecken sich nach dem Niedergang“ (II, Z. 3) der Schnee „rostet“. (II, Z. 6) Die Natur wirkt dynamisch als ein von Minute unberechenbar sich veränderndes Phänomen. Durch das Auslassen von Vergleichswörtern erhöht sich die Unmittelbarkeit der so mitgeteilten Wahrnehmungen. Richtung der beobachteten Bewegung ist „Nach dem Niedergang“ (II, Z. 3) Auch der rostende Schnee deutet Verfallserscheinungen an, die sich noch „vor dem Jahr“ manifestieren werden (II, Z. 6)
Der Titel „Spät“ bereitet schon auf die spätzeitliche, beinahe apokalyptische Sehweise vor. Das Gespenstische, das suggeriert wird in einem eigentlich bekannten und normalen Vorgang, ist durch die Statik des Innenraums verstärkt. Selbst die Sicherheit des Innen wird durch die Bewegung draußen relativiert. Zwar geschützt, ist der Sprecher doch machtlos in seinem abgeschlossenen Raum, kann den Vorgängen um sich keinen Einhalt gebieten – weder dem Vorrücken der Zeit noch den seine Lebensvoraussetzungen beeinflussenden Veränderungen.
Die Themen Zeit und Wechsel, Erinnerung und Gegenwart sowie die Entfremdung sind zentral für die folgenden vier Gedichte: „Mein Vater“, „Ende des Ungeschriebenen“, „Bei Linz“ und „Teil der Frage“, wobei die Bewältigung der persönlichen und auch politischen Vergangenheit aufgegriffen wird. „Mein Vater“ (Rat, S. 19, geschrieben 1959) ist ein Wintergedicht. Trotz seiner Kargheit an Worten ist es wohl eines der emotional am intensivsten wirkenden Gedichte Aichingers. Traditionell ließe der Titel eine Würdigung mehr oder weniger sentimentaler Art erwarten. Bereits die Enttäuschung einer solchen Erwartung hat einen bezeichnenden Effekt in Bezug auf den Text, der kein „Elterngedicht“ ist. Seine Hauptwirkung liegt in dem, was, auf die Erwartung, die der Titel wachruft, nicht gesagt wird. Erinnerungen an die Titelgestalt, Emotionen, die den Vater zu umgeben pflegen, Anekdotisches, fehlen. Stattdessen wird eine einmalige Situation herausgegriffen, in der Sprecher wie Vater als Fremde aufeinandertreffen. Es sei an die Vater-Kind-Episode in GH erinnert und an die expressive Sprache, die die Konfrontation begleitet, die Fassade von kindlicher Liebe, die Ellen, um ihre Freunde zu retten, errichtet. Auch in jener Episode ist eine Bank eines der Hauptelemente. Den Juden ist das Sitzen auf ihr verboten. Hier wie dort sind Vater und Kind einander entfremdet. Die Manifestationen von Emotionen, selbst nur zur Schau gestellten, unterbleiben. Die Sprache ist nüchtern und kalt wie die Umgebung im Schnee.
Der Vater sitzt auf einer Bank in der Schneelandschaft. Das Kind bewegt sich auf ihn zu. Der Schnee, aufgewirbelt durch die Schritte des Sprechers, ist dynamischer als der Vater, der ein Teil der verödeten Landschaft zu sein scheint. Auf den ersten Blick sind er und das Ich durch den Gegensatz der Statik und der Dynamik getrennt. Das nächste separierende Element ist das Sitzen des Vaters auf der Bank – als hielte er eine Audienz, und, wenn man die Textstelle aus GH hinzuzieht, als mache er noch immer von seinen alten Privilegien Gebrauch. Statt einer Begrüßung stellt der Text eine Frage- und Antwortsituation vor, wie sie von Kindern oft gefürchtet wird, wenn sie sich durch Unwissen bloßstellen. Das Ich wird einer Befragung unterworfen, einer Lage, in der der Ältere seinen Informationsvorsprung dem Jüngeren beweisen kann und damit seinen Anspruch auf Autorität auch auf intellektuellem Gebiet beweisen kann. Der Sprecher muß scheinbar seine Unterlegenheit bekennen, da sie ja faktisch belegt scheint.
Jedoch unterliegt der väterlichen Frage in diesem Text einer Vielfalt von Möglichkeiten, die die auf den ersten Blick eindeutige Lage zweifelhaft werden läßt. Die Frage reflektiert mehr auf den Vater selbst. Sie deutet auf ein Interessengebiet des Älteren: Militärgeschichte und Feldherren, hier die populäre Gestalt von Simeon Gideon Laudon, einen für seine militärische Kompetenz und persönlichen Vorzüge sowie seine Menschlichkeit bekannten Heerführer aus den Türkenkriegen – möglicherweise eine Persönlichkeit, mit deren Eigenschaften sich der Vater identifiziert. Die Unwissenheit des Kindes zeigt, wie verschieden die Interessengebiete beider Gesprächspartner sind. Es scheinen keine Möglichkeiten zur Kommunikation zu bestehen. Private Erfahrungen sind nicht vorhanden und werden daher auch nicht ausgetauscht. Die Sicherheit, mit der der Jüngere sein „Versagen“ hinnimmt, manifestiert ein Detachement den Belangen des Vaters gegenüber, ein Hinwegsehen über dessen vermeintliche Identifikation – eine Andeutung, daß die Ähnlichkeiten, die der Vater sehen will, tatsächlich nicht bestehen. Die Gleichgültigkeit des Ich angesichts des Feldherrn mag auch auf Gleichgültigkeit bezüglich des Vaters deuten, eine implizite Nichtachtung von dessen Einstellungen und Interessen.
Die Sorge um das Nachleben im Gedächtnis anderer schwingt in der Frage nach dem berühmten Grabe mit. Durch sie offenbart der Vater sein Anliegen, von seinem Kinde in Erinnerung gehalten zu werden. Das Bewußtsein des Alterns, deutlich in den Wintereindrücken, und die Befürchtung, vergessen zu werden, werden konzentriert in der Trivialfrage ausgedrückt. Der Bruch zwischen Vater und Kind greift durch alle Sektoren. Er besteht in der Haltung, der Bewegung, der persönlichen Distanz, den Interessen – im Leben – und wird sich über den Tod hinaus erstrecken. Die Abwesenheit von Haß, die gleichgültige, fast erfreute Hinnahme des Nicht-Wissens – sei es echt oder gespielt – gegenüber der autoritätsheischenden, einsamen Gestalt, charakterisieren die weitmöglichste Entfernung zwischen Erzeuger und Nachkommen. Das Ich befindet es nicht für nötig, diesem Vater, der ihm als Mensch irrelevant geworden ist, auszuweichen, etwas vorzuspielen oder gegen ihn zu rebellieren. Das Gedicht zeichnet eine totale Entfremdung nach, die nicht mehr zu überwinden ist. Selbst der Schnee steht in unmittelbarer Beziehung zu dem Ankommenden als der Vater.
Die Absage an den Vater muß in weiterem Kontext als eine Einstellung zu der Generation der Väter, der deutschen und österreichischen Väter, aufgefaßt werden. Die individuelle Kritik und Beziehungslosigkeit zu einer Mentalität, der der Sprecher sich nicht zu fügen gewillt ist, deren Manifestationen er ablehnt und von deren Repräsentanten er sich distanziert.
Auch „Ende des Ungeschriebenen“ (Rat, S. 20, geschrieben 1959) behandelt eine abgebrochene menschliche Beziehung. Erinnerungen an die Lebhaftigkeit und Intimität, die das Ich und den Partner verbanden, werden angedeutet, Liebe, gemeinsames Erleben, Erotik, deren Vitalität noch im Wahren des Geheimnisses ausgedrückt wird. Selbst nach der Beendigung des Verhältnisses bleibt ein Teil dieser Erfahrungen durch das Versprechen der Diskretion lebendig. In Bezug auf die gemeinsamen Erinnerungen verhält sich der Sprecher noch immer als Bundesgenosse. Es ist ihm leichter, von seinen gegenwärtigen Leiden zu reden, diese preiszugeben, als die Gemeinsamkeit und die Vorgänge, die die Entfremdung herbeiführten.
Nostalgie schwingt in der Aufzählung der wenigen für die Beziehung charakteristischen Elemente mit. Die Erinnerung an den Zerfall, ausgedrückt durch die „schwachen Namenszüge“ (Z. 6) die ein Verblassen der Intensität bezeugen und kosmisch illustriert wird durch die „geköpften Sonnen“ (Z. 7) liegt zeitlich am nächsten. Die Spitäler (Z. 8) weisen auf einen Krankheitszustand hin, vielleicht auf eine Genesung, die in der Stille vor sich geht, im Kontrast zu der früheren Freude und Lebhaftigkeit. Die Intensität des Leidens nach der Trennung verträgt nur Abgeschlossenheit.
Zwei verschiedenartige Zustände sind impliziert, während der Text nur die Resultate wiedergibt, nicht die Prozesse des Liebens und der Trennung. Die Betonung der physischen Vorgänge, des Atmens und der Krankheit, zeigt das Organische der Vorgänge an, sowie die Bereitschaft, sie als natürlich zu akzeptieren, als einen Teil der Totalität des Lebens. Durch die Einfügung in den natürlichen Zusammenhang wird die Schärfe des Dargestellten gemindert. Es steht in einem Kontext, der unabänderlich ein Teil des Lebens ist. Diese Perspektive fehlt in „Mein Vater“, und die Rechtfertigung und Entschuldigung, die hier für die Entfremdung zweier Menschen geboten wird, fehlt in dem vorigen Gedicht.
„Bei Linz“ (Rat, S. 21, geschrieben 1959) evoziert die Umgebung, in der Aichinger einen Teil ihrer Kindheit verbrachte. Der Text ist dynamisch. Das Ich vermittelt das Gefühl, von seiner Zeit verfolgt zu werden, und damit seiner Zeit voraus zu sein, als lebe es in der Zukunft. Jedoch ist diese Zukunft der Gegenwart zu nahe, um nur Phantasie zu sein. Die Gegenwart selbst ist nicht obsessiv genug, um nur punktuell erfaßt zu werden. Ein Weniges an Kontrolle ist gewährleistet. Das Tempo des Textes ist rasch, das Lebensgefühl, verbildlicht als eine Fahrt, intensiv. Die Unebenheiten auf der Überlandfahrt gewährleisten ein Höchstmaß an Vitalität, die der eigenen persönlichen Entwicklung des Sprechers entspricht.
„Teil der Frage“ (Rat, S. 22, geschrieben 1959) weist motivische Verwandtschaft mit dem Eich-Gedicht „Wo ich wohne“ auf.11 Beide Gedichte sind Phantasiespiele mit den Resultaten einer imaginierten Überschwemmung. Aichingers Text ist der abstraktere. Zwar bezieht sie das Ich mit ein, tut es aber weniger plastisch-konkret und humorvoll als Eich. Eine Sintflut hat stattgefunden. Der Sprecher steht an einem erhöhten Ort über dem Wasser. Die Stadt, in der das Leben noch nicht ausgelöscht ist („sie singen“, Z. 3) erinnert an Vineta. Das Gedicht vereint zwei Lebensbereiche, den der Menschen und den der Fische. Trotz der Überflutung bleibt die Architektur erhalten. Der Sprecher kann von seinem Standort aus die Veränderungen überblicken, ohne selbst direkt bedroht zu sein. Seine Reaktion ist Ratlosigkeit um seinen Verbleib und seine Obdach.
Es ist der Augenblick der Entscheidung, ob er sich zu den ihm vertrauten Menschen zurückbegeben soll, so die Wiederholung des ihm Bekannten wählend oder ob er besser einen neuen Anfang mit dem Unbekannten wagt. Er identifiziert sich mit dem überschwemmten Land und dessen Einwohnern, selbst wenn der Gang dorthin für ihn tödlich wäre.
Zentral ist der Aspekt der Rätselhaftigkeit, dargestellt an dem Bild der undurchschaubaren Zeit, die sich wie ein Fabeltier „krümmt“. (Z. 14) Grün, ihre Farbe, ist die der Hoffnung und des organischen Lebens. Die Hoffnung liegt in der Progression der Zeit, in der Veränderung alles Bestehenden und so auch in der bevorstehenden Veränderung der für den Sprecher undurchschaubaren Lage, die sich, gleich, ob er sich für das eine oder andere entscheidet, vor ihm entfalten wird. Die Veränderung aller gewohnten Verhältnisse muß nicht eine universale Katastrophe bedeuten, sondern kann für gewisse Lebensformen sogar von Vorteil sein, hier für die Fische, die einen neuen Raum gewonnen haben. Der Untergang des menschlichen Bereiches bedeutet nicht Untergang schlechthin. Trotz der Disruption einiger, vom Menschen gemeinhin als höher klassifizierten Lebensformen, die eigene eingeschlossen, enthält das Gedicht die Gewißheit der Kontinuität des Lebens.
Dieser Standpunkt ist jedoch dem individuellen des Ich konträr. Der einzelnen Person kommt es sehr wohl auf das Einzelleben an, die innerhalb des globalen Prozesses als irrelevant erscheinen. Die zwei Perspektiven, die persönliche und die philosophische, stehen einander unvereinbar gegenüber und beweisen, daß rationale Einsicht und emotionale Reaktion, Verständnis und Akzeptierung nicht dasselbe sind.
Auch die folgenden vier Gedichte, „Winterfrüh“, „Jüngste Nacht“, „Versuch“ und „Baumzeichnen“ handeln von dem Gegensatz zwischen inneren Wünschen und Phantasien und der Wirklichkeit, der in „Baumzeichnen“ zu einer Synthese führt. Mangel an Kontrolle über die vertraute Umgebung steht im Zentrum von „Winterfrüh“. (Rat, S. 23) Pläne, Wünsche, Projektionen und Illusionen in Bezug auf geliebte Personen scheitern an der Wirklichkeit der Umwelt und an dem tatsächlichen Tun und Wollen der Geliebten. Die Aufforderung, geliebte Menschen von den eigenen Phantasien freizusetzen, ist verbildlicht in der Chiffre der Schlitterbahn, die die Verbindung zwischen Imagination und winterlicher Realität bildet und zum Genuß der Gegenwart aufruft. Angesichts der Wirklichkeit des Jetzt und Hier erweisen sich die Träume als begrenzt und fragil.
„Jüngste Nacht“ (Rat, S. 24, geschrieben 1959) befaßt sich mit der christlich-religiösen Illusion. Die Anspielungen auf „jüngster Tag“ sind deutlich. Die jüngste Nacht ist die Nacht, die dem jüngsten Tag voraufgeht. Ironisch weist der Sprecher die Furcht vor dem bevorstehenden Gericht zurück. Der kommende Tag kann nichts Unerhörteres ans Licht bringen als das, was schon existiert: die Unerhörtheit der religiösen Vorstellungen selbst. Das Paradies, hier als Kindheit gesichtet, ist von dem Leben mit Schwertern abgetrennt (Z. 3). Die Schneestreifen verraten Kälte. Die Wirklichkeit ist bedrohlich und unbehaglich. Ausgesetztheit in eine fremde, erschreckende Natur, in der sich nur eine begrenzte Zahl von nutzbaren Lebewesen befindet, charakterisiert die Lage des Menschen. Mit anderen Worten würde am jüngsten Tag eine unerfreuliche, vom Menschen nicht geschaffene oder gewollte Kondition an den Tag kommen. Die Auflehnung gegen die Vorstellung einer berechtigten, göttlichen Strafe, eines gerechten göttlichen Gerichtes, ist offenbar. Diese lassen sich angesichts der Daseinsverhältnisse, die angeblich göttlichen Ursprungs sind, nicht rechtfertigen. Das Gedicht ist eine Anklage gegen den christlichen Gott, dem die Mangelhaftigkeit seiner Schöpfung vor Augen geführt wird und damit die Kleinlichkeit den Geschöpfen gegenüber, wodurch die Religion selbst ad absurdum geführt wird.
„Versuch“ (Rat, S. 25, geschrieben 1960) stellt den Wunsch nach einer einheitlichen Welt dar, die noch in den verwirrendsten Bezügen Konsistenz aufwiese. Gleichzeitig kritisiert der Text die akzeptierten Kategorien Ursache und Wirkung, Raum und Zeit. Deutlich ist die Unzufriedenheit mit der Vereinzelung und Aufsplitterung der verschiedenen Realitätspartikel und mit der eigenen Isolation. Thematisch ergibt sich ein Anklang an „Jüngste Nacht“, wo die Kindheit als die Phase erwähnt wird, in der vielleicht noch eine Einheit bestand. Jetzt jedoch liegt der Fokus auf dem Dilemma des Erwachsenen in einer aufgesplitterten Welt. Die angeführten Elemente sind bewußt verschieden, um die Vergeblichkeit des unternommenen Versuchs der Integration darzustellen.
„Baumzeichnen“ (Rat, S. 26) enthält eine Widmung, möglicherweise für Kinder. Der Text ist eine Anweisung zur Aktivität, die, wie ein Kinderspiel, frei erfunden wird. Dem Spiel unterliegt jedoch Ernst bezüglich der Kreativität. „Nehmt diese Zweige / und gebt ihnen recht“, (Zz. 2–3) schreibt die Akzeptierung des Bestehenden vor. Das gegebene Material darf nicht verändert werden. Dagegen wird Gewicht gelegt auf das Zutun von Aspekten durch Bemalen und Ausspannen. Ziel der Aktivität ist also nicht Beschneidung, sondern Benutzen des organischen Materials. Zudem sollen unerwartete Vorkommnisse, etwa das plötzliche Erscheinen von Mäusen, in das Spiel inkorporiert werden. Kein natürlicher Vorgang soll eliminiert werden, sondern die Welt, wie sie ist, soll sich in Beschäftigungen wiederspiegeln, wobei Zufälle nicht als Hindernis, sondern positiver Zusatz betrachtet werden. Emotionen wie Mitleid, Fürsorge usw. sind ein Teil des „Baumzeichnen“. Die Verbindung von natürlichen und künstlerischen Mitteln ist „Ein Trost, aber kein Trost“. (Z. 17) Durch den bewußten Einschluß des Unkontrollierbaren in das Spiel wird die Enttäuschung verhindert, die das Nicht-Gelingen bereiten könnte, da alles Stattfindende per se gelungen ist. Gleichzeitig weitet sich aber auch das Spiel über traditionell gesetzte Grenzen hinaus aus, alles, was geschieht, ist Spiel. Dieses Spiel bietet kein Entkommen vor der Welt mehr. Im Gegenteil, durch seine Unberechenbarkeit ist es ein Bestandteil derselben und fordert somit zur konstanten Konfrontation mit dem Existierenden auf. Es bietet keinen Freiraum, wie ihn Huizinga beschreibt:

Spiel ist nicht das ,gewöhnliche‘ oder ,eigentliche‘ Leben. Es ist vielmehr das Heraustreten aus ihm in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit einer eigenen Tendenz.12

In „Baumzeichnen“ wird der Spielbegriff auf das Leben selbst erweitert.
Auf einer weiteren Ebene stellt das Gedicht auch eine Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Schaffen dar, von dem ein alles inkorporierender Charakter gefordert wird. In Aichingers Werken wird der Versuch unternommen, alle Bestandteile des Lebens aufzunehmen, wie der Einschluß der verschiedensten Elemente in ihre Texte zeigt. Es handelt sich nicht um eine das physisch Vorhandene abbildende Kunst, sondern um Neuschöpfungen mit Bekanntem. Zum Teil ist die Wahl der Zutaten dem Künstler überlassen, zum Teil drängen sich diese assoziativ auf. Die Veränderung der Form und der Perspektive des Geschauten ist, wie „Baumzeichnen“ darlegt, eine legitime Möglichkeit der Kunst, die total freie Erfindung, ebensowenig wie die Beschneidung essentieller Bestandteile, nicht.
„Spaziergang“ (Rat, S. 27, geschrieben 1960) konzentriert sich, wie die folgenden drei Gedichte, auf eine punktuell wahrgenommene und damit mißdeutete Wirklichkeit. Der Zustand einer einseitig räumlich betrachteten Welt stellt sich dem Leser in unverbunden gelassenen Örtlichkeiten, innen und außen, dar. Das Unhaltbare eines Zustandes, in dem das „Erträgliche sich verdächtig macht“ (Z. 3) wird hervorgerufen durch die kategorische Verschiedenheit natürlicher und menschlich erzeugter Elemente. Es scheint nur eine schizoide Existenz möglich, da sich überall Doppeldeutigkeiten ergeben, die großenteils durch das Phänomen an sich und die durch die menschliche Sprachtradition an es geknüpften Konnotationen begründet sind.
Das Bild der Elstern ist ästhetisch. Jedoch hat „Elster“ im Volksmund die Bedeutung des Diebischen und Unehrlichen. Auch die goldenen Füchse sind ihrer Erscheinung nach schön und doch gehört diese Schönheit Raubtieren, denen List und Bosheit zugeschrieben werden. Diese Brüche weisen auf Klischees und Vorurteile.
Das Gedicht besteht aus einem langen Satz, dessen Begründung zunächst uneinsichtig scheint: Die Elstern, die in die Weiher stürzen und von den menschlichen Behausungen auffliegend umkommen, seien erträglicher als die Füchse, die als Verheißung bezeichnet, das Unerträgliche verkörpern. Elstern und Rauch bilden den einen, die Füchse den anderen Komplex. Die Letzteren sind nicht, wie die Elstern, dem menschlichen Bereich verbunden. Sie sind ein Teil der Wildnis. Die Verheißung ist, daß das kleinere Übel, die Elstern, durch ein gefährlicheres, stärkeres Element abgelöst werden, eines, das sich dem zivilisierten Bereich nicht unterordnen lassen wird. Zum Zeitpunkt der Betrachtung wird es aufgrund seiner ästhetischen Reize noch als eine Offenbarung angesehen, denn es beinhaltet durch seine Fremdheit und Entfernung noch Lockung und Verführung. In unmittelbarer Nähe jedoch mag es sich als zerstörerisch erweisen.
„Kartenspiel“ (Rat, S. 28, geschrieben 1959) konzentriert sich auf den engen, vom Menschen selbst geschaffenen Bereich in der ausschließlichsten Form: das Spiel mit eng umzirkten, willkürlichen Regeln, die sowohl die Phantasie – das Nashorn (Z. 8) – wie die Gegenstände des Haushalts und des Außen ausschließt. Ein bewußter Rückzug in einen beschränkten Kreis findet statt. Das Spiel selbst wird nicht beschrieben, sondern der Effekt, den es auf den Spieler hat: Ruhe und Sammlung, Erholung von der Überfülle der Umwelt und der Gedanken. Es ist ein Asyl von dem eigenen Schaffen, obwohl es das Bewußtsein, daß die anderen Elemente weiterhin existieren, nicht ausschaltet.
Im Gegensatz zu dem ruhigen Gedicht drückt „Bobingers Klage“ (Rat, S. 29) verzweifelte Hilflosigkeit aus, die aus der Verwirrung stammt. Der Sprecher hat entscheidende Faktoren verwechselt, so hat er z.B. die Funktion seiner Freunde mit der des Geldes gleichgesetzt: „Meine Freunde sind ausgegeben.“ (Z. 1) Er hat Menschen wie Materie behandelt und auf die Ersetzbarkeit der Personen gerechnet. Das Resultat ist Vereinsamung, hervorgerufen durch Oberflächlichkeit und Irrtum, die der Sprecher jedoch zu identifizieren außerstande ist. Die wiederholten wer-Fragen sind Manifestationen des persönlichen Substanzverlustes. Der Sprecher verläßt sich auf andere, die für ihn handeln sollen und seine Welt rekonstruieren, obwohl er sich der Gegenwart von Helfern durch seine Kurzsichtigkeit verlustig gemacht hat. Die letzten Fragen deuten auf einen Gottesverlust, der in der Form, wie der Sprecher ihn darbietet, etwas an höchste Dummheit Grenzendes an sich hat. Der Mangel an Einsicht und Reflexionsvermögen, der sich in der Klage des Narren manifestiert, deutet sowohl auf Hilf- wie Rücksichtslosigkeit und spiegelt den Zustand eines, der den Kontakt mit den grundlegenden Faktoren des eigenen Lebens und dem universal Wahren verloren hat.
Im Gegensatz hierzu stellt „Attersee“ (Rat, S. 30, geschrieben 1958) die Verborgenheit von Vorgängen dar, die sich dem allgemeinen menschlichen Wissen entziehen. Die hier diskutierte Limitierung ist nicht der Borniertheit des Individuums zuzuschreiben, sondern der conditio humana. Die verstorbenen Fische entziehen sich, wie die verlöschten Zeichnungen, der Beobachtung. „Mesner“ (Z. 6) suggeriert einen geistlichen Kontext, unterstrichen durch die Nennung der Zwölfzahl, einer „vollkommenen“ Zahl. Fische und Zeichnungen sind Chiffren für das Verborgene und Undurchschaubare, das Mysterium des Lebens und der Welt, das durch die menschliche Einsicht nicht erfaßt wird. Verehrung ist die Grundhaltung des Gedichtes. Diese gilt nicht nur der verborgenen Wirklichkeit, sondern auch der Phantasie, die sich solche Vorgänge ausmalen kann, der Vision, die Bilder schafft, die in der empirischen Realität keine Spuren hinterlassen, keine Entsprechungen haben. Das Gedicht weist über die Grenzen des Beweisbaren hinaus und räumt dem Unbeweisbaren und Traumhaften dasselbe Maß an Verehrung ein wie den den wachen Sinnen zugänglichen Phänomenen.
„Breitbrunn“ (Rat, S. 31, geschrieben 1955) handelt, wie „Attersee“, von subtilen, nicht alltäglich wahrnehmbaren Erscheinungen, konzentriert sich aber expliziter als das vorige Gedicht auf das Leiden, das dort nur im Sterben der Fische angedeutet ist. Die Zeichen der Vergänglichkeit wurden innerhalb des Lebensprozesses zugunsten kleinerer, weniger bedeutsamer Phänomene übersehen, so das Altern der Menschen über das Wachsen des Grases. Die an einem Ort bleibenden Personen erkennen die großen Vorgänge nicht, da die Gewöhnung sie blind macht. Dagegen steht die Perspektive des Sprechers, der nicht zeitlebens an einer Stelle blieb. Von seiner Distanz her erkennt er das Unglück, das seine Spuren an dem Ort hinterlassen hat und sich für ihn noch in der Landschaft manifestiert. Es wird dahingestellt, worum genau es sich handelt. Die anthromorphisierten Begriffe beziehen sich auf menschliches Leid.
Der Ort hat gleichsam ein eigenes Gedächtnis. Seine Ausstrahlung affiziert die Lebenden, wie die Auswanderung der Geistlichen zeigt. Breitbrunn ist eine Stätte des Unheils, wie der Wunsch der dort nur Verweilenden, nicht mit dem Ort identifiziert zu werden, anzeigt.
Verantwortungslosigkeit, die sich in der Nichtachtung des Wichtigen manifestiert, wie es in „Breitbrunn“ der Fall ist, wird auch in „Winteranfang“ (Rat, S. 32, geschrieben 1959) mitgeteilt, und zwar hier durch die Versachlichung menschlicher Belange. Für die Tatsache „Im Fach liegt nichts mehr“ (Z. 1) wird kein Grund, werden keine Agenten, genannt. Es ergibt sich der Eindruck einer unpersönlichen Leere, eines Zustandes, der auferlegt und nicht zu ändern ist. Das Fehlen der Vorräte oder aufbewahrten Gegenstände ruft keine weitere Reaktion hervor. Angeblich resultiert es für die toten Soldaten unter dem Glas – wahrscheinlich Bilderrahmen – in einem leichteren Ertragen des Todes. Erst die Frage nach der Urheberschaft der Vegetation bringt die eigentliche Frage ins Bewußtsein: die nach dem Grund für die Vorgänge in den ersten drei Zeilen, warum die Fächer leer sind, warum die Soldaten starben. Das Ablenkungsmanöver auf die Witterung (Z. 5) ist unbefriedigend. Die Technik des Verschweigens erinnert an „Breitbrunn“. Die den Menschen direkt betreffenden Phänomene werden übergangen, dafür umso mehr die ihn nicht direkt betreffenden beobachtet, was eine irreführende Verschiebung der Schwerpunkte zur Folge hat, die an den Rand einer Verwirrung wie in „Bobingers Klage“ führt. Das Spiel mit dem Drachen, das die unberechenbaren Elemente von Wind und Wetter miteinbezieht, versucht, eine Erhellung des zuvor Dargestellten zu bieten. Es identifiziert den Sprecher eng mit dem leuchtenden Drachen, der zu einer Chiffre des umgetriebenen, unberechenbaren Geschickes wird, dessen Verlauf nur staunend verfolgt werden kann, da es sich der direkten Lenkung entzieht.
„Selbstgebaut“ (Rat, S. 33, geschrieben 1961) klingt an das Hörspiel Die Schwestern Jouet und den Prosatext „Das Bauen von Dörfern“ an. Mittelpunkt des Gedichtes ist die freispielende Phantasie mit Örtlichkeiten, die Konstruktion einer Anti-Welt. Beherrschender Eindruck ist die Offenheit des Kreierten, seine Unbestimmtheit. Die Ortschaft ist gegen wilde Tiere ungeschützt. Die Landschaft, in der Jaguare und Wölfe zusammen existieren, ist Produkt der Phantasie. Die Ode bedingt ein ungesichertes Leben für die erwachsene Bevölkerung. Das Interesse des Sprechers gilt den Kindern und den kindlichen Spielen. Aber auch auf die letzteren überträgt sich die Bedrohung. „Ernte von Löwenzähnen“ (Z. 12) suggeriert nicht nur die Pflanze, sondern auch konkret die Zähne des Löwen. Daß die Kinder sie ernten, indiziert die unverschuldete Übernahme von Übel, das die vorige Generation geschaffen oder nicht verhindert hat. Die Kinder des Gedichtes sind, wie meist bei Aichinger, auf sich selbst gestellt.
Der Beginn „Ich will meine Dörfer / ohne Worte lassen“ (Zz. 1–2) erinnert an ein „Bild ohne Worte“, eine Zeichnung ohne Kommentar, meist witzigen Inhalts. Zum Teil sind die Vorgänge des Gedichtes als Witz aufzufassen. „Ohne Worte“ kann auch „ohne Sprache“, also entvölkert, bedeuten. Der Sprecher suggeriert also eine Wüstenei. In seinen Vorstellungen ist er nicht willens, dem erwachsenen Teil dieses Ortes zu helfen oder mit ihm zu sympathisieren. Die letzte Zeile „Platz für den König“ drückt Ironie aus angesichts der Leere, des Fehlens jeglicher fester Elemente und der Bedrohung durch Raubtiere, beinhaltet tiefe Zweifel die Zukunft betreffend.
Stellte „Selbstgebaut“ eine Anti-Welt dar, so will „Anweisung“ (Rat, S. 34, geschrieben 1963) ein Rezept für die Herstellung einer solchen sein. Der Titel ist ironisch, da Zweifel statt Erfolg ausgedrückt wird. Wünsche nehmen die Stelle von Zutaten ein. Durch die Verzerrung und Deformierung soll eine Veränderung der Welt vollzogen werden. Der zweite Teil des Gedichtes macht auf die einer Weltveränderung oder Weltverbesserung innewohnende potentielle Selbsttäuschung aufmerksam. Die „hohlen Rosen“ (Z. 6) sind Liebessymbole ohne Substanz. Daneben bezieht sich die Rose traditionell auch auf Maria („Es ist ein Ros’ entsprungen“) Hohle Rosen mögen so auch eine Welt ohne Christus anzeigen, eine historische Alternative, die bei Aichinger zuweilen anvisiert wird. Jedoch fehlt hier die Illusion, daß diese Veränderung den historischen Prozeß tiefgreifend verändert hätte. Die letzten Zeilen drücken Skepsis gegenüber der Vorstellung von einer besseren Welt aus.
„Auf Sicht“ (Rat, S. 35, geschrieben 1962) enthält eindeutigere religiöse Bezüge als „Anweisung“. Die Ausgesetztheit und Wehrlosigkeit, evoziert in der Anfangszeile, werden dem Judentum zugeordnet durch die Erwähnung des Rabbiners. (Z. 2) Dagegen sind die „Zielschiffe“ – die Kirche wird oft als Schiff symbolisiert – wohl verwahrt (Z. 4) und erfolgreich, da sie Gefahr und Exponierung aus dem Wege gehen. Der angerufene Jonathan (Z. 9) ist ein Angehöriger der ersten Gruppe, verängstigt und doch entschlossen. Ihm gegenüber sind die „Zimmerleute schutzlos in jedem Stein“. (Zz. 13–14) Gegenüber Jonathan sind die Stärkeren trotz ihres steinernen Schutzes unsicher und versteckt. Die Zeilen erinnern an „Die Angst vor der Angst“ in GH. Die Zimmerleute – Jesus soll ein Zimmermann gewesen sein – sind ein Kollektivbegriff für die Christen. Werte und Praktiken der christlichen Welt werden reflektiert. Deutlich ist die Kritik an der Selbstgerechtigkeit der anonymen Mitglieder der Massenreligion und der sich hinter der Übermacht verbergenden Feigheit, gefaßt in das Bild des namentlich genannten Opfers und seiner gesichtslosen Gegner.
„Mir“ (Rat, S. 36) ist als Selbstreflexion zwischen die bitteren und engagierten Gedichte interpoliert. Es handelt von dem Prozeß des Schreibens, während dessen sich unvorhergesehene Gedankenabläufe entwickeln. Die Themen, die sich der Sprecher setzt, zielen auf die Abbildung des Gegenwärtigen und die Darstellung natürlicher Phänomene. In der letzten Frage wird impliziert, daß die Durchführung dieser Zielsetzung nicht möglich ist, da sich dem Schreiber Variationen aufdrängen und sich ihm so die einfache, naive Thematik entzieht. Der Sprecher gibt vor, nur wenig Kontrolle über seine Texte zu haben, und drückt Verwunderung und Befremdung über die endgültige Gestalt seiner Werke aus.
„Zwei Orte zusammengelegt“, „Winterrichtung“ und „Winter, gemalt“ handeln von dem Zustand der Welt, von der engen Nachbarschaft der höllischen und sublimen Aspekte des Daseins. „Zwei Orte zusammengelegt“ (Rat, S. 37, geschrieben 1959) enthält implizit die Antwort auf die Frage, weshalb der Sprecher in „Mir“ seine ursprünglichen Absichten nicht ausführen kann. Zwei Daseinsbereiche werden aufgezeigt, die zu gleichen Teilen die Realität konstituieren. Der eine von ihnen ist heil, hell und heilig, möglicherweise auch scheinheilig, demonstrativ farbenfroh und christlich-friedfertig, der andere, geographisch nicht vom ersteren getrennt, sondern in ihn übergreifend, ist höllisch. Die Finsternis der „Bäckerstuben“ (II, Z. 3) erinnert an Judenverfolgungen des 3. Reiches, das gebackene Gras (II, Z. 1) an den Krieg und die Verwüstung. Die Hoffnungslosigkeit des Sprechers angesichts dieses Dualismus manifestiert sich in der letzten Frage. Er identifiziert sich weder mit der einen noch der anderen Sphäre. Er befindet sich zwischen beiden Wirklichkeiten, die einander auszuschließen scheinen, während sie doch nur die zwei Seiten einer Münze sind. Die Furcht, die in der letzten Zeile zum Ausdruck kommt, ist die vor der schizoiden Zerrissenheit zwischen den beiden Polen, die gleich wahr und gleich gültig sind und einander dennoch widersprechen.
In „Winterrichtung“ (Rat, S. 38, geschrieben 1960) führt die energische Entscheidung des Sprechers aus der im vorhergehenden Gedicht enthaltenen Zwangslage, wodurch er sich exponiert, aber geistig rettet. Die Stimmung ist trotz der Gefahr zuversichtlich. Das Ich hat sich eindeutig definiert, es steht nicht mehr zwischen zwei einander ausschließenden Bereichen. Es hat seine Wahl getroffen, Gejagter zu sein. Als ein solcher nimmt er bewußt Teil an dem Spiel der Jäger, er stellt sich trotzig und rebellisch bloß und weigert sich, sich zu verstecken. Die Heftigkeit, mit der diese Weigerung vorgebracht wird, erinnert an Ellen, die die Möglichkeit, das Leben um des bloßen Überlebens willen so einzuschränken, daß es kein Leben mehr ist, emphatisch zurückweist. „Winter“ im Titel bezeichnet die Öde der Umwelt. Das Ziel des Ich sind die „Morgenröte“ (Z. 4) und das „vergilbende Gras“ (I, 6) also die ersten Anzeichen von Leben und Vegetation. Der Verzicht auf die Schlupfwinkel (I, Z. 3) bedeutet zwar ein Risiko, aber gemessen an der Hoffnungslosigkeit der derzeitigen Umgebung, beherrscht von Feindseligkeit und Kälte, ist es nur gering.
In der zweiten Strophe verstärkt sich die Zuversicht des Sprechers durch die Erinnerung an die Tradition der Gejagten. Sicherheit wird aus einem Identifikationsfeld bezogen, das den Sprecher zum Streben nach dem Unmöglichen, den Mond sich zu holen (II, Zz. 5–6) befähigt. Die Hinnahme der äußeren Umstände und die Weigerung aufzugeben, erzeugen ein gesteigertes Selbstbewußtsein, das durch den Gruppenkontext gestärkt wird. Der Sprecher findet seine eindeutige Richtung, Sicherheit des Handelns und der Entscheidung durch ihn.
„Winter, gemalt“ (Rat, S. 39, geschrieben 1960) erzielt seine Wirkung durch die Entfremdung des Sprechers zum Beobachteten. Die Vorgänge wirken idyllisch wie ein Bild. Die Verwendung des Begriffs „die Österreicher“ (Z. 2) distanziert das Ich jedoch deutlich von der Bevölkerung des Landes und deutet auf Kritik. Unter den Naturbildern ist die Anwesenheit dieser Menschen, deren Spuren überall sind, störend. Der Farbwechsel in der Landschaft, vollzogen vor dem geistigen Auge des Sprechers, deutet auf dessen Überdruß, sich weiterhin mit den ihm präsenten Eindrücken auseinanderzusetzen.
„Ölbergfarbe“ evoziert im Zusammenhang mit dem Titel ein Kunstbild, möglicherweise das einer biblischen oder mediterranen Landschaft, das sich der alpinen überlagert. Die winterliche Aktivität erstarrt, als entbehre sie des natürlichen Lebens und wird mit der Vision vertauscht. Die letzten zwei Zeilen illustrieren die Leichtigkeit des Austausches beider Landschaften und damit zweier Welten, der äußeren und der visionären, die ineinander übergehen. Objektive Zeit wie objektiver Raum werden annulliert. Die Welt enthält alle Möglichkeiten zur gleichen Zeit und am gleichen Ort für das Ich, das von den es umgebenden Menschen abrückt. Durch die Erweiterung des Wahrnehmungsfeldes erblickt es Spuren einer leidvollen Vergangenheit. Das Bewußtsein derselben trennt den Sprecher von der anderen. Die Tatsache, daß die betrachteten Menschen vielleicht Urheber derselben sind, entfremdet das Ich bis zum Rückzug von ihnen.
„Leichte Wahl“, „Unsere Frau“, „Ortsanfang“, „Ortsende“ und „Königsreim“ setzen die Thematik einer disharmonischen Welt fort. Innen und Außen, Form und Inhalt und sich an denselben knüpfende Konnotationen liegen miteinander im Konflikt. „Leichte Wahl“ (Rat, S. 40) legt zwei Möglichkeiten vor: die einer reichen Imagination gegenüber der impliziten Alternative eines ereignisreichen Lebens. Die entworfene Realität ist die äußerer Einschränkung, des Mangels an aktiver Erfahrung. Dennoch erschließen sich die angesprochenen Personen auf dem Wege der Phantasie und der Literatur die Fremde. Als Beispiel ist das Lesen von Robinson Crusoe genannt. Weltgewinn ist möglich aus Worten und Vorstellungen. Es ist diese Umgebung, für die der Sprecher sich entscheidet, wenngleich er damit auf die realen Abenteuer verzichtet. Die Wahl der Kontemplation schließt Melancholie, Verzicht, ein, hier umschrieben als „himmlische Magd“. (Z. 4)
Die getroffene Wahl assoziiert sich für das Ich mit Gestalten aus der Vergangenheit, die ihm vertraut sind, so daß die Kommunikation mit ihnen keine neue Einfühlung erfordert. Die Intimität durch gemeinsame traurige Erinnerungen und gemeinsame Erwartungen an das Leben bilden die Voraussetzungen zu spontanem Verstehen.
„Unsere Frau“ (Rat, S. 41) suggeriert Vorstellungen wie „unsere liebe Frau“, Maria, aber auch „Putzfrau“, die Frau eines gegebenen Landes oder „Frau der Gegenwart“. Auffällig ist an der dargestellten Person die Diskrepanz zwischen innerer und äußerer Realität. Bei ihrer Radfahrt durch das Land drängen sich der Protagonistin bedrängende, schmerzliche Bilder auf, Bilder einer Leidenden und Unterdrückten. Selbst das normalerweise nicht als beklagenswert Betrachtete wird von ihr beklagt, „die Lebenden“. (Z. 4) Statt einer Naturverbundenheit, die sich bei einer scheinbar einfachen Frau erwarten ließe, ist die Besprochene blind für das Genießenswerte ihrer Umgebung. Ihre Wahrnehmungen sind visionär. Während die Natur ein erfreuliches Bild bietet, hat die Frau Visionen der von Menschen zerstörten Natur, blutig wie ein verstümmelter Körper. Einer Seherin gleich radelt die Frau entweder durch eine düstere Vergangenheit oder einer schrecklichen Zukunft entgegen. Sie ist sich der Katastrophe so sehr bewußt, daß die Gegenwart vor ihrem Wissen verschwindet.
„Ortsanfang“ (Rat, S. 42) handelt ebenfalls von Ahnungen und ist aus der Haltung des Mißtrauens geschrieben. Das Ich wird von ihm beim Eintreffen in einen scheinbar wohlgeordneten menschlichen Kosmos überfallen. Der saubere Anschein und die dem Sprecher einfallenden Gerüchte „geflüstertes Wort“ (Z. 3) liegen im Widerspruch. Das Ich mißtraut den ihm befremdlichen Demonstrationen des Frohsinns. Es vermutet versteckte Greueltaten und leichtsinnige, willkürliche Gewaltakte innerhalb der vor ihm liegenden Gemeinde. „Häute an die Schlinge legen“ (Z. 5) deutet auf Erhängen, „die Bänke kippen vor dem Winter“ (Z. 6) vielleicht auf Ordnungsliebe, wobei auf den emotional geladenen Charakter der Bank bei Aichinger hinzuweisen ist. Der Sprecher ist dem Ort entfremdet. Er identifiziert sich mit den Vögeln, deren Bleiben nicht mehr erwartet wird, (Z. 12) mit den Rastlosen und Umherziehenden, die von der an der Oberfläche gepflegten Atmosphäre nicht mehr verlockt werden. Der Text kommuniziert tiefe Zweifel an der neuen, wiederaufgebauten Welt, deren Vergangenheit noch frisch im Gedächtnis der Betroffenen ist, sowie Widerwillen, sich noch einmal auf demonstrative Biederkeit zu verlassen.
„Ortsende“ (Rat, S. 43) ist das Pendant zu „Ortsanfang“. Die Erleichterung beim Verlassen des Ortes ist das Thema. Der Sprecher ist froh, der ihn bedrückenden Atmosphäre zu entgehen. Die Elemente innerhalb des Ortes beschreiben einen Zustand von Verödung und Verwahrlosung, wobei es sich nicht um Beschreibungen von Externem handelt, sondern um den inneren Zustand, deutlich in den deprimierenden Bildern der Unwirtlichkeit. Diese überträgt sich selbst auf den Himmel, beherrscht von einer gewalttätigen Sonne ohne Transzendenz. „Nichts hoch am Himmel“ (Z. 8) erinnert an das Lied „Vom Himmel hoch“, dessen Naivität und kindliche Zuversicht dem Sprecher abhanden gekommen ist. Der Text endet mit einem blasphemischen Witz: Die Schabe hier angeblich das Tier, das auch ohne Noahs Arche überlebte, befindet sich im Einvernehmen mit dem „neuen Zöllner“, (Z. 13) dem, der von den Bigotten als Außenseiter betrachtet wird. In diesem Fall geht es wohl um den Sprecher selbst, der sich, wie das ekelerregende Tier, außerhalb der Gemeinschaft befindet. Der Ekel der anderen wirkt gleichzeitig als Schutz vor ihnen, denn wohl bringt die Randexistenz Verachtung mit sich, aber auch Freiheit von der Enge.
„Florestan“ (Rat, S. 44, geschrieben 1961) spricht von der Intimität zwischen zwei Außenseitern. Aktivität und Energie, inspiriert durch die Nähe eines anderen, gleichgesinnten Menschen stehen im Mittelpunkt. Das Ich scheint von beiden Partnern der erfahrenere und ältere zu sein, es wirbt, gibt Rat und verfolgt den anderen liebevoll. Durch die Verstecktheit wird die Vertrautheit noch intensiver. Da Winter ist, versucht der Sprecher, den Geliebten in einen warmen Schlupfwinkel zu treiben, in dem beide der Kälte der Außenwelt entgehen. Er will dem Jüngeren, den er mit „Bruder“ anredet, die verborgenen Wege zum Überleben zeigen und ihn von den hellen, öffentlichen Plätzen, die Unsicherheit und Gefahr bedeuten, verjagen. Wie ein Vogel scheint der Angeredete, geflügelt, wodurch sich altbekannte Anklänge, etwa an das Bild des Geliebten als Falken, vielleicht auch Phoenix oder Ikarus ergeben. Der Sprecher hofft auf eine Vereinigung in einem exklusiven Kreise. „Kranz“, (Z. 14) wie auch die Jagdbilder, besitzt erotische Anklänge, die durch „Nacht“ (Z. 15) unterstrichen werden. Die Gesellschaftsfeindlichkeit ist deutlich. Die Öffentlichkeit erscheint als Bedrohung, so beschaffen, daß sie dem Naiven und Unerfahrenen schaden will. Sicherheit liegt im Rückzug, dem Vermeiden des Auffälligen und der Enthaltung von der Kommunikation mit der Außenwelt. Trotzdem hat der Text etwas Spielerisches. Die Jagd des Sprechers ist eine Liebesjagd. Die Zärtlichkeit dem anderen gegenüber ist unüberhörbar. Das Verstecken hat nicht den bitteren Beigeschmack des Notwendigen oder der Resignation, sondern ist beinahe ein Rückzug um der Intimität willen und hat somit den Aspekt der frohen Erwartung und des Trostes, der aus dem Privaten, Vertrauten, erwartet wird.
„Königsreim“ (Rat, S. 45, geschrieben 1959) fällt dadurch auf, daß, wenngleich unregelmäßig, Reime verwendet werden. Es sind die Kinderverse, traditionell am Dreikönigstag gesungen, die in das Gedicht interpoliert werden. Der scheinbar harmlose, kindliche Gesang zu Ehren eines christlichen Feiertages, vorgetragen in froher Erwartung der Gaben, ist durchsetzt von neuen, die Harmonie störenden Zeilen. Eine Verfremdung des alten, sinnentleerten Leides wird erreicht. Die neue Bedeutung ist erschreckend. Während das zersungene Kinderlied eine heile, hierarchisch strukturierte Welt suggeriert, ständische Verhältnisse und ein scheinbar gerechtfertigtes, naives Vertrauen darstellt, erleuchten Aichingers Zeilen eine destruktive Geschichte, eine mörderische Vergangenheit. Die Geschichte der morgenländischen Weisen, die in kindlichem Glauben einem fremden Stern nachzogen ist mit Bischofsmützen, Zeichen einer institutionalisierten, organisierten Kirche, kontrastiert, die ihren Anfang spontan in wohlgemeinten Glaubensakten hatte. Der Eindruck der geplanten, ausbeuterischen Kulturarbeit, die Platanengärten, stellen die Spiritualität der kirchlichen Organisation in Frage. Spontaneität und visionäre Einsicht sind durch Ämter und Planung ersetzt worden. „Die Sonne hat uns schwarz gebrannt“, ursprünglich bezogen auf das fremdartige Aussehen der Weisen, wird mit den sinnlosen, brutalen Morden des letzten Weltkrieges in Zusammenhang gebracht, die, verbunden mit der alten patriotischen Zeile „denn Kärnten ging verloren“ (Z. 10) den Chauvinismus miteinbezieht. Die Regungen von Nationalstolz, Revanchismus, sind assoziiert mit den Schreckensschauplätzen im Osten und verbranntem Kinderspielzeug, „die weißen Schaukeln“. (Z. 8) Mit der Rückkehr zu dem Volksvers ist die neue, erschreckende Bedeutung etabliert. Das kindliche Vertrauen der Singenden zu dem „Herrn Meister“ steht in einem fragwürdigen Zusammenhang. Der alte Reim versäumt es, nach der Art der Arbeit zu fragen. Er baut stattdessen auf die Kompetenz eines unidentifizierten Meisters. Die Vertrauensseligkeit und Autoritätsgläubigkeit, auf deren Basis die Nazizeit und der Weltkrieg möglich wurden, werden umrissen. Zudem erinnert der „Königsreim“ an die Heimatlosigkeit der Nachkriegsjahre und schließt so auch die Resultate der Entwicklungen bis 1945 mit ein. Durch diese verschiedenen Perspektiven erhält das Kinderspiel ernste Aspekte, die es, weit entfernt wie es von der Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts scheint, wieder in dieselbe integriert und auf eine lange Tradition der Unmündigkeit und Verantwortungslosigkeit bezieht, in der der Glaube an die Autorität, sei es die der Kirche oder die eines weltlichen Meisters, die individuelle Entscheidung und die persönliche Sicht hinter dem Gehorsam einer fragwürdigen Obrigkeit gegenüber zurücktreten läßt.
„Lesen“ (Rat, S. 46) handelt von dem Einbruch der äußeren Realität in die häusliche Umgebung. Der Einwurf eines undefinierten Lesestoffes in ein quadratisches Fenster wird von dem Sprecher beobachtet. Es ist ein Routinevorgang, so daß der Sprecher die Zeit an ihm messen kann. Das Haus, nur skizzenhaft angedeutet, wirkt wie eine Zuflucht vor der Außenwelt, aber auch wie ein Gefängnis. Das Gedicht umreißt auf kürzeste Weise den Gegensatz Innen-Außen und beschreibt den Einbruch eines Fremdkörpers in die abgeschlossene Sphäre. Noch herrscht Erwartung über die Natur des Kommunikationsmittels, das, auf dem Boden liegend, eine Hoffnung oder eine Bedrohung darstellen mag. Das Fremde, das ohne Bezug zu seinem Überbringer unpersönlich, fast unmenschlich wirkt, ist in der Post dargestellt.
Bezeichnenderweise schließt dieses Gedicht die Reihe derer ab, die vorwiegend mit dem Kontrast Innen-Außen, Bekanntes-Fremdes, arbeiten. „Faltername“, „Hochzeitszug“ und „Dreizehn Jahre“ benutzen ebenfalls diese Kontraste, weisen aber, in veränderter Thematik, durch sie auf den Gegensatz einer in sich durch Unschuld festen Mentalität und einer bedrohlichen Umwelt hin, eine Nuance, die „Lesen“ zunächst nur andeutet. „Faltername“ (Rat, S. 47, geschrieben 1960) bietet, wie der Titel ausdrückt, Assoziationen und Vorstellungen beim Anblick eines Schmetterlinges, als eines Ausnahmegeschöpfes in einer rohen Umgebung. Angeschlossen daran sind die Reflexionen über Bernadette, die Heilige von Lourdes, die, zunächst verkannt und zu spät gewürdigt, einen frühen Tod starb. Berandette, in ihrem unschuldigen, kindlichen Glauben, in ihrer besonderen Begabung als Seherin, ist wie der Falter, mit dem sie im Kontext des Gedichtes zu einer Einheit wird, zu zart für eine Umgebung voll von rohen Nutzgegenständen, trotz des intensiven Eindrucks, den beide scheinbar schwache und arme Wesen in ihrer schlafwandlerischen Sicherheit und Esotherik auszulösen imstande sind.
„Hochzeitszug“ (Rat, S. 48) stellt die Wirkung einer vorübergehenden, momentanen Erscheinung in der kindlichen Erinnerung dar. Die alltägliche Umgebung wirkt im Nachglanz überhöht, ihre Gewöhnlichkeit tritt in den Hintergrund und wird durch den Eindruck des bereits vergangenen Hochzeitszuges ins Märchenhafte gehoben. Die von dem Ereignis ausgehende Inspiration lebt in den jungen Schläfern weiter. Der Ton des Gedichtes ist, wie „Faltername“, sanft und traumhaft.
Auch in „Dreizehn Jahre“ (Rat, S. 49, geschrieben 1955) wird der Nachhall einer vergangenen Festlichkeit bewahrt und trotz zeitlicher und kultureller Entfernung kontempliert. Auf deutschsprachigem Gebiet hat das Laubhüttenfest, einer der wichtigsten jüdischen Feiertage, wegen der Zerstörung jüdischer Gemeinden und der Verschleppung der Gläubigen den Glanz, an den der Sprecher sich erinnert, verloren. Noch befinden sich Spuren der Festlichkeit im Raum. Die Friedlichkeit der eigenen, kontrollierten Umgebung, betont durch die Großzügigkeit und religiöse Toleranz und die rituelle Kerze setzen den ruhigen Ton für die erste Strophe. Im Haus herrscht eine Atmosphäre der Menschlichkeit. Die zweite Strophe jedoch bringt den Stimmungsumschlag. Sie inkorporiert die Außenwelt und mit ihr die potentielle Bedrohung in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Der Wüstensand unter dem Fahrradschlauch (II, Z. 1) an das Nomadentum im Kontext der ersten Strophe, an die Heimatlosigkeit des jüdischen Volkes und eine hastige, schlecht vorbereitete Flucht. Statt der Beschaulichkeit in der ersten Strophe ist Hektik das Charakteristikum der zweiten im Zeichen des bevorstehenden Todes und der Unsicherheit – die mögliche Verfolgung zu Jeder Zen. Der exotische Name Rajissa13Aichinger erwähnte im Gespräch am 6.8.1976 ihre Vorliebe für exotische, klangvolle Namen. betont die Fremdheit der Wandernden. Die letzten zwei Zeilen umschreiben durch ihre Widersprüchlichkeit die Unzuverlässigkeit aller Pläne, Versprechen und Zukunftsvoraussagen unter den Fliehenden.
„Gonzagagasse“ und „Ohne Jahre“ sprechen unverschleiert von der Katastrophe. Sie heben den Gegensatz zwischen individuellem Leiden und der Kontinuitat der größeren Gruppe, der Menschheit, hervor, die von dem Unglück einzelner weder betroffen noch an ihm interessiert sind. „Gonzagagasse“ (Rat, S. 50, geschrieben 1955) beschwort Bilder eines riesigen Unglückes im menschlichen Kosmos herauf. Diese werden mit der ungestört verlaufenden täglichen Routine der Unbetroffenen kontrastiert. Indem die Verantwortung für das Unglück auf eine göttliche Macht abgeschoben wird, entziehen sich die sich in Sicherheit befindenden Krämer, Handwerker und Tempelhupfer der menschlichen Pflicht, helfend einzugreifen. Der Sprecher enthält sich jeden persönlichen Kommentars und beschreibt nur die Vorgänge und Aktionen, nicht aber die Handelnden wodurch Verantwortungslosigkeit und Unpersönlichkeit suggeriert werden, die den Desinteressierten anhaftet. Die Negierung des individuellen Aspektes wird überwältigend deutlich, indem der Blickpunkt auf der Kontinuität der Funktionen ruht, die, gleich, wer sie ausübt, sich fortsetzen, während das individuelle Leiden versachlicht und des menschlichen Kontextes entkleidet wird. Bewußt suggeriert der Sprecher eine unverständliche Welt über die niemand Kontrolle hat, für die niemand einsteht. Die, die an ihren eigenen Projekten weiterarbeiten, sehen nicht und wollen nicht sehen. Sie kümmern sich nur um das, was sie unmittelbar, ihrer eigenen Auffassung nach, angeht und halten sich fern von der Gefahr, die die Hilfeleistung mit sich führen könnte. Zudem wird die Unmenschlichkeit noch notdürftig durch pseudo-religiöse Vorstellungen „der Himmel“, kaschiert – Elemente, die spezifisch die Katastrophen des Dritten Reiches ermöglichten, und die hier in universaler Form angeprangert werden.
„Ohne Jahre“ (Rat, S. 51) hat ebenfalls individuellen Untergang als einmaligen, nicht irgendeinem anderen Element vergleichbaren Vorgang zum Thema. Die Gleichsetzung von klimatischen Erscheinungen und menschlichen Dispositionen werden als falsch und willkürlich entlarvt, z.B. die des Taus (Z. 2) mit dem Mut. (Z. 3) Gängige dichterische Techniken, in denen Mensch und Natur als im Einklang porträtiert werden, stellen sich als irrig heraus. Es gibt keine Gleichung zwischen dem Menschen und anderen Naturphänomenen, menschlicher Katastrophe und Naturkatastrophe. Zwar werden die Variation und Repetition sowohl in der unbelebten wie der belebten Natur beobachtet, aber die Wiederholbarkeit für das Individuum ist beschränkt, während die der Naturphänomene es nicht zu sein scheint. Attribute wie Mut gehen verloren, da das menschliche Leben nicht unbegrenzt zyklisch ist. Der elegische Ton des Gedichtes unterstreicht den Gehalt die Trauer über Verluste, die nicht wiedergutgemacht werden können.
Ebenso stehen Fortbestand einer Gemeinschaft und kommunale Freuden, die eine Kontinuität bilden, im Gegensatz zum persönlichen Schicksal. Die Veränderung des Einzelnen beeinflußt der Bestand von Institutionen nicht, die, vorausgesetzt es gibt eine adäquate Anzahl von Mitgliedern, weiterbestehen und sich perpetuieren. Der Sprecher ist Beobachter. Da er die Übersicht über die Ereignisse zu besitzen vorgibt, wirkt er unbeteiligt. Er bildet jedoch keinen Teil der frohen Gemeinschaft. Seine genaue, distanzierte Betrachtung setzt ihn als Außenseiter von den anderen ab. Diese Fremdheit trägt zu der pessimistischen Färbung des Textes bei.
In „Befehl des Baumeisters beim Bau der Prinz-Eugen-Straße“ und „Triest“ wird die Thematik der Vergeblichkeit vom Individuum auf die Gruppe erweitert. In „Befehl des Baumeisters beim Bau der Prinz-Eugen-Straße“ (Rat, S. 52; geschrieben 1966)14Neue deutsche Erzählgedichte, ed. Heinz Piontek (Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1964), S. 31 geht es um die Begrenztheit menschlichen Planens. Statt um einen Bauplan handelt es sich um die Aussicht auf den Verfall. Der Plan bezeichnet das, was nach erfolgter Zerstörung einer Prachtstraße bleiben wird. Zwei Implikationen werden deutlich. Zum einen, daß das für einen Feldherrn angebrachte Monument nicht eine Prachtstraße ein Ort der Zivilisation, ist, sondern eine Wüstenei, wie er sie selbst zu schaffen gewöhnt und trainiert war, zum anderen, eine Mahnung über den Charakter menschlicher Schöpfungen. Die „Straße“ besteht aus Naturelementen. Der Essigbaum spielt auf die Kreuzigung an und erinnert so an die Kriege, die im Zeichen religiösen Fanatismus unternommen wurden, z.b. die Türkenkriege. Die Tauben sind in doppelter Bedeutung möglich. Zum einen als Friedensvögel – freilich mit einer fragwürdigen Note, da der Frieden erst nach der Zerstörung möglich ist – zum anderen als Bilder für den Heiligen Geist und als Zeichen für eine Kultur, nach deren traditionellen Vorstellungen Krieg und Frieden ein Wortpaar sind. Sie stellen auch eine zahlreiche Tierart dar, die möglicherweise die Zertrümmerung der menschlichen Sphäre überstehen kann und sich so als dauerhafter erweist als der Mensch, ein angeblich soziales Wesen.
Die Perspektive, die in der älteren Fassung angedeutet wird, schließt das Ungewisse, einen höheren Bereich, mit ein. Das Datum des Zerstörungsplanes bleibt ungenannt. Der Text besitzt etwas Prophetisches. Die nähere, überschaubare Zukunft wird ersetzt durch ein absolutes Zukunftskonzept, das die detaillierten und meßbaren Pläne außer Kraft setzt und die Kleinigkeiten des menschlichen Schaffens ad absurdum führt. Für die Ewigkeit ist die Planung der Straße nichtig. Die elementare Natur findet ihr eindrucksvolles Bild, das das Nichts beschreibt, in den Wolken und Staubwolken, die miteinander verschmelzen, beide im biblischen Bildergut Formen, in denen sich ehemals Gottes Geist verbarg. Das Postskriptum der älteren Fassung weist auf die Diskrepanz zwischen den menschlichen Plänen und denen einer höheren Macht hin.
„Triest“ (Rat, S. 53? geschrieben 1962) bezieht seine Dynamik aus der Spannung zwischen einer kriegerischen Umgebung und einer friedvollen persönlichen Inspiration. Die Vögel aus der Sonne, phönixähnliche Geschöpfe, stellen einen geistigen Erfahrungsbereich dar. Von ihnen, nicht von den Menschen, lernt der Sprecher. Die „Kunst des Maschenbindens / überm gefalteten Meer“ (Zz. 6–7) deutet auf Kommunikation im Gegensatz zu der feindseligen Abwehrbereitschaft der Völker. Der Sprecher wirkt wie ein Außenseiter, denn einer der magischen Vögel nimmt sich speziell seiner an in einer spirtuellen Liebesszene. „Besprach“ (Z. 10) deutet auf die übernatürlichen Fähigkeiten des Vogels. Die Beziehung zwischen ihm und dem Sprecher läßt an die zwischen einem Magier und einem Heilsbedürftigen denken. „Stern“ erinnert an die vielfältigen Bedeutungen dieser Chiffre m GH. Alle Konnotationen stehen offen, sei es die des persönlichen Schicksals, des Planeten, selbst der Erde.
Die Begegnung des Ich mit dem Vogel findet „vor der Taubengrotte“ (Z. 11) statt, also außerhalb beengter, dunkler Unterkünfte und getrennt von irdischen Vögeln, die, wie bereits am vorigen Gedicht ausgeführt, christliche Konnotationen haben. Das Treffen ist hell und froh, beinahe sinnlich-heidnisch und unbeschwert von der Bitterkeit, die sich bei Aichinger oft beim Nennen von christlichen Elementen zergt. Die Kunst, die vor den Taubengrotten – Kirchen? – geübt wird, ist lebensfroh. Distanziert von der alltäglichen Welt, den Kriegen der Menschen, ist sie nur auf individuelle Weise, in Form einer mystischen Kommunikation, ausführbar. Das Innenleben bedarf der Absonderung von der Gesellschaft, um zu gedeihen.
„Wunsch“ (Rat, S. 54) stellt eine Möglichkeit dieser Absonderung dar. Das Gedicht besteht aus einem langen, komplexen Satz, in dem der Sprecher wünscht das Schweigen zu erlernen. Als Modelle für dieses Ziel werden Prozesse, organische Substanzen, Räume und Personen genannt, die das Ideal der Stille verkörpern. Die Meditative, abwägende Aufnahme der Außenweltphänome ohne Kommunikation und Reaktion stellt Aichingers Konzept der sprachlichen Diskretion dar. Die Intensität des Wunsches impliziert, daß der Sprecher des Schweigens nicht mächtig ist und es auch noch dort bricht, wo er es zu halten wünscht.
Im Gegensatz zu der freiwilligen Aufgabe der Kommunikation stellt „Meiner Großmutter“ (Rat, S. 55) die Anpassung durch Unterdrückung dar, das nicht-angebrachte Schweigen. Biographische Einzelheiten werden übergangen, stattdessen aber die Elemente genannt, die das Lebensgefühl der Frau ausmachen. Der Eingangssatz entwirft eine Umgebung der Muße, den Modenapark, in dem Photos zum Vorzeigen gemacht werden. Der Name des Parks erinnert an Modena, die italienische Provinz Österreichs die während des letzten Jahrhunderts bis zur Einigung Italiens schwer unterdrückt wurde und in der wiederholt Aufstände niedergeschlagen wurden.
Hinter der Fassade tut sich eine Welt der Fragen, Unwissenheit und Titelgläubigkeit, der Angst und der Unterdrückung, auf. Persönliche Verunsicherung charakterisiert das Leben der Großmutter in einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft, in der sie als Frau an niedriger Stelle steht. Es fehlt ihr an Selbstvertrauen. Sie hat die Werte ihrer Umgebung internalisiert und leidet unter ihnen, ohne sie zu kritisieren, ja, selbst ohne sich des Leidens vollauf bewußt zu sein, Das „Erschrecken“ (Z. 9) und die „Demut“, (Z. 10) die Schutzbedürftigkeit und der Mangel an Freude sind selbstverständlich so daß der Sprecher, einer späteren Generation angehörend, die Großmutter bemitleidet und ihr noch aus dem Gedicht Mut und Zuversicht zusprechen will. Er versucht, die Angst in Proportion mit den realen Vorgängen zu bringen. „Meiner Großmutter“ ist einer der eindringlichsten Aichinger-Texte, die sich ausdrücklich mit der Frauenproblematik befassen. Typische Haltungen werden aufgewiesen, die sich nicht der Kontrolle des Einzelnen zuschreiben lassen, sondern von einem System auferlegt werden. Die Großmutter ist das Opfer einer statusorientierten, limitierenden Gesellschaft, nicht erzogen, sich rebellisch zu verhalten. Sie wirkt konfus. Die Zärtlichkeit des Sprechers ihr gegenüber ruft Anteilnahme auf Seiten des Lesers wach für eine Frau, die um ihr Leben, um sich selbst betrogen wurde. Der Rollentausch, bereits bekannt aus „Mein Vater aus Stroh“ und „Der Bastard“, ist, auch hier präsent. Der jüngere Mensch versucht, der älteren, der nicht als weiser oder selbstbewußter wahrgenommen wird, zu helfen, sich aus Fesseln zu befreien, die er protestlos auf sich genommen hat. Die Hierarchie wird verkehrt. Der Ältere könnte von dem Jüngeren lernen, während der Jüngere sich von den Lebensumständen des Älteren distanziert.
„Mittlerer Wahlspruch“ (Rat, S. 56) ist ebenfalls eine Erinnerung an die Großmutter, übermittelt jedoch den entgegengesetzten Aspekt, den Eindruck einer weisen Älteren die die gelassene Hinnahme des Unvermeidlichen und Zufälligen lehrt. Reise und Tod sind ihren Worten nach flüchtige Phänomene. Die Dispositionen die mit Toten getroffen worden, sind gleichgültig. Der unsentimentale Wahlspruch verwirft den Totenkult. Es wird angezweifelt, daß der Ort des Grabes von Bedeutung ist. Impliziert ist, daß es auf das Leben, nicht die Stätte des Todes, ankommt. Gleichfalls enthält der Text einen Aufruf zur Weltoffenheit. Die Fremde ist nicht furchtbar, beängstigend – die Heimat hat ihr nichts voraus. Sentimentaler Patriotismus wird verworfen und die Universalität des menschlichen Lebens, gleich, wo man sich befindet, betont.
„Durch und durch“ (Rat, S. 57) ist von spezifisch jüdischer Thematik. Epigrammatisch, kurz und scharf, wird auf das Gleichnis des reichen Jünglings angespielt. Die Absurdität dieser neutestamentlichen Geschichte wird zutagegebracht. Angesichts der dem Dasein inhärenten Beschränkung und Armut ist die Forderung Christi unberechtigt. Das „wir“ des Textes nimmt Stellung für den Jüngling, der von Christus abgewiesen wurde, also nicht bekehrt wurde und Jude blieb. Die Vorurteile auf die sich der Antisemitismus beruft: Habgier, Materialismus usw., werden als lächerlich abgetan, dagegen darauf hingewiesen, daß sowohl im unerfüllten irdischen Dasein wo Diskrimination, sanktioniert durch die Worte des angeblichen Heilands, geübt wird, wie auch in Hinblick auf die Ewigkeit den Juden von den Christen gleiche Rechte und Würden abgesprochen wurden. Bezeichnend ist das Bild des Kamels, eines Tieres, das volkstümliche Symbol für Dummheit und Tragfähigkeit ist. An ihm kristallisiert sich die jüdische Misere: der Mißbrauch zum Prügelknaben für fremde Zwecke, als Träger fremder Schuld, sowie die Langmut im Ertragen von Unrecht.
Auch „Zeitrechnen“ (Rat, S. 58) enthält religiöse Anklänge und Warnung. Mit der Urzeit, die in ihrer Stundenzahl begrenzt und zyklisch ist, wird die Vorstellung eines „Bildes der Bilder“ (Z. 2) eingeführt, ein Bild, in dem, wie auf dem Ziffernblatt die Zwölfzahl vorherrschend ist, etwa ein Abendmahlsbild unter Ausschluß des Judas. Kälte und Überalterung sind die vorherrschenden Eindrücke. Die Rückkehr auf den Ausgangspunkt, die erste Stunde, die Stunde null, wird antizipiert. Vollendung und Neubeginn s simultan. Wie die Uhr kernen absoluten Fortschritt anzeigt, sondern nur den Beginn eines zu erwartenden Endes, eines begrenzten Zyklus, ist die Limitierung einer jeden Epoche das Sich-Selbst-Überleben in der Vollendung. Die Warnung gilt denen, die sich als Träger einer neuen Zeit, eines unbegrenzten Fortschritts fühlen.
„Abgezählt“ (Rat, S. 59) setzt die Thematik der Umwertung fort. Der Text leitet Gedichte ein, die destruktive Denkschemata und Rationalisierungen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Thema haben. „Abgezählt“ beginnt mit einer Liste von individuellen Unglücksfällen, sei es Selbstzerstörung, seien es Eingriffe von außen. Dem Tod, der auf individueller Ebene das Ende der Zeit bedeutet, ist die scheinbare Kontinuität der Gemeinschaft entgegengesetzt, die den Einzelnen verschmerzen kann. Die Rohheit der Gruppe wird durch die „Fleischerzeitung“ (Z. 10) angedeutet. Das Zählen von Quantitäten, das Wiegen der Massen, typisch für den Fleischerberuf, negiert das Einzelleben. Entgegen dem doktrinären Optimismus des Massenmediums steht in Aichingers Gedicht das Schicksal des Individuums als eigentlicher Wertmesser für die Qualität des Lebens. Im Kontext mit den vorigen Gedichten drängt sich der Gedanke an die Quantifizierung der Nazi-Opfer auf; mit Massenziffern soll Eindruck gemacht werden, während der Respekt vor dem Einzelleben in Sentimentalität und Heuchelei untergeht.
„Nachruf“ (Rat, S. 60) rebelliert gegen christliche Vorstellungen. Die Legende vom Heiligen Martin dient als Vorwurf. Es wird an der Handlung des Heiligen Anstoß genommen. Der Sprecher ist nicht überzeugt von einer Großzügigkeit, die aus einem Kompromiß besteht. Der Eindruck, daß der Heilige nichts Außergewöhnliches tat, sondern nur das Selbstverständliche, drängt sich auf. Der Sprecher, in der Rolle des Bettlers, verlangt mehr als nur den halben Mantel. Er verlangt den ganzen und zudem, daß. der Heilige sein Schwert steckenlasse, da es möglicherweise eine Bedrohung, zumindest jedoch ein Zeichen der Überlegenheit und der Kampfbereitschaft, ist. Aus dieser Perspektive erscheint die hochgepriesene Tat unvollkommen. Sie ist nicht mehr Zeichen einer ungewöhnlichen Nächstenliebe, als die sie ausgegeben wird, sondern beinhaltet Knausrigkeit. Das Resultat ist weder für den Geber noch den Nehmer zufriedenstellend: ein halber Mantel.
Das Gedicht demonstriert, wie weit sich das Christentum vom Geist seines Gründers entfernt hat, daß das Einhalten des grundlegenden Gebotes: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ so ungewöhnlich ist, daß es zur Heiligsprechung führt.
Der Gegensatz zwischen Martin, dem Besitzenden und dem Bettler ist der zwischen einem, der Almosen gibt, wo Rechte vonnöten wären – Bild einer Religion, in der der Egalitätsglaube verloren wurde.
„Zuspruch an einen Mann, der dreiundzwanzig Jahre im Bett blieb und dann aufstand“ (Rat, S. 61) stellt einen Menschen dar, der seine Welt neu entdeckt. Die Haltung des Aufstehenden ist Verantwortungslosigkeit, wie aus den Reaktionen des ironisch-sympathisierenden Sprechers hervorgeht. Nach Jahren der Passivität wird der Mann zur Freude am Dasein ermuntert. Gleichwohl ist der Zuspruch nicht ohne Verachtung, wie die Zeilen „der neuen Zucht, / die dich den Schweinen / überlegen macht“ (Zz. 11–13) anzeigen. Woraus die angebliche Überlegenheit des Mannes besteht, wird nicht erwähnt. Dagegen herrscht der Eindruck vor, daß der Schläfer an den Aufgaben des Daseins vorbeigelebt hat. Ohne etwas beigetragen zu haben, hat er auch kein Unglück verhütet, sondern hat „beherzt / mit angesehen“. (Zz. 9–10) Unverbundene Phänomene werden als möglicher Grund zur Freude genannt. Sie verdeutlichen, daß der Betroffene eigentlich keinen Grund hat, sich zu freuen, kein Recht auf Glück, da er sich jahrelang zum passiven Objekt machte. Seine Aktionslosigkeit kam einer Zurückweisung des Lebens gleich. Der Satz, daß wer schlafe, nicht sündigt, wird durch die Andeutung von Schuld durch Nachlässigkeit und Apathie in Zweifel gezogen. Enthaltung von der Aktion ist im negativen Sinne auch Aktion, Nicht-Entscheidung ebenfalls Entscheidung.
„Seitlicher Durchblick“ (Rat, S. 62) enthält dissoziierte Eindrücke aus verschiedenen Bereichen in heller, schlaglichtartiger Beleuchtung. Eine bizarre Realität tut sich auf. „Pelzerhaltungsstätten“ (Z. 3) suggerieren eine Menge von toten Tieren. Die „gebrannten Gladiolen“ (Z. 4) sind tote organische Substanz. Zerstörung, Töten und Ausbeutung werden evoziert. Die „Gesellenlampen“, die im Flutlicht verblassen, vermitteln den Eindruck des Fortschritts: das schwache Licht wird durch ein moderneres, effektiveres übertroffen. Wie das Flutlicht das Meisterstück gegenüber den Gesellenlampen darstellt, ist die Steigerung toter pflanzlicher und tierischer Substanzen der tote Mensch. Gegenüber den kleinen Lampen im Raume einer begrenzten Vernichtung suggeriert das Flutlicht Massenvernichtungen, Kriege, Verfolgungen. Das „wir“ ist eine Gruppe, die auf Sicherheit durch die anonyme Masse baut. Der Sprecher identifiziert sich so weit mit den anderen, daß er als Einzelner nicht in Erscheinung tritt. Der Gruppe sind kriegerische Attribute zugeordnet. Der zur „Luchskapelle“ (Z. 11) getragene Schnee evoziert das Bild eines okkulten Gottesdienstes für ein verschlagenes Raubtier. Groteskerweise werden die Ovationen mittels einer billigen, vergänglichen Substanz gemacht, die auch den Eindruck emotionaler Kälte aufkommen läßt. Der Zierrat, als „verbrochen“ (Z. 12) bezeichnet, suggeriert sowohl Verbrechen wie Brechen und stellt den Ort der Andacht als kriminell oder zerstört dar.
Die vorgespiegelte biedere Haltung des Sprechers, der sich harmlos und defensiv gibt, wie die Gruppe, erweist sich als Heuchelei. Die Sorge ist Ausrede zur Offensive. Das eigentliche Anliegen der Gruppe ist Zerstörung im Namen einer aggressiven und absurden Religion, Eroberung für einen angeblichen Fortschritt.
„Verlorenes Manöver“ (Rat, S. 63) dreht sich um ein Kriegsspiel, eine an sich nicht ernstzunehmende Übung. Jedoch ist diese eine Vorbereitung für den „Ernstfall“. Die Verwirrung des Sprechers ist deutlich. Seine „Farbe“ ist im Verlieren begriffen. Gefühle, die für den Ernstfall adäquat wären, entwickeln sich. Die friedlichen Häuser erscheinen als Verlockungen – zur Aggression oder als Zuflucht? –. Die Angst vor der Isolierung, wie sie in einem wirklichen Kriege zu erwarten wäre, verbreitet sich in der Probesituation. Im Mittelteil steht die Frage nach der Motivierung der von dem Spiel hingerissenen Teilnehmer. Die irrationale Suggestionskraft, ausgehend von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei, gekennzeichnet durch einen Namen oder eine Farbe läßt den Herdentrieb erwachen und hat ein ernsteres Engagement zur Folge, wie die Angst der verfolgten Verlierer zeigt, obwohl hier die Feinde nur die eigenen, willkürlich ausgesuchten Kameraden sind. Die explizite Frage nach dem Sinn und Ursprung der starken Emotionen, die sich dem Leser kommunizieren, fehlt. Die Sprecher vermitteln nur die Resultate der jeweiligen Vorgänge und die hypnotische Kraft, die ihnen innewohnt.
Das Zwanghafte der Umwelt ist auch zentral in „März“. (Rat, S. 64, geschrieben 1961) Die Stimmung ist deprimierend, hervorgerufen durch das erste Bild: „Die grauen Kühe trotten / über die Dächer abwärts.“ (Zz. 1–2) Aktivitäten in der Natur und im menschlichen Bereich werden nebeneinandergestellt. Die Tätigkeit der Frauen scheint ebenso gesetzmäßig und unaufhaltsam wie die Vorgänge in der Landschaft. Anhand der Beobachtung von Gräbern, Wolken und Haushaltsroutine reflektiert der Sprecher über die wie mechanisch geregelte Welt, in der das Individuum und dessen Wünsche unberücksichtigt bleiben. „Unser Einverständnis / ist immer vorausgesetzt.“ (Zz. 19–20) Jedoch unterscheidet sich der Sprecher von denen der vorhergegangenen Gedichte dadurch, daß er sich distanziert. Seine Unzufriedenheit mit dem Zustand, der ihm unbequem ist, ist deutlich. Seine Kritik trägt ihm neben der Distanz Isolation ein. Er hat das Gefühl für die Gruppe abgelegt und befindet sich in Disharmonie mit seiner Umgebung.
„Märzwunsch an den Garten“ (Rat, S. 1965) ist der den natürlichen Entwicklungen Einhalt gebietenwollende Wunsch eines Außenseiters, wie sich aus der Präferenz für die rohe, noch nicht voll erblühte Natur gegenüber den idyllischen Sommergärten voller Vegetation ablesen läßt. Die Liebe für den kahlen, fleckigen, panterähnlichen Garten belegt das Nicht-Übereinstimmen-Wollen. Der leere, wie ein Raubtier voller Aggression und Aktivität wirkende Garten spiegelt den Zustand des Sprechers. Die Fruchtbarkeit des Werdens wird positiv mit der Erfüllung des Gewordenen verglichen, der Beginn mit der Vollendung da erstere Raum für Erwartungen lassen. Der Hunger bezeichnet die Freude an der Erwartung und dem Verlangen, die dynamischere Elemente sind als Erfüllung und Besitz. Gleichfalls läßt die Leere Raum für die Phantasie. Die Zukunft ist noch nicht definiert. An die Rohheit assoziiert sich auch Ehrlichkeit. Heuchelei wird m den „süßen Episteln“ (Z. 12) des Sommers suggeriert, die dadurch symptomatisch wird für die Natur der Kirchenfeiertage und die geselligen Veranstaltungen.
Oberflächliche aber die Essenz verschleiernde Harmonie wird ebenfalls in „Danach“ (Rat, S. 66) verworfen. Dem zufälligen Betrachter sind die Ereignisse der Vergangenheit verborgen. Er weiß nichts über den Verbleib der ehemaligen Bewohner der Gegend, m der er sich befindet. Hinter der Friedlichkeit des sonnenbeschienenen Fleckens werden Bilder von Flüchtlingen, Verschleppten und Verschollenen evoziert. Zu dem Zeitpunkt des Gedichtes ist es für Nachforschungen zu spät, da die Spuren verwischt sind. Die Stunde der Beschaulichkeit läßt durch ihre Stille Reflexionen aufkommen und eröffnet eine ahnungsvolle Perspektive auf vergangene Leiden. Der Sprecher ist verwundert über die Totalität der Auslöschung. Eine ganze Welt menschlichen Ausdrucks, zusammengefaßt in „verwegen und leise“ (Z. 12) ist vergangen. Die Zeichen des Konfliktes wurden beseitigt. Die Erinnerung des Sprechers beweist jedoch, daß die gegenwärtige Harmonie nur ein Teil der Wahrheit ist.
Das Verborgene ist in „Chinesischer Abschied“ (Rat, S. 67) thematisch unter dem Vorzeichen von Intimität und Liebe. Der Ton ist schlicht und getragen. „Doppelt“ (Z. 2) haftet eine schillernde Mehrdeutigkeit an. Es geht um zwei Menschen oder eine Gruppe „wir“ die sich in besonders intensiver Art, zur Liebe oder zum Tod, niederlegen. Ob sie zusammen am selben Ort oder getrennt ruhen, bleibt ungewiß. Die Sprecher stellen eine geschlossene Einheit gegen die Außenwelt dar durch ihre Selbstgenügsamkeit. Ohne Forderungen zu haben, behandeln sie die anderen mit Freundlichkeit und dem Respekt, den sie für sich selbst erhoffen. Jegliche Art der Aufopferung von anderen wird abgelehnt aus einem Bewußtsein der eigenen und fremden „Kostbarkeit“. Die Erfüllung läßt die eigene Großzügigkeit wachsen, während in Texten, in denen Verarmung und das Erkennen der eigenen Unvollkommenheit vorherrschen, Habgier und Unersättlichkeit in den Vordergrund treten. Die Selbständigkeit, kommumziert durch die beherrschte Aussageform und basiert auf der selbstgeschaffenen Harmonie, konstituiert die Ausgewogenheit des „wir“, die keines fremden Zusatzes bedarf.
Die stolze Anspruchslosigkeit, hervorgegangen aus dem Wissen um eine erfüllte Gemeinsamkeit sticht von der Ruhe der Resignation ab, die „Alter Blick“ (Rat, S. 68, geschrieben 1959) charakterisiert. Titel und Eingangssituation suggerieren Statik, Gwöhnung und Resignation, die nicht frei von Schuldgefühlen wegen der eigenen Inaktivität sind. Der Sprecher ist einsam. Seine scheinbar stabile Position bildet einen Gegensatz zu dem was hätte sein sollen: das Achtgeben auf den Nächsten. („die Verlorenen“, Z. 3) Die Fragen nach einem höheren Kontrollsystem, einer Macht, die Zu- und Unglücksfälle überwacht und verhindert, bleiben unbeantwortet. Zwar spürt der Sprecher einerseits, wie aus der Anthropomorphisierung seiner Umgebung hervorgeht, die Präsenz einer übergeordneten Macht, andererseits deuten die Fragen jedoch Unsicherheit an und den Verdacht, er könne sich nicht von der Verantwortung für die Ereignisse um ihn herum freisprechen. Diese zwiespältige Haltung gipfelt in der Frage nach dem eigenen Verbleib, der eigenen Sicherheit, für die kein Garant bekannt ist. Der Sprecher schwankt zwischen einer menschlich-kindlichen Wunschvorstellung nach Geborgenheit und Hoffnung auf die individuelle Anteilnahme eines oder mehrerer höherer Wesen an seinem Schicksal und der anklingenden Skepsis, die die Existenz solcher Mächte zweifelhaft erscheinen läßt. Gegen letztere ist selbst die dringliche Autosuggestion des Sprechers machtlos. Der Titel indiziert die lange Gewohnheit, die der ersteren Sehweise perpetuiert hat, und die doch, wie die „wer“-Fragen zeigen, durch keine Anhaltspunkte gesichert ist. Das Gedicht wirft einen Konflikt im geistlichen Bereich auf.
In „Restlos“ (Rat, S. 69, geschrieben 1973) liegt der Fokus auf der Beobachtung und Interpretation weltlichen Geschehens, begonnen mit dem Menschen. Das Bild der Davonreitenden ist ebenso danymisch wie die Aktivität in den Basaren. Es bietet sich ein bewegtes, orientalisches Bild alter Zeit, dem allerdings die bürokratischen Totenscheine widersprechen. „Gewesen“ (Z. 3) weist die Reiter und ihre Pferde der Vergangenheit zu. Die mit ihnen assoziierte Kultur ist im Absterben begriffen. Vergangenes, gerade noch Präsentes und Gegenwärtiges, das noch bis in die Zukunft reichen wird, sind vermischt.
Die zweite Strophe reflektiert über die Entwicklung tierischer, und implizit, menschlicher Lebensformen. Die Saurier sind exemplarisch für die Anpassung an verschiedenste Verhältnisse. Jedoch verhindert ihre Verkleinerung ihr Aussterben nicht. Unausgesprochen 1st die Parallele zum Menschen und dessen Modifikationsfähigkeit, angedeutet am Anfang des Textes. Das Aussterben des Menschen wird projiziert. Das Modell der Saurier, „Hilfe und Hinweis“, (II, Z. 7) gilt auch für ihn.
Vergänglichkeit, Mangelhaftigkeit und Unzuverlässigkeit des Bestehenden, wie sie in den vorigen Gedichten zutagetraten, motivieren auch die folgenden zwei Texte. Panischer Rückzug auf individueller Ebene ist das Thema von „Ausgedacht“. (Rat, S. 70) Der französische Badeort Bayonne ist der Platz des Entkommens von ungenannten Foltern der Umwelt. „Gitter, die ich meine“ (Zz. 4–5) ironisiert das bekannte „Freiheit, die ich meine“. Der imaginierte Einbruch des Sprechers in einen gefängnisartigen Ort, möglicherweise ein Irrenhaus, ist das Aufsuchen eines Asyls, das Freiheit von der Umwelt und Ruhe bietet. Ein panischer, fast paranoider Rückzug findet statt. Selbst der physische Kontakt mit dem Gips, einem Element der Außenwelt, ist dem Sprecher zuviel. Das Gefängnis ist ein inneres Sanktum der asketischen Abwendung von der Überfülle.
„Dem Ende zugedacht“ (Rat, S. 71) setzt dieselbe Bildlichkeit und Thematik fort. Hier tritt die Vorstellung des jüngsten Gerichts hinzu. Der Sprecher ist nicht willens, sich ihm zu unterwerfen. Selbst den Ort der größtmöglichen Selbstbeschränkung will er noch verlassen und sich noch weiter entziehen. Während sich der Sprecher in „Ausgedacht“ vor der Welt verstecken will, will er es in „Dem Ende zugedacht“ auch vor der göttlichen Autorität. Die Entfremdung von Welt und Religion ist vollständig. Den Sprecher ekelt es vor beiden.
„Schneeleute“ (Rat, S. 72) analysiert anhand von menschenähnlichen Schneemännern das Phänomen der Andersartigkeit und die emotionale Reaktion auf dieselbe. Der Sprecher vermutet in den menschenähnlichen Erscheinungen ein Potential, das das seine übertrifft. Sein Abstandhalten erklärt sich aus einer gefürchteten Inferiorität, die sich bei näherem Kontakt herausstellen könnte. Das Gefühl, möglicherweise inadäquat und lächerlich zu sein, läßt ihn den Verfall und die Auflösung der Schneegestalten ohne

Eingreifen mitansehen. Zwar ist das Ich steif, (Z. 11) vielleicht ergriffen, vielleicht erschreckt, durch das rasche Vergehen seiner Gegenüber und weiß sich von dem Untergang der Gestalten affiziert, da es seine eigene Sterblichkeit mit dem Vorgang in Verbindung bringt. Neid auf die Fähigkeit zu schmelzen, einen optimalen Akt, sich unsichtbar zu machen, ist ein Teil der emotionalen Reaktion.
Folgende Elemente führen im Text zu der Diskrimination: Die Andersartigkeit, gerade als groß genug wahrgenommen, um die Menschlichkeit und Leidensfähigkeit des Gegenübers leugnen und als bloße Menschenähnlichkeit ausgeben zu können, führt zu einer Mischung von Respekt und Verachtung. Das Bewußtsein einer kategorisch begründeten Unter- und Überlegenheit entsteht, wobei bei der Beurteilung nur von äußeren Faktoren ausgegangen wird. Die vorgefaßte Haltung, begründet in der eigenen Unsicherheit, macht das Gegenüber zum Objekt und spricht ihm das Recht auf eine Identität ab. Die Auslöschung des Beunruhigenden, Fremden, wird mit Befriedigung und einem gewissen Grauen verfolgt – nicht genug, um einzugreifen.
Aichingers Vorliebe für exotische, ungewöhnliche Namen mag zu „In welchen Namen“ (Rat, S. 73) beigetragen haben. Die weiblichen Namen „Alissa und Inverness“ (Zz. 1, 2) werden als Beispiele für die Funktion des Namens gewählt. Namen sind willkürliche Abzeichen. Unbekannten Ursprungs dienen sie der Identifikation von Personen oder Institutionen und werden zu Mitteln, Verantwortung und Schuld zu übertragen. Der Sprecher distanziert sich von beiden Namen, die – möglicherweise durch ihre Lautgestalt-Ominöses suggerieren. Die Schicksale der Namen werden durch die verschiedenen Umgebungen angedeutet. In Mönchs- und Schwesternorden, Kriegen und Katastrophen assoziieren sie sich mit den Klischeevorstellungen sorgender und verführerischer Weiblichkeit. Die Vorstellungen der Frau als Heiliger, Heroin, Mutter und Hure, als Agierende und Opfer, klingen an. Durch die sprachliche – und implizit kulturelle – Umgebung ist es möglich, Laute mit Assoziationen zu füllen, die die zufälligen Trägerinnen der Namen vorbelasten. Vorurteil, das aus der Bezeichnung erwächst, ist Thema des Gedichtes.
In „Sommerfest“ (Rat, S. 74) sind Wärme und Freude die den Ton bestimmenden Elemente. Im Zentrum stehen ungewöhnliche und phantastische männliche Namen. Sie haben keine Konsequenzen. Könnte als Motto für das vorige Gedicht „Nomen est omen“ stehen, so wäre es hier „Namen sind Schall und Rauch“. Es ist interessant, daß die weiblichen Namen die düsteren Zusammenhänge inspirieren und die männlichen die leichten und folgenlosen. Es scheint, als solle darauf hingewiesen werden, daß in der Tradition, in der die Autorin steht, den Männern das leichtere, erfreulichere Los zufalle, während die Frauen – man denke an Hexenverfolgungen, Diskriminierung im privaten Bereich und im öffentlichen Leben – Vorurteilen und Benachteiligungen, die kirchlich, kulturell und legal sanktioniert wurden, ausgesetzt sind. Dazu tritt die ideologisch belastete Rolle der Frau ihr Rollenspiel als Mutter, Geliebte, Sich-Aufopfernde – Assoziationen, die in „In welchem Namen“ gemacht werden, während der Mann als autonome Person sich, wie in „Sommerfest“ in einer Welt der freien Bewegung und des Sich-Auslebens befindet.
„Kleine Summe“ (Rat, S. 75) ist eine zwischengeschaltete Bestandsaufnahme, die gleichzeitig Methoden zu einer adäquaten Selbstbewertung anzeigt. Zentral ist die Liste des Nicht-Erreichten. Den verschiedenen anvisierten Taten haftet Absurdität an. Entweder waren die gesteckten Ziele zu exzentrisch oder sinnlos, von Anfang an unerreichbar. Die Einflußsphäre und Kompetenz des Sprechers erweisen sich als begrenzt. Er hat keins seiner alten Ziele erreicht, weder ideologische Veränderungen in anderen oder persönlichen Einfluß, noch hat er sich Gruppen wie den erwähnten „Flaubertisten“ (Z. 1–3) angeschlossen. In der letzteren Bemerkung liegt eine Reflexion auf das schriftstellerische Schaffen. Der Sprecher hat sein Augenmerk nicht hauptsächlich auf die Reinheit des Stils, einen Purismus gerichtet, aber sich auch, die die Eingangsbemerkungen andeuten, von einer bewußt politisch engagierten Literatur ferngehalten.
Einfachheit und Ehrlichkeit bilden das Ende des Textes, eine Beobachtung über die Natur, wie sie ein Jeder wahrnehmen kann. Prätension und Resultat werden in eine gerechte Proportion gebracht. Ein vernünftiges Mittelmaß wird bejaht als adäquat für die Kommunikation. „Kieme Summe“ ist eine vorurteilsfreie Selbstevaluation, die die eigene Leistung nicht an anderen, sondern am eigenen Fortschritt, mißt.
Von hierher führen die nächsten Gedichte zu Versuchen zu einer Neubewertung der Existenz. „Ohne Bündel“ (Rat, S. 76) postuliert von einem veränderten Standpunkt aus ebenfalls Nüchternheit. Das Gedicht beginnt mit einem Wortspiel auf „erweisen“, zeigen, prüfen. Besseres Wissen, spielerisch als die „Erweise“ (Z. 2) bezeichnet, ist das sich-Fernhalten von der Verführung zu mythisch-magischem Denken und Aberglauben, wie das Beispiel der Alten darstellt. Befindet sich die Hexengestalt auf einer ursprünglicheren Stufe, so bezeichnet die Furcht vor der Faust / die dreinfährt“ (Zz. 3–4) die irrationale Angst vor der höheren Macht Gott und metaphysische Strafen. Beide Arten des Glaubens an außer- und übermenschliche Kräfte werden auf dieselbe Stufe gestellt und abgelehnt. Sie gehören zu den „Bündeln“, die zur Erlangung der Freiheit abgelegt werden müssen. Ebenso will sich der Sprecher, wie aus Zeilen 10ff. hervorgeht, freihalten von Geschenken und somit von potentiellen Verpflichtungen. Die Notwendigkeit des eigenen Überlebens und der eigenen Integrität, gleich, was in der Umwelt vor sich geht, werden betont. Permanenz liegt für den Sprecher weder in der Internalisierung ewiger Werte noch im Empfangen von persönlichen Geschenken und Anerkennungen, sondern in der Ungebundenheit, garantiert durch Mißtrauen. Die letzten Zeilen richten sich ironisch gegen die Auszeichnungen, die die Gesellschaft zu bieten hat, Toten- und Ehrenkränze, die oft in der Verkennung der Tatsachen, dem zufallen der sich am wenigsten um sie bemüht hat.
„Neuer Bund“ (Rat, S. 77) klingt nicht nur lautlich, sondern thematisch an „Ohne Bündel“ an. Sprach das vorige Gedicht von der geistigen Freisetzung so befaßt sich „Neuer Bund“ mit den Werten, die mit der Freiheit erreicht werden. Durch das groteske Bild der Sonne wird die normalerweise positive Assoziation „hell und warm = gut zerstört und lächerlich gemacht. Zusammen damit wird der sprichwörtliche „liebe Frieden“ (Z. 7) durch die triviale Formulierung als trivial entlarvt. Als Gegenwerte präsentieren sich Dunkelheit, Schweine, Morast – gemeinhin Bilder für moralische Verderbnis und Unsauberkeit. Gegen die apollinische Welt des Lichts stellt der Sprecher eine chthonische Schattenwelt – das Chaos – und negiert Luziditat, Reinheit und Ordnung als Scheinwerte. Er erwählt die Schweine als „seine Könige“. (Z. 18) Modellhaft sind ihm ihr Grimm und ihre Gelassenheit, besonders dem Tode gegenüber. Die nach dem Sterben nach oben getriebenen Körper sind ihm Zeichen des Triumphes. Sie sind unverwendbar für die helle, scheinbar heile Welt. Qualität offenbart sich nicht im Glänzen und der Gefälligkeit, deutet der Text an, sondern in der Hartnäckigkeit und der Unverwertbarkeit durch eine hypokritische Welt.
Die Sonne erscheint dagegen korrumpierend und unzuverlässig.
Die Idealisierung des gewöhnlich für scheußlich Gehaltenen ist ein Angriff auf das traditionelle Wertsystem. Der Titel erweckt Assoziationen an den Bund Gottes mit den Menschen und die biblischen Gesetze, nach denen die Schweine als unrein betrachtet werden. Die Wahl des Sprechers, sein Bund mit ihnen, trennt ihn von der judeo-christlichen Welt. Unter den Ausgestoßenen und Verachteten findet er seine Werte.
„Einunddreißig“ (Rat, S. 78) nimmt zum Thema Außenseiter noch deutlicher Stellung. Judas, der für seinen Verrat dreißig Silberlinge nahm, ist der Sprecher. Entgegen der biblischen Geschichte ist er zynisch-heiter. Er wirft die Münzen nicht fort – allerdings ist zweifelhaft, ob er sie überhaupt erhält. (Z. 3) Judas stellt sich seinen Tod vor in erschreckend-drastischen Termini, die anzeigen, daß er weit davon entfernt ist, sich zu erhängen. So spottet er des Todes, aber auch jenen, die den neuen Anfang mit der neuen Religion wagen wollen. (Z. 14) Es ist deutlich, daß er den materiellen Wert für handfester hält als die versprochenen geistigen.
„In und Grimm“ (Rat, S. 79), ein Wortspiel auf Ingrimm, steht in offener Rebellion gegen den potentiellen „jüngsten Richter“, (Z. 2) der der Willkür, der Fahrlässigkeit und der Bosheit angeklagt wird, der seinen Gläubigen, die auf ihn hoffen, nicht hilft und ohne Motivierung den Tod verhängt. Obwohl sich der Sprecher seiner eigenen Schwäche bewußt ist, erhebt er Anspruch darauf, milder zu sein als der, der nach den Kategorien Gut und Böse richten wird.
„Übermorgen“ (Rat, S. 80) gibt Impressionen von den Schrecklichkeiten einer zukünftigen Welt. Todesstimmung herrscht vor. Kein Sprecher, noch andere Individuen werden greifbar. Die Emphase liegt auf Objekten. „Nachrichten“ (Z. 1) bewegen sich scheinbar ohne Agenten fort, „Taue“ und „Luft“ weisen auf Mord und Exekutionen. Die scheinbar aus dem Nichts gestellte zentrale Frage bleibt unbeantwortet. Sie zeigt Unsicherheit an. Die Kausalität ist aus den Fugen geraten. Niemand ist verantwortlich. Im Gegensatz zu dem vorigen Gedicht, in dem ein Gott vorausgesetzt wurde, ist diese Welt menschen- und gottverlassen. „Eine Stimme liegt auf“ (Z. 6) unterstützt diesen Eindruck. Wie eine Schallplatte, ist diese Stimme mechanisiert und entpersönlicht, unspezifisch wie der Sinn ihrer Worte. Das Höchstmaß der Entfremdung von einer anonymen Welt, in der jegliches sinngebende Prinzip fehlt, ist erreicht.
„Tagsüber“ (Rat, S. 81) zieht sich auf Bekanntes, auf die eigene Person, zurück. Individuelles Leiden, Zerschlagenheit, verglichen mit Torturen verschiedenster Art, auch Passionsleiden, steht im Zentrum. Der Sprecher wirkt wie ein Märtyrer passiver Qualen ausgesetzt. Narrentum, das den Ernst der Situation mildern könnte, ist ihm nicht gewährt, da er der Protagonist in seiner limitierten Welt ist. Sein Leben ist ihm unerfreulich, und trotzdem bringt er ihm eine tiefe Hinnahme gegenüber. Um des Lebens, seines Lebens willen, schätzt er selbst einen solchen Tag, da auch er ihm beweist, daß er am Leben ist.
„Zeitlicher Rat“ (Rat, S. 82) ist eine Verhaltensvorschrift, gerichtet an ein jüngeres oder ratsuchendes Gegenüber. Der Inhalt ist spruchhaft-didaktisch. Er enthält Protest gegen die eigene Machtlosigkeit, die Entwertung der eigenen Meinung. Die Beispiele, die die Wahrheit des Ratschlages, das zu akzeptieren, was nicht oder nur nominell zu verändern ist, sind offensichtlich und einfach: die Tageszeiten und ihre Begleitphänomene. Zwar smd es, strenggenommen, Definitionsfragen, deren Anzweiflung sich, ebenso strenggenommen, nicht lohnt und aus dem Frager einen Irren oder Außenseiter machen würde, weshalb der Sprecher dem Unerfahrenen die fraglose Hinnahme dieser Definitionen scheinbar empfiehlt und dazu auch die entsprechende Überzeugung, das nominelle Einverständnis oder zumindest oberflächliche Zeichen der Übereinstimmung. Jedoch deutet die Haltung des Sprechers an, daß ihm die gesellschaftlich bedingte Forderung nach Konformismus, selbst in Bezug auf die einfachsten Dinge, nicht behagt, daß er selbst nicht glaubt, was „sie“ (Z. 15) anerkannt haben wollen. Da das bloße Mitmachen in zunehmend absurder Weise betont wird, bis es in den letzten Zeilen auf eklatanteste Weise als eine Tugend ausgegeben wird, lädt der Text zum Protest ein. Es ergibt sich eine dialektische Wechselwirkung zwischen Text und Leser, wie sie aus Brechts Poetik her bekannt ist. In Wahrheit ruft das Gedicht auf zum Zweifel selbst an den geläufigsten Axiomen und macht universale, alle Erscheinungen betreffende Kritik wünschenswert.
„Möglichkeiten“ (Rat, S. 83) spekuliert über den potentiellen Nutzen von Zufällen. Im Laufe des Gedichtes enthüllt sich eine Weltsicht, die auf anderen als den gewöhnlich angenommenen Kausalbeziehungen beruht. In seiner Imagination verknüpft der Sprecher kleine häusliche Akzidentien mit unverbunden scheinenden Ereignissen, die er aber als Folgen betrachtet. Er übernimmt so auch die Verantwortung für ihm unbekannte gute, böse und indifferente Geschehnisse. Er gibt seinem Dasein einen Sinn in einer mystisch-allumfassenden Daseinsordnung. Das eigene Tun ist mit dem Glück oder Unglück anderer Menschen integral verbunden. Diese Verbindungen folgen keinem logisch-einsichtigen System. Sie können scheinbar natürlichen Ursprungs sein, wie das Beispiel des Spiegelschrankes und des Meineidigen zeigt, es kann sich um Gegensätze handeln, wie das Ausdrehen des Lichtes und das Lichtwerden es können Parallelfälle sein, wie das Ausdrehen des Lichts und der Selbstmord.
Obwohl sich diese Geschehen auf keinen gemeinsamen Nenner bringen lassen, würde es sich um ein System handeln, das einer chiffrenhaften Gesetzmäßigkeit, vom Menschen unverstanden, folgt. Die Präferenz des Sprechers für bestimmte Schicksale – die von Außenseitern und Verzweifelten – sagt Entscheidendes über ihn aus. Sein Augenmerk auf Leidende und Kriminelle läßt auf seine eigenen Schwierigkeiten schließen, sich der Umwelt anzupassen. Obwohl der Sprecher seine eigenen Lebensumstände andeutungsweise als bürgerlich beschreibt, ist er einer, der innerlich mit Meineidigen, Selbstmördern und Außenseitern sympathisiert. Unzufrieden mit der eigenen Lage, seiner Stellung im Universum, mit dem Universum selbst, stellt er sich als Isolierter dar
„Findelkind“, (Rat, S. 84) wohl eines der explizitesten und daher wohl auch dichterisch schwächsten Gedichte Aichingers, läßt kaum Raum für Interpretation, Einsamkeit Ausgesetztheit und Feindseligkeit, vor allem von der Gesellschaft kommend sind zentral. Der tollwütige Fuchs ist zärtlicher als Menschen – bezeichnenderweise ein Tier dessen Gehirnzellen von einer tödlichen Krankheit affiziert sind. Als ein Untergehende; bietet er dem anderen Untergehenden, dem Kind, physische Wärme und Nähe aber seine Zärtlichkeiten, die Bisse, sind tödlich für das Kind. In der leeren Welt wird die Existenz legendärer, sagenhafter und mythischer Helfer negiert. Der Ausgestoßene ist mit einer ebenfalls hilflosen Kreatur konfrontiert. Desillusionierung herrscht in Bezug auf die Menschen und die Sozietät: Die Mutter, statt schutz- und wärmegebend zu sein, werden als verängstigt charakterisiert. Die einzigen Männer, die erwähnt werden, sind Jäger, nicht Väter, sondern Betrüger. Jedes gute Ende schließt sich aus. Das Kind ist in seiner Welt fehl am Platze.
Zugehörig“ (Rat, S. 84) schließt sich, trotz des Titels, eng an das vorige Gedicht an. Der Sprecher und seine Tiere – es ist nicht offenbar, um welche Art von Geschöpfen es sich handelt bei den weidenden „Schwarzen“, (Z. 1) sind aneinander gebunden, als Gruppe jedoch isoliert. Die Tiere scheinen ein externalisierter Teil des Ich zu sein, da sie einen Teil der Ich-Funktionen übernehmen, die der Suche und der Kritik. Gleichzeitig sind sie auch Kräfte, die den Sprecher an der Einordnung hindern, an der Verfestigung, am „Bestehen“. (Z. 7) Die Tiere zerstören, was sich ihnen entgegenstellt, in engster Identifikation mit dem Ich, durch und für das sie existieren, wie das Possivitätsverhältnis anzeigt. Die in scheinbarer Bescheidenheit geäußerten letzten Worte enthalten einen intensiven Triumph des Besitzers, der sich durch gerade diese Tiere bestärkt und sicher fühlt.
„Verfrüht“ (Rat, S. 86) ist ein unbeantwortetes Gebet, gerichtet an ein unbestimmtes Du. Die Transzendenz ist stumm. Die Stimmung ist melancholisch, getrübt durch das Ausbleiben der Kommunikation. Resignation und Trauer führen zu einer gedämpften Auflehnung nicht nur gegen die etablierte Religion, sondern spezifisch gegen den Erlöser, betrachtet als Mann, wie aus dem Vergleich mit den Wachsfräulein hervorgeht. Jesus ist still, toter als die tote Materie. Das Puppenhafte und Unechte des bedeutendsten christlichen Symbols, des göttlichen Knaben, wird durch den Sprecher anklagend hervorgehoben, die Leere des vielleicht humansten Bildes der christlichen Religion, in dem das Ich Gefühllosigkeit und Versteinerung erblickt.
„Kurzes Schlaflied“ (Rat, S. 87) nimmt die religiöse Thematik von „Verfrüht“ auf. Das Gedicht ist wie ein Schlaflied dissoziiert. Die Bezugsperson ist weiblich, Jeanne d’Are, wie aus „Rouen“, hervorgeht. „Gewalttat“ (Z. 5) spielt auf die Brutalität der Christen gegenüber dieser Heiligen an, während „Apfelzucker“ (Z. 3) auf häusliche Beschäftigungen, das Kochen, in die die Frau innerhalb der christlichen Religion verwiesen ist, umreißt, ein Reich, das sie nur unter größtem Risiko, wie sich an J eanne d‘ Are zeigte, verlassen darf. Die Einfachheit der Gemordeten, die sich im guten Glauben für die „bessere Sonne“ (Z. 4) – eine Anspielung auf die französischen Könige – zum Engagement bereitfand und zum Opfer wurde. Die zwiefache Wiederholung des Namens der Mordstätte, macht auf den Zwiespalt zwischen dem schönen Namen und den Ereignissen aufmerksam. „Die bessere Sonne ohne Gewalttat“ (Zz. 4–5) ist ein Paradox, das nur im Rahmen eines kindlichen Liedes möglich ist.
In „Bitte“ (Rat, S. 88) macht die zweideutige Handhabung des Gottesbegriffes darauf aufmerksam, daß sich die Ablehnung des Sprechers nicht auf ein bestimmtes religiöses System bezieht, sondern auf alle, in denen zornige Götter dominieren. Kontrastiert werden diese mit einer wohltätigen Gottheit, die als „Du“ eine Zufluchtsstätte vor den zornigen Göttern ist, obwohl der Sprecher von dem Ausweg keinen Gebrauch machen will. Angst, so wird impliziert, ist kein zureichender Grund, irgendeine Gottheit anzuerkennen. Das Rad als Torturinstrument ist die Chiffre für die Religionen der zornigen Götter, die nach Homer kamen. (Z. 6) Der Umschwung von heiter-menschlichen Religionen zu düster-bedrückenden ist der Punkt, an den sich der Sprecher stellt. Seine Geste der Unterwerfung bleibt oberflächlich. Der Sprecher selbst, so scheint es, wird zum Märtyrer seines eigenen, passiven Widerstandes werden.
„An einen 4. März“ (Rat, S. 89) stellt den absurden Zustand der Welt dar, sichtbar bis hinein in die sprachlichen Inkongruenzen. Das Chaos einer willkürlichen Welt wird in Wendungen wie „die Schuster sind ausgeflogen“ (Z. 3) deutlich. Der Irrsinn steigert sich durch die sinnlosen Wettbewerbe, deren Preis darin besteht, daß der Sieger am schnellsten deformiert und krank wird – eine Reflexion auf Zustände der Gegenwart.
„Inkonsistenz und Absurdität sind zentral in „An einen jungen Gerber“. (Rat, S. 90) Sie können, so wird impliziert, von dem Angeredeten schwer durchschaut werden, da eine Familientradition sie sanktioniert. Töten, Arbeit mit Totem und dessen Verwertbarmachung sind ein integraler Teil des Lebens. Scheinbar wird das Gedicht durch ein Bild des erwachenden Lebens eingeleitet, „Drosselei“, (Z. 1) das, durch den Anklang an „drosseln, erdrosseln“ und den Nebensinn „intensives Drosseln“ in das Bild des Todes das „Sterbezimmer“ (Z. 2) übergeht. Jedoch sind dem jungen Gerber aufgrund seines Berufes Skrupel fremd. Der Sprecher redet ihn ironisch und resigniert an. Scheinbar ihn ermunternd? drücken eine heimliche Hoffnung aus, der junge Mensch möge das Makabre seiner Tätigkeit erkennen, Jedoch überwiegt die Gewißheit, daß er kritiklos bleiben wird wie seine Vorfahren. Der nicht-naive Sprecher steht einem naiven Angesprochenen gegenüber. Wissen und Erfahrungen sind nicht übertragbar.
„Verschenkter Rat“ (Rat, S. 91) ist ein dreiteiliges Lehrgedicht. Die empfohlenen Verhaltensweisen werden an konkreten Beispielen exemplifiziert, von denen der didaktische Sinn zu abstrahieren ist.

I handelt von der Notwendigkeit des Lernens und der Übernahme fremder Erfahrungen, die sich von Spielregeln („Schachspiel“, Z. 1) bis hin zur Literatur („Ibsens Briefe“, Z. 2) erstrecken. „Wenn du kannst“ (Z. 4) schränkt diese Notwendigkeit ein je nach Begabung und Gelegenheit. Als Alternative wird eine aktionsorientierte Erziehung dargestellt, die über die Notwendigkeit, zu differenzieren, hinweggeht und in der subtile Unterscheidungen nicht bewußt gemacht werden. Die Warnung des Sprechers zeigt an, daß er für den Angeredeten das Lernen und die intellektuelle Betätigung für essentiell halt, da sie ihn zur Bewertung befähigen, jedoch enthält die letzte Zeile die Warnung vor der ungeprüften Aufnahme von Lehrmaterial und Behauptungen jeder Art.

II knüpft an diesen Vorschlag an, indem er anrät, Sinn und Zweck von Institutionen zu befragen. Das Beispiel ist ein Standbild. Das Mißtrauen richtet sich vorwiegend gegen den menschlichen Verstand und Geschmack. Die Manipulation der natürlichen Umgebung wird skeptisch untersucht. Die Befragung ist zweifacher Art: einmal soll sie sich auf den Sinn eines Zusatzes beziehen mit dem Augenmerk auf die Umgebung, zum anderen wird auch die Angemessenheit des Ortes in Hinblick auf Funktion und Art des menschlichen Produktes betrachtet. Menschliche Fehleinschätzungen sowohl das eigene Werk wie die Natur betreffend sind zu vermeiden. Im Zentrum steht die Verantwortlichkeit des Menschen seiner Umwelt und seiner Produktion gegenüber. 

III vertieft die Befragung durch die Kritik an der Sprache durch die Sprache selbst. Kontext, etymologische Verwandtschaften und genauer Sinn sind zu erforschen. Die präzise Anwendung von Termini sind ebenso wie die Kenntnis der Spielregeln bedeutende Lernzielemden Augen des Sprechers. Dazu tritt das Bewußtsein die eigene Wirkung betreffend. 

„In einem“ (Rat, S: 94) schließt, wie anfangs besprochen, die Sammlung durch den Rückbezug auf das Eingangsgedicht und seine Modifizierung.
Angesichts der thematischen Verwandtschaft der verschiedenen Texte und ihrer künstlerischen Anordnung – die Bewegungen durch existentielle Problemkreise ist es durchaus möglich, von einem Gedichtzyklus zu sprechen. dessen Einzelteile allerdings zu verschiedenen Zeitpunkten entstanden. Kindheit und naive Weltsicht, schreckensvolle Vergangenheit und deren Bewältigung, Erinnerung und ihre Beziehung zum gegenwärtigen Denken und Fühlen sowie die Überwindung der Traumata und das Finden zum Selbst mit Hilfe philosophischer Betrachtungen und unmittelbarer Welterfahrung gehen im Rahmen des Zyklus keineswegs linear vor sich. Jedes Gedicht bietet den Teil einer Weltsicht, deren Ganzes erst mit dem letzten Text umschrieben ist. Verschenkter Rat zeichnet einen komplexen inneren Werdegang nach mit der Bedrohung durch die Frustration, Stagnation, der Mutlosigkeit und Verzweiflung angesichts einer verwirrenden Welt, Konflikte, die, und hierin trifft sich Aichingers Lyrik mit den anderen Werken, nur im Individuum, durch seine Läuterung und durch sie gewonnenen neuen Einstellungen vorübergehend gelöst werden können.

Dagmar C.G. Lorenz, aus Dagmar C.G. Lorenz: Ilse Aichinger, Athenäum Verlag, 1981

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

anonym: Lyrische Kostbarkeiten
Neues Volksblatt, 17.11.1978

Walter Helmut Fritz: Im Licht von Abschied
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.2.1992

Gertrud Fussenegger: Leiser Austausch
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.5.1979

h.h.h. [Hans Heinz Hahnl]: Österreichische Autoren: Wörterprunk und Wortversteck
Arbeiterzeitung, 20.12.1978

Dieter Hoffmann: Gedichte als Schild und Glocke. Drei neue Lyrikbände: Ilse Aichinger, Bernd Jentzsch, Walter Helmut Fritz
Frankfurter Neue Presse, 20.10.1978

Eckart Klessmann: Innere Spiegelung
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.2.1981

Dagmar C.[harlotte] G.[abriele] Lorenz: Humor bei zeitgenössischen Autorinnen
Germanic Review 62, Heft 1, 1987

Heinz F. Schafroth: Ich und jetzt – Über Ilse Aichingers Gedichte
Frauenliteratur in Österreich von 1945 bis heute, 1986

Matthias Schreiber: Trauer spielt mit der Welt. Die Gedichte Ilse Aichingers
Leverkusener Anzeiger, 28.11.1978
auch in: Kölner-Stadt-Anzeiger, 28.11.1978

Hilde Spiel: Zwischen Leben und Tod
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.2.1979

Helmut Strutzmann: Poesie. Aus zwanzig Jahren
Die Furche, 3.11.1978

Heinrich Vormweg: Quer durch die Reihen. Warum nicht Gedichte
Süddeutsche Zeitung, 9.1.1982

Alexander Hildebrand: Zu Ilse Aichingers Gedichten
Literatur und Kritik 23, 1968

Wolfgang Kopplin: Beispiele
Deutsche Lyrik 60–70, 1969

Jürgen P. Wallmann: Ilse Aichingers lyrische Ernte
Der Tagesspiegel, 18.2.1979
[Weitere Abdrucke, jeweils geringfügig verändert:]
Im Öhr eingefädelte Kamele. Lyrik-Neuerscheinungen
Rheinischer Merkur, 30.3.1979
Der Stoff, der Betrachtung verlangt
Darmstädter Echo, 7.4.1979
„Hör gut hin, Kleiner…“ Sprache, die sich immer neu finden muß: Ilse Aichingers Gedichte
Saarbrücker Zeitung, 8.6.1979
Sinnliche Wahrnehmung und Meditation
Mannheimer Morgen, 5.10.1979.
[o. T.]
Literatur und Kritik 14, Heft 136–137, 1979

 

Das Lyrische Quartett im Lyrik Kabinett München sprach am 20.6.2012 über dieses Buch und ist zu hören ab 1:04:41.

 

Die Gedichte

Der Lesestoff ist grün (Ilse Aichinger, „Lesen“)

Im Gegensatz zu Autoren wie Friederike Mayröcker, Ernst Jandl oder Helmut Heißenbüttel hat Ilse Aichinger nie Wert darauf gelegt, ihre Werke zu datieren. Ihr bisher einziger Gedichtband, Verschenkter Rat – erschienen 1978, in ihrem achtundfünfzigsten Lebensjahr, übrigens zur großen Überraschung der lesenden Öffentlichkeit, der bisher nur einzelne ihrer Gedichte in Zeitschriften und Zeitungen begegnet waren und einmal einige mehr in ihrem 1963 erschienenen Sammelband Wo ich wohne – enthält Texte aus fast zweieinhalb Jahrzehnten: eben die bisher verstreut und in besagtem Sammelband gedruckten, doch zum größten Teil bis dahin ungedruckte; geordnet nach dem Willen der Autorin unter Außerachtlassung ihrer Entstehungszeit, die auch im Inhaltsverzeichnis nicht angegeben ist. Alle Gedichte aus dem Band Wo ich wohne sind in den ersten Teil des Gedichtbuches eingearbeitet, alle unverändert bis auf ein einziges, überschrieben „Teil der Frage“, dessen drei letzte Zeilen durch zwei neue ersetzt sind. Es sind aber nirgends musikalische, rhythmische, stilistische Brüche zu erkennen; es herrscht in allen Texten der strenge, kindlich apodiktische Sprachgestus, wie er auch allen anderen literarischen Formen eigen ist, die Ilse Aichinger in vierzig Jahren dichterischer Arbeit durchgespielt hat: in den Erzählungen, Dialogen, Hörspielen, Prosatexten, und schon in ihrem ersten Buch, dem Roman Die größere Hoffnung.
Ilse Aichingers Weg vom Roman über die Geschichten, Dialoge, Hörspiele, Prosatexte zu den Gedichten wäre schön handlich darstellbar nach dem Modell eines Trichters, also einer fortgesetzten Reduktion allein von der Textmenge her, einem Modell, dem sich die im Herbst 1986 zu ihrem fünfundsechzigsten Geburtstag in der Neuen Rundschau veröffentlichten Tagebuch-Aufzeichnungen, deren keine drei Zeilen überschreitet, mühelos einordnen ließen. Nur ist es so einfach eben nicht, da wir hier, in dem Band verschenkter Rat, neunundachtzig Gedichte aus vierundzwanzig Jahren vor uns haben, aus der Zeit zwischen 1955 und 1978, was heißt, daß die frühesten vor der Veröffentlichung des Dialoge-Bandes Zu keiner Stunde (1957) entstanden sind und die letzten nach dem Band Schlechte Wörter (1976), der Prosa und das Hörspiel Gare Maritime enthielt. Die Reduktion, die in diesen Gedichten stattgefunden hat, ist von ähnlicher Art wie in den anderen literarischen Texten auch; nur wird sie in stärkerem Maße sichtbar bei der Kürze und oft atemraubenden Knappheit der Lyrik.
Abzulesen ist daraus wenig mehr, als daß die Autorin als Gedichtschreiberin etwa so verfahren sein muß wie das Ich in ihrem Prosatext „Schlechte Wörter“, das vier Seiten lang mit der Wendung „Der Regen, der gegen die Fenster stürzt“ rang und am Ende bei dem scheinbar tautologischen, in Wahrheit aber durchaus produktiven Ergebnis ankam, das schon im vorigen Kapitel einmal zitiert wurde, dem Leser hier aber noch einmal ins Gedächtnis zurückgeholt werden soll:

„Der Regen, der gegen die Fenster stürzt“, da haben wir ihn wieder, den lassen wir, der läßt alles in seinem unzutreffenden Umkreis, bei ihm bleiben wir, damit „wir“ wir bleibt, damit alles bleibt, was es nicht ist, vom Wetter bis zu den Engeln.
So läßt es sich leben und so läßt es sich sterben und wem das nicht ungenau genug ist, der kann es in dieser Richtung ruhig weiter versuchen. Ihm sind keine Grenzen gesetzt.

„Damit alles bleibt, was es nicht ist“ – ein Satz, der nicht nur die Gedichte von Ilse Aichinger kennzeichnet, sondern, so scheint es, auch den Umgang der Autorin mit ihnen: Sie hat sie gelassen, „vom Wetter bis zu den Engeln“, und irgendwann eingesammelt und vorgezeigt. So oder ähnlich könnte es gewesen sein. Vorgezeigt, als genug beisammen war, ohne namhaften Jäger- und Sammlertrieb.
Es scheint so, muß ich wiederholen. Denn leicht fällt ein zu naiver Betrachter auf falsche Vorstellungen herein, die er sich von sympathischen Autoren macht. Doch entspräche solche Gelassenheit sehr dem unbestechlichen Gestus dieser Gedichte, die sich in keiner Weise um irgendwelche literarischen Moden kümmern oder gar um eine gerade gängige Psychologie; sie stehen für nichts als sich selbst, „gewissermaßen absolut, als sprachliches Abbild innerer Erfahrung“, wie Elsbeth Pulver in ihrer Rezension des Bandes Verschenkter Rat im Dezember 1978 in der Neuen Zürcher Zeitung schrieb.
„Damit alles bleibt, was es nicht ist“ – ein Satz, gebaut nach dem Muster einer logischen Begründung, gesetzt mit dem Gestus der Unwiderlegbarkeit, doch sogleich aus seinen eigenen Angeln gehoben durch die unerwartete Negation am Schluß. Übrig bleibt die reine Bewegung, und übrig bleibt der Satz auf dem Papier. Von solcher Art sind auch die Gedichte der Sammlung Verschenkter Rat. Sie beginnt mit dem Text „Gebirgsrand“, der da auf der ersten Seite steht wie eine Zueignung.

GEBIRGSRAND

Denn was täte ich,
wenn die Jäger nicht wären, meine
aaaTräume,
die am Morgen
auf der Rückseite der Gebirge
niedersteigen, im Schatten.

Ein Gedichtband hebt an mit einem Begründungssatz: so, als sei ein anderer Satz voraus-, aber verlorengegangen. Solche Gedichtanfänge sind freilich nicht neu; es gibt sie, zum Beispiel, auch bei Rilke, bei Brecht, beim späten Hölderlin. Doch initiieren sie je etwas anderes, wenngleich sie alle zunächst einmal einen Schwebezustand herstellen „zwischen mir und mir selber“, wie es in Ilse Aichingers Gedicht „Kleine Summe“ heißt, und in einer 1986 veröffentlichten Tagebuchaufzeichnung entsprechend:

Man kann nicht zugleich mit sich leben.

Es geschieht auch in diesem Gedicht „Gebirgsrand“ und in allen folgenden das, was Ernst Schnabel am Hörspiel beobachtete: „… ein Unterschied entstand, ein Spalt, der schnell wuchs“ – so wie hier die Jäger, die Träume „auf der Rückseite der Gebirge / niedersteigen, im Schatten“, dem Blickfeld entschwinden, abhanden kommen. Und doch sieht man sie niedersteigen, und sogar soll ausgemacht sein, daß es ein Abstieg im Schatten ist. Je länger man aber hinsieht auf das Bild, das der Text entwirft, desto weniger ist ihm zu trauen. Die „Rückseite der Gebirge“ – wo ist sie, und welche Gebirge überhaupt, und von wo aus gesehen? „Damit alles bleibt, was es nicht ist, vom Wetter bis zu den Engeln“, wird auch hier mit der präzisen Ungenauigkeit gearbeitet, mit dem Plural der Gebirge, der sich dem „Gebirgsrand“ im Titel entgegenstellt, mit der Setzung, auf der Rückseite der Gebirge sei Schatten, mit der völlig intakten Syntax des Textes, die dem gar nicht so geheuren Vorgang zuwiderläuft. Indem so dem unverläßlichen Zustand der Welt Rechnung getragen wird und dem Zustand des sprechenden Ich, das von seinen Träumen verfolgt, aber auch am Leben erhalten, das heißt verschont bleibt durch ihre Arbeit, ist ein Text von großer Musikalität entstanden, von einer großen poetischen Kraft, der nun seinerseits wiederum allen Widersprüchen widerspricht, sie fast wieder aufzulösen scheint. Aber nur scheint. Der Gedichtband schließt mit dem Vierzeiler „In einem“:

Und hätt ich keine Träume,
so wär ich doch kein anderer,
ich wär derselbe ohne Träume,
wer rief mich heim?

Von dieser Art sind diese Gedichte: Variationen des immer gleichen Themas oder, wie Elsbeth Pulver es genannt hat, der (immer gleichen) „inneren Erfahrung“.
Neben dem Gedicht „Gebirgsrand“ ist mein liebstes in dem Band Verschenkter Rat das fast ebenso kurze mit dem Titel „Lesen“.

LESEN

Der Lesestoff ist grün,
fällt ein durch quadratische Fenster,
bleibt auf dem Fliesenstein
im Vorflur liegen,
weit von den Rhododendren
erst Nachmittag.

Kürzer als in der ersten Zeile dieses Textes ist kaum abzubilden, wie man es anstellen kann, daß „alles bleibt, was es nicht ist“, was noch von keiner Kenntlichkeit entstellt ist. Wie es jeder Leser von sich selber kennt, liest hier einer und liest nicht, das heißt er liest, aber etwas anderes als die Buchstaben die er vor sich hat, und deren Mitteilung. Er liest die Buchstaben nur technisch, eigentlich aber die Zwischenräume oder den Raum dahinter; er schweift ab, mit anderen Worten. Nicht anders übrigens als der Kommerzienrat Rimböck in Günter Eichs Hörspiel Der Tiger Jussuf, der abends in Gesellschaft seiner Frau Ottilie Zeitung liest.

OTTILIE: Wann hast du die Zeitung ausgelesen?
RIMBÖCK: Ich lese sie nicht, Ottilie.
OTTILIE: Dann leg sie weg.
RIMBÖCK: Du mißverstehst mich. Ich muß durchaus hineinschauen.
OTTILIE: Um mich zu kränken.
RIMBÖCK: Um nicht zu lesen, Ottilie. Was wäre das Nichtlesen, wenn ich nicht hineinschaute
OTTILIE: (bricht in Tränen aus).
RIMBÖCK: Weine nicht! Ich könnte auch behaupten, ich lese; es kommt auf den Standpunkt an. Du meinst doch die kleinen schwarzen Kringel, die man Buchstaben nennt?
OTTILIE: Wie?
RIMBÖCK: Sei versichert, daß du sie meinst. Aber die schaue ich nicht an. Ich lese das Weiße drumherum.
OTTILIE: Das Weiße?
RIMBÖCK: Es ist schwierig, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, etwas Mitteilenswertes zu finden.

Da ist also wieder der Spalt, von dem Ernst Schnabel sprach, und er wächst schnell. Weitaus schneller als in Günter Eichs Hörspielszene in Ilse Aichingers Gedicht „Lesen“. Der Raum hinter den Buchstaben macht sich selbständig, tritt sozusagen in Aktion, „fällt ein“, „bleibt auf dem Fliesenstein / im Vorflur liegen“. Man hat ein Gemälde vor Augen, ein Stilleben; es wird wohl Sommer sein, Sonne muß da sein und Schatten und Grün. Dann am Ende, wie hinterrücks eingefallen, die Trauer: „erst Nachmittag“. Die Idylle erweist sich jetzt als trügerisch; es ist ein schleichender Tag, ein nur unter Qualen zu bestehender. Die schöne Optik ist die von einem, der „der Welt abhanden gekommen“ ist – wie in Friedrich Rückerts von Gustav Mahler vertontem Gedicht. Und doch verdanken wir dieser Optik ein vollendetes kleines Gedicht, zusammengesetzt aus lauter virtuellen Einzelheiten.
Das Gedicht „In und Grimm“, auch eins der kürzeren in der Sammlung Verschenkter Rat, ist eine Verlustanzeige und entsprechend auf einen anderen Ton gestimmt als die beiden bisher betrachteten.

IN UND GRIMM

Auf euch will ich mich versteifen,
wenn der jüngste Richter kommt
und will ihn fragen:
weshalb hast du mich nicht geweckt,
damals im Juli,
wo warst du,
als die beiden Wilden ertranken,
meine Rotfelle und deine,
von denen eines hoffte,
das andere nicht?

Man hört hier wieder Ilse Aichingers allererste literarische Figur reden und rechten, die halbwüchsige Ellen aus dem Roman Die größere Hoffnung. Eingeklagt wird der Verlust zweier Wörter, die in der Titelzeile zusammengezogen sind: der Wörter Ingrimm und Grimm, „von denen eines hoffte, das andere nicht“. Das Gedicht ist eine Anklage, nein, mehr und zugleich weniger: der Entschluß zu einer Anklage. Dem Entschluß, beim Jüngsten Gericht dem „jüngsten Richter“ Anzeige zu erstatten, ihn haftbar zu machen, mit ihm zu rechten über die Verantwortung für „meine Rotfelle und deine“ – diesem Entschluß verdankt sich das Gedicht. Auch Hiobs Klagelied besäßen wir nicht, wenn er nicht bis aufs Blut gerechtet hätte mit seinem Gott über sein Elend. „Weshalb hast du mich nicht geweckt“, so lautet die Anklage, „damals im Juli, / wo warst du, / als die beiden Wilden ertranken“. „Damals im Juli“ – das kann ein persönliches Ereignis sein, das dem anklagenden Ich die Sprache verschlagen hat, aber es können auch Daten gemeint oder mitgemeint sein, die die Geschichte verzeichnet: der Beginn der Französischen Revolution zum Beispiel oder das Hitler-Attentat 1944, Ereignisse, an denen Ingrimm und Grimm, die beiden „Rotfelle“, die „Wilden“ beteiligt waren wie an deren furchtbar falschen Folgen, in deren Blut sie „ertranken“. Angezeigt ist der Verlust schon im Titel, in dem eins der beiden Wörter nur noch zur Hälfte erscheint und der Ergänzung durch den Leser bedarf.
Ein ähnlicher Gestus und subversiver Gegenangriff auf die geordnet sich gebende Welt steckt in dem vierzeiligen Gedicht „Nachruf“, in dem eine Heldenlegende zu Grabe getragen und neu entworfen wird.

NACHRUF

Gib mir den Mantel Martin,
aber geh erst vom Sattel
und laß dein Schwert, wo es ist,
gib mir den ganzen.

Auch hier soll alles auf den Kopf gestellt sein: „damit alles bleibt, was es nicht ist“. Der glänzende Ritter, dem erst der Bettler zu seinem Glanz verhalf, steht nun, dem „plebejischen Blick“ ausgesetzt, eher halbherzig da und mit zu groß geratener Geste. Mißtrauen gegen seine Güte ist angezeigt, das Anrecht auch des Schwächeren wird eingeklagt. Das Wort „Schwert“ ist ein anderes in diesem Gedicht als das Wort „Schwert“ in der Legende, auch hoch zu Roß heißt hier etwas anderes als dort („aber geh erst vom Sattel“). Der Gestus dieser Texte ist der Gestus der Halbjüdin Ellen aus der Größeren Hoffnung und der Gestus der Autorin des „Aufrufs zum Mißtrauen“ im Jahr 1946, von dem im ersten Teil dieses Buches die Rede war.
Am stärksten ausgeprägt, bis zur Heftigkeit, ist dieser Gestus im dreiteiligen Titelgedicht, dem vorletzten und einem der rätselhaftesten des Bandes. Sein Leser muß sich unablässig auf neue Ebenenwechsel einlassen, und offenbar ist es auch ein ungeduldiger Mensch, der da seinen Rat verschenkt, mißtrauisch, ob er angenommen werden kann, denn das Wort „verschenkt“ ist ja durchaus zweideutig. Auch befindet er sich wohl ebensowenig wie der „Kleine“, dem er seinen Rat verschenkt, auf freiem Fuße; die „Blattkehrer“ im ersten Teil des Gedichts, der „fremde Thorax im Garten“ und die Mauer im zweiten Teil, die „Laufzeiten“ im dritten deuten auf eine Klinik, ein Sanatorium, möglicherweise sogar auf eine Anstalt hin. Doch hier jetzt zuerst das Gedicht:

VERSCHENKTER RAT

I
Dein erstes Schachbuch,
Ibsens Briefe,
nimms hin,
wenn du kannst,
da, nimm schon
oder willst du lieber
die Blattkehrer
von deiner Wiese treiben
und Ibsens Ziegen darauf,
gleich weiß, gleich glänzend?
Es gibt Ziegen und es gibt Ibsens Ziegen,
es gibt den Himmel und es gibt eine
spanische Eröffnung.
Hör gut hin, Kleiner,
es gibt Weißblech, sagen sie,
es gibt die Welt,
prüfe, ob sie nicht lügen.

II
Und frag sie,
was der fremde Thorax
im Garten soll,
schon versteinert,
der erste in diesem Frühling
zwischen den Brombeerhecken,
Mäusen
und der Mauer,
an die das Wasser
für uns schlägt,
was er dem Garten nützt.
Ob er ihn nötig hätte, unseren Garten,
oder der Garten ihn.

III
Und
daß uns etwas zugetragen wurde
von Laufzeiten.
Ob die mit Lauf, mit Läufen zu tun hätten,
mit Läuften, mit den Zeiten
oder mit nichts davon.

Am Anfang des Textes sollen Bücher als Bücher hingenommen werden („wenn du kannst“), aufregende Bücher, ein Schachbuch (ein Taktik-Lehrbuch also), ein Band Ibsen-Briefe (worin sich eine Lebenstragödie aufhält): hingenommen als etwas, das sich nicht wieder aufrebbeln, nicht ins Leben zurückübersetzen läßt, als etwas, dessen Urtext verlorenging. In den nächsten Zeilen wird vorgeführt, wie absurd der Versuch einer Rückübersetzung ins Leben wäre („Ibsens Ziegen“ auf „Deiner Wiese“), in den folgenden dann aber gleich, wohin das strenge Wegsortieren der Einzelheiten („Es gibt Ziegen und es gibt Ibsens Ziegen“) führt:

es gibt Weißblech, sagen sie,
es gibt die Welt

Das ursprünglich vernünftige Sortierverfahren (Aufklärung) führt alsbald zum Alleinvertretungsanspruch („es gibt die Welt“ – man darf ergänzen: und sonst nichts). Darauf wird im Gedicht der Rat verschenkt: „prüfe, ob sie nicht lügen“. Mißtrauen wird geraten. Der zweite und der dritte Teil des Gedichts machen Vorschläge, den Rat anzuwenden: Vorschläge, die zunächst absurd klingen, nach wiederholtem Lesen in sich durchaus plausibel, zum Schluß und aufs Ganze gesehen aber dann doch wieder dem Wettlauf des Hasen mit dem Igel verzweifelt ähnlich.
Und so kommen wir ein weiteres Mal beim Ende des Prosastücks „Schlechte Wörter“ an:

„Der Regen, der gegen die Fenster stürzt“, da haben wir ihn wieder, den lassen wir, der läßt alles in seinem unzutreffenden Umkreis, bei ihm bleiben wir, damit „wir“ wir bleibt, damit alles bleibt, was es nicht ist, vom Wetter bis zu den Engeln.

In dieser Weise ist der Rat also verschenkt. Aber da steht das Gedicht, und also ist er doch nicht verschenkt. Oder: verschenkt und verschenkt.
Ähnlich geht es zu in dem Gedicht „Tagsüber“. Es beginnt mit den Zeilen: „Ein ruhiger Junitag / bricht mir die Knochen“ und endet mit der Zeile:

Bleib, lieber Tag.

In dem Gedicht „Kleine Summe“, das insgesamt eine Anfrage an unser Verhältnis zur Geschichte ist, stehen die Zeilen: „Keine Verbindung erwirkt / zwischen den segelnden Napoleonsverehrern, / sie warten noch immer“; und weiter:

auch die Gemeinde der Flaubertisten
noch immer nicht endgültig
zu unterstützen bereit gewesen,
kein Leuchtzeichen entdeckt
zwischen mir und mir selber.

Hier treffen wir den Ton der fast heiteren Spötterin Ellen in dem wunderbar anarchischen Romankapitel „Flügeltraum“ noch einmal wieder an, und versucht wird hier, auf den Graten der Sprache, eine Wanderung zwischen den Welten der fröhlichen Heldenverehrer, die sagen „es gibt die Welt“, und der traurigen Narren, der „Flaubertisten“, die am liebsten ein Buch über nichts schrieben der Dichter mit anderen Worten. In keiner der Welten ist das Ich des Gedichts aber gemeindefähig, nicht einmal mit sich selbst:

Kein Leuchtzeichen entdeckt
zwischen mir und mir selber

In anderen Gedichten wird über diese Wanderung zwischen den Welten nicht wie hier berichtet, sondern sie wird durchgespielt in einmal, vielleicht nur sekundenlang, gesehenen Bildern, die sich dann entfalten und entwickeln. Ein solches Gedicht ist „Schneeleute“.

SCHNEELEUTE

Ich mische mich nicht leicht
unter die Fremden aus Schnee
mit Kohlen, Rüben, Hölzern,
ich rühre sie nicht an,
solang sie heiter prangen,
manche mit mehr Gesichtern
als mit einem.
Wenn dann die Kohlen
und die Rüben fallen,
Knöpfe, Knopfleisten,
die roten Lippenbänder,
seh ich es steif mit an
und ohne Laut,
ich eile nicht zu Hilfe.
Vielleicht sprechen sie

das Mailändische
schöner als ich,
es soll nicht ans Licht kommen.
Und darum Stille,
bis dieses Licht sie leicht
genommen hat
mit allem, was sich da
zwischen mailändisch
und mailändisch verbirgt,
dann auch mit mir.

Ein Gedicht, das mit der „Lautlosigkeit der Wörter“ sehr weit gekommen ist. Man könnte ihm das Motto überschreiben, das Ilse Aichinger über ihren kurzen poetologischen Text für die Reclam-Anthologie Der Reiz der Wörter gesetzt hat, der von der Lautlosigkeit der Wörter handelt und von dem im ersten Teil dieses Versuchs ausführlicher die Rede war – den Satz von Joseph Conrad:

Nur zusehen – ohne einen Laut.

So tut es das Ich des Gedichts, es sieht zu ohne einen Laut, und so intensiv, daß es sich am Ende des Textes mit dem Schwinden der Schneeleute im Licht auch selbst zum Verschwinden bringt, zum Verschwinden zwischen den Wörtern, die identisch sind – und nicht – „mit allem, was sich da / zwischen mailändisch und mailändisch verbirgt“.
Das Gedicht „Baumzeichnen“, mit dessen Betrachtung dieses Kapitel enden soll, reagiert offenbar auf ein vorausgegangenes Streitgespräch über realistisches Zeichnen. Es ist fünf Personen gewidmet, die alle den gleichen Nachnamen tragen, also mutmaßlich eine Familie sind und möglicherweise gemeinsam einen Zeichenkursus besuchen oder besucht haben. Insofern ist es ein Diskurs über Kunst. Doch geht es wie alle Texte von Ilse Aichinger höchst listig vor. Das darin sprechende Ich das die mittlerweile hinreichend bekannte Skepsis gegenüber jeglichem Anschein von Verläßlichkeit der Welt mitbringt, läßt sich am Anfang des Gedichts auf die gegnerische Vorgabe ein, um alsbald, indem es nichts tut als sie konsequent weiterzudenken, ein unentwirrbares Knäuel von lauter höchst realistischen, doch hoffnungslos zusammenhanglosen Einzelheiten vorzuführen, das die – gemutmaßte – Vorgabe, die Realität an sich sei doch einfach und klar und übersichtlich und so müsse sie sich auch abbilden lassen, ad absurdum führt.

BAUMZEICHNEN
für Eva, Pia, Florian, Julian
und Manuel Aicher

Hier, jetzt
nehmt diese Zweige
und gebt ihnen recht,
bemalt sie, laßt sie hängen,
spannt sie aus,
laßt auch Mäuse daran
und was euch noch zukommt:
ruhige und zittrige Hände,
Dachse und Sprossen
und die Bitten für die Schwermütigen
eurer Brüder und Schwestern,
weiße und rote Nadeln,
alles so wie es ist
und so wie es nicht ist,
Schnee und Schlemmkreide,
eine Hilfe, aber keine Hilfe,
kein Trost, aber ein Trost.

„Damit alles bleibt, was es nicht ist, vom Wetter bis zu den Engeln“, ist wohl auch dieses Gedicht geschrieben worden: mitsamt den Zeilen „alles so wie es ist / und so wie es nicht ist“, die das Eingeständnis enthalten, ein gütlicher Ausgleich zwischen den beiden Welten könne nicht stattfinden. Dennoch ist es, samt diesen ihnen abgekehrten Zeilen, den Streitgenossen zugeeignet: als „eine Hilfe, aber keine Hilfe / kein Trost, aber ein Trost“. Die Hilfe, ihnen das Vorstellungs- und Denkvermögen zu schärfen, ist keine, weil sie nicht aufgenommen werden kann. Also ist auch kein Trost. „Aber ein Trost“ ist das ihnen gewidmete Gedicht als solches, die Tatsache des Gedichts sozusagen: geschrieben, „damit ,wir‘ wir bleibt“, wie es am Ende des Prosatextes „Schlechte Wörter“ hieß; abgewonnen dem Spiel mit den Wörtern in der äußersten Form des Schweigens, der Lautlosigkeit. „Erst auf dieser Grundlage des lautlosen Zusehens, Zuhörens“, sagt Ilse Aichinger am Ende ihrer eben und früher erwähnten poetologischen Überlegungen, „wird die Sprache wieder Laut gewinnen und die Wörter den Reiz, der eine späte Spielart der Notwendigkeit ist“.
„Nur zusehen – ohne einen Laut“, sagt Joseph Conrad.

Gisela Lindemann, aus Gisela Lindemann: Ilse Aichinger, Verlag C.H. Beck, 1988

Auf der Rückseite der Gebirge

− Zur Lesung von Ilse Aichinger in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste am 8.12.1982 in München. −

Es gehört zu den Gepflogenheiten der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, daß ein Mitglied die Lesung einer Kollegin, eines Kollegen einleitet, einläutet. Doch heute stehe ich hier mit besonderen Skrupeln. Ilse Aichinger einläuten zu sollen heißt, sich allzu sehr in das Licht eines anderen zu stellen. Ich stehe gern in ihrem Licht, aber nicht um gesehen zu werden, sondern um zu sehen. Zu glauben, etwas sichtbarer machen zu können, als sie selbst es kann, hieße, das Augenmaß verloren zu haben.
Ich weiß nicht, welche Texte Ilse Aichinger heute abend lesen wird. Ich kann Ihnen nur das Gedicht „Gebirgsrand“ in Erinnerung rufen:

GEBIRGSRAND

Denn was täte ich,
wenn die Jäger nicht wären, meine Träume,
die am Morgen
auf der Rückseite der Gebirge
niedersteigen, im Schatten.

Wir wissen: Während wir träumen, bewegen wir die Pupillen, atmen wir unregelmäßig, und unsere Muskeln verspannen sich. Obwohl wir in den Traumphasen am tiefsten schlafen, ähnelt das Hirnstrombild dem des Wachzustandes. Nicht nur die im Traum empfundenen Ängste, unsere Träume jagen uns.

… die Jäger, … meine Träume

Wissenschaftler vermuten aber auch, daß wir, wenn wir träumen, Eindrücke aus einem Kurzzeitspeicher in einen Langzeitspeicher übernehmen und sie zugleich in unseren Erfahrungsschatz einordnen, daß wir also auch im Traum unser Gedächtnis bilden. Biochemisch, so sagen sie, könnten die Traumphasen für das Gehirn Phasen der Erholung sein. Und wir wissen, wer über längere Zeit am Träumen gehindert wird, erkrankt. Nicht träumen zu dürfen kann zur Folter werden.

Denn was täte ich,
wenn die Jäger nicht wären, meine Träume …

Dieses Bild ist bis in seine Tiefen scharf. Kann man, was Schärfe betrifft, etwas sichtbarer machen?

… wenn die Jäger nicht wären, meine Träume,
die am Morgen
auf der Rückseite der Gebirge
niedersteigen, im Schatten.

Kann man, was Licht betrifft, etwas sichtbarer machen?
Unsere Träume sind Jäger. Sie jagen uns, damit wir weiterleben können.
Dieses Bild macht uns staunen.

Reiner Kunze, aus: Reiner Kunze: Bleibt nur die eigne Stirn. Ausgewählte Reden, RADIUS-Verlag, 2005

Eine Lektüre einiger Gedichte Ilse Aichingers

Verrat ist nicht das Gegenteil der
Liebe, Verrat ist eine Möglichkeit
der Liebe.

Amos Oz

Einen einzigen Gedichtband hat Ilse Aichinger publiziert: verschenkter Rat. Eine jeder Ökonomie spottende Großzügigkeit und Freundschaft sind aus dem Titel herauszuhören. Aber auch Vergeblichkeit. Man kann sich tatsächlich nicht gut vorstellen, dass Ilse Aichinger anders raten könnte als mit dieser Offenheit und Absichtslosigkeit, den Ausdrucksformen der Anspruchslosigkeit. Einer Anspruchslosigkeit allerdings, die an alle höchste Ansprüche stellt. Denn sie ist ein Ansprechen. An- und Zurede, Frage und Aufforderung gehören zur rhetorischen Grundstruktur ihrer Gedichte. Immer ist da ein Ich, das im Sprachraum des Gedichts einen Anderen sichtbar macht. Entdeckt und aus der Deckung zwingt.

SprungBrücke
Die uns von Ilse Aichinger zugemutete Freundschaft ist nur da eine, wo sie am Abgrund ihres Gegenteils steht. Ilse Aichinger hat ihrem Gedichtband einen Titel gegeben, in dem die Vorsilbe ver– auftaucht. Mit Rat zusammen klingt an, was nicht ausgesprochen ist: Ver Rat. Ilse Aichingers Gedichte sind Rat und Verrat in einem, um mit dem Titel des letzten Gedichtes des Bandes zu sprechen. „Wir haben die Wahl zwischen Petrus und Judas: zu verleugnen oder zu verraten“, notierte Aichinger 1950 in ihr Notizbuch. Eine Wahl, die nicht einmal den Namen verdient, denn das Verleugnen kommt nicht infrage. Es ist keine Möglichkeit des Schreibens. Schreiben hat mit Verraten mehr zu tun als mit Verleugnen. Und der Verräter lügt nicht. Er bricht einen Kodex. Er bricht mit der Macht, am deutlichsten mit der Macht des Schweigens, mit der Macht des ,man‘. So bricht Ellen am Ende des Romans Die größere Hoffnung mit der Hoffnung, reißt sich los von allen und allem: „Irgendwann mußte man springen“. Der Sprung wird ihr zur Brücke, die ,die größere Hoffnung‘ heißt. Die Granate, die sie zerreißt, wird ihr zum Stern. In Ellens Bruch besteht die immer noch skandalöse Kraft des Romans.
In den Gedichten brechen nicht Figuren, sondern Wörter mit ihrem Kontext, mit ihrer Bedeutung. Sie sagen sich los von dem, was sie sagen. Ilse Aichinger, deren Anarchiebegriff bis ins Biologische hineingeht, ist auch eine semantische Anarchistin. Ihre Gedichte sind wie ihre Dörfer im Gedicht „Selbstgebaut“: wild und sich selber überlassen.

SELBSTGEBAUT

Ich will meine Dörfer
ohne Worte lassen
und nur den Schnee
durchschwingen
und offen gegen die Zäune.
Von der Höhe meiner Speicher
will ich die Jaguare betrachten,
die Wölfe pfeifen hören.
Die Sonne sprang hier fort,
aber den Kindern
wird bei ihrer Ernte
von Löwenzähnen geholfen,
Platz für den König!

BedeutungsVerrat
Mit seltener Heftigkeit wird Ilse Aichinger im Prosatext „Schnee“ ausfällig gegen einen Kämmerer, der entzückt ausruft: „Das schöne beschneite Schulhaus!“ Mit der diesen späten Texten eigenen Art, wie beiläufig auf die Füße zu fallen, wenn sie abzustürzen drohen, kommt Ilse Aichinger zur Sache:

Das brachte mich in solchen Zorn, daß ich mich auf dem Absatz umdrehte und davonrannte. Als ich mich nach einer Stunde besann und wieder auf dem Absatz herumdrehte, um ihn zu suchen, war er verschwunden. Er war so verschwunden wie das Dorf und auch sein Schulhaus verschneit waren. Beschneit war gar nichts mehr.

So stolpert sie in ihr Thema: die Vorsilbe „ver-“. Dies in einer bemerkenswerten Bewegung. Die doppelte Kehre bringt den Kämmerer zum Verschwinden, um gerade dann bei ihm zu sein. Auch hier Abkehr und Zuwendung in einem. Ilse Aichingers Sätze verlassen, wem sie sich zuwenden. Selbst den Schnee. Er fällt und bleibt liegen, steht nicht mehr auf, vergeht. Aber dazu muss auch seine Bedeutung vergehen. Nicht mehr von ,dem‘ Schnee kann die Rede sein, sondern nur noch von ,Schnee‘. Ein Wort, das für nichts mehr steht, das seine Bedeutung ,verrät‘. Erst jetzt ist Schnee das Letzte, das er bedeutet, weil er es nicht mehr bedeutet. Eines der ,Wörter‘, nach denen Ilse Aichingers Werk unablässig sucht:

Schnee ist ein Wort. Es gibt nicht viele Wörter. Es gibt nicht viele, die nicht bezeichnen, womit sie eins sind, weil sie es nicht bezeichnen. Die nicht eins sind mit dem, was sie nicht bezeichnen, weil sie damit eins sind. Aber Schnee ist ein Wort.

Wie ernst es ihr mit der Ausfälligkeit gegen den Kämmerer ist, zeigt gerade, dass sie diese und sich sogleich der Lächerlichkeit preisgibt: Richtigerweise müsse es auch ein „vergossener Pudel“ heißen, denn das „eingesackte be“ habe mit seinem Leiden gar nichts gemein. Und auch der Hinweis, die Vorsilbe „ver“ sei die zweite Silbe des Wortes „Dover“, bringt das Thema ja auch gleich wieder dahin, wo es hingehört: zum Verschwinden.
Ilse Aichingers Gedichte brauchen im Unterschied zu denen mancher ihrer Zeitgenossen kaum Metaphern. Sie sind buchstäblich bedeutungslos und bedeutungslos buchstäblich wie das. Gedicht „Mittlerer Wahrspruch“, das auch den Witz, die bodenlose Heiterkeit, den Sinn für Spott und Komik Ilse Aichingers zeigt:

MITTLERER WAHRSPRUCH

Und wenn man in die Türkei fährt,
sagt meine Großmutter,
und dort stirbt,
wird man also
auf einem türkischen Friedhof
begraben.

Dagegen ist nichts einzuwenden – außer alles.

WortVater
Zuletzt ist das Wort. So wie es zuerst war. Ende und Anfang verkehren sich im Gedicht „Mein Vater“. Der Schnee fällt darin nicht, er steigt auf:

MEIN VATER

Er saß auf der Bank,
als ich kam.
Der Schnee stieg vom Weg auf.
Er fragte mich nach Laudons Grab,
aber ich wußte es nicht.

In dem Gedicht ereignet sich etwas womöglich noch Heftigeres, noch Beängstigenderes als das Verschneien: „Der Schnee stieg vom Weg auf.“ Das wird kaum heißen, dass besonders viel Schnee gefallen war. Oder dass er dahin zurückkehrte, woher er kam – dass er zum Himmel fährt. Das Gedicht interessiert sich nicht für Ziele. Es geht ihm um die verkehrte Situation. Eine Bank an einem Weg. Der Vater ist (schon), wo das Kind (noch) geht. Der Vater sitzt oder „saß“. Das Präteritum muss nicht bedeuten, dass sein Weg zu Ende ist. Es unterstreicht das Vorübergehende der Zeit. Die Frage, wohin der Weg führt, ob zu Laudons Grab oder eher von ihm weg oder keines von beiden (die Frage nach seiner Bedeutung), wird von Ilse Aichinger unterlaufen, indem sie nicht den Vorbeikommenden, sondern den Sitzenden fragen lässt. Also die mögliche Auskunftsperson selber. Dass es der Vater ist, der es nicht weiß, obschon er dem Grab gewiss näher ist als das Kind, macht den Abschied und den Verlust, um den es geht, zu einer traumatischen Erfahrung. Aber auch hier die doppelte Kehre: Der Abschied wird zu einem Moment der Zuwendung. Das Nichtwissen wird im Zeilenumbruch wieder zu dem des Kindes. Im „aber“ klingt dann beides an: seine Distanz und seine Zugehörigkeit; Bedauern auch und Scham.

Abschiedsliebe
In dem Gedicht „Florestan  wird „unter dem Schnee“ ein Kinderspiel zu einem wilden Tanz von Zärtlichkeit und Gewalt, von Liebe und Verrat:

FLORESTAN

Jetzt will ich dich,
mein Bruder,
in den Gängen fangen
und unter den Schnee
treiben.
Die Übergänge
will ich dir zeigen
und die Stätten,
um kurz zu rasten.
Ich will dich
von den hellen Plätzen
verscheuchen,
daß du weit auffliegst
und dich zu mir
fort begibst,
unserem Kranz
zur Nacht.

Von welcher Art von „Übergängen“ – Ausgänge scheint es nicht zu geben redet das Gedicht, für die ihm jedes Wort des Übergangs, jede Metapher fehlt? Da behauptet einer, sie zeigen zu können. Dem Leser und Florestan jedoch bleiben sie verborgen. Jedenfalls wohin sie führen. Nur dass es eine lange Reise wird, auf der es Raststätten braucht. Und dass es aus dem Hellen in die Nacht geht, aus der da einer spricht, verführerisch und gefährlich auf eine Zugehörigkeit, einen Kranz pochend, der die Nacht ist.
Eine Kindheitserinnerung Ilse Aichingers ist besonders wichtig: die Deportation der Großmutter 1942 nach Minsk, von wo sie nicht mehr zurückkehrte. Das Bild ihres Verschwindens über die Brücke ist unauslöschbar. Ein Bild von leuchtender Finsternis. 1953 notierte Ilse Aichinger:

Was wir lieben, verkörpert sich. Und was lieben wir mehr als den Abschied? So verkörpert sich uns der Abschied. Das Wunder geschieht, wenn wir dem Dauer geben. Dann werden wir mächtig. Mit dem Abschied in den Armen, für immer.

Leben ist Abschied, Liebe Verrat. Liebesverrat, der Liebe verrät. Dieses Wunder geschieht in Ilse Aichingers Gedichten.

SchlussUmkehr 
Dass das Ende hinter uns liegt und der Anfang vor uns, dass Gewinnen Verlieren heißt, Finden Suchen und Behalten Aufgeben – das sind die Paradoxa, die Ilse Aichingers Gedichte aufwühlen, durcheinander bringen und auflösen in Stimmen, die ihre Träger in diesem doppelten Sinn verraten: Sie lösen sich von dem ab, auf den sie in der Ablösung verweisen. Im Gedicht „Winterantwort“ ist dies in ähnlich irritierender Weise wie in „Mein Vater“ zu spüren. Wieder haben wir es mit einem verkehrten Verhältnis von Kind und Erwachsener zu tun:

WINTERANTWORT

Die Welt ist aus dem Stoff,
der Betrachtung verlangt:
keine Augen mehr,
um die weißen Wiesen zu sehen,
keine Ohren, um im Geäst
das Schwirren der Vögel zu hören.
Großmutter, wo sind deine Lippen hin,
um die Gräser zu schmecken,
und wer riecht uns den Himmel zu Ende,
wessen Wangen reiben sich heute
noch wund an den Mauern im Dorf?
Ist es nicht ein finsterer Wald,
in den wir gerieten?
Nein, Großmutter, er ist nicht finster,
ich weiß es, ich wohnte lang
bei den Kindern am Rande,
und es ist auch kein Wald.

Die Großmutter, die zunächst tot zu sein scheint, ist es, die die Frage nach dem finsteren Wald stellt. Und das Enkelkind gibt die Antwort. Es hat schon hinter sich, was die Großmutter am Anfang hinter sich zu haben schien. Leben und Tod sind hier nicht mehr differenzierbar. Aber präzis an dieser Stelle des stillstehenden Übergangs öffnet das Gedicht seinen Klangraum körperloser Stimmen und stimmloser Körper. In ihm sind sie gegenwärtig, weil das Gedicht nicht erinnernd das Verschwundene wieder holt, sondern das Verschwinden wiederholt.
Mit einer unerwarteten Schlusswendung verkehrt und hebt das Gedicht „Tagsüber“ die Passage vom Leben zum Tod auf: durch einen ,verbotenen‘ Gebrauch der Konjunktion „solang“ („solang bis noch“). Und durch das schockierend dezidierte Ja zum Nein am Schluss:

TAGSÜBER

Ein ruhiger Junitag
bricht mir die Knochen,
verkehrt mich,
schleudert mich ans Tor,
hängt mir die Nägel an,
die mit den Farben
gelb, weiß und silberweiß,
verfehlt mich nicht,
mit keinem,
lässt nur die Narrenmütze fort,
mein Lieblingsstück,
würgt mich
mit seinen frischen Schlingen
solang bis ich noch atme.
Bleib, lieber Tag.

Unerwartet bleibt die in der aichingerschen Logik gerade keinen Widerspruch bildende Schlusskehre selbst noch bei ihrer wiederholten Lektüre, weil das Verletzen und Verrecken, um das es hier geht (Wörter, die Ilse Aichinger nicht braucht, die aber durchaus schon zum lyrischen Vokabular ihrer Zeit gehören), in ihrer rhetorischen Heftigkeit einen dermaßen in Beschlag nehmen, dass man selber zu keiner Regung mehr fähig ist. Und genau in die Reglosigkeit hinein, aber auch aus ihr heraus, kommt dann das zärtlichste, rückhaltloseste Bekenntnis zum Kreuz, zum Schmerz – der Liebesverrat.

GnadenLos
„Ich kann getröstet nicht leben“, notierte Ilse Aichinger 1962. Das ist keine Option für Trostlosigkeit, aber ein Ausdruck gnadenlosen Misstrauens allen Tröstern, Helfern und Rettern gegenüber. So holt sie im Gedicht „Nachruf“ in ähnlicher Verkehrung der tradierten Perspektive wie in „Mein Vater“ den gnädigen Heiligen Martin Zeile für Zeile vom Sattel:

NACHRUF

Gib mir den Mantel, Martin,
aber geh erst vom Sattel
und lass dein Schwert, wo es ist,
gib mir den ganzen.

Dieselbe Gnadenlosigkeit zeichnet auch das Gedicht „Findelkind“ aus, in dem der Schnee wieder auftaucht, nicht beschneiend, sondern jeden Schutz versagend, jedes Versteck des Fremdlings verratend:

Dem Schnee untergeschoben,
den Engeln nicht genannt,
kein Erz, kein Schutz.

Nicht der Schnee soll das Findelkind wärmen und schützen, auch nicht eine mythenverdächtige Wölfin, sondern ein „toller“ Fuchs mit Beißen und Kratzen. Von ihm, dem zum Sterben Kranken, verlangt Ilse Aichinger ultimativ die ersten Zärtlichkeiten in einer an das Gedicht „Florestan“ erinnernden Diktion, in der sich eben diese Zärtlichkeit zur Drohung steigert:

Dann komm doch du noch einmal,
alter, toller Helfer,
schleif dich zurück zu ihm,
beiß es, verkratz es,
wärm es, wenn deine Räubertatzen noch warm sind,
denn außer dir kommt keiner,
sei gewiß.

Wem die Liebesgedichte fehlen in Ilse Aichingers lyrischem Werk: hier ist eines!
Ilse Aichingers Gedichte kennen weder Furcht noch Hoffnung, selbst oder gerade da, wo sie von beidem erfüllt sind. Was sie verlangen, verlangen sie von sich selbst. Immer wieder inszenieren sie nicht nur den Liebesverrat, sondern auch den doppelten Verrat der eigenen Angst: in ihrer Offenlegung und in der Distanzierung von ihr. Sie sind das Zittern der Knie Jonathans beim Sprung, von dem das Gedicht „Auf Sicht“ redet:

AUF SICHT

Es liegt alles offen,
die Gehäuse der Rabbiner
und die Bienenhäuser,
in Schreinen die Zielschiffe,
die beharrlich sind,
die sich die Küste entgehen lassen,
Höhlen und rissige Tiere.
Dir zittern die Knie,
Jonathan, wenn du springst
und dich vorwagst,
aber spring, dich behalten sie leicht,
steck Veilchen ins Knopfloch,
die Zimmerleute sind schutzlos
in jedem Stein.

Wiederum ist Ilse Aichingers Rat zum Sprung Rat und Verrat in einem; Rat zum Verrat. Gedeckt ist er durch das Gedicht selber, das Jonathan in den ersten sieben Zeile vor-springt. Die Beharrlichkeit im Entgehenlassen, die den in den Schreinen nicht ans Ziel – oder nicht an die Küste, aber ans Ziel- gekommenen ,Zielschiffen‘ attestiert wird, übt es zunächst selber. Der Satz „Es liegt alles offen“ bezieht sich auf mehr als nur die nachfolgende Liste von ,Gehäusen‘. Er öffnet auch das Gehäuse des Gedichtes selber, sodass Jonathan im Zeilensprung von Satz zwei zu drei hineinspringen kann, aufgehoben wird mit seinem Zittern im Zittern des Gedichts. Aber eine weiche Landung wird es nicht. Das Gedicht springt freundschaftlich, aber hart mit ihm um:

Dir zittern die Knie,
Jonathan, wenn du springst
und dich vorwagst

Hysteron-Proteron: Der Sprung, sagt es ihm, kommt vor dem Wagen. Es gibt keinen Anlauf und keinen point of return. Als müsste springen, wem die Knie zittern. Als wäre die Angst eine Angst zum und nicht vor dem Sprung. Dann steckt das Gedicht Jonathan fröhlich Veilchen ins Knopfloch, noch bevor er es selber tun kann, und überlässt den zu Beaufsichtigenden ohne Aufsicht, aber „auf Sicht“ (-weite) seinem Schicksal. Auf Sichtweite der Zimmerleute, die unwiderruflich im Offenen, im Ende, angelangt sind: „schutzlos / in jedem Stein“.

VerrateSpiel
Gedeckt ist der Rat als Verrat, wenn das Gedicht sich selber verrät. Das dreiteilige Titelgedicht verhallt im zweiten und dritten Teil. Im ersten bilden der Rekurs „spanische Eröffnung“ auf „Schachbuch“ inhaltlich, „Weißblech“ – „Welt“ in der Alliteration und „prüfe“ – „lügen“ klangmäßig einen eng geknüpften Teppich. Der zweite und dritte Teil trennen ihn auf. Das „und“ je zu Beginn verweist auf einen endlosen Kontext. Das fällt um so mehr ins Gewicht, wenn man bedenkt, dass diese zwei Teile zuerst entstanden sind (ihre Manuskripte sind datiert mit dem 19. Februar 1977) und erst später den ersten Teil (datiert am 12. Juli 1977) mit seinem hic et nunc vorangestellt bekamen:

VERSCHENKTER RAT

I

Dein erstes Schachbuch,
Ibsens Briefe,
nimms hin,
wenn du kannst,
da, nimm schon
oder willst du lieber
die Blattkehrer
von deiner Wiese treiben
und Ibsens Ziegen
darauf,
gleich weiß, gleich glänzend?
Es gibt Ziegen und es gibt Ibsens Ziegen,
es gibt den Himmel und es gibt eine spanische Eröffnung.
Hör gut hin, Kleiner,
es gibt Weißblech, sagen sie,
es gibt die Welt,
prüfe, ob sie nicht lügen.

II

Und frag sie,
was der fremde Thorax
im Garten soll,
schon versteinert,
der erste in diesem Frühling

zwischen den Brombeerhecken,
Mäusen
und der Mauer,
an die das Wasser
für uns schlägt,
was er dem Garten nützt.
Ob er ihn nötig hätte,
unseren Garten,
oder der Garten ihn.

III

Und
dass uns etwas zugetragen wurde
von Laufzeiten.
Ob die mit Lauf, mit Läufen zu tun hätten,
mit Läuften, mit den Zeiten
oder mit nichts davon.

Das Gedicht ist in seiner unausgeglichenen Dreiteilung eines der unruhigsten und noch weit beunruhigender als das kompaktere, ihm inhaltlich verwandte mit dem Titel „Zeitlicher Rat“. Vor allem im Mittelteil, in dem Ruhe, Vertrautheit und Sicherheit eines loeus amoenus in Bewegung geraten, die durch die kontrastierende Unaufgeregtheit der Fragen und dessen, der sie stellt, dramatisch noch gesteigert wird. Zuerst aber fällt die Choreografie äußerer und innerer Bewegungen auf: „nimms“, „willst“, „treiben“. Dann der Stillstand: „es gibt“. Und schließlich „prüfe“. Und schon sind wir weit weg vom anfänglichen „nimms hin“. Dazu kommt eine diskursive und syntaktische Direktheit, die in irritierendem Widerspruch zur Eigenwilligkeit der Dinge steht, von denen die Rede ist. Obschon je für sich ohne Rätsel, entfalten sie in ihrem Aufeinandertreffen unabsehbare Wirkungsfelder. Drittens treten die klare rhetorische Struktur und die helle tonale und emotionale Färbung hervor. Weiß dominiert: Briefe, Ziegen, Blattkehrer, die vielleicht die Seiten wenden und die Blätter wieder weiß wischen, die Briefe löschen. Dazu Weißblech, das dünne, feine Büchsenblech. Alles tönt hell: Ibsen, Ziege, Kleiner, Himmel, Wiese. Bis am Ende, nach der Verdunkelung mit Mittelteil, im Auslauf, die dunklen Laute sich durchsetzen: der „Lauf“ und dass er bald aus ist.
Zur Inszenierung gehören die personae. Sie bilden die Grundbesetzung der Gedichte Ilse Aichingers: das lyrische Ich, ein im Text eingelagertes Du (das nicht der Leser ist) und ein undefiniertes „sie“. An das angeredete Du gibt das Ich seine Fragen weiter, an deren Beantwortung es genauso wenig interessiert scheint wie am „sie“, das sie beantworten sollte. Als wollte das Ich nichts, als seine Fragen loswerden. Und mit ihnen das Wissen. Als ginge es um die (seit der „Spiegelgeschichte“ in Ilse Aichingers Werk virulente) Wiederherstellung der fraglosen Ratlosigkeit des Kindes, des ,Kleinen‘. Und um zu prüfen, ob es die Welt gibt (nicht wie sie ist, was sie bedeutet etc.), müsste es ja noch weiter zurückgehen, vor die Geburt, vor den Anfang, aus der Welt hinaus. Die Fragen sind niemandem gestellt, das ist ihre Provokation. Nichts wäre so töricht, wie einem zu antworten, der seine Fragen (im zweiten und dritten Teil des Gedichts) vor unseren Augen verspielt in der „oder“-Mühle der Differenzen, die der erste Teil in Gang gesetzt hat. Albert Camus hat das Absurde als die Konstellation des Ich, das fragt, und der Welt, die schweigt, definiert. Bei Ilse Aichinger kommt auch das Ich zum Schweigen.

VergessensZusammenhang
Das Ich, das in Ilse Aichingers Gedichten spricht, ist das Gedicht selber. Die Wörter sind seine Kuriere. Sie werden auf den Weg geschickt, auf dem sie ihre Botschaft vergessen. Zwei widersprüchliche Seiten erfährt man in jedem der Gedichte: ihr Verhängtsein in einen determinierten, subjektiven Erinnerungszusammenhang einerseits und ihr souveränes Heraustreten aus jeder Art von persönlichem Interesse andererseits. Auf ihrer uns uneinsehbaren Rückseite tragen sie Spuren ihrer Herkunft. Auf der anderen, der uns zugewandten Vorderseite, zittern die Knie Jonathans. Die Begriffe springen, greifen nach Begriffen (die Blattkehrer im Titelgedicht nach den Blättern auf der Wiese und den Seiten der Bücher; die spanische Eröffnung nach dem Schachbuch und dem Himmel), bevor sie begriffen haben.
Oft genug wurde Ilse Aichingers Lyrik als hermetisch dargestellt. Aber es ist ihre radikale Offenheit nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf sprachlicher und formaler Ebene, die uns überrascht. Hermetisch ist sie gerade nicht. „Das ist ein Drosselei / und dort ein Sterbezimmer, / die Dinge verhalten sich zueinander / in diesem Maß“, heißt es im Rat „An einen jungen Gerber“. Zum größtmöglichen Verhältnis der Dinge zueinander gehört also die Differenz.
Das letzte Gedicht des Bandes verharrt in ihr. Es verweist auf den ein Jahr früher entstandenen Prosatext „Flecken“, in dem es heißt: „Und wäre die Welt anders ohne diese Flecken? Das ist eine müßige Frage. Sie wäre anders. Sie wäre ohne diese Flecken.“ Die „müßige Frage“ ist im Gedicht anders beantwortet. Anders und doch gleich. Die Differenz ist jetzt der Identität eingeschrieben und dadurch unauslöschbar geworden:

IN EINEM

Und hätt ich keine Träume,
so wär ich doch kein anderer,
ich wäre derselbe ohne Träume,
wer rief mich heim?

Nicht müßig ist die letzte Frage. Deshalb muss sie ohne Antwort bleiben. Auch wer sie stellt, ist schon gesprungen, hat schon den Bereich der möglichen Antworten verlassen. Ein abrupter Schluss für ein Gedicht, das wie „Mittlerer Wahrspruch“ als Wiegenlied erklingt. Aber das Abrupte ist ihm gerade recht. So macht es vor dem Schluss keinen Halt, sondern nimmt den Bruch in einen Atemzug hinein. Etwas von der Schwierigkeit des Atmens wird dabei spürbar, von der Ilse Aichinger in ihrem Kafka-Text „Die Zumutung des Atmens“ redet, und die einen zunächst denken lässt, wer so nicht atmen könne, könne auch keine Gedichte schreiben. Aber es ist gerade dieser Atem, die Oralität, die Ilse Aichingers Gedichte evident werden lässt .
Dass sie in seinem Rhythmus zu verstehen sind, dass das ganze Werk Ilse Aichingers als Anheben ihrer Stimme zu begreifen ist, sollte allerdings nicht dazu verleiten, sie nicht als unabhängige Schrift aufzufassen, die eine Deutung im Rückgriff auf die Autorität der Autorin unterläuft. Nicht Zuhören verlangen Ilse Aichingers Gedichte, sondern ein misstrauisches Hinhören auf jede Art von Nomenklatura, die Deutungshoheit beansprucht: „prüfe, ob sie nicht lügen“.

Samuel Moser, aus: aus: Text+Kritik, Heft 175 – Ilse Aichinger, Juli 2007

Mit ihr

Ich hatte mir die Kassette, die Taschenbuchausgabe in acht Bänden, gekauft, sie stand neben mir, ich nahm das erste Buch heraus, nicht gleich den Roman, sondern das Bändchen Erzählungen I, und fing an zu lesen, „Der Gefesselte“. Einer erwacht, findet sich aufgewacht vor und – gefesselt (gefesselt und ausgeraubt). Ich folgte dem Gang des Textes, dem Zwang des Textes, nahm folgsam hin. Aber plötzlich begriff ich etwas, das mich aus dieser Folgsamkeit riß, ich sah es mit einer blitzrasch aufsteigenden Achtung, die sagte: Sie! Nur sie! Nach allem Erfahrenen aus der Literatur und von dem Thema außerhalb der Literatur bisher! So unmittelbar, so direkt, wie sie es mir gibt, traf ich das Thema nie!
Ich vermute, die Stelle, an der das geschah, war die:

Im Morgenlicht beobachtete der Tierbändiger, der mit seinem Zirkus auf der Wiese vor dem Dorflagerte, den Gefesselten (…). Er bewegte sich langsam, um nicht wieder von der Schnur geschnitten zu werden, aber dem Tierbändiger schien es wie die freiwillige Beschränkung einer großen Geschwindigkeit. Die unbegreifliche Anmut der Bewegung entzückte ihn (…).

Er hatte sich erhoben, es glückte ihm, er hatte zu gehen versucht, es glückte ihm. Der Tierbändiger, Zirkusdirektor, sah ihn, als er sich nach einer Flasche bückte. Und nach einem Stein suchte, um die Flasche zu zerschlagen und mit einem Glasscherben die Fessel zu zerschneiden…
Schnitt, nicht in die Schnur, ein Schnitt wie im Film, danach tritt der Gefesselte im Zirkus auf und „die Anmut der Bewegung (Auch nicht die Sprünge der jüngsten Panther hatten ihn (den Tierbändiger, Anm. d. Verf.) je in ein solches Entzücken versetzt)“ löste „einen Jubel aus, der dem Tierbändiger am Rand der Arena vor Erregung das Blut in die Wangen trieb“.

Ich hatte, ratlos beim Lesen, unbewußt die Mitteilung der biografischen Notiz mitgelesen. Die Notiz steht in allen acht Bändchen – vor allen Titeln, wie ein Vademekum. Wie ihre Urkunde. Die Mitteilung war mir neu.
Sie war mitgegangen beim Lesen und schloß sich plötzlich mit dem Gelesenen in eins: Das ist die Fessel, die Fesselung, das, was ihr geschehen ist, sie nimmt es auf mit dem, und nur sie. So habe ich das noch nie gelesen!
Und bei aller weiteren Lektüre, bei jeder Zeile, blieb diese Sicht, die mich überrascht, mich erschüttert hatte. Erst Ilse Aichinger, und erst jetzt, da ich sie wieder lese und lese nach langer Zeit, nach Jahrzehnten, eröffnet mir den Gang in ihre Untersuchung, ihre Suche, ich überschreite erst jetzt mit ihr den Horizont, den ich bis dahin hatte…
Mehr als überrascht, mehr als erschüttert, nicht Erschütterung über ein Schicksal, nicht das Erschütternde selbst, mehr als es: Sie nimmt es auf mit dem, was geschehen ist. Sie gibt mir die Dimension: ich bin sie und die Nazis vernichten mich, nein, es ist die Gesamtheit, die gesamte Kultur, gesamte Gesellschaft…

Für viele gab es danach keine Rückkehr zu gewesenen Paradigmen. Man konnte sie für eine von ihnen halten, eine von der „Avantgarde“. Der Begriff ärgert mich seit langem, ein kriegerischer (oder gar flotter, forscher) Begriff (und sie ist keine Gardistin!) – ein Begriff für die Teilhabe an der zeitgenössischen Moderne. Sie war für mich eine von ihnen.
In den 1980er Jahren trug eine bildende Künstlerin in Ostberlin die „Spiegelgeschichte“ vor. Zwei Zimmer in einer leeren Wohnung, von einem ins andere führten drei Stufen, sie saß auf der obersten Stufe, im Rücken den leeren Raum, vor uns und las. Ich war nicht so fasziniert (ergriffen, erfreut) wie die anderen, die Willkür, das Mechanische verwirrte mich, die Willkür-Mechanik der Idee…
Jetzt, beim Wiederlesen, ahne ich, noch immer beschämt, daß auch da einem Tod begegnet worden war von ihnen, den anderen, da sie es so annahmen. Ich bin mir ziemlich sicher, daß sie mit dem persönlichen Hintergrund der Autorin nicht in Berührung kamen. Aber daß diese besondere Bedeutung aus einem Hintergrund der Autorin, der dem der anderen glich, umstieg in den der anderen. Während sie ergriffen wurden, umstieg, ohne daß sie dessen gewahr wurden, die Geschichte einer von der Gesamtheit Ausgeschlossenen und in einen Todes-Horizont Blickenden zu hören, daß ihre Geschichte umstieg in das Gleichnis, in das eigene Gleichnis und in das der Geschichten von allen, die sie ja alle es kannten, von allen ausgeschlossen zu werden und sich zu finden in dem Horizont Tod und aus ihm heraus (geh!).
Diese, die Formel aller, ist, meine ich, umfassender, als die zusätzliche besondere der Autorin. Ihr aber stand die allgemeine Formel zu (kam ihr zu, gehörte ihr) als Horizont, den sie in ihrer besonderen Geschichte durchschritt für immer.

Im Anfang des Romans Die größere Hoffnung erschafft sich die Heldin, ein Kind, eine Seele, besinnt sich auf eine Seele, die ihr Ich behält, auf ein Ich, das seine Seele behält.
Sie hat dem, was ihr, dem, was allen, dem, was mit allen geschehen ist, die Waage gehalten. Es mit ihm aufgenommen in allen ihren literarischen Bewegungen.

Ganz jung, zart, ein Blättchen
Angst verjüngt Angst: zart
Bebe Beben Der Wind reißt

Fürsprecher ist niemand
Häuserwangen und -jochbeine

Wie blicken die, die den Tod blicken
Sie mußten sehen mit ihm

Hatten kaum eine Wahl

Wie der Arzt blickt, der weiß, es gibt keine Chance? Schritt vorbei an den Vorgartenföhren über den Plattenweg, drückte den Klingelknopf. Die Anverwandten, ihm zugewandt vom Krankenbett weg… Der Patient wird sterben.

Aber nur auf den Willen hin, auf Beschluß?
Diese nicht, die kommen weg!
Wie blickt man das?

Und wie sieht man es, wenn man zu den Ausgeschlossenen gehört, mit siebzehn? Und das, was geschieht, beschlossen ist, Gegenwart, Realität.

Dem Tierbändiger ist ein Wolf entlaufen, der Gefesselte trifft auf ihn.

Mit der Vorsicht, die er lange erprobt hatte, griff er dem Wolf an die Kehle. Zärtlichkeit für den Ebenbürtigen stieg in ihm auf, für den Aufrechten in dem Geduckten. In einer Bewegung, die dem Sturz eines großen Vogels glich und er wußte jetzt sicher, daß Fliegen nur in einer ganz bestimmten Art der Fesselung möglich war −, warf er sich auf ihn und brachte ihn zum Fallen. Wie in einem leichten Rausch fühlte er, daß er die tödliche Überlegenheit, der freien Glieder verloren hatte, die Menschen unterliegen läßt.

Elke Erb, aus: Text+Kritik, Heft 175 – Ilse Aichinger, Juli 2007

Ilse Aichingers Sprachprismen

I
In Straßen- und Untergrundbahnen mancher Städte finden sich, über den Fenstern, von Reklamen umrahmt, zuweilen Gedichte. Das ist durchaus gehörig, denn Gedichte können maulwurfsgleich untergründig oder gleitend transitorisch sein; man kann sie auch als Werbung lesen – Werbung für das Wort.
Gedichte in öffentlichen bis teilprivatisierten Verkehrsmitteln lassen einen aufmerken. Sie können einen sogar wachrütteln. Dem Fahrgast, der eigentlich kein Gast ist, sondern Fahrkunde, erlauben solche Gedichte, aus- oder umzusteigen – während der Fahrt, noch bevor er eine Station erreicht hat. Man steigt um oder aus in eine poetische Gegenwelt.
Mir erging es so, beinahe zwei Jahrzehnte sind es her, als mein Abteil über die schwäbischen Filder auf einen Flughafen zurollte. Ich las: Ilse Aichinger. „Gebirgsrand“:

Denn was täte ich,
wenn die Jäger nicht wären,
aaameine Träume,
die am Morgen
auf der Rückseite der Gebirge
niedersteigen, im Schatten.

Gelegentlich fragen wir uns, wo wir stehen, womöglich unterwegs, wir als Individuen, jeder für sich, und überhaupt als Gattung, fragen es uns angesichts eines solchen Gedichts. Denn was täte ich. Begnügt sich unser Handeln nicht oft mit bloßem Funktionieren? Hat das Woher und Wohin unserer Reise überhaupt noch Umrisse am Ausgang dieses Jahrhunderts? Die Vorstellung dessen, was authentisch und was simuliert ist, wird zunehmend unscharf. Der Standpunkt des spätmodernen Menschen befindet sich im Bodenlosen. Seine Sprache flüchtet sich oft genug ins Formelhafte, Unverbindliche. Er spricht, um nichts zu sagen.
Wo stehen wir? Was täte ich? Das Werk Ilse Aichingers, widerständig, streitbar, aber längst von unbestrittenem Rang und in seiner Prägnanz von geradezu klassischer Modernität, ein Werk der Zeugenschaft, den Zumutungen dieses Jahrhunderts Wort für Wort abgerungen, dieses Werk gibt auf solche Fragen eine irritierende, verstörende, sich querbalkenhaft in den Weg einfacher Lösungen und Erwartungen legende Antwort. Sie erweist sich deswegen als tragfähig, weil diese Antwort beständig zu weiterer Suche auffordert: nach dem Grund dieses Konjunktivs „Denn was täte ich“ zum Beispiel oder nach dem Wesen dieses Daseins am „Gebirgsrand“.
Träume als Jäger, auf der Jagd nach Bildern, aufsteigend in der Nacht bis an den Rand zwischen Bewußtem und Unbewußtem, langsam verschwindend im Grauen, im Dämmern des Tages, im Schatten des Morgenlichts. Der Gebirgsrand: die Grenze, die Rückseite: das Verborgene – ein Sprachgebilde, schlicht im Ausdruck, aber genau komponiert; abhängig von einer irrealen Bedingung, einer Hypothese, deren vorausgesetzte Unmöglichkeit hoffen läßt. Ein Gedicht, das ein Schlüssel ist zu diesem mit Worten sorgfältig haushaltenden Werk.
Man hat es „wortkarg“ genannt, was an der Sache vorbeigeht. Es ist vielmehr sprachbesorgt, bereit, sprachliche Konventionen, der Lebendigkeit des Wortes zuliebe, in Frage zu stellen und mit ihnen die gängigen sprachlogischen Verknüpfungen. Denn was täte ich, / wenn die Jäger nicht wären, meine Träume – Worte, die wie kleine Lichtpartikel aufleuchten, wenn man unvermutet auf sie stößt. Träume auf dem Weg zum Handeln – oder: Der Konjunktiv und der Schatten als Reservoir des Trostes. Dieses Gedicht leitet Ilse Aichingers Band „verschenkter Rat ein und gibt die Tonart ihrer Sprachkompositionen an: Nicht Moll, nicht Dur, nicht durch einen Buchstaben zu beziffern. Ich möchte diese Tonart „phrygische Wörtlichkeit“ nennen, herb, treffend, aber doch von Möglichkeitsformen durchwirkt, unvermutet in ihrer Mischung aus fremd und vertraut Klingendem, eindringlich, ohne je zudringlich zu werden.

Der verschenkte Rat schließt übrigens genau auf dem Ton des ersten Gedichts, nämlich mit den Versen:

Und hätt ich keine Träume,
so wär ich doch kein anderer,
ich wäre derselbe ohne Träume,
wer rief mich heim?

Auch diese Bedingung wird auf keine Probe gestellt. Ich und Traum sind untrennbar eins. Zweideutig bleibt die Schlußfrage: Sie kann als Frage in der Vergangenheit aufgefaßt werden oder als verkürzter Konjunktiv für: Wer riefe mich heim?
Was dieses „heim“ sei, vermitteln zahlreiche von Aichingers Gedichten: die Erinnerung, die Worte selber, Bilder, Träume, die zur Erinnerung führen und durch die sich Erinnerung vollzieht. Das „Heim“ lebt auf im Erinnern und im „Auffinden (…) des Unvermuteten“, wie es in einem anderen Gedicht heißt. Entsprechend stößt der Leser auf Unvermutetes in ihrem Werk, immer wieder, selbst dann, wenn er es genau zu kennen glaubt. Sogar Stellen, die ihm nie aus dem Sinn gehen, bewahren den Charakter des Unvermuteten. Eine solche Stelle lautet:

Ich bitte dich: Was auch immer geschieht, hilf mir, daran zu glauben, daß irgendwo alles blau wird.

Man weiß, dieser Satz ist ein Grundmotiv von Aichingers Roman Die größere Hoffnung, der bei jeder erneuten Lektüre überrascht aufgrund seiner vielen unverhofften Wendungen, Stimmungen und Hoffnungszeichen. Zaubrisch und entzaubernd wirkt diese Sprache, träumerisch und doch untrügerisch diagnostizierend.
„… daß irgendwo alles blau wird“, dies war im Erscheinungsjahr des Romans 1948 ein gewagter romantischer Anklang; man hat inzwischen dieses Blau mit der Tonfarbe in Schuberts Es-Dur Notturno assoziiert, mit des Himmels „unverhofftem Blau“ von George und mit den Farbnuancen in Lasker-Schülers Zyklus „Mein blaues Klavier“. Man kann es aber auch, ganz schlicht und dem Text gemäß, auf das Blau der Landkarte beziehen, das Ellen, die Protagonistin des Romans, mit Hilfe des vergeblich ersehnten Visums zu überqueren hofft. Schließlich wird es nicht „irgendwo“ blau, sondern in Ellen selbst. Sie lernt, Hoffnung in sich zu bilden und anderen vorzuleben – und das im Zeichen existentieller Gefährdung, in einer Zeit der Angst ohnegleichen, der Perversion des Humanen, einer Zeit, in der ein mörderisches Regime das Grundsymbol der Hoffnung und des Friedens, den Stern Davids, zum Kainsmal erklärte. Am Ende bleibt Ellens „größere Hoffnung“ in Gestalt eines Projekts, des Neuaufbaus einer Brücke: er wird an dieser Stelle zum Projekt des Lesers, den die Erzählerin zu Ellens Nachlaßverwalter und Erben bestimmt.
Obwohl Aichingers Roman den Zerfall der öffentlichen Moral thematisierte, moralisiert seine Erzählerin nicht. Instanz ihrer Moralität ist, mit Ernst Bloch gesagt, das „Wissen der Hoffnung“, vermittelt durch Sprache. Ihre knappe Diktion kontrastiert mit den großsprecherischen Parolen der Zeit. Sprachethisches Bewußtsein prägt diesen Roman wie überhaupt das ganze Werk Ilse Aichingers. Wortornamente läßt sie nicht zu. Sie hat das Wort ohne Eigenschaften in Lyrik und Prosa am überzeugendsten eingeführt: Jedes Wort muß in ihrer Sprache für sich selbst einstehen.
Georges Braque, Juan Gris und Anten Webern hat Ilse Aichinger als jene Künstler bezeichnet, die sie außerhalb der Literatur am meisten beeinflußt haben und ihr am nächsten stehen. Künstler unbedingter Formstrenge also, mit klarer Linienführung und sparsamstem Einsatz der Kunstmittel, Entsprechungen zu ihrer eigenen Art, mit Sprache umzugehen.
Strawinsky hat von Webern gesagt, daß er seine Töne wie „Diamanten geschliffen“ habe. Diese geschliffenen Töne bewirken indes „schwebende Klanglichkeit“; und Pierre Boulez ergänzte in unseren Tagen, daß neben diesen Tonprismen Weberns auch die sie umgebende Stille mitzuhören sei; diese Stille sei keine „cessation du son, mais une autre forme du son“. Verhält es sich nicht ähnlich mit den Sprachkunstwerken Ilse Aichingers, mit den entwaffnenden Fragen ihrer Ellen in Die größere Hoffnung, mit den pointierten Wortwechseln in ihren sprachszenischen Hörspielen, ihren Tagebuchnotizen von der Art „Genug Angst haben“, ihren Gedichten und Spuren lesenden Essays? Vernehmen wir nicht um diese sprachlichen Verdichtungen eine Stille, eben nicht die „cessation du mot“, sondern als eine andere Form des Wortes?
Was hat es mit dieser Stille, mit dem Schweigen auf sich? Es ist der Bereich, in dem Sprache entsteht und in dem das Wort wieder verschwindet. Man erinnert sich im stillen und schweigt sich über das Erinnerte so lange aus, bis es ohne Hilfe des Wortes verloren wäre.
Problematisch war er immer gewesen, Wittgensteins bekanntester Satz:

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.

Bereitet aber das Schweigen nicht das Sprechen vor? „Wovon man nicht sprechen kann“, das suggeriert einen Dauerzustand. Doch bezeichnet dies nicht den Anfang einer Entwicklung, die dann zu Ende ist, wenn sich die Zunge löst und das Wort möglich wird?
Was uns die Dichtungen Ilse Aichingers vermitteln, ist der Eindruck, daß ihre Worte aus dem Schweigen aufsteigen und sich immer wieder ins Schweigen entlassen. Ihre Dialoge sind stets auch Gespräche mit dem Schweigen. Mystische Anklänge sind hierbei unleugbar. Man müßte bis Mechthild von Magdeburg zurückgehen, um das Spezifische dieses Schweigens und seiner Verwörtlichung bestimmen zu können. Aichingers Schweigen verläßt sich jedoch nicht wie Mechthilds auf metaphysische Geborgenheit; vielmehr rechnet es mit dem beständigen Wechselspiel von Hoffnung und Vergeblichkeit. Wirkliche Gewißheiten, Verläßlichkeiten kennt dieses Schweigen nicht mehr; eher beunruhigt es, stellt Gesagtes in Frage und bleibt dabei doch der immer fruchtbare Urgrund der Sprache.

II
Das Wort als Prisma. Im Blick des Lesers fächert sich dessen Sinnspektrum auf; konkrete und übertragene Bedeutungen werden sichtbar: Der verschenkte Rat, die mit voller Absicht „ins Korn geworfenen Flinten“, das konjunktivische Verb, ein Titel wie Kleist, Moos, Fasane oder die aphoristische Notiz: „Die Unfähigkeit zu leben bis zum Ende ausspielen“, das sind geschliffene Sprachformen, die je nach Lichteinfall eine spektrale Bedeutungsaura gewinnen. Dieser zu vieldeutiger Genauigkeit geläuterten Sprache kann man sich anvertrauen, nicht blindlings freilich, sondern wachen Sinnes; denn sie fordert ihre Leser dazu auf, sich selbst die Sorge um das Wort, die hinter diesem Läuterungsprozeß steht, zu eigen zu machen.
Ilse Aichingers Schreiben ist, sie hat es selbst wiederholt gesagt, das Ergebnis ihres Wartens auf das richtige, sprich: ausreichend geläuterte Wort, damit es in einem bestimmten Zusammenhang mit Berechtigung stehen kann. Während dieses Wartens ereignet sich das Schleifen des Wortes in der Stille, bis es prismatisch genug ist, um sich auszusprechen und belichtet zu werden durch den Blick des Lesers.
Das ist Ausdruck von Sprachskepsis und Grundvertrauen in die Sprache in einem. Sprachskepsis in dem Sinne, daß Aichinger mit Hoffmannsthal weiß, „daß man nie etwas ganz so sagen kann, wie es ist“; Sprachvertrauen von der Art, daß sich in lange genug erwarteten, geläuterten und geschliffenen Worten doch immer noch eine Hoffnung aussprechen läßt.
Sie kann sogar ausreichen für einen regelrechten Appell, für eine Botschaft voll skeptischer Zuversicht. In ihrer „Rede an die Jugend“ von 1988 formulierte Aichinger Sätze, die gewissermaßen als die Summe der ethischen Substanz ihres Schaffens angesehen werden können:

Immer wird es notwendig sein, die Träume aus dem Schlaf zu holen, sie der Ernüchterung auszusetzen und sich ihnen doch anzuvertrauen. Immer wird es ein Grat sein, der zu begehen ist. Die empfindlichen Instrumente des Gleichgewichts und der Unterscheidung müssen eingesetzt, Sein und Denken müssen aufeinander abgestimmt werden, maßgeblich für alles, was kommt.

Die Träume ernüchtern und ihnen doch Vertrauen entgegenbringen – das ist ein glaubwürdiges „Prinzip Hoffnung“, eines, das Spracharbeit legitimiert. Denn es sind die Worte, denen Elias Canetti sogar ein eigenes „Gewissen“ zugesprochen hatte, die als „empfindliche Instrumente“ Gleichgewicht und Unterscheidung bewirken und leisten können sowie zwischen „Sein und Denken“ vermitteln. Wohlgemerkt: sie vermögen dies nur dann, wenn man sich selbstkritisch ihrer annimmt und sie nicht ideologisch vergewaltigt.
Das in stiller Traum- und Bewußtseinsarbeit sich vollziehende Warten auf das Wort kann ohne eine gleichfalls verfeinerbare Fähigkeit nicht auskommen: das Erinnern. Im Werk Ilse Aichingers ist dementsprechend die Erinnerung neben der Hoffnung das zweite Hauptmotiv Es ist ein doppeltes Erinnern, an das Einstige und an den gegenwärtigen Augenblick. Wiederholt spricht Aichinger von der Erinnerung an das Jetzt, scheinbar ein Paradoxon, das kommentierungsbedürftig ist.
In ihrer Parabel „Hilfsstelle“ hat Aichinger ihre Sicht des Zusammenhangs von Augenblickserfahrung und Erinnerung geschildert. Der Text setzt mit einem vermeintlichen Zeitverwirrspiel ein:

Heute, das war Donnerstag. Die anderen Tage hießen gestern, vorgestern, vorvorgestern oder auch morgen, übermorgen, überübermorgen, sie teilten die alten Lasten unter sich, Vergangenheit und Zukunft, sie teilten unter sich Unsicherheit, Furcht vor Bomben und Staatspolizei, Gerüchte, Deportationsmöglichkeiten, schlechte Nachrichten.

„Heute, das war Donnerstag“, gemeint ist die Erinnerung an eine soeben vergehende Gegenwart, eine Gegenwart im Gewesenen der Kriegsjahre; gemeint kann aber auch ein Donnerstag im Jahre 1987 sein, als dieser Text erschien, ein Donnerstag, der eine Erinnerung an eben einen solchen Tag ausgelöst hat, die Erinnerung an die Qual jener Zeit, aber auch an den einen „sinnvollen und unaufhebbaren Augenblick“, der – wie es in dieser Erinnerungsparabel Ilse Aichingers heißt, ein „blitzender Streifen hinter dem Vorhang“ der Bedrückung und Angst gewesen war, ein unauslöschlicher Hoffnungsschimmer.
Eine Suchende macht sich auf den Weg durch den zweiten Bezirk Wiens; sie möchte jenen Ort wiederfinden, der in finsterer Zeit eine „Hilfsstelle“ für Verfolgte gewesen war. „Wo sie Hilfe und im inneren Sinn Rettung gefunden hatten, fanden sie auch Erinnerung.“ Sie erinnern „alte Worte“ und die „schwierigsten Augenblicke des Tages“; sie stehen den sinnerfüllten Augenblicken gegenüber, Momenten, in denen sich ein gegebenes Wort bewährt, seine Bedeutung neu kristallisiert und den Anfechtungen der Zeit widersteht.
Aichingers „Erinnerung an das Jetzt“ ist Ausdruck ihrer Einsicht in eine existentielle Notwendigkeit: Sinn erfülltes Leben bedeutet, das Gelebte wieder und wieder zu vergegenwärtigen, um das Maß des Eigenen zu gewinnen und das Maß des Anderen zu verstehen.
Dieses „Jetzt“ unterscheidet sich grundsätzlich von jenem „hic et nunc“ geschichtsvergessener Plötzlichkeitsfanatiker, die durch gewisse Feuilletons geistern und das „Jetzt“ gegen das Gestern ausspielen. Aichingers „Jetzt“ ist ein mit den Mitteln der Erinnerung verantworteter Augenblick, in dem es die rechte Zeit für das geläuterte Wort ist.
Wieder sind wir beim Wort angekommen und mit ihm bei der Frage, was „Läuterung“ sei. Vielleicht besteht sie im Durchspielen von Sprachmöglichkeiten, etwa der Art:

Wult wäre besser als Welt. Weniger brauchbar, weniger geschickt. Arde wäre besser als Erde.

Diese Vorschläge leiten Aichingers Text „Dover“ ein, eine Etüde über einen magischen Fährenort, Durchgangsstation und Feste, hart an der Grenze zum Offenen des Meeres oder, anders gesehen, Pforte zu einer Insel, auf der Entfremdung und Heimischwerden austauschbar sind.
Aichingers ironisch bis absurder Versuch über Dover ist jedoch noch aus einem anderen Grund für unser Thema wesentlich; denn er bemüht sich um eine Aufwertung dessen, was man „so nebenbei“ von sich gibt, treffender gesagt: für ein genaueres Hinhören auf das nebenbei Gesprochene. Warum in Dover? Weil man dort auf einen Menschen treffen kann, der, so Aichingers Text, „in Dover auf der Klippschule eine Rede auf König Artus Tafelrunde halten sollte und es nicht zustande brachte, der nie mehr aufgerufen wurde und deshalb nebenbei zu reden begann.“
Da ist es wieder: Das Unverhoffte in einem Aichinger-Text, die eigentümliche Wendung im Laufe einer Schilderung. Auf den Klippen von Dover können eben Welt zu Wult und Erde zu Arde werden; denn die Sprache hat hier ihren Grenzwert erreicht und ist jäh ins bislang Unverwandte umgeschlagen. Eine doppelt mythische Situation: Einer versucht eine Rede auf einen mythischen Gegenstand, scheitert an seinem Versuch, klammert sich jedoch – tassohaft beinahe – an jene Sprachklippe, an der er scheiterte, spricht schließlich unaufgefordert weiter, kaum hörbar, man darf vermuten mit Wörtern wie Wult und Arde.
Das Sprechen wird in diesem Bild zum Gratwandel. Und doch gewinnt man den Eindruck, als beinhalte diese beiseite gemurmelte Rede des einmal Gescheiterten das Wesentliche über Artus und Mythos, über Dover und das, was sich über das Wesen der Sprache am Rande ihrer Wörter aussagen läßt. Bedenkt man diese subtilen Sprachnuancen im Werk Ilse Aichingers, dann muß es einen auf den ersten Blick überraschen, einmal mehr, in einem ihrer Texte ein Plädoyer für „Schlechte Wörter“ zu finden, für Stilbrüche und fragwürdige sprachliche Wendungen. Ihre Beispiele: „Der Regen, der gegen die Fenster stürzt“ oder „Den Untergang vor sich herschleifen“ oder „Sammle den Untergang“.
„Schlecht“ sind diese Wendungen freilich nur gemessen am konventionellen Sprachgebrauch, den dieser Text in Frage stellt. Vordergründig gesehen, verdankt er seine Verve der kritischen Bestandsaufnahme der Sprache, die im Kreise der Gruppe 47 unternommen worden war. Nach der Entstellung der deutschen Sprache durch den Nationalsozialismus hat sie in dieser Hinsicht Vorbildliches geleistet.
Ilse Aichingers Text aber greift weiter zurück und zielt auf das Verhältnis von Wort und der von ihm bezeichneten Sache, mithin auf das klassische Sprachproblem, das der platonische Sokrates mit Hermogenes und Kratylos erörtert hatte. Diese Dialoge bleiben die Urbilder unseres Denkens, kunstvoll gearbeitete, gesprächsweise sich entwickelnde Denkszenen, durchsetzt von allegorisch-poetisch vorgetragenen Hypothesen und Einsichten, was um so überraschender bei einem Philosophen ist, der von der Suggestivität der Dichtung, vor ihrer subversiven Wirkung so nachdrücklich gewarnt hatte. Beispielsweise hält der platonische Sokrates das Wort „Stehen“ für die Bezeichnung eines „Stillens des Gehens“. Stehen als gestilltes Gehen, damit ist das radikale Hinterfragen von Sprachkonventionen gemeint, die das Weltbild des Menschen prägen. In der philosophischen Etymologie des platonischen Sokrates soll die Zeit künftig nicht mehr Zeit, sondern „Ziet“ heißen, wie Schleiermacher adäquat übersetzt, „weil dem Winter und Sommer, den Winden und den Früchten der Erde“ diese „Ziet„ ihr „Ziel“ setze.
Zur Zeit der sokratischen Dialoge schien die Möglichkeit noch nicht ausgeschlossen, aus „chronos“ und „telos“ einen neuen Ausdruck zu gewinnen, der Aussicht hatte, in die Sprachpraxis Eingang zu finden. Anders im Falle der Sprachszenen Ilse Aichingers: „Arde wäre besser als Erde“ – das bleibt angesichts der festgefahrenen Sprachgewohnheiten ein Konjunktiv ohne Potential. Im Text heißt es denn auch entsprechend ernüchtert weiter:

Aber jetzt ist es so. Normandie heißt Normandie und nicht anders. Das Übrige auch. Alles ist eingestellt. Aufeinander, wie man sagt.

Wenn man die Hörszenen Zu keiner Stunde und die Hörspiele wie Auckland und Nachmittag in Ostende als Ausläufer platonischer Dialoge versteht, als sprachliche Hörbilder, die jedoch die sokratische Denkentwicklung, ihr genau definiertes Erkenntnisinteresse widerrufen, wenn man den minimalistischen Sprachton von Aichingers Szenen zuende hört, dann klingen sie wie eine in diverse Intermezzi aufgelöste Melodie unserer Spätzeit. In ihr wiederholen sich sprachklangliche Konstellationen, etwa der Art, daß eine Stimme, Beatrice im Nachmittag in Ostende, „immer neue Sätze“ beginnt; zu vollständigen Sätzen findet sie nicht mehr. Was diese Dialoge als Erkenntnis noch zutage fördern, ist die Einsicht in die Grenzen des Gesprächs, der Verständigung und einer wirklichen Ich-Du-Beziehung.
„Wieviel Fragen bleiben mir noch?“ möchte ein Zwerg in Aichingers Hörszene Hohe Warte wissen. Indem er fragt, erkennt er jedoch, daß seine Fragen, wie viele es auch immer sein mögen, nur dazu da sein werden, damit sie ausgesprochen werden können. Wirkliche Antworten werden ihm versagt. „Wer färbt den Himmel ein?“ – eine Frage als Prisma, zur Aufspaltung des Azurs gedacht.

III
Ob Böhmen am Meer liegt, Dover an der Donau oder Ostende neben Triest, ist eine Frage spekulativer Geographie und surrealer Landkarten. Daß man im Werk Ilse Aichingers immer wieder auf Landkarten stößt, hängt wohl damit zusammen, daß ihre Dichtungen um Orientierungssuche bemüht sind, um potentiell hoffnungsvolle Dimensionen, die sich dann auf den einen Sprachpunkt, die eine Frage, das eine Anliegen minimalisieren lassen. Die größere Hoffnung zum Beispiel beginnt mit einer Landkartenbeschreibung; auch die Parabel „Ein Freiheitsheld“ geht von einer ausgebreiteten Landkarte aus; oft hat es der Leser mit schwer auslotbaren Entfernungen zu tun, Entfernungen, aus denen „die Welt entsteht“, wie das Gedicht „Spaziergang“ sagt. Dimensionen, Perspektiven, oft Häfen, Meeresbilder, Matrosen, Küstenorte. Möwen, Entgrenzungssymbole in einer Sprache, die sich komprimiert, sorgsam mit dem Wortbestand umgeht, kritisch Wort für Wort wägt – wie verträgt sich beides in diesem dichterischen Werk, das groteske Situationskomik (ein Stück Himmelsblau wird gegen das Gebot eines Kaninchens ersteigert!) ebenso kennt wie existentielle Aussagen („Schreiben ist sterben lernen“)? Dergleichen ist in Aichingers Werk im Sinne einer minimalistischen Kontrapunktik aufeinander bezogen. In der Sprachszene „Möwen“ etwa ist sie geradezu idealtypisch gelungen. Zum Inhalt: Ein Vater, halb Steinerner Gast, halb Erlkönig, eine quasi mythische Figur, besucht seit Jahrzehnten immer zu Karfreitag seine inzwischen selbst steinalt gewordene Tochter und beschenkt sie mit einer „komischen Tierstimmenplatte“. Bislang hatte ihr eine Platte mit Möwengekreische gefehlt. Am hundertsten Geburtstag der Tochter, der auf einen Karfreitag fällt, bringt ihr Vater die besagte Platte. Sie gibt zunächst nichts als den Ausruf preis: „Ihr sollt ihn kreuzigen“, dann aber „Gekicher, das zugleich wie der Wind über der See klingt“. Die Tochter hat ihr halbes Leben auf diesen Möwenschrei-Augenblick gewartet und es sich deswegen auch erspart, selbst an die See zu fahren. Als jedoch die Grammophonnadel die Möwenschreie erreicht, stirbt sie. Die simulierte Natur führt zu ihrem authentischen Tod.
Auf diese Weise werden Begrenzung und Entgrenzung, Parodie und Ernst zu einem Intermezzo des Endes; Meeresvision und ihre technische Reproduzierbarkeit, mythischer Anklang und profane Lebenswelt sehen sich in äußerster sprachlicher Konzentriertheit zueinander in Beziehung gesetzt.
Aus der Abfolge des zeitlich Geschehenen wird in der Sprachszene ein Nebeneinander, kein erfüllter Augenblick, sondern ein gedehntes Jetzt, keine Plötzlichkeitserfahrung, sondern das Ergebnis beharrlichen Wartens. Mit Erinnerungen dieser Art eröffnete Ilse Aichinger auch ihren Band Kleist, Moos, Fasane, mit Szenen aus der großmütterlichen Küche, mit Eindrücken vom einstigen Nachmittagsunterricht, mit Bildern vom „Beerensuchen auf dem Lande“. Erinnerungen, die – wie Aichinger schreibt, sich nicht zu Ende begreifen. Den Modus dieses Erinnerns hat sie als ein seinerseits ästhetisches Geschehen beschrieben:

Wie man sich des Lichts der Träume auch am Tage noch erinnert, erinnere ich mich ihres Lichtes heute, wenn es mir als Streifen Sonne auf einem fremden Meer erscheint.

Träumendes Erinnern als einen Leuchtstreifen im Fremden zu verstehen bedeutet, die immer angefochtene Hoffnung und das immer anfechtbare Wissen in einen Bereich zu überführen, der dem gültigen Sprachbild, der beweglich bleibenden Metapher und dem dem Schweigen entlockten Zeichen letzte Rechte einräumt.

IV
Wie ortet man die Sprachkunstwerke Ilse Aichingers, ihre Wortprismen? Mit Zuordnungen scheint wenig getan. Soll man sagen: zwischen Trakt und Nelly Sachs, Kafka und Beckett, Gruppe 47 und Minimalismus? Eingangs war von der „phrygischen Wörtlichkeit“ ihrer Sprache die Rede gewesen, später vom Kratyloshaften ihres Fragens nach dem Wesen der Sprache und der Dinge, die sie deckt oder durch ihr Bezeichnen entstellt. Anarchisches spricht sich in diesem Dichten aus, ein Ungenügen an dem, was wir idyllisierend „Natur“ nennen, ein Mißbehagen an jeglichem Pathos, sofern es als rhetorischer Ausdruck und nicht als Wort für „Leiden“ gemeint ist. Aichingers Werk, zeitverankert, nein: zeitverwundet, wie es sich darstellt, vom Erinnerungsschmerz ebenso gezeichnet wie vom Bilder spendenden Traumerinnern, dieses Werk verfügt auch über eine entzeitlichende Qualität, genauer: es kommen in ihm Gedanken und Fragen zur Sprache, die sich zu Inseln im Strom der Zeit verdichten. Mit einer solchen Sprachinsel namens „Schnee“ hat Aichinger ihren bislang letzten Band enden lassen.
Man denke dabei nicht an zauberberghafte weiße Traumvisionen, nicht an Robert Walsers minutiöse Beschreibungen unaufhörlichen Schneefalls; Aichingers Text bezieht sich auf den Schnee als ein Wort:

Ob er ausbleibt, zögernd zu fallen beginnt oder in Wirbeln herunterjagt, er kann sich nicht wehren. Er ist ein Wort.

Und weiter:

Schnee! rufen die Kinder und manchmal rufen sie auch: Der Schnee! Aber das ist ungenau. Das führt zu mein Schnee, dein Schnee, unser Schnee, zu diesen vielen besitzanzeigenden Ungenauigkeiten, die einem die Lust nehmen, den Mund aufzumachen. Es führt auch zu kein Schnee. Dann kommt wieder der lange Sommer. Ein Glück, daß wir Heu haben, denn Heu ist auch ein Wort.

Dem folgt die Erörterung von Vorsilben: Beschneien oder verschneien, befallen oder verfallen. Aichinger bevorzugt das Ver, weil es die zweite Silbe von Dover ist, wichtiger noch: weil es dem Verschwinden nahesteht.
Sprachkritik stellt sich in diesem Text als Infragestellung alphabetischer Reihenfolgen vor. Warum soll beispielweise Reden vor Regen stehen? Und was ist das Sprach- und Sinnverhältnis zwischen Regen und Schnee? Aichingers Antwort:

Wenn es zur Zeit der Sintflut geschneit und nicht geregnet hätte, hätte Noah seine selbstsüchtige Arche nichts geholfen.

Logik wird so zur Frage der Analogie – aufgestellt gegen jede Denkkonvention, insular bleibend, den Zeitstrom zu unverhofften Strudeln zwingend, das alles als Widerstand gegen das tagtägliche Gerede, das einem im Munde sauer werden sollte. Daß Wörter nicht schamrot werden können, spricht gegen sie.
Von neuer Unbefangenheit ist viel die feuilletonistische Rede in letzter Zeit, von Aufbrüchen und Neuanfängen. Das Ethisch-Moralische und Ästhetische werden wieder einmal als Gegensätze vorgestellt. Gleichzeitig rüstet man auf in Sachen nationales Bewußtsein, spricht von neuer Stärke und altem Stolz und diskreditiert eine von Gewissen und Selbstkritik getragene Gesinnung als Schwäche. In einem solchen von gewissen Meinungsmachern erzeugten Klima ist es unerläßlicher denn je, sich auf Ilse Aichingers sprachliche Nuancierungen und die Art ihres Erinnerns einzulassen und sich ihre auf Skepsis und Selbstprüfung gegründete Hoffnung zu eigen zu machen.
Ihre Sprache bietet den Wörtern des Zeitgeistes Paroli, indem sie sich den Leidenden leiht, den mißachteten Dingen und dem wunden Erinnern.
Ilse Aichingers Sprachprismen werfen bunte Schatten auf die Bedeutungsfelder uns allzu vertrauter Wörter. Und was signalisieren diese Farbschatten? Daß es Zeit ist, diese Wortfelder anders zu bestellen, daß sinnvolles Sprechen mühsamer und wissendes Schweigen schmerzlicher werden wird; Anders gesagt: Bei der Spracharbeit gibt es nur Anfänge, bedeutungs- und erinnerungsbelastete Anfänge, aber Anfänge. Ubi verba, ibi initia. Wo Worte sind, können Anfänge nicht weit sein.
Das ist das vielfach abgestufte Blau dieser Sprachprismen und eine Hoffnung, deren ,Größe‘ es Anfang um Anfang neu zu ermitteln, neu umzusetzen gilt.

Rüdiger Görner, neue deutsche literatur, Heft 512, März/April 1997

Anmerkung zu Ilse Aichinger

diese Richtung,
aber keine andere

aus Ilse Aichinger „Heu“

Ilse Aichingers Lächeln hat mich überzeugt. Ich kenne sie von Photos aus den Bildbiographien von Ingeborg Bachmann beispielsweise oder von Paul Celan, auch aus den Dokumentationsbänden der Gruppe 47. Jugendphotos – eine junge Frau, der man den Hof machen möchte, wäre man nicht lieber schüchtern klugen Frauen gegenüber. Fast schnippisch schaut sie drein. Dem Leben zugetan. Was versteckt dieser sympathische Anblick?
Ich erlebte sie 1996 im Stadttheater von Erlangen als eine ältere Frau, die mich bezauberte durch ihre konsequente Liebenswürdigkeit. Sie verwandelte das Gewicht eines schweren Lebens in die Leichtigkeit dessen, was wir gerne Weisheit nennen würden, wäre der Weg dahin nicht so schwer – sie lächelte. Ich saß im ersten Rang in der letzten Reihe und war entzückt und erschrocken zugleich. Wußte ich doch einiges aus ihrem Leben und von ihrer Haltung dazu.
In der Vorbemerkung zu ihrem Hörspiel „Gare maritime“ schreibt sie:

Diese Welt und diese Gesellschaft, in der die Wertmaßstäbe der Effektivität, der ungeduldigen Nützlichkeit ausschließlich zu werden drohen, könnte die Chance der Erneuerung bei denen haben, die sie unnütz nennt.

Ilse Aichinger weiß: auch dieses Unnütze versteht zu leben. Wir sehen es, nicht ohne Scham, an manchen U-Bahnstationen, vor Bahnhöfen, am Straßenrand, wie es laut sein kann und manchmal lächelt, als forderte es uns auf dazuzugehören. Aber gehören wir denn nicht dazu? Mitunter meinen wir, es sei frei, freier als wir, weil es in der Langsamkeit lebt, zuweilen auch in der Freude. „Die Langsamkeit ist die Freude“, schreibt Ilse Aichinger auch in Bezug auf das Unnütze, das sie zu ihrem Thema machte, ohne es zu stilisieren, sondern klar und deutlich – ein Hoffnungsmoment voller Glauben an die Kraft derer, die beunruhigt sind. „Alles, woran man glaubt, beginnt zu existieren“, behauptet sie trotzig. So ist es eben immer wieder diese beinahe irrsinnige Hoffnung, die sich in der Gefahr einstellt, ohne sich einzulösen, deren Möglichkeit aber, sie immer wieder neu zu formulieren, mit jedem Tag wächst. „Formulierung ist Einverständnis“, sagt Ilse Aichinger, und ihr Werk gibt Zeugnis davon, zeigt wie sie immer wieder das Einverständnis mit dieser Hoffnung beschreibt. „Hoffnung in Erwartung der Furcht.“ Diese Hoffnung ist ihr Begleiter, auch wenn sie versteckt auftritt und manchmal so gar verloren scheint zwischen all den Beobachtungen und Erinnerungen, aber nur um sie im anonymen Gegenüber entstehen zu lassen als Provokation. „Die Gewißheit, daß es keinen Trost gibt, aber den Jubel“, heißt es in einem Gedicht, und „Wir müssen uns fürchten, von uns ist die Freude verlangt“, schreibt sie in ihren Aufzeichnungen. Dieser schwierige Auftrag, in Dunkelhaft ein Licht zu bezeichnen, ja selber eines zu sein gerade durch die eigene Verletzbarkeit. Ein ernstes Spiel, möchte man meinen, denn „Spielen sollst du vor meinem Angesicht. Aber was mit uns gespielt wird, verwandelt sich nur unter Schmerzen in das, was wir spielen.“ Sie trifft es genau, derart genau, daß wir, um Jahrzehnte jünger, deutlich sehen, daß es da eine Spur gibt, ihre Spur, die mit dieser immer wieder im Stillen zu erringenden Freude zu tun hat, die sich in dunklen Tönen durch ihr Werk zieht, und die das angeblich Ausweglose nicht ausschließt, sondern in das Zentrum einer zu ahnenden Möglichkeit stellt. Eine Spur also, die es zu verfolgen und weiterzuführen gilt …

Johannes Jansen, aus: Text+Kritik, Heft 175 – Ilse Aichinger, Juli 2007

„Anarchie muß wieder werden, muß viel weiter gehen“

Die Brücken sind gebrochen. Aber es gibt genug Möglichkeiten, über das Eis zu kommen. Das Glück finden, bevor der Tod da ist. Glück? Magisches Wort. Erschrecken zeichnet das Gesicht der Ilse Aichinger. Die schnellen Bedeutungen stauen sich im Mund, während das Herz noch nach dem Sinn des Wortes tastet. „Glück ist da, wenn man es überhaupt nicht merkt“, sagt sie, stockt und setzt neu an: „Wenn man es merkt, ist es schon so nah am Abschied.“
Das ungenaue Wissen und die wissende Ahnung. Glücksverlangen. Ein Traum oder kein Traum, man kann es nennen, wie man will, aber es bleibt da. Man wird mit der Empfindung niemals fertig werden. Philemon und Baucis, Liebesgestalten aus der Mythologie, zwei, die im Tode zu einem Baum zusammenwuchsen. Vorstellung von der Bewahrung des Glücks, von der absoluten Verbundenheit.
Da ist die Einsamkeit der Schriftstellerin Ilse Aichinger, Frau im 58. Jahr, seit sieben Jahren durch den Tod getrennt von ihrem Mann Günter Eich, dem Lyriker. Witwe nach zwei Jahrzehnten Ehe, in der „alle Hoffnung“, wie sie sagt, „in der anderen Hoffnung zusammengefaßt“ war. Zwei Menschen, die im Schreiben die Liebe bezeugten, in der sie lebten.
Es ist noch alles in Großgmain so da, wie es Günter Eich verlassen hat: das große gelbe Haus mit den Gittern an den Fenstern, die Wildnis eines gewesenen Parks, das Zimmer im Parterre mit seinem Schreibtisch, seinem Bett, seinem Fontane und seinem Seume, den geliebten Dichtern der Jugend und des Alters, und daneben die Küche mit der Sitzecke, in der sie geschrieben hat, dann nach dem Tode des Mannes verstummte und nun wieder schreibt.
In ihrem 1978 erschienenen Gedichtband Verschenkter Rat heißt es

Zum ersten
mußt du glauben,
daß es Tag wird,
wenn die Sonne steigt.
Wenn du es aber nicht glaubst,
sage ja.
Zum zweiten
mußt du glauben
und mit allen deinen Kräften,
daß es Nacht wird,
wenn der Mond aufgeht.
Wenn du es aber nicht glaubst,
sage ja
oder nicke willfährig mit dem Kopf,
das nehmen sie auch.

Von der Küchenbank aus sieht sie den Prachtfinken in seinem Käfig vor dem Fenster, wie er sich auf die Flügel gelegt hat, damit die einfallenden Sonnenstrahlen den Flaum durchdringen. Der Prachtfink heißt nur so und ist ein Weibchen. Zerzupft ist es. Die Federn um die Kehle herum hat ihm das Männchen ausgerupft. „Liebevoll“, wie Ilse Aichinger sagt. Das Männchen ist auch schon tot. Seit zwei Jahren.
Das Radio läuft mit dem Musikprogramm von Österreich drei. Das brauchen sie beide, der Prachtfink und die Ilse Aichinger. Der Vogel piepst, und die Schriftstellerin schreibt. Die Klangkulisse gehört dazu. „Das Leben ist eine heilsame Grausamkeit“, heißt es in einem der Texte der Schriftstellerin.
Es gab eine Zeit, die war einmal. Menschen lebten, die warten konnten, bis sich das Gefühl, bis sich das Wort erschließt. Die erlösenden Gefühle und die erlösenden Worte – sie liegen nicht da frei zum Konsum. Damals begegneten sich Ilse Aichinger und Günter Eich. Die 30jährige Österreicherin jüdischer Herkunft und der in Lebus geborene 44jährige Günter Eich, gewesener Soldat der „Großdeutschen Wehrmacht“. Es war die fünfte Tagung der Gruppe 47, jene lockere Verbindung von Schriftstellern, die der deutschen Literatur neue freiheitliche Impulse gaben.
(Die Tagung fand 1951 im pfälzischen Bad Dürkheim statt. „Da hab’ ich den Günter noch gar nicht so richtig wahrgenommen“, erinnert sich Ilse Aichinger.

Erst, als wir gegen Schluß in einem VW einen Ausflug nach Speyer machten, fiel er mir auf. Er saß am Steuer, und alle redeten über Raben, die in einem Hörspiel von ihm vorkommen sollten. Wie wohl ich mich in seiner Gegenwart gefühlt habe, habe ich erst viel später gemerkt. Von vorn hab’ ich ihn auf der Fahrt nie gesehen. Von der Seite. Das war’s.

Bei der nächsten Tagung, ein Jahr später in Niendorf an der Ostsee, war Ilse Aichinger wieder dabei und wunderte sich:

Mein Gott, dachte ich, was ist mit mir los? Die Ostsee ist doch schön, die Freunde sind nett. Und doch ist es so öd. Ich wußte nicht warum. Es wurde gelesen. Ich schaute zum Fenster des Lokals hinaus, und plötzlich wußte ich, daß es nicht mehr öd sein würde. Da ging ein Mann vorbei und kam herein. Ich sah ihn im Profil. Es war Günter, der Mann mit den Raben. So fing alles an zwischen uns.

Ilse Aichinger mit Wohnsitz in Wien und Günter Eich mit Wohnsitz in Geisenhausen bei Landshut. „In Niendorf haben wir uns gesagt, jetzt muß jeder noch etwas schreiben, bevor wir uns wiedertreffen“, erinnert sich Ilse Aichinger. Ans Heiraten hat sie damals nicht gedacht:

Das war mir furchtbar fremd. So eine Ehe, die die ganze Zukunft sein soll.

In jener Zeit entstand Günter Eichs berühmtes Hörspiel Die Mädchen aus Viterbo, mit dem er seinen Ruf als Meister einer neuen literarischen Form begründete.
Ilse Aichinger in Wien schrieb nichts, löste das Versprechen von Niendorf erst nach der Hochzeit im Jahre 1953 ein:

Da hat ihm immer ein Knopf an dem einen Hemd gefehlt und dann zwei. Ich habe sie ihm nicht angenäht, aber ich hab’ dann mein Hörspiel Knöpfe geschrieben.

Das Jahr bis zur Hochzeit war ein Jahr des Wartens. Liebe, die wachsen darf. Die Erfindung des Telefons war längst gemacht. Aber wer telefonierte damals, wer hatte das Geld dafür? Wer konnte es sich leisten, hin- und herzufahren? Das natürliche Warten hatte noch eine Chance. Damals waren der Ungeduld des Herzens noch Grenzen gesetzt. Die Hektik nicht das Normale. Erfüllung wurde; wurde nicht hergestellt.
„Man hat sich mit Briefen eine solche Freude machen können“, sagt Ilse Aichinger, „daß man sich hingesetzt hat, nachgedacht hat und dann geschrieben hat. Wörter, die noch Geschenke waren. Heute spricht die Sprache nicht mehr, sie ist sprachlos geworden.“
Die Worte haben ihren Wert verloren. Jeder erreicht jeden und erreicht niemanden mehr. Der faule Zauber, Verbindungen mühelos herzustellen. Der Trugschluß, die Schwierigkeit des Menschen, zu sich selbst zu finden, überspielen zu können. Kaum jemand noch, der den Schmerz in sich austrägt. Gegen den Schmerz jedes Mittel – die Abkürzungen durch die Tablette, das Auto, das Telefon. Man greift dazu. „Das ist so gefährlich“, sagt Ilse Aichinger, „es gerinnt alles zur Depression, also in die Erstarrung der Gefühle.“
„Lebensqualität“, so fügt sie hinzu, „ist ein Wort, das aufgekommen ist, seit dieses Bewußtsein nicht mehr existiert.“ In ihrem Erzählungsband Eliza Eliza heißt es:

Ihr Lieben unter den Firsten, es war alles umsonst… Hat es viel Sinn gehabt, daß ihr die Balken schräg eingesetzt habt und die Lampen als Kugeln an die Hausmauer? So viele Fragen und alle gesprochen, so viele Häuser und alle gebaut… Die Vögel angelockt und den Himmel immer wieder gemalt, bis er verschwand.

Ilse Aichinger, geboren am 1. November 1921 in der österreichischen Hauptstadt, Kind mit „falschen“ Großeltern, nämlich jüdischen, ihr Vater „Arier“, sie „Mischling“, junge Frau, die im Dritten Reich überlebte und die eigene Mutter vor der Deportation in die Gaskammern der Nazis rettete, die nach dem Zweiten Weltkrieg über jene Zeit ihren ersten Roman mit dem Titel Die größere Hoffnung schrieb, das versöhnlichste Buch, das es nach 1945 in deutscher Sprache gibt.
„Ihre Schuld war, geboren zu sein“, heißt es in dem 1948 erschienenen Roman, „ihre Angst war, getötet, und ihre Hoffnung, geliebt zu werden: Die Hoffnung, Könige zu sein. Um dieser Hoffnung willen vielleicht wird man verfolgt… Peitscht uns, tötet uns, trampelt uns nieder, einholen könnt ihr uns erst dort, wo ihr lieben und geliebt werden wollt. Wo ihr den Fliehenden auf der Spur bleibt, um Zuflucht bei ihnen zu finden. Werft eure Waffen weg, und ihr habt sie erreicht.“
Roman einer verlorenen Wirklichkeit, die nicht mehr wissen will von einer Welt, in der das Spiel des Königs David auf der Leier, das Dudelsackstück des lieben Augustin und das Matrosenlied des Seefahrers Kolumbus zusammengehören.
Ilse Aichinger berichtet von Kindern und vom Kindsein, in diesem ersten Roman und später in ihren Erzählungen. „Die Erwachsenen bei uns reden in fremden Sprachen“, heißt es bei ihr. Kinder wissen den Sinn des Lebens:

Was wir tragen, trägt uns.

Wenn die Kinder gefragt werden, warum sie im Dunkeln spielen, antworten sie:

Damit man besser sieht.

Alles Zerrissene des Menschen findet im Spiel zusammen. Das Spiel – zweckfreies Tun – ist die eigentliche Wirklichkeit. Kindlich heißt bei ihr hellsichtig und traumhaft-visionär. Der Junge, der den ausbrechenden Wahnsinn des Hauslehrers für Spiel hält; das kleine Mädchen, das sich auf den Eisenbahnschienen in den Tod tanzt; das Kind am Fenster, das über die Gasse hinweg spielend den Dialog mit dem Narren am Fenster gegenüber aufnimmt – sie alle, so Ilse Aichinger, besitzen mehr Wirklichkeit als die Erwachsenen.
Günter Eich, ihr Mann, hat einmal geschrieben:

Am meisten hasse ich Vater Staat und Mutter Natur.

Sie unterstreicht diesen Satz und fügt erläuternd hinzu:

Das Gemeinste an der Entwicklung des Menschen ist der Verlust der Kindheit. Dagegen ist Altern gar nichts. Man verliert nicht mehr so viel.

Ilse Aichingers Kindheit, das heißt Leben mit der Großmutter, bei der sie und ihre heute in England wohnende Zwillingsschwester ein zweites Zuhause hatten. Die Mutter war Ärztin, der Vater Lehrer. Die Eltern wurden sehr früh geschieden. Daß die Großeltern jüdischer Religion waren, wußte Ilse Aichinger. Sie selbst wuchs im katholischen Glauben auf.
Die Großmutter, die Stille um sich verbreitete, die aus der Stille heraus die Märchen zum Leben erweckte, die vorlas und mit ihr spielte, von der sie mehr lernte als nur hören und sehen: nämlich ein Horchen und Erkennen, jener Zusammenhang von innen und außen, den sie später als Schriftstellerin in die provokativen Worte faßt:

Weg von diesen Irren, die Schwere zum Gesetz erheben, die Freiheit ist dort, wo dein Stern steht.

Geliebte Großmutter. An einem Tag im Jahre 1942 wird sie von der Gestapo geholt, wird „eine Straße mit Juden ausgehoben“, so die Sprache von damals. Ilse Aichinger, die 21jährige Schreibkraft in einer Apotheke, wo sie Zuflucht, Arbeit und Brot gefunden hat, irrt durch die Straßen. „Jemand ist hinter mir – nein, niemand ist hinter mir – niemand – die Leere der Welt“, heißt es in dem Roman Die größere Hoffnung.

Holt das Geheimnis ein! Lauft blindlings, lauft mit ausgestreckten Armen, lauft wie Kinder…

Noch einmal sieht Ilse Aichinger ihre Großmutter. Auf einem Lastwagen mit anderen Juden. Neben der Großmutter eine Tante Ilse Aichingers. Die 21jährige ruft, schreit, wird von ihrer Tante bemerkt. Die Tante redet auf die Großmutter ein. Die Großmutter sieht nicht mehr zurück. Ilse Aichinger, Tochter mit „arischem Vater“, in jener Sekunde der absoluten Verlassenheit niemandem zugehörig. Mischling. Opfer und doch nicht Opfer.
Leben in der verfluchten Gnade der Henker. „Alle Leute müssen Sterne tragen“, sagt eines der jüdischen Mädchen von sich und den anderen in Ilse Aichingers Roman. „Ich nicht“, ruft erbittert eines unter ihnen, „ich darf ihn nicht tragen! Zwei falsche Großeltern zuwenig. Und sie sagen, ich gehöre nicht dazu.“ Der Roman endet mit dem Tod des Mädchens, das von einer explodierenden Granate zerrissen wird.

Über den umkämpften Brücken stand der Morgenstern.

Die Wirklichkeit ist ein offener Horizont, der Himmel „tödlich offen“.
Ilse Aichinger und das Schuldgefühl, überlebt zu haben. „Einfach, daß man übriggeblieben ist, daß man es geschafft hat, daß man zäh genug war“, erklärte sie. Ihre Todesverbundenheit und zugleich die alte, immer wieder aufbrechende Todesangst um den anderen. Um Menschen, die sie liebt. Die Mutter, die bei ihr in Großgmain wohnt, ist jetzt 88 Jahre alt. In ihr haben sich die Schreckenserlebnisse der Verfolgungszeit verfestigt.
Je älter die Mutter wird, desto deutlicher wird es. Auch das Eingeschlossensein. So wie sie im Krieg Wien nicht verlassen durfte. Der Verlust der Freunde, umgeben nur noch von der Tochter und den Enkeln heute. Die zunehmende Begrenzung auf das Haus macht alle Ängste wieder wach. Die Ängste der Mutter, es könne jemand einbrechen. „Es ist so, als ob sich die Nazizeit wiederholen würde“, sagt die Schriftstellerin, „wo die Mutter auch immer bedroht war, wo es auch davon abhing, daß ich gerade noch da war.“
Ilse Aichinger war siebzehn, als Österreich 1938 an Deutschland angeschlossen wurde. Als „Mischling“ durfte sie damals das Abitur noch machen. Die Universität freilich blieb ihr verschlossen. Die Mutter mußte damals in einer Fabrik arbeiten. Aus dem Staatsdienst als Schulärztin war sie entlassen. Die Familie wollte nach England emigrieren. Doch nur die Zwillingsschwester der Schriftstellerin kam noch hinüber und lebt noch heute dort: als Malerin. Bei den Bemühungen um ein Einreisevisum für die Mutter gab es damals Schwierigkeiten. Ärzte wollte man in England nicht haben. Man fürchtete die Konkurrenz. So blieb Ilse Aichinger bei der Mutter in Wien.
Ohne die Tochter wäre die Mutter mit Sicherheit deportiert worden. Mit ihr war sie geschützt durch eine Vorschrift, wonach jüdische Frauen, die Mischlingskinder hatten, vom Abtransport ins Konzentrationslager ausgenommen waren. Das galt, solange diese Kinder nicht volljährig waren. Von 1942 an – da war Ilse Aichinger 21 Jahre alt – war die absolute Gefahr für die Mutter da: Mit Tricks, der verbotenen Hilfe von „Ariern“ und Glück brachte die Tochter ihre Mutter ins Jahr 1945. Die Mutter, die der Ilse Aichinger 1921 das Leben geschenkt hatte. Die Tochter, die der Mutter das Leben schenkte.
„Die große Angst“, so erinnert sich die Schriftstellerin, „sie war trotz alledem sekundär. Man hat auf  Abruf gelebt. Aber das Stück bis zum Abruf war ungeheuer intensiv. Nie mehr habe ich so viel Freiheit geschöpft wie damals aus dem Zwang des Verfolgtseins. Man hatte nicht diese gehetzten Gefühle, die die Menschen heute haben. Nicht diese Eile im Herzen. Man war viel ruhiger, so grotesk das heute klingt. Jede Mahlzeit war eine Freude. Ein Zusammensein auch wenn es noch so schäbig war. Man hatte Pfefferminztee gekocht. Es war alles ein Fest.
Der Gedanke, nicht zu überleben, „hat mich nie geschreckt“, fügt sie hinzu. „Man stirbt leichter, wenn man jung ist. Man kann alles besser, wenn man jung ist. Die große Angst wurde bewältigt durch die Zuversicht, daß Hitler verschwinden wird. Groß war die Gefahr nur dann, wenn sich jemand der Angst preisgab oder von ihr überwältigt wurde. Das war die Schwäche, die aus den vorbestimmten Opfern erst wirklich Opfer macht. Sicher, das Ende konnte auch kommen, wenn jemand stark war.“ Ilse Aichinger spricht von der „irrationalen Hoffnung“, aus der eine andere Freiheit wuchs.
Die Freiheit, daß das „Heilige Land“ im eigenen Herzen zu finden ist.

Übermorgen wird Morgen und Morgen wird heute. Es gibt keine Gewesenen: Es gibt solche, die sind, und solche, die nicht sind, Gewordene und Ungewordene – das Spiel von Himmel und Hölle…

Diejenigen, die ihr Leben nicht durch ein System von Daten gegen das Unerwartete absichern, die nicht „beweisen wollen“, „daß das Heute ist“, verwirklichen das Heute.
Es gab die schlimmen Zeichen. Im Zimmer der Mutter in Großgmain liegt noch immer die Postkarte, die damals geschrieben wurde von einer Frau mit einem kleinen Mädchen:

Liebe Frau Doktor, Luci und ich, wir werden jetzt auf eine größere Reise gehen, um uns ein bißchen zu erholen. Alles Gute, geben Sie acht auf sich.

Die Schriftstellerin sagt:

Wir wußten ja, was die größere Reise war. Der Weg ins KZ.

Da ist auch die Erinnerung an eine 16jährige Freundin, die deportiert wurde und der es noch gelang, aus Riga einen Zettel an Ilse Aichinger zu schicken, auf dem standen die Worte:

Ich bin zwar bis hier hin gekommen. Aber von hier kommt keiner von uns zurück.

Doch es gab auch die guten Zeichen. Ein Jesuitenpater, der sich für die Juden einsetzte, mit ihnen zusammentraf, ihnen gütige Worte gab, die eine Kraft waren, und von dem sich Ilse Aichinger und Günter Eich 1953 in Salzburg trauen ließen.
Da war auch das Beispiel der Geschwister Scholl, die in München Flugblätter gegen Hitler verteilten, gefaßt und hingerichtet wurden. „Daß jemand so mutig war, der nicht jüdisch war, der es gar nicht nötig gehabt hätte, das hat uns Mut gemacht“, erinnert sich Ilse Aichinger.

Das hätte uns auch Mut zum Sterben gegeben. Deswegen werde ich auch so wütend, wenn manchmal heute zu hören ist, daß die Handlungsweise der Geschwister Scholl unvernünftig gewesen sei, weil zwecklos. Was heißt denn unvernünftig? Das war das einzig Mögliche. Nur konnte man es von niemandem verlangen, weil man gar nicht weiß, wie weit man selbst gegangen wäre. Aber die Nachricht von der Tat der Geschwister Scholl – sie ging ja wie ein Lauffeuer auch durch Wien – war ganz sicher für viele Juden im letzten Augenblick eine Hilfe, einfach deshalb, weil die Geschwister Scholl gehandelt haben.

Nach jahrelanger Verfolgung dann die Befreiung Wiens durch die Russen. „Es war ganz merkwürdig“, sagt sie.

Der Druck war weg. Aber was kam, war eine gewisse Trauer. Man war plötzlich wieder besorgter um das eigene Leben. Das hat einen an einem selbst enttäuscht.

Enttäuscht hat sie auch, daß die Verfolgung nun andersrum gegangen ist. Sie sah, wie ein SA-Führer in voller Uniform abgeführt wurde, wie er Spießruten laufen mußte:

Das war mir so billig. Ich hab’ mir gedacht, wenn sie jetzt wieder mit so etwas anfangen, wenn es nun wieder andere Verfemte gibt, dann beginnt ja alles von neuem.

Die gravierendste Enttäuschung aber war 1945 für sie das Eingeständnis, daß die Großmutter nicht mehr zurückzuholen war. Dieses Ende einer irrationalen Hoffnung: Wenn der Krieg zu Ende ist, dann fahren wir nach Minsk und holen unsere Großmutter.
Ilse Aichinger begann in Wien zu studieren, fünf Semester Medizin. Dann erschien ihr erster Roman Die größere Hoffnung im Verlag Bermann Fischer. Und sie hat sich gesagt:

Schreiben war für mich notwendiger.

Im Verlag Bermann Fischer nahm sie eine Stelle als Lektorin an. Von Inge Scholl, einer Schwester der hingerichteten Freiheitskämpfer, wurde sie nach Ulm geholt und beteiligte sich am Aufbau der Ulmer Hochschule für Gestaltung.
Ein neues Leben, in dem das alte nicht vergessen wurde, sich auch nicht vergessen ließ. Die tote Großmutter blieb lebendig. „Wer die Toten vergißt“, hat Ilse Aichinger geschrieben, „bringt sie noch einmal um. Man muß den Toten auf der Spur bleiben. Ich hab’ die Verbindung zu meiner Großmutter. Sie hat eine gute Art, dazubleiben. Dazubleiben, wie auch Günter.“ Ihr Mann. In einer Ecke in seinem Zimmer liegt ein Stapel, obenauf Zeichnungen von ihrer Tochter Mirjam, die Bühnenbildnerin werden will: Darunter Liebesbriefe von Günter Eich, die er geschrieben hat in der Zeit zwischen der Literaturtagung in Niendorf und der Heirat.
„Ich möchte sie eigentlich nicht mehr lesen“, sagt sie, „weil ich… ich denk mir, er sollte mir neue schreiben.“ Schreibt er ihr neue? Sie antwortet: „Ja, ich glaub’ schon.“
Die Zeit mit Günter Eich – sie war für sie die längste und zugleich die kürzeste. „Man sagt, wie im Flug“, erklärt sie. „Es war wirklich so… so rasch war sie vorbei. Man macht sich ja keine Vorstellung, wenn man beisammen ist, daß man plötzlich… daß es plötzlich nicht mehr sein könnte… da denkt man die ersten Monate nach dem Tod, er kommt wieder… bis man weiß, er ist gestorben… das dauert sehr lange.“
„Bis daß der Tod euch scheidet“ ist etwas, was Ilse Aichinger nicht akzeptiert.

Wie soll einen der Tod scheiden, ausgerechnet der Tod, wenn einen sonst nichts scheidet. Gewiß, schöner wäre es, man könnte gemeinsam gehen.

Sie denkt da an den Tod eines Freundes von Günter Eich:

Dessen Frau ist ihm so rasch nachgestorben. Das hab ich eigentlich bewundert. Sie hat einfach zu trinken begonnen in einem Maß, das eigentlich einem Selbstmord sehr ähnlich war.

Sie fügt hinzu:

Die Männer sind fragiler als die Frauen. Sie sterben schneller, was ich für ihr Glück in einer guten Beziehung halte. Die Möglichkeit zu gehen, wenn es an der Zeit erscheint, das wäre gerade für die Frauen so wichtig.

Da klingt an, was in Ilse Aichinger vorgegangen sein mag, als Günter Eich ging und sie zurückließ mit zwei Kindern und der Mutter. Der Sohn Clemens ist heute 25 Jahre alt, Schauspieler an den Städtischen Bühnen Frankfurt, die Tochter Mirjam, 23jährig, besucht das Mozarteum in Salzburg.
Ilse Aichinger und die Ehe mit Günter Eich. Die vielen Briefe, die sie sich geschrieben haben vor der Hochzeit und dann das Telegramm, das sie ihm von Heidelberg aus schickte, wo sie im Studio des Süddeutschen Rundfunks zu arbeiten begonnen hatte und plötzlich wußte: Der eine Mann in ihrem Leben, er würde immer Günter Eich heißen. Auf das Telegramm hin kam er sofort nach Heidelberg, holte sie zu sich. Ein zärtlicher Mann, der viel gelöst hat in ihr? „Alles“, sagt sie.
„Wir haben uns gegenseitig geschützt“, erinnert sie sich.

Da hat sich jeder um den anderen gekümmert. Er war ein stiller Mann. Er war ein Aufrührer. Er hat Bakunin geliebt. Geduldig war er mit allem Schwachen, ungeduldig mit Gott und der Biologie. Er war unfähig zur Rivalität. Er konnte es nicht ertragen, daß er etwas besser kann als die anderen.

Voller Hingebung in der Ehe, ein Versteckspieler nach draußen. Für die Biographie außerhalb seines literarischen Werkes galt ein Satz aus einem seiner letzten Gedichte:

Nur keine Spuren hinterlassen.

In dieser Zurückhaltung hinterließ Günter Eich ein aufrührerisches Werk. „Um die Kritik der Macht geht es, darum, ihrem Anspruch das Ja zu verweigern“, hat er 1959 bei der Verleihung des Büchner-Preises in Darmstadt gesagt.

Und obwohl Macht schon vor dem Sündenfall eingesetzt war, bestehe ich unbelehrbar darauf, daß sie eine Institution des Bösen ist…

Er dichtete:

Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!
Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen.
Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!
Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet!
Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt.

Ilse Aichinger erzählt:

Er konnte so schön Orangen schälen. Es hat alles besser geklappt, wenn er etwas in die Hand genommen hat. Er war ein sehr praktischer Mensch. Diese merkwürdige Mischung aus ungeheurer Sensibilität und einer großen Zähigkeit. Er hat sich nicht weich machen lassen. Selbst als er wußte, daß er nur noch kurz zu leben hatte.

Mehrere Herzinfarkte, eine kaputte Leber, eine kaputte Niere, zuckerkrank, aber dem Leben abtrotzend, solange er lebte.
Er zechte gern, er trank gern, er aß gern und gut, es las seiner Frau aus Büchern vor, er wanderte gern in den Bergen. Bis er zusammenbrach und in das Krankenhaus von Bad Reichenhall eingeliefert werden mußte. Bad Reichenhall, dem österreichischen Großgmain benachbart. Leben auf der Grenze, an der Grenze. „Sie haben ihn sediert“, berichtet Ilse Aichinger.

Sie haben ihn in seiner Bewußtlosigkeit an Kanülen und Schläuchen gelegt. Ich habe gebeten, bei ihm bleiben zu dürfen. Man hat nein gesagt. Ich habe gesagt, er wird alles herausreißen, wenn er allein in der Nacht aufwacht. Und er hat alles weggerissen. Als ich am nächsten Tag zu ihm kam, waren die Wände mit Blut bespritzt. Man wollte ihn in eine Nervenklinik bringen. Da hab’ ich ihn einfach wieder mit nach Hause genommen. Bevor er aufstand, hat er sich aufs Bett gesetzt. Und wir haben beide eine Zigarette geraucht…

Gestorben ist Günter Eich am 20. Dezember 1972. „Der Pfarrer hatte keine Zeit vor Weihnachten“, erzählt Ilse Aichinger.

Da ist der Bruder unseres türkischen Mädchens, das bei uns arbeitete, eingesprungen. Vor der Einäscherung hat der Türke seine muselmanischen Gebete gesprochen.

Günter Eich wollte, daß die Urne mit der Asche im Grabe des russischen Anarchisten Bakunin in Bern beigesetzt wird. Aber das wurde nicht gestattet. So ist er im Tode ins benachbarte Biel gekommen, seine Asche verstreut in den Weinbergen.
In ihrer Erzählung „Die Puppe“ schreibt Ilse Aichinger:

Wieviel Gelöbnisse brauche ich jetzt noch, wer soll mich wecken, wer mich wieder holen? Denn ich liege nicht im Schlaf, ich bin so warm wie kalt, ich bin den Schmerzen entwendet…

Woanders heißt es:

An Land setzen! Ich möchte wissen, woher sie das Land nehmen. Es ist alles gepflastert…

Und dennoch auch die Erfahrung, Paradies gesehen zu haben:

Ob ich den Rest behalte? Ob ich ihn auf gut Glück an mein Herz nehme?

In ihren Büchern schreibt sie gegen die gewohnte Erfahrung und die Logik einer sich vernünftig ausgebenden Welt an. „Es gehört vitaler Irrsinn dazu“, sagt sie, „auf der Welt zu bleiben und sieh anzupassen.“ In ihren Büchern bleibt die Phantasie Bewahrerin der tabuisierten Urbilder der Freiheit. Revolte gegen die brutale Herrschaft des Leistungsprinzips, Revolte der Sinnlichkeit gegen die stupide Vernünftigkeit. „Anarchie muß wieder werden, muß viel weiter gehen“, sagt sie. „Der Widerstand gegen die Selbstverständlichkeit der Grausamkeit in der Natur, in der Politik und in uns allen.“ Die Nichtigkeit aller Fahrpläne, die Kurzsichtigkeit aller staatlichen Ordnung, die Phantasiefeindlichkeit einer Gesellschaft, die unter dem Gesetz des Profis steht, denn da sind die Wolken, die über alles Menschenwerk ziehen.
Ein kleines Mädchen, das bei seiner Großmutter wohnt, so erzählt Ilse Aichinger in ihrem Roman Die größere Hoffnung, will aus Not einem Käufer den alten, geliebten Schrank mit den Glastüren verkaufen. Sie spricht, um den Käufer zu ermutigen, viel Wunderbares zum Lobe des Schrankes und das Schönste: Seine Türen klirren leise, wenn der Zug vorbeifährt: Ilse Aichinger und das Horchen auf die unerlöste Sprache der Dinge. Die bezeugte Unreife bewahren! „Und hätt ich keine Träume“, heißt das letzte Gedicht in ihrem neuesten Gedichtband, „so wär ich doch kein anderer, / ich wär derselbe ohne Träume, / wer rief mich heim?“

Jürgen Serke, aus Jürgen Serke: Frauen schreiben, Fischer Taschenbuch Verlag, 1982

Ilse Aichinger

Als Ilse Aichinger 1952 bei der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf vorlas und dann auch den Preis der Gruppe erhielt, wurden literarische Vergleiche gezogen. Immer wieder fiel der Name Franz Kafkas, und einer der diskutierenden Literaten erlaubte sich die Fehlleistung, von „Fräulein Kafka“ zu sprechen, um sich natürlich sofort zu verbessern. Die Dame hieß nicht so, aber sie schien wenigstens so zu schreiben.
Verständlicherweise hat sich Ilse Aichinger gegen diese Fixierung zur Wehr gesetzt. Sie ist keine Epigonin, also auch keine Kafka-Epigonin. Das stimmt, eine direkte literarische Traditionslinie führt nicht von Kafka zu Aichinger. Wobei freilich mit Entschiedenheit festgestellt werden muß, daß Aichingers Dichtung sich jenseits der Grenzüberschreitung der Literatur befindet, die mit den berühmten Sätzen vollzogen wurde:

Nackt, dem Froste dieses unglückseligsten Zeitalters ausgesetzt, mit irdischem Wagen, unirdischen Pferden treibe ich mich alten Mann umher. Mein Pelz hängt hinten am Wagen, ich kann ihn aber nicht erreichen, und keiner aus dem beweglichen Gesindel der Patienten hebt den Finger. Betrogen! Betrogen! Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen.

So schrieb Kafka, als er im Winter 1916/17 die Geschichte Ein Landarzt vollendete, und diese Passage muß man im Ohr haben, wenn man sich mit der modernen Dichtung auseinandersetzt, also mit jener Literatur, die vielleicht aus anderen, aus zeitgeschichtlich begründeten Motiven heraus das Klima der Gegenwart des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem „Frost dieses unglückseligsten Zeitalters“ gleichsetzt. Und zu dieser Literatur zählt Ilse Aichinger, die natürlich noch etwas mit Kafka gemein hat: sie vertraut dem Realismus nicht. Das, was uns verwundet, ist nicht durch spiegelbildliche Wiedergabe darzustellen. Sie verläßt sich auf Metaphern, auf eine irreale Wiedergabe der Welt.
Sie hatte, als sie in Niendorf auftrat, bereits einen Roman geschrieben, der 1948 in Amsterdam veröffentlicht worden war, aber erst später in der Bundesrepublik Beachtung fand: Die größere Hoffnung. Hinter diesem Titel könnte man irgendeine Art von billiger Versöhnung, von heiler Welt vermuten. Aber das Buch erzählt vom Unheil dieser Welt. Das „unglückseligste Zeitalter“ läßt sich mit Daten einkreisen, es war die Nazi-Zeit – in der österreichischen Heimat der 1921 geborenen Autorin. Die Judenverfolgung, der Terror der nächtlichen Verhaftungen, die Transporte in die Vernichtungslager, der staatlich befohlene Massenmord – sie machen die Welt aus, in der es ein kleines Mädchen namens Ellen gibt, das seinen Weg geht, der sich von der großen Hoffnung auf irdische Rettung zur größeren Hoffnung, dem Stern jenseits des Untergangs, zubewegt. In dieser Gestalt der halbjüdischen Ellen spiegeln sich autobiographische Momente: Ilse Aichinger war auch eines der „Kinder mit den falschen Großeltern“. Und daß sie einen nur allzu tüchtigen Nazi-Vater hatte, der die jüdische Mutter und sie verriet, machte die Lage auch psychisch schlimmer. Hier ist nichts mehr mit dem in diesem Fall allzu oberflächlich stimmigen Kontrast zwischen den Geschlechtern zu erreichen.
Halten wir uns an das zarte Mädchen Ellen, an ihre Träume und an die Träume der Gefährten. Da gibt es den Gang auf das Konsulat, das durch ein Visum die Flucht ins Ausland ermöglichen soll. Da wird Zuversicht ausgespielt, durch irgendeine Heldentat hofft man sich das Menschen- und Bürgerrecht ertrotzen zu können. Es kommt anders. Der vernichtend isolierende Judenstern ist nur eine Vorstufe zur allnächtlichen Angst, die schließlich Ellen und ihre Großmutter um das tödliche Gift kämpfen läßt. Für die Großmutter wird es die Erlösung.
Nichts wird beschönigt, nichts wird verschwiegen. Und doch findet eine Transsubstantiation statt. Das Unheile wird zum Boten des Heils: Ellens Hoffnung ist der Wind, ihr Tröster der Haifisch, der helfen kann, wie es nur Haifische können. Ellen sagt es dem Konsul:

Der für den Wind und für Haifische bürgt, der bürgt auch für mich.

Das Irreale als Rettung. Judenkinder, die ein Weihnachtsspiel aufführen in der Hoffnung, damit die Gefahr bannen zu können. Es gibt Allegorien, und die leuchten stark. Man muß nur die Verfolgung verwandeln können; auch der Judenstern, das Zeichen der totalen Degradierung, wird zum Davidsstern, zum bethlehemitischen Stern. Ein älteres Mädchen ermahnt die Kinder:

Geht dem Stern nach! Fragt nicht die Erwachsenen, sie täuschen euch, wie Herodes die drei Könige täuschen wollte. Fragt euch selbst, fragt eure Engel.

Diese imaginativ-symbolische Sprache beherrscht das Buch. Selbst Ellens Schicksal macht eine Verwandlung durch. Sie entflieht einem Deportationszug und gerät auf real nicht ganz durchschaubare Weise in die Gesellschaft von Dieben, Plünderern und schließlich von fremden Truppen. Aber ihre Gestalt nähert sich zusehends einer schwebenden Figuration der Hoffnung. Das Geschehen wird hinübergeführt in den Bereich der Bilder. Vielleicht kann eine solche Bannung der Geschichte nur von einem Menschen vorgenommen werden, der auf der Seite der Opfer stand. Ellens Ende ist traurig, ist tragisch. Sie gerät zwischen die Fronten im Kampf um Wien; sie soll einen Brief befördern, eine explodierende Granate tötet sie. Aber der Stern – leuchtet auf als der Morgenstern der größeren Hoffnung.
Nicht immer läßt sich die Zeitgeschichte so direkt aufnehmen. Doch der Raum des Irrealen bleibt erhalten. Hier wird die größere Hoffnung zur Figur – gezeichnet von den Stigmata der Zeit.
Männer und Frauen mußten den Fluch „dieses unglückseligsten Zeitalters“ erdulden. Aber vielleicht waren die Frauen empfindsamer. 1953 wurde das Hörspiel Knöpfe von Ilse Aichinger urgesendet. Die Hauptfigur dieser Dichtung, eine junge Fabrikarbeiterin, entkommt der drohenden Gefahr, die der automatischen Industrie entspricht. Sie wird nicht objektiviert. Das heißt, sie arbeitet zwar an der Herstellung von Knöpfen, aber sie geht nicht so in dieser Arbeit auf, daß sie sich schließlich wie ihre Kolleginnen in Knöpfe verwandelt. Ihr gelingt es, den Hexenbann der industrialisierten Welt zu brechen. Im Gegensatz freilich zum Ende des Romans Die größere Hoffnung mangelt es dem Schluß des Hörspiels Knöpfe am Glanz des Utopischen. Man ist gerade noch davongekommen in dieser wirtschaftswunderlichen Welt. Aber so schön die Sprache auch sein mag, so zauberisch die Wörter klingen – der Verrat ist stärker als die Verkündigung, vielleicht weil die Gefahr nicht so absolut ist.
Spürte Ilse Aichinger das, weil sie eine Frau war? Diese Frage läßt sich nicht leicht beantworten. Eine positive Antwort birgt die Gefahr in sich, daß die männliche Gegenseite die literarische Aufgabe der Frau reduzieren würde auf ein Aufspüren von Gefahren mit dem hinreichend bekannten Appell an die weibliche Intuition. Aber der literarische Rang von Aichingers Werk bedarf derartiger Appelle nicht. Die Linie, die von dem Erstling über den Erzählungsband Der Gefesselte (1953) und den Dialogband Zu keiner Stunde (1957) bis zu dem faszinierenden Buch Eliza Eliza (1965) und schließlich dem wichtigen Gedichtband verschenkter Rat (1978) führt, erweist sich als Entwicklungslinie einer konsequenten künstlerischen Ausdrucksfähigkeit.
Sehen wir von dem Erstling ab, so finden sich in diesem Werk keine Bruchstücke einer persönlichen Konfession, es sei denn auf sehr raffiniert verschlüsselte Weise. Ilse Aichinger liebt die Irrealität, die im ursprünglichen Wortsinn außer-ordentlichen Begebenheiten und Situationen. In ihrer „Spiegelgeschichte“ beginnt das Leben einer jungen Toten sich in der Zeit umzukehren. Alles rollt noch einmal ab, aber vom Ende dem Anfang zu. Das Mädchen verläßt den Sarg, das Krankenhaus; das Unrecht, das sie erlitt, schwindet hinein in die Stunden, bevor es geschehen war. Der Schmerz verliert seine Kraft, denn die Stunde, da sie ihren Freund kennenlernte, ist jetzt im Spiegel der verkehrten Zeit die Stunde des Abschieds. Das Verlernen muß erlernt werden. Die Todesstunde vermählt sich der Geburtsstunde. Und die ganze Geschichte wird in der zweiten Person erzählt:

Deine Geburt, du kommst zur Welt, du lebst… „Es ist zu Ende“, sagen sie hinter dir, „sie ist tot!“ Still! laß sie reden!

Die typische Geschichte einer Frau, deren Leben passiv ablief? Vielleicht! Ilse Aichinger geht es in erster Linie um den Zwischenbereich, um die Magie des Nicht-Faßbaren, das synästhetisch für die Verirrung des Realen steht. Sein und Schein werden auseinandergerissen, in Antithese gebracht und auf scheinbar widersinnige Weise wieder zusammengefügt. Aichingers Helden und Heldinnen empfinden die Plage als Wohltat, sie fallen aus der Zeit heraus; die Häuser, die sie suchen, sind „aufgelassen im vorläufigen Sinn des Wortes. Besetzt im immerwährenden.“
Man könnte diese verkehrte Welt, die ausgetauschte Zeit mit aller Härte zu einer Decouvrierung der Infamie des Daseins emporstilisieren. Ilse Aichinger blieb dieser letzten Konsequenz ihrer Kunst gegenüber zurückhaltend. Sie liebt die Ambivalenz, den schwebenden Zustand, sie meidet die Brutalität der Extremsituation. Sie verliert sich dabei mitunter ins Vage, Unentschiedene. Aber sie findet zu einem neuen künstlerischen Ausdruck. Sie führt den Reichtum der möglichen Assoziationen unseres Wissens und unseres Gefühls in die Literatur ein.
Eliza Eliza (1965) ist ein großes Buch der deutschen Nachkriegsliteratur. Ilse Aichinger hat hier die Kunst des Irrealen in konsequenter Weise weitergeführt und in eine neue Qualität umschlagen lassen. Ich möchte für ihre Art der Darstellung eine Bezeichnung vorschlagen, die auf frühere Surrealisten auch zuträfe, die aber vor allem Ilse Aichinger gerecht werden könnte: Es handelt sich bei ihr um die totale Chiffre. Da ist in der ersten Geschichte des Bandes etwas über einen Vater zu lesen, der sich auf dem Eis hält; er stellt sich vor als Eislandfahrer, als Gefährte Amundsens, als Kenner der unteren Meere. Und wer besucht diesen Mann im Eis? Natürlich ein schneeweißer Müller, der alles an Berufskleidung angezogen hat, was der Winterimpression entspricht.
Es gehört zum Wesen der Chiffre, daß sie mögliche Dechiffrierungen zuläßt. So könnte man denn auch Ilse Aichinger an dieser oder jener Stelle auf ein real Gemeintes festlegen. Aber damit täte man der Dichtung Gewalt an. Die Chiffre dieses Buches teilt jedem Wort eine Vielzahl von Dechiffrierungsmöglichkeiten mit und läßt es gerade dadurch im Bereich des Ungewissen.
Die hohe Sprachensensibilität der Dichterin offenbart sich in dieser Vieldeutigkeit. Ebenso leuchtet eine skurrile vis comica auf. Dies wird besonders deutlich in den märchenähnlichen Gebilden. So in der Nachricht vom Tag, die keineswegs das meint, was man sich auf den ersten Anhieb darunter vorstellt, vielmehr vom Tag, einer menschenähnlichen Person, einer Allegorie berichtet. Der Tag, in Rotterdam geboren, jagt über die ganze Welt auf der Suche nach drei Mädchen. Seine Erlebnisse sind mitunter heiter. In Alaska liest er ein Buch mit dem Titel:

Der gestirnte Himmel über uns, eine Astronomie in kurzen Zügen, für die Jugend bearbeitet und verlängert von einem Herrn Catskill.

So belustigend derartige groteske Einfälle sich auch anhören mögen – Ilse Aichinger verliert sich nicht in sorgenlosen Wortspielen; sie ironisiert zwar die Bauernregeln, aber sie weiß, daß auch die Ironie die Welt nicht erlöst. Auch die Heiterkeit des irrealen Raums reagiert auf die seismographisch erfaßten Erdstöße. Die totale Chiffre stellt keine Flucht vor der Wirklichkeit dar, im Gegenteil, sie hat die Unsicherheit in sich aufgenommen. In der Geschichte von der Dame mit dem Fächer, in dem sich eine Familie eingenistet hat, deren jüngere Tochter Eliza heißt, öffnet sich die Tür zu einer vergangenen Katastrophe. Ist Eliza die verratene Gefährtin früherer Tage? Ist sie das verlassene kindliche Ich der Dame? Ist sie die weibliche Komponente von Ilse Aichinger? Vielleicht, man weiß es nicht so genau. Am Ende wird das Mädchen, das die Dame noch eben rettete, zum Zeitungsblatt, zum Faltspiel. Die Dame ist Eliza. Die surreale Welt setzt sich aus den Traumbildern der Angst und der Schuld zusammen.
Es gibt Phantasien über Herodes, den Kindermörder, den Gegenspieler einer größeren Hoffnung. Es gibt eine Skizze über den Querbalken. Was ist er? Die fragende Person erhält viele Antworten, unsinnige, widersinnige Auskünfte. Er sei ein Schiffsbestandteil, eine alte, längst nicht mehr gebräuchliche Synagogenform: Und doch sind all diese Definitionen nur eine Flucht vor der einen Antwort, auf die „noch finstere Durchgänge“ verweisen könnten. Ilse Aichinger fügt in Klammern hinzu: „(auf die Höfe der Staatsgefängnisse zum Beispiel, in denen die Galgen stehen.)“ Also wir wissen doch, was Querbalken sind, oder nicht? Und was sie mit Synagogen zu tun haben – oder nicht?
Die von der Dichterin erfundenen, phantastisch ausgestatteten Welten des Irrealen sind keine heile Welten. Sie haben wohl ihren eigenen magischen Glanz; ihre künstlichen Ordnungen sind von einer Verzauberung bestimmt. Sie mögen manchmal an Schneekristalle erinnern doch sie entstanden durch den Frost dieses unglückseligsten Zeitalters. Und vielleicht weiß eine Frau besser Bescheid über die Innenwelt der Außenwelt der Barbarei.
Ilse Aichinger, bekannt als Erzählerin, Verfasserin prägnanter Kurzprosa, als Hörspielautorin, hat selbstverständlich auch Gedichte geschrieben. Das nahm man hin. 1978, als das Buch verschenkter Rat erschien, erkannte man, daß Ilse Aichingers Gedichte wichtig sind. Dieser Band hat nichts mit Mode zu tun. Alles, was Ilse Aichinger gelernt hatte, was sie im Bereich des Irrealen und der totalen Chiffre formte, wurde hier zusammengefaßt, verkürzt, lakonisch und prägnant ausgedrückt. Bilder der Natur: Bilder des Wissens und der Überlieferung werden aneinandergereiht. Und die Worte ballen sich zusammen. Einer einzelnen Imagination sind Assoziationen zugeordnet. Die Mythen werden zurechtgebogen, der Heilige Martin wird aufgefordert, Schwert und Sattel zu lassen und dem Bettler, dem Ich des Gedichts, den ganzen Mantel zu geben. Das ist in jedem Sinn des Wortes verständlich, es ist bitter. Zum Abschluß sei das Gedicht zitiert, das sich „Spaziergang“ nennt:

Da die Welt aus Entfernungen entsteht,
Treppenhäuser und Moore,
und das Erträgliche sich verdächtig macht,
so laßt es nicht zu,
daß hinter euren Ställen die Eltern,
kurz auffliegen und glänzend
in die glänzenden Weiher stürzen,
daß euer Rauch noch steigt
vor den Wäldern,
lieber wollen wir warten,
bis uns die goldenen Füchse
im Schnee erscheinen
.

So verschränkt sich das poetische Bild denn doch zur Hoffnung, der Hoffnung auf das irreale Glück: goldene Füchse.

Elisabeth Endres, aus Ilse Aichinger Materialien zu Leben und Werk, Fischer Taschenbuch Verlag, 1990

„… aber sag ihr, sie soll weiter erzählen“

– Ilse Aichinger 2006. –

I
Wer Ilse Aichinger kennenlernen will, sollte sich Zeit nehmen. Einer, der unter der Tür, noch im Mantel und den nassen Schirm in der Hand, schon eine Antwort erwartet, wird enttäuscht werden. Er wird, durch den Türspalt hindurch, vielleicht das eine oder andere Detail erhaschen, aber nie wird sich ihm der gewaltige Imaginationsraum öffnen, der sich hinter dem Einlaß auftut. Es ist eine verschachtelte Wohnung, in der Ilse Aichinger lebt. Es gibt die Zimmer der Kindheit, in denen das Sonnenlicht gehütet wird, und einen langen Korridor des Schreckens, der sich bis in die Nachkriegszeit streckt. Ein kleiner Raum ist ausschließlich Knöpfen vorbehalten, mit denen man Gedichte legen kann, ein anderer ist mit Ansichtskarten gefüllt aus Städten, die sich nur schwer im Atlas finden lassen. Daneben ein Heimkino für Schwarzweißfilme, die in Endlosschleife gezeigt werden. Die Zimmer der Erinnerung, abgedunkelt. Ein großer Raum allein für Fragen, die wie Fledermäuse von der Decke hängen. Sie schwirren um dich herum, ohne auf dich aufzuprallen. Eine Frage lautet:

Oder haben Sie eine Ahnung, weshalb sich Rahel ihr Zeug nicht nachschicken läßt? Nach siebzehn Jahren?

Und während man noch grübelt, kommt schon die nächste Frage:

Kenne ich mich? Mich – mich – mich- mich?

Darf man so fragen?

Wie heißt die letzte Frage? Mein Fahrer dreht das Licht im Wagen an, liest seine Uhr ab, wird mir den Preis gleich nennen. Wie heißt die letzte Frage? Wie heißt sie? Ja. So heißt sie. Mein Wagen hält.

Man sollte schwindelfrei sein, wenn man Ilse Aichingers Wohnung betritt. Und einen Sinn für das Paradoxe haben. Der eigenartigste Raum allerdings, der sich durch alle Zimmer zieht, ist der Raum der Poesie. Von ihm gehen Fenster in die Stube der Märchen, wo alte Kommoden vor sich hin brüten, in die seltsam karg möblierte Kammer der Mythologie und des Zaubers, und eines zeigt, mit erschreckender Deutlichkeit, die Gegenwart.

2
Die Leser von Ilse Aichinger bilden eine verschworene Gemeinschaft, aber keine Geheimgesellschaft, zu der nur Eingeweihte Zutritt haben. Kein Codewort, keine Gesichtskontrolle, kein Ausweis, kein Chip. Jeder ist willkommen, der ein gewisses Zutrauen zu den Dingen hat, die sich bei ihr nie so verhalten, wie man es sich wünscht. Auch ein stabiles Verhältnis zur Logik, die einer harten Prüfung ausgesetzt wird, sollte man mitbringen, dafür keine Meinungen, schon gar keine vorgefaßten. Die Verehrer schneller Antworten (und dickleibiger Romane) halten den Sprachraum von Ilse Aichinger für „hermetisch“, eine Bezeichnung, die nur im Deutschen abwertend klingt („würde ich nicht lesen, zu hermetisch“), im Italienischen dagegen als Auszeichnung gilt: Ungaretti, Montale oder Luzi werden geschätzt, weil deren Sprache sich nicht gemein macht mit der Alltagssprache, obwohl jedes Wort, das sie schreiben, bekannt ist und auch von Ilse Aichinger gebraucht wird. Manchmal freut man sich, wenn bestimmte Leser Reißaus nehmen, weil diese Autorin dann einem mehr, intensiver gehört; man möchte sie nicht mit zu vielen teilen. Eines ihrer Bücher, Schlechte Wörter, beginnt sie mit dem Satz:

Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr.

Das gibt einen Stich – kann man Wörter moralisch qualifizieren? Gibt es bessere und schlechtere Wörter? Schon ist man in einem Spiegelkabinett gefangen, man läuft sich entgegen, indem man sich von sich entfernt, und die Wörter, die besseren und die schlechteren, vertauschen fortwährend ihren angestammten Platz. Die zweite Geschichte dieses Buches beginnt mit der lapidaren Feststellung:

Wir haben jetzt Flecken auf unsern Sesseln.

Na und? fragt man sich, wäre die Welt anders ohne diese Flecken? „Das ist eine müßige Frage“, schreibt Ilse Aichinger, „sie wäre anders. Sie wäre ohne diese Flecken.“ Und dann beginnt eine Höllenfahrt durch die von den Flecken infizierte, beschmutzte Welt, alles gerät unter Verdacht, alles wird in Frage gestellt. Und am Schluß heißt es über die unschuldigen Flecken:

Vielleicht sind sie überhaupt Anfänge von Vorstellungen. Weil es Anfänge nicht gibt. Diese Flecken siegen. Sie siegen auch.

Und die dritte der Verkehrte-Welt-Geschichten der Schlechten Wörter heißt „Zweifel an Balkonen“ und versucht die Frage zu klären:

Wer sind sie, die Balkone der Heimatländer, die großen unscheinbaren Tauscher?

Man kann sich vorstellen, daß einer, der für diese Merk- und Denkwürdigkeiten keinen Sinn und kein Auge hat und sich diesen Fragen nicht gewachsen fühlt, bei einer Wirklichkeit Zuflucht sucht, bei der Balkone lediglich Ausbuchtungen an Häusern darstellen, auf denen man sitzen und Kaffee trinken kann. Es stimmt schon, in Ilse Aichingers Schreiben geht es unvertrauter zu als in der Geschichtsschreibung oder der Liebe, die wir ja alle spielend verstehen und „beherrschen“.

3
Ein paar Ilse-Aichinger-Sätze, ins Stammbuch: „Nichts preisgeben, hört ihr, alles für euch behalten.“ – „Wenn ich überhaupt nichts mehr erzählte und auch auf Fragen nur im äußersten Fall und nur dem Schein nach einginge?“ – „Soll man wieder beginnen, die alten rührseligen Geschichten zu erzählen? Das Mitleid heraufbeschwören?“ – „… aber sag ihr, sie soll weiter erzählen.“ Vier Sätze, aus vier Geschichten, aus dem Zusammenhang gerissen, einen Zusammenhang erzwingend. „Niemand kann von mir verlangen, daß ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind. Ich bin nicht wahllos wie das Leben…“, sagt eine/r, und: „Ich will nicht auffallen, ich mische mich lieber unauffällig hinein. Ich schaue zu. Ich schaue zu, wie alles und jedes seine rasche, unzutreffende Bezeichnung bekommt, ich tue sogar seit kurzem mit. Der Unterschied ist nur: Ich weiß, was ich tue. Ich weiß, daß die Welt schlechter ist als ihr Name und daß deshalb auch ihr Name schlecht ist.“
Dem ist nichts hinzuzufügen.

4
Ich glaube, ich muß Ilse Aichinger nicht vorstellen. Fällt ihr Name, stehen uns sofort ihre Bücher vor Augen: der Roman Die größere Hoffnung, dessen Titel für eine ganze Generation wie ein Leitspruch wirkte, nachdem die ganz große Hoffnung sich nicht erfüllt hatte. Die Geschichte von Ellen, die hinter dem fälschlich gebrauchten Titel steckt, Kind einer jüdischen Mutter und eines in schlimmer Zeit alles andere als christlich reagierenden Vaters, diese Geschichte einer großen Hoffnung, 1948 veröffentlicht, vor mehr als fünfzig Jahren, hat keiner vergessen, der sie je gelesen hat – und wer sie nicht gelesen hat, der ist mit einer Inhaltsangabe in diesem Fall auch nicht gut versorgt. Schon dieser schöne, niederschmetternde frühe Text ist ein flirrendes Sprachwunder, das sich trotz seines manifesten politischen Inhalts nicht dazu überreden läßt, in der Sprache „der Zeit danach“ sich lesen zu lassen. Die größere Hoffnung ist, überspitzt ausgedrückt, das absolute Gegenstück zur Sprache der Adenauer-Zeit: In diesem Roman zeigt sich schon überdeutlich, daß der Sprachweg von Ilse Aichinger mit der Sprache der entstehenden Republiken nicht parallel lief. „Über den umkämpften Brücken stand der Morgenstern“ – so hört die Geschichte von Ellen, die auf der Brücke den Tod findet, auf. Mit diesem lakonischen Schlußsatz, der den einen wie blutige Ironie klang, von anderen als Zeichen der Hoffnung gelesen wurde, mit diesem Brückensatz, der eine fürchterliche Vergangenheit mit einer ungewissen Zukunft verbindet, schrieb sich Ilse Aichinger in die deutschsprachige Literatur.
Und über der Brücke der helle Stern, der Morgenstern.
Sie hat nie wieder einen Roman geschrieben, und vielleicht ist es auch klüger, Die größere Hoffnung in das Regal zu stellen, wo die Bände mit lyrischer Prosa und die Gedichte stehen. Die Geschichte, so kann man wohl sagen, war und ist für Ilse Aichinger zu monströs, um sie ordentlich in Geschichten verpacken zu können. Jedenfalls nicht mit der Sprache, die ihr vorher und nachher zur Verfügung gestellt wurde, was sie später einmal in den nur scheinbar paradoxen Satz gekleidet hat:

Meine Sprache und ich, wir reden nicht miteinander, wir haben uns nichts zu sagen.

Dieses Paradox hat – so paradox es klingt – ihr Werk hervorgebracht: Die Schlechten Wörter und den Verschenkten Rat, der zu meinen nicht auslesbaren Lieblingsbüchern gehört. Es sind Ratschläge, die man beherzigen muß. Beherzigen – auch ohne jede Etymologie summt dieses Wort in meinem Kopf herum.

Gib mir den Mantel, Martin,
aber geh erst vom Sattel
und laß dein Schwert, wo es ist,
gib mir den ganzen.

Das Gedicht heißt doppeldeutig „Nachruf“, es ist ein Nachrufen dem schon weiterreitenden St. Martin hinterher, das sich nicht abspeisen läßt mit einer milden Gabe, und es ist ein Epitaph auf die Mildtätigkeit, auf die falsche Solidarität. Die Gedichte aus dem Verschenkten Rat sind oft als dunkel, verschlossen bezeichnet worden. Ja, so bezeichnen wir sprachliche Gebilde, die sich nicht mit einem Blick aufnehmen – und erledigen lassen. Ilse Aichinger ist und bleibt die Dichterin des Unerledigten, die seit der Größeren Hoffnung nicht davon ablassen will, dieses Unerledigte zu präsentieren. Wir müssen sie beherzt lesen, dann erst können wir ihre Ratschläge wirklich beherzigen: als unmittelbare Aufforderungen.

5
Auf die Frage: Wer oder was hätten Sie sein mögen? lautete Ilse Aichingers Antwort: Niemand und nichts.
Liebe Ilse, Du hast es uns nie leicht gemacht. Dafür danken wir Dir.

Michael Krüger, aus Stefan Moses: Ilse Aichinger. Ein Bilderbuch von Stefan Moses. Mit ausgewählten Texten von Ilse Aichinger, S. Fischer Verlag, 2006

Morgenröte unterm Schnee 

– Laudatio auf Ilse Aichinger (Petrarca-Preis 1982). –

Die Welt ist aus dem Stoff,
der Betrachtung verlangt:
keine Augen mehr,
um die weißen Wiesen zu sehen,
keine Ohren, um im Geäst
das Schwirren der Vögel zu hören.
Großmutter, wo sind deine Lippen hin,
um die Gräser zu schmecken,
und wer riecht uns den Himmel zu Ende,
wessen Wangen reiben sich heute
noch wund an den Mauern im Dorf?
Ist es nicht ein finsterer Wald,
in den wir gerieten?
Nein, Großmutter, er ist nicht finster
ich weiß es, ich wohnte lang
bei den Kindern am Rande,
und es ist auch kein Wald.

Dieses Gedicht, „Winterantwort“, ist „solcher Stoff wie der zu Träumen“: in sich vollkommen klar, von einer rhythmischen Selbstverständlichkeit, die sich sofort überträgt und zunächst jede Frage – zu wem die Stimmen gehören, die hier Aussagen machen, Beobachtungen mitteilen, Fragen stellen und Antworten geben – abwehrt; die innere Logik der Bilder springt auf den ersten Blick deutlicher ins Auge als das rhetorische Modell, nach dem sie angeordnet sind. Spricht eine Stimme oder sprechen mehrere, die sich in einer zusammenfinden, die die Klammer bildet zwischen einer Vergangenheit, in der es im wahrsten Sinne natürlich zuging, und einer Gegenwart, die das Natürliche durchschaut hat um den Preis des Verlusts der sinnlichen Wahrnehmung der Welt: keine Augen mehr, keine Ohren, keine Lippen, um die Gräser zu schmecken.
Die Stimme, die zu uns spricht, kennt beides: die Erinnerung und ihr Echo in einer erinnerungslosen Welt. Und das Medium, in dem ihr die Vermittlung dieser disparaten, durch die Zeit, die Entwicklung, die fortschreitende Zivilisation getrennten Wahrnehmungsbereiche gelingt, ist das dichterische Bild. Die unmittelbare Wirkung dieses Bildes und seiner rhythmischen Dynamik geht nicht davon aus, was es uns sagt. Dieses „Was“ wäre der Gegenstand eines Essays, sondern wie es gesagt wird: dieses „Wie“ ist das Geheimnis oder die Seele oder die Substanz des Gedichts – der Stoff, der Betrachtung im Sinne von Versenkung und Erkenntnis verlangt.
Bei unserer Entscheidung für Ilse Aichingers Gedichte war alles sehr einfach. Der glückliche Moment des Wiedererkennens in der Wiederholung, des Nachsprechens und Neuschaffens während der Lektüre, des Sich-Einlassens auf eine Bewegung, die einem trotz oder wegen all der in ihr ge- und verborgenen Trauer völlig vertraut zu sein scheint, als hätte es diese Worte nie in einer anderen Zusammenstellung gegeben – dieser glückliche Moment oder emphatische Augenblick stellt sich ein, als wir im Winter, ganz in der Nähe von Sils-Maria, Ilse Aichingers Gedichte lasen: die vielen Schnee-Gedichte und den Schnee vor Augen; die „Morgenröte unterm Schnee“, das „vergilbte Gras“ und vor dem Fenster die Schneeberge wie ein pathetischer Wink mit dem Zaunpfahl, unserer Einbildungskraft auf die Sprünge zu helfen und unsere Entscheidung zu beschleunigen: Ilse Aichinger heißt die Preisträgerin.
Das ist alles andere als selbstverständlich. Natürlich kommt es vor, daß einer allein beim Lesen von Gedichten diese blitzhafte Vereinigung mit einem Text erfährt, dieses plötzliche Hineingleiten in einen poetischen Zusammenhang, über jeden manifesten Inhalt, jeden Sinn und jede Aussage hinweg, in dem Gefühl tiefer Verläßlichkeit.

Die Dichtung hat ein Glück, das ihr eigentümlich ist, welches Drama sie auch illustrieren möge. (Gaston Bachelard)

Und gerade die Gedichte von Ilse Aichinger erzählen ja, Text für Text, eine Geschichte der geglückten Bedrohung, des erfolgten Verrats und der zerstörten Harmonie, von einer sehr spezifischen modernen Umwertung aller Worte. Und dennoch findet diese eigentümliche Umkehrung statt: keine Augen mehr, um die weißen Wiesen zu sehen, keine Ohren, um im Geäst das Schwirren der Vögel zu hören, lesen wir – und stellen gleichzeitig fest, daß uns Hören und Sehen kommt.
Nun kommen die klugen Menschen und behaupten, hier läge ein Vorgang der Kompensation vor: Was im Leben nicht gelingt, gelingt im Gedicht, es ist eine einfache Umdrehung der Relation, die sich das Gedicht, im Gegensatz zur gesellschaftlichen Rede, herausnehmen dürfe. Mag sein – und ist doch nicht wahr, denn wenn es wahr wäre, könnte man das Gedicht, seine Bilder und seinen Rhythmus, mühelos wieder in die normale Rede zurückübersetzen, was viele behaupten und was immer wieder in der Schule bis zum Überdruß versucht wird, ohne daß es gelingt. 

Zum ersten
mußt du glauben,
daß es Tag wird,
wenn die Sonne steigt.
Wenn du es aber nicht glaubst,
sage Ja.
Zum zweiten
mußt du glauben
und mit allen deinen Kräften,
daß es Nacht wird,
wenn der Mond aufgeht.
Wenn du es aber nicht glaubst,
sage Ja
oder nicke willfährig mit dem Kopf,
das nehmen sie auch.

Einen allein, wie gesagt, kann ein Gedicht treffen, es hat „seine Tiefen berührt, bevor es die Oberfläche bewegte“ (Bachelard). Aber wenn sechs zusammenkommen und sich so schnell einigen, obwohl andere Möglichkeiten denkbar sind, dann muß diesen Gedichten etwas besonderes anhaften, oder dann müssen diese Gedichte einen Raum bilden, der sich über den Texten erhebt und sie tief unterkellert, in geologischen Schichten gewissermaßen, in denen unser normales Bewußtsein nichts zu suchen hat.
Diese Stiftung von Gemeinsamkeit kann weder allein daher rühren, daß Autor und Leser vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht haben und sich sozusagen im selben Raum befinden (dann müßte dieses Gefühl sich häufiger einstellen, und besonders bei Gedichten von Generationsgenossen), noch etwa daher, daß sich alle Beteiligten mehr oder weniger regelmäßig mit Literatur beschäftigen, also tranierte Eingeweihte sind, die sofort wissen, was dichterische Spekulation ist und was poetische Intuition, was gut und was mittelmäßig.
Hinzu kommt, daß dieser Raum, der die Gedichte umgibt, dem flüchtigen Leser zunächst fremd und unbetreten erscheint, oder dunkel, um das gängige Wort zu gebrauchen, mit dem eine bestimmte Literatur (samt ihrer Tradition), die noch nicht erschlossen ist, für immer verschlossen gehalten wird, ein von der Kritik ausgegrenzter Bezirk, vor dessen Schwelle man sich dann um so bedenkenloser den Ritualen der gängigen Literatur hingeben darf, den Gut-Gereimt- oder Gut-Erzählt-Spielen, deren Regeln erlernbar sind und deren Gewinner im voraus bekannt ist.
Die grotesken Debatten der letzten Jahre um Subjektivismus contra Hermetismus contra politisches Gedicht haben ja, wenn auch als unerwünschten Nebeneffekt, eines gezeigt, daß nämlich auch das politische Gedicht, das als symbolisches Bild des Ganzen gedacht ist, nur noch unter Aspekten der Arbeitsteilung gelesen werden kann. Dunkel als Schimpfwort; und es drückt eine weit stärkere gesellschaftliche Verachtung aus als jede Verurteilung einer sogenannten politischen Entgleisung.
Fremd, unbetreten, dunkel – doch hat man diesen angeblich so hermetischen, geschichtslosen, zeitfernen Raum erst einmal betreten, dann wird das fremde als Summe von lange Vergessenem deutlich, dann entpuppt sich das Unbetretene als Feld vieler, von weit her kommender Spuren, und dann ist das Dunkle nur eine andere Form von Helligkeit. Vielleicht klingt das alles ein bißchen hochtrabend und wunderbar, aber es kommt einem „Wunder“ ja auch sehr nahe, wenn es einem gelingt, plötzlich in den Raum des „nicht-gelenkten Denkens“ einzutreten, wo die Wörter zwar nicht im Stande der Unschuld angetroffen werden, aber wo sie gewissermaßen die Geschichte der wechselnden Bedeutungen noch vorzeigen statt sie zu vertuschen.
Hat man den gesicherten Boden der Begriffe verlassen, ist die Initiation vollzogen, ist man, am Autor und seiner Biographie vorbei, in dieses Werk eingetreten, hat man die Zweifel an der dichterischen Aussagekraft, die Angst vor dem Fremden und Dunklen überwunden – dann verliert sich der Anschein des Obskuren am Wunder augenblicklich. Jedes Kind weiß das, also müssen es auch wir alle einmal gewußt haben. 

Ich will meine Dörfer
ohne Worte lassen
und nur den Schnee
durchschwingen
und offen gegen die Zäune.
Von der Höhe meiner Speicher
will ich die Jaguare betrachten,
die Wölfe pfeifen hören.
Die Sonne sprang hier fort,
aber den Kindern
wird bei ihrer Ernte
von Löwenzähnen geholfen,
Platz für den König!

Die Initiation war vollzogen, der Raum war betreten, vor- und nachgelesen, ein kurzer Blick in die Runde, Nicken der Köpfe: Ilse Aichinger heißt unsere Preisträgerin.
Aber nun beginnt das Dilemma, und zwar für mich, der ich eine Laudatio halten soll. Habe ich sie nicht schon gehalten? Ist das Eingeständnis, dieser verschenkte Rat sei uns Juroren tatsächlich wie ein schönes Geschenk erschienen, und ein nützliches dazu, weil es ein guter Rat war, der uns gestärkt hat, ist das nicht Laudatio genug?
Weicht das Gedicht nicht mit jedem Schritt, den wir von außen auf es zu tun – und mag es noch so aufrichtig, kritisch, intelligent und in bester Absicht geschehen – weiter zurück? Anders als bei ungenauen Gedichten, wo es leicht ist, die schwachen Stellen diskursiv zu erörtern, sperrt sich das geglückte Gedicht gegen den besserwisserischen Zugriff gelehrter Anstrengungen. „In Sachen der Kunst“, heißt es bei Valéry, „ist Gelehrsamkeit fast etwas wie eine Niederlage. Worauf sie ihr Licht wirft, ist nicht das eigentlich Beglückende. Was sie vertiefe ist nicht das eigentlich Wesentliche. Sie setzt ihre Hypothesen an die Stelle des Gefühls, ihr erstaunliches Gedächtnis an die Stelle der Gegenwärtigkeit des Wunders.“
Hier ist es schon wieder, dieses peinliche Wunder, oder das Heilige, wie es Michel Leiris noch unerschrocken genannt hat, das es nach Jahrhunderten der Philologie und der Stilkritik und der Aufklärung eigentlich nicht mehr geben darf – und das um die Dichtung doch wie ein Mantel geschlungen bleibt und sie schützt gegen die Tendenzen ihrer Verwissenschaftlichung. Dieser Mantel ist nicht in der Zeit definiert, er umfängt die Poesie von Anfang an bis heute. Darum ist es schon lange kein Witz mehr, daß weder eine einzelne Disziplin der Kritik ausreicht, das Gedicht auseinanderzunehmen und zu interpretieren, noch daß die Kritik sich in der Lage sieht, es auch wieder zusammenzusetzen, ohne eine Potenzierung des ohnedies Fragmentarischen in Kauf zu nehmen.
Es bleibt uns folglich gar nichts anderes übrig, als die Texte selber stets neu zu lesen, um als wie immer vorgebildete Leser auf das Echo zu warten, das sie in uns hervorrufen – oder es halt bleiben zu lassen. Jeder von uns trägt eine bestimmte Anzahl von Bildern in sich, die wir früh aufgenommen und dann in der Regel wieder vergessen haben. Sie liegen – ungenutzt und vom Staub des Alltags fast verdeckt – auf einem der vielen verlassenen Gelände unseres Selbst und treten nur dann in unser Bewußtsein, wenn sie sich in einer Wahrnehmung spiegeln und aufleuchten. Manche dieser Bilder teilen viele Menschen, die in einem landschaftlichen, kulturellen oder sozialen Umfeld aufgewachsen sind und ähnliche Erfahrungen gemacht haben; andere sind spezifischer, wieder andere exklusiv. Aber insgesamt scheinen es gar nicht so viele zu sein. Wenn man die Zeitung liest, fällt nur selten ein Strahl auf diesen verborgenen Schatz; wer viele Zeitungen zu lesen gezwungen ist, kennt das dumpfe Gefühl der Leere, die durch keinen Wortwitz mehr erhellt werden kann. Bei Gedichten – und das wäre ein Kriterium ihrer Qualität – sollte das anders sein. Beim Lesen der Gedichte von Ilse Aichinger zum Beispiel war das Echo sofort vernehmbar, und zwar vor allem Verständnis, aller analytischen Anstrengungen: ein Klang, ein Bild, eine Formulierung, eine Art des Sprechens, die, vom Leser kaum wiederholt, jene eigentümliche Synchronizität herstellt und das Gefühl erzeugt, man habe das Gedicht im Vorgang des Nachsprechens selber geschrieben. Der Autor, die Autorin, verschwindet, zieht sich gleichsam hinter das Gedicht zurück, und zwar mitsamt ihrer Biographie, ihren Erfahrungen, Gefühlen und Wünschen. Sie überläßt uns ihren Text, ihre kurzen Orakelsprüche, dunkel und klar:

Gib mir den Mantel Martin
aber geh erst vom Sattel
und laß dein Schwert, wo es ist,
gib mir den ganzen.

Erst beim zweiten oder dritten Lesen holen wir die Bedeutungen aus dem Raum hinter den vier Zeilen wieder zurück. Die Situation ist bekannt: St. Martin zerschnitt seinen Mantel in zwei Teile und gab einen davon dem Frierenden. Er machte ein Geschenk: generös, menschenfreundlich, mit einem Blick für den anderen. In diesem kleinen Gedicht nun, das wir so selbstverständlich nachsprechen, sind wir plötzlich die Fordernden: Gib mir den Mantel, Martin, gib mir den ganzen, nicht nur die Hälfte. Und gib ihn mir nicht von oben herab vom Pferd, sondern Aug in Aug, geh erst vom Sattel. Und laß das Schwert stecken, das Symbol der Macht, wenn du eine Geste der Nächstenliebe zeigen willst. Das Gedicht heißt „Nachruf“, ohne alle Ironie, und rüttelt heftig am Fundament der christlichen Nächstenliebe. Einer mag es als eine Art Motto zu einer möglichen Geschichtsphilosophie lesen, ein anderer mag es als Kritik der christlichen Morallehre interpretieren, ein dritter wird darin ein Beispiel für die Veränderung des Verhältnisses von Herr und Knecht sehen – und viele weitere Lesemodelle, wie es heute heißt, sind denkbar.
Wenn wir schließlich den Text mit dem Titel in Beziehung setzen, öffnen sich weitere Räume, in denen unser Gedächtnis, unser Wissen, unser Gefühl und unsere Solidarität sich ergehen können – ein riesenhaftes, unabsehbares Gebäude erhebt sich über den allen bekannten zweiundzwanzig Worten, die ohne alle Mühe wie selbstverständlich diese Last tragen…
Man sollte sich entschuldigen, bevor man über Kunst spricht, sagt Valéry; ich mache es nachträglich. Denn der langen Rede kurzer Sinn läßt sich nämlich auch in dem einfachen Satz ausdrücken: Wir danken Ilse Aichinger für den verschenkten Rat. Es war nicht umsonst.

Michael Krüger, aus Ilse Aichinger – Materialien zu Leben und Werk, Fischer Taschenbuch Verlag, 1990

17. Februar

Für ein paar Tage bin ich, seit gestern, wieder in Wien; heute wäre ich mit H. E. um fünfzehn Uhr zu einer Schachpartie im Engländer verabredet gewesen, er hat’s wohl vergessen. Ich warte, bestelle noch einen Zweigelt rot, versuche mich an einem französischen Kreuzworträtsel. Mir gegenüber, einen Tisch weiter, sitzt eine alte Frau, sie löffelt, tief vornübergebeugt, eine Suppe, gleichzeitig liest sie in einem bunten Magazin, das sie zur Hälfte unter den Teller geschoben hat. Die Frau kommt mir bekannt vor. Aber wo sie einordnen, jetzt, da sie gegenwärtig ist. Eigentlich bin ich ja sicher, daß ich sie kenne, nur erkenne ich sie nicht; ich gehe hinüber zu ihrem Tisch.
„Sind Sie’s“, frage ich, „oder sind Sie’s nicht.“
Während die Frau langsam den Kopf hebt, und noch ehe sie mich gesehen hat, erkenne ich Ilse Aichinger. „Wer“, sagt sie, „sollte ich denn sein.“
„Ja.“ Mehr fällt mir in diesem Augenblick des Wiedersehens nicht ein. Aber ist es denn ein Wiedersehen. Weiß sie überhaupt, wer ich bin. Meinen Namen nennt sie nicht, weder jetzt noch später beim Abschied, überhaupt kommen während des kurzen Gesprächs, das wir haben, keine Namen vor.
Die Frau erzählt von ihrer Kindheit in Wien, wohin sie nach langer Abwesenheit zurückgekehrt ist. Die Herkunft, sagt sie, sei die Kraft, zu der man zurückkehrt. Auch ihr Mann, sagt sie, sei in seiner letzten Lebenszeit immer wieder, wie zufällig, nach Berlin gefahren, in seine Geburtsstadt. Und sie berichtet von ihrer Schwester… Zwillingsschwester, die in England lebe und von der sie sich so sehr wünsche, daß sie ebenfalls nach Wien zurückkehre. Auch die Kinder. Auch die Dichter. Sie bleiben alle ohne Namen. Dichter. Kinder. Meine Schwester. Mein Mann.
„Ich lese ziemlich viel“, sagt die Frau, „aber eigentlich lese ich immer dasselbe. Am liebsten Gedichte, Bücher über berühmte Leute, keine Romane.“ Links neben ihrem Teller hat sie… „zum Telephonieren“, sagt sie, sie lächelt… ein paar Münzen aufgeschichtet, rechts davon ein Häufchen bekritzelter Zettel und Schnipsel, auf denen wie ein rostiger Briefbeschwerer ihre Hand ruht. Ich verabschiede mich bald, sie sagt nur einfach Sie zu mir. Inzwischen wird mich diese wunderbare Frau vergessen haben. Wie alle Namen.

Fortschritt. – Gewinnt wer
beim Würfeln Eltern und
Geschwister. Ist er
plötzlich im Begriff oder
nach wie vor am Leben. Herzlich
grenzt Familie an Zahl.
An Zufall. Wo nur
zwischen soviel Augen tauchen.
Aber noch ist nichts
getauscht. „Wir kommen gegen unsern
Willen weiter“
(für Ilse Aichinger)

Felix Philipp Ingold, aus Felix Philipp Ingold: Freie Hand, Carl Hanser Verlag, 1996

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Ilse Aichinger

Felix Philipp Ingold: Gedenkblatt für I. A.

Peter Hamm: Gedenkblatt für Ilse Aichinger

 

Es liegt ein Abschiedslicht auf Allem. Ilse Aichinger erzählt und Corinna Kirchhoff liest „Schlechter Wörter“ und „Die trüben Stunden nutzend“.

 

Gegenwartsproof: Ilse Aichinger – Es sprechen Sonja vom Brocke, Margret Kreidl und Ferdinand Schmatz mit Theresia Prammer über die Bedeutung des Werkes von Ilse Aichinger.

Karl Krolow: Laudatio zur Verleihung des Nelly Sachs-Preises 1971

Ein Gespräch zwischen Michael Braun und der Literaturwissenschaftlerin Simone Fässler über das Werk von Ilse Aichinger.

Ein Gespräch zwischen Michael Braun mit dem Lyriker Levin Westermann – über Ilse Aichinger, Poesie und Schweigen und die Unheilsengel der Geschichte.

 

Lesung Ilse Aichinger

im Literarischen Colloquium am 31.10.1996. Moderation: Hajo Steinert. Gesprächspartner: Richard Reichensperger.

Einleitung: Hajo Steinert stellt die Autorin Ilse Aichinger vor.

 

Gespräch I: Richard Reichensperger spricht mit Ilse Aichinger über ihre Jugend.

 

Gespräch II: Wie war das Leben 1945?

 

Gespräch III: Das Wesen der Erinnerung, oder: Wie sind Ilse Aichingers Bücher entstanden?

 

Gespräch IV: Fällt Ilse Aichinger das Schreiben leicht?

 

Lesung IV: Ilse Aichinger liest kurze Gedichte.

 

Ilse Aichinger

WARUM

eins
was täte ich,
wenn die Jäger nicht wären,
meine Tochter

zwei
Warum fragen sie so dumm warum
warum ist im Korb Wein warum
und wozu braucht es Kuchen und
wieso gehst du heute Oma besuchen

warum kratzt der dir das Ohr
wieso zittert dein Gesicht
warum kommen Krallen
dir komisch vor
und wer braucht hier mehr Licht

Peter Wawerzinek 

 

 

Zum 80. Geburtstag der Autorin:

Andreas R. Batlogg: Dass es den Ort einer anderen Existenz gab
Die Furche, 8.11.2001

Zum 85. Geburtstag der Autorin:

Peter Mohr: Alles Komische hilft mir
literaturkritik.de, November 2006

Zum 90. Geburtstag der Autorin:

Sabine Rohlf: Es geht immer um Genauigkeit
Frankfurter Rundschau, 1.11.2011

Paul Jandl: Ilse Aichinger, die Grande Dame der österreichischen Literatur
Hamburger Abendblatt, 1.11.2011

Peter Mohr: Das Komische macht mich glücklich
titelmagazin.com, 2.11.2011

Anja Hirsch: Unerkundbar, undurchschaubar
Deutschlandfunk, 1.11.2011

 

 

Zum 95. Geburtstag der Autorin:

Susanne Stephan: Verse, verborgen
poetenladen, 2016

Bettina Steiner: Ilse Aichinger: Es gilt das genauere Wort
Die Presse.com, 30.10.2016

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Helmut Böttiger: Die Seufzer der Sprache
Süddeutsche Zeitung, 29.10.2021

Christian Schacherreiter: Die subtile Poesie der Verhängnisse
OÖNachrichten, 30.10.2021

Michael Braun: Zum 100. Geburtstag der großen österreichischen Dichterin Ilse Aichinger
Badische Zeitung, 29.102.2021

Tilman Krause: Die Frau, die als erste über den Holocaust schrieb
Die Welt, 1.11.2021

Peter Mohr: Schreiben ist kein Beruf
literaturkritik.de, November 2021
(auch im titel-kulturmagazin.net, 1.11.2021)

Christian Metz: Schreiben müsste punktueller sein
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.11.2021

Magnus Klaue: Erinnerungen an eine große Schriftstellerin
Der Tagesspiegel, 1.102.2021

Günter Kaindlstorfer: Ilse Aichinger und die machtvolle Ohnmacht der Worte
Deutschlandfunk, 1.11.2021

Michael Wurmitzer: Ilse Aichingers 100. Geburtstag in Linz: Widerstand mit Worten
Der Standart, 23.10.2021

Gerhard Zeillinger: Ilse Aichinger: Schreiben als existenzielle Verflechtung
Der Standart, 1.11.2021

Matthias Greuling: Ilse Aichinger: Effizient wie ein Film
Wiener Zeitung, 1.11.2021

Teresa Präauer: „Autorinnen feiern Autorinnen“: Ilse Aichinger
Die Furche, 3.11.2021

Achim Engelberg: Schreiben nach Auschwitz – zum 100. Geburtstag von Ilse Aichinger
piqd.de, 1.11.2021

Es begann mit Ilse Aichinger 1921–2021. Erzählen vom Ende her und auf das Ende hin
Onlineausstellung kuratiert von Christine Ivanovic und Sugi Shindo

 

100 Jahre Ilse Aichinger. Mit Thomas Wild, Nikola Herweg und Ulrich von Bülow

 

 

Nachrufe auf Ilse Aichinger: Die Welt ✝ FAZ ✝ Die Zeit
literaturkritik 1 + 2

 

 

Nach Lektüre einiger Nachrufe ein paar Notizen zur Rezeption ihres Werks von Teresa Präauer.

Fakten und Vermutungen zur AutorinArchiv + IMDbKLG +
ÖM + Interview 12Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Brigitte Friedrich AutorenfotosKeystone-SDA +
Autorenarchiv Isolde Ohlbaumdeutsche FOTOTHEK

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00