Johannes Bobrowski: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Johannes Bobrowski: Gedichte

Bobrowski-Gedichte

GÓNGORA

Schwerthieb
im ersten Licht, des Corduaners
Zeile löst dir die Herzhaut ab:
dünn, Papier, bemalt
mit fliegenden Schwänen.

Ach, dunkelen Rufs,
der Schwäne Zug. Eine Feder,
weiß,
fällt auf dich zu. Du sollst
einen Namen schreiben
an den Himmel aus Feuer
– Don Luis’ Namen –
in das Schweigen des heißesten Tags.

Denn die Treppen hinab,
in einem Schwarm Jungen, kommt Lorca.
Ach, Andalusier, Kinder! Er singt: Iberien,
schwarze Stimme, verwittert,
alt von der Könige Tritt.
Freunde, kommt weiß!
Mädchen, Licht, labyrinthischer
Tanz, labyrinthischer Tanz,

Nacht
oder, schmal,
ein geschliffener Saphier,
Irrsinn stürz auf die Schläfe
– einst auf Don Luis’ Schläfe –
mitten im Schlaf.

 

 

 

Nachwort

Als Johannes Bobrowski am 2. September 1965 in Berlin starb, schrieb am gleichen Tage noch, in der gleichen Stadt, Sarah Kirsch das erste ihrer „Drei Gedichte für Johannes Bobrowski“, darin es heißt:

… mein grauer Delphin
ist hin zu anderer Küste geschwommen
… unsere Küste
salzverkrustet und leer
verlor ihren Delphin. Niemand
weiß da einen Ausweg

Der Delphin, als Retter des sagenhaften Sängers Arion von altersher Symbol der Menschen- und Musenfreundlichkeit, hat unsere Küste verlassen. Wo er nur als Gast, als schieres Wunder vorstellbar war – die Küste ist „salzverkrustet“ –, herrschen Leere und Ausweglosigkeit. Poetischer und radikaler ließ sich kaum sagen, was der jähe Tod dieses Dichters damals für viele junge Poeten, für seine Leser, für seine Freunde in unserm Land bedeutete. Fünfundzwanzig Jahre danach hat das Bild von seiner Angemessenheit nichts verloren, eher daran noch zugenommen. In Leben wie Poesie längst in völlig andere Entwicklungen eingetreten, können wir den sarmatischen Dichter heute noch immer und erst recht im Bild des entschwundenen Delphins begreifen. Der jahrelang unüberhörbare Nachhall seiner Verse in den Gedichten junger Lyriker ist vergangen. Weil aber in Thema und Sprache des heutigen Gedichts uns soviel anderes und Neues bedrängt, wird uns das Singuläre seiner Dichtung eher noch klarer bewußt.
Als Bobrowski 1961 und 1962 mit den beiden Gedichtbänden Sarmatische Zeit und Schattenland Ströme hervortrat, mußten schon ihre Titel in der Literaturlandschaft beider deutscher Staaten merkwürdig fremd, für manchen in Ost wie West, auf verschiedene Weise, gar befremdend oder exotisch wirken. Beide Male war eine Welt gemeint, die nicht diejenige war, in der ihr Autor realiter lebte. Bestenfalls ließ sich sagen, daß zeitliche und räumliche Fernen in die innere Gegenwart des Autors gerufen, zu ihr herauf- und herangeholt wurden; von der sozialen und politischen Realität der tatsächlichen Gegenwart war in keinem Vers die Rede. Daß jene in ihren Zeit-Räumen ferne Welt auf Gegenwart und Zukunft hin beschworen wurde, war den Gedichten vordergründig kaum irgendwo abzulesen. Das ging dem Leser erst auf, wenn er die Provokation ihrer ,Dunkelheit‘ als Provokation seiner Phantasie und Leseintensität annahm und über das einzelne Gedicht hinaussah. Was allererst faszinierte, war die Energie und Dichte der sarmatischen Bilderrede. Was sie meinte, haben wir damals aus den Versen selbst nur schrittweise verstanden. Manche lesen wir noch heute mit der inständigen Überzeugung, daß sie sich endlich öffnen müssen, weil die Faszination, die von ihren Bildern unverändert ausgeht, uns als Garantie erscheint, daß sie kein Spiel im Elfenbeinturm sind. Das gilt besonders für die Gedichte der letzten Jahre, die postum 1966 unter dem Titel Wetterzeichen erschienen. Wo sie – das ist ihr Neues – unmittelbar von Gegenwart sprechen, tun sie es auf überwiegend rätselhafte Art, die schlichtweg ,hermetisch‘ zu nennen, wir uns dennoch sträuben.
Ohne das ,sarmatische‘ Fundament ist das lyrische, im weiteren Sinn auch das erzählerische Werk Bobrowskis, wie er selber es vorlegte, nicht denkbar. Mit dem spätantiken Namen für Osteuropa – die substantivische Form Sarmatia/Sarmatien hat er kaum gebraucht – verknüpfte er eine poetische Vision ohnegleichen, einen lyrischen Weltentwurf von solcher Geschlossenheit und ausgreifenden Intention, wie wir kein anderes Beispiel aus jenen Jahren kennen. Für die Verwirklichung dieser Vision fand er den beziehungsreichen und anspruchsvollen Arbeitstitel „Sarmatischer Divan“. Seine früheste Formulierung, im Brief an Peter Huchel vom 1. Juni 1956, lautete:

… möcht ich im Lauf der Jahre eine Art Sarmatischen Divans zusammen bringen, worin das Land zwischen Weichsel und Ural mit seinen Völkern, mit Historie und Landschaft ungefähre Gestalt bekommt. Und eben die Rolle meines Volkes darin.

Wenn der Großplan auch bald, vermutlich schon 1958, aufgegeben wurde (er ging über die Kräfte des Dichters und konnte kaum auf Dank rechnen), so zehrte von seiner Vision doch noch jahrelang jedes neue Gedicht.
Die ,sarmatische‘ Version war es, die – trotz ihrer moralischen Implikationen – Bobrowskis Versen den Weg in die Öffentlichkeit schwer machte. In Theorie und Praxis des ,Sozialistischen Realismus‘, wie sie Ende der fünfziger Jahre in der DDR rigoros durchgesetzt wurden, ließ sich diese Vision nicht einpassen. So gelangten Bobrowskis Gedichte, obwohl Peter Huchel die ersten 1955 und 1957 in Sinn und Form gedruckt hatte, als Sammlung zuerst im anderen deutschen Staat, auch das nicht ohne Umwege und Schwierigkeiten, ans Tageslicht. Der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart folgte der Union Verlag (VOB) Berlin freilich dann rasch. Was damals – von der einen Ausnahme Brechts, der nicht mehr lebte, abgesehen – ganz unmöglich erschien, geschah: Bobrowskis Gedichte, später auch seine Prosa, wurden in beiden deutschen Staaten veröffentlicht und gelesen. Das war, anfangs noch in der Zeit des ,kalten Krieges‘, ein unglaubliches Novum und blieb jahrelang ein Unikum im strengsten Verstande. Zuletzt freilich machte es den Autor fast zur Symbol-, zumindest zur Vorzeigefigur deutsch-deutscher Verständigungsbereitschaft. Auch deshalb war sein früher Tod ein großer Verlust.
Deutlicher als damals ist uns heute das alles andere als Zufällige dieses, nach Jahren der Resignation und Depression, erstaunlichen Eintritts in die literarische Öffentlichkeit. Wenn Bobrowski im Oktober 1959, als für die Gedichte noch nichts entschieden war, gegenüber Peter Jokostra im Brief geradezu sarkastisch-trotzig erklärte, er werde sich „nicht auf ostdeutsch firmieren lassen, so wenig wie auf ,heimlich westdeutsch‘. Entweder ich mache deutsche Gedichte oder ich lerne Polnisch“, – so war das eine Intention, die, wie sich zeigen sollte, so utopisch nicht war, wie sie zunächst erschien. Die Deutschen und der europäische Osten – Bobrowskis vielzitierte Formulierung des Generalthemas seiner Gedichte von 1961 –, das meinte in beiden Aspekten, der langen Geschichte aus Unglück und Verschuldung und der Vermittlung von Kenntnissen (meinen deutschen Landsleuten etwas zu erzählen, was sie nicht wissen), die Deutschen schlechthin, in beiden Staaten, weil, was die deutsche Geschichte und die deutsche Schuld anging, ein fraglos Gemeinsames war, das zu leugnen, zu verharmlosen oder für inzwischen irrelevant zu erklären, Bobrowski abgelehnt hat, so abgelehnt, wie es damals weder in West noch Ost opportun war. Die Verschuldungen der Vater sind auch noch unsere Verschuldungen, und man kann sich, gerade als Deutscher, von seiner Nationalgeschichte nicht freisprechen. Dieser zentrale Gedanke (hier als Satz aus einem Interview von 1965) stand schon hinter der Konzeption des „Sarmatischen Divans“ von 1956. Wer aus solcher Überzeugung und Intention schrieb, durfte am ehesten darauf bestehen, „deutsche Gedichte“ ohne Einschränkung noch Zusatz, ohne Wenn und Aber zu schreiben, auch wenn es damals aus der politischen Wirklichkeit heraus kaum realistisch erschien. Ebenso sinnvoll wie ungewöhnlich erscheint es rückblickend, daß diese Gedichte in beiden deutschen Staaten verlegt wurden.
Für wen es keinen Freispruch von der Nationalgeschichte geben konnte, für den gab es mit Kriegsende und Neubeginn, unbeschadet des tiefen politischen Einschnitts, auch poetisch keine Stunde Null, keinen Abbruch und keine Verleugnung der literarischen Tradition. Auch in diesem Sinne, so darf gesagt werden, schrieb Bobrowski „deutsche Gedichte“. Der offenbar frühe Aphorismus Ohne Erbe gibt es keine Legitimation belegt, wie entschieden er die Frage des Traditionszusammenhanges bedachte. Das hing allerdings eng mit seiner Generation und Herkunft zusammen. Was in der deutschen Lyrik der Vorkriegszeit, soweit sie sich der faschistischen Inanspruchnahme im Lande zu entziehen vermochte, Tradition heißen konnte, hatte der 1917 in Tilsit Geborene noch gerade und dafür bemerkenswert genau kennengelernt. Das wäre kaum geschehen ohne das weltoffen-protestantische, musisch aufgeschlossene Elternhaus, ohne die Kunst- und Landschaftserlebnisse im bündischen Schülerbibelkreis, auch nicht ohne die nach 1933 fast ungebrochen bewahrte humanistische Tradition des Gymnasiums von Altstadt-Kneiphof in Königsberg (wo die Familie seit 1928 lebte). Es war ein bildungsbürgerlicher Humanismus, der sich vom nazistischen Ungeist zwar distanzierte, zugleich aber in antik-deutsch-protestantischer Innerlichkeit sein Genüge, oft genug seinen Frieden fand. Ihn brach auch die Bekennende Kirche, der sich die Familie bald anschloß, nur bedingt auf. Es war jene in sich lautere, traditionsbewußte, politischer Auseinandersetzung abholde Welt deutscher Innerlichkeit, die ihre literarischen Säulenheiligen in Angelus Silesius, Goethe, Hölderlin und Eichendorff, in Rilke und George hatte und der ebenso, auf sehr verschiedene Art, Zeitgenossen wie Britting, von der Vring, Friedrich Georg Jünger und Weinheber, die Naturlyriker Wilhelm Lehmann und Oskar Loerke oder Erzähler wie Ernst Wiechert und Ina Seidel zugehörten. Für exemplarisch kann gelten, daß es Ina Seidels romantisch-mystische Erzählung „Unser Freund Peregrin“ war, die den Nachrichtensoldaten Bobrowski 1941 im Tornister an den nordrussischen Ilmensee begleitete und den Anlaß gab, mit der Verfasserin in Briefwechsel zu treten. Allerdings waren auch Herder, Hamann und Klopstock schon in das Gesichtsfeld des Gymnasiasten getreten, nur daß sie als entscheidendes philosophisch-dichterisches Traditionsfundament erst in den Berliner Jahren, in vermutlich mehreren Schüben, begriffen wurden. So nachdrücklich Bobrowski später ihre Verbindlichkeit für sich mit Recht betonte, so unterschwellig spürbar sollte die Fortwirkung der Innerlichkeitspoesie immer bleiben. Ähnlich zählt auch die deutsche Romantik zu den verdeckten, von Bobrowski niemals benannten Wurzeln seiner Dichtung.
Ein charakteristisches Element der Innerlichkeitspoesie der dreißiger Jahre war die von Hölderlin her motivierte, um und nach dem ersten Weltkrieg schon von Rudolf Alexander Schröder praktizierte Pflege der Odendichtung in ihren strengen antiken Formen, wie sie Bobrowski bei Weinheber und Friedrich Georg Jünger begegneten. Mit dem Griff nach der Ode 1941 am Ilmensee hat Bobrowski später den eigentlichen Beginn seiner lyrischen Versuche bestimmt. Das war, für ihn bezeichnend, keine bloß formale Neuerung, sondern mit einem neuen Thema, dem für alle Zukunft zentralen Thema der russischen Landschaft im Kriege verbunden. Diese außerhalb der einfachen Beschreibung in den Griff zu bekommen, sollten die antiken Odenstrophen helfen, nachdem Versuche in Zeichnen und in Prosa (wovon nichts erhalten ist) vorausgegangen waren. Indem Bobrowski die klassizistische Tradition in den Dienst eines völlig neuen, für ihn, wie er viel später erklärt hat, bestürzenden Themas stellte, bewies er im Ansatz schon da jene enge Verknüpfung eines bedeutenden Inhalts, auf den alles ankommt, mit einer Kunstgestalt von höchstem Anspruch, wie sie seine gültige Lyrik zeigt. Vom unübersehbaren künstlerischen Anspruch seiner Gedichte hat er freilich später nie, von ihrem Thema immer wieder gesprochen. Wo für den jungen Odendichter die besondere poetische Herausforderung lag, deuten die Briefworte für Ina Seidel bei Übersendung des ersten Nowgorod-Zyklus an, er wolle die Oden „bildkräftiger, direkter“ haben, weil sie ihm „fast immer wie durch eine Wand gesprochen erschienen“. Das betont Klassizistische der bisherigen Odendichtung, ,des Gedankens Blässe‘ wohl vor allem, sollte überwunden werden. Das ist Bobrowski damals nur ansatzweise, nur in einzelnen Strophen oder Versen gelungen; mehr ließen die Übermacht der Form und die immer wieder durchschlagende Diktion der Innerlichkeit nicht zu. Zweierlei jedoch bleibt an den Versuchen für später bemerkenswert, das insistierende Umkreisen des im Grunde einen, immer gleichen Themas der russischen Kriegslandschaft, bis hin zur genauen thematischen Wiederholung in den Nowgorod-Gedichten, und die erst darauf folgende Einbeziehung auch der ostpreußisch-litauischen Heimatlandschaft in die Odendichtung.
Ehe das, auf ganz anderer Ebene, wiederkehren sollte, waren lange, schwere und schwierige Jahre zu bestehen, das Kriegsende in Kurland, die sowjetische Gefangenschaft an Don und Wolga bis Dezember 1949, die ersten Berliner Jahre in der jungen DDR. Schien für letztere der auf zwei Antifa-Schulen zum Kommunisten Gewordene (was immer das damals heißen mochte) die besten Voraussetzungen mitzubringen, so kamen diese doch nur partiell zum Tragen, wenn er schließlich Lektor in einem privaten Kinderbuchverlag wurde und schon nach einem Jahr seinen ,Kommunismus‘, zumindest weltanschaulich, als „Konstruktion“ (so in einem Brief), als Aufgesetztes begriff und – seinen „alten metaphysischen Neigungen“ „ihre früheren Rechte“ wieder einräumend – sich wieder als Christ bekannte, auf jene einfache und unorthodoxe Weise, wie sie der baptistischen Tradition der Familie entsprach.
Wenn Bobrowski 1965 den zweiten Neubeginn seiner Lyrik auf das Jahr 1952 datierte und damit alles verleugnete, was er seit Kriegsende geschrieben hatte, so steht das in offener Parallele zum erklärten Erstbeginn mit den Oden von 1941, der seinerseits die frühen Versuche des Gymnasiasten und jungen Soldaten negierte. Was in den Gefangenschaftsjahren entstanden war und in Berlin die Überschrift Heimatlieder erhielt, stellte, mit wenigen Ausnahmen, eine geradezu vehemente Rückkehr zur Reimstrophenlyrik des eigentlichen Anfangs dar, in einer formalen Virtuosität und Beherrschung nun auch großer Formen, die staunen macht, am Ende aber doch ein Rückfall in die anachronistisch gewordene Trostpoesie der deutschen Innerlichkeit blieb. So rasch das Bobrowski, wie die Aufzeichnungen über die ersten Gefangenschaftsjahre belegen, auch begriff, so erstaunlich bleibt die Fortführung der Heimat- und mehr noch der Kunstthematik in den Gedichten der ersten Berliner Jahre, nur daß sie nun – doch immer noch von den Positionen jener Innerlichkeit her – auf Grundprobleme der Zeit zu antworten versuchten. Es scheint, als wäre diese jahrelange Vergewisserung und in aller Souveränität beklemmend wirkende Fortführung der Tradition nötig gewesen, um schließlich zu der eigentlich neuen und eigenen Sprache zu finden, in der Tradition und Modernität zu einer Verknüpfung von großer Kühnheit und Dichte gelangen sollten.
Der Neubeginn von 1952, den die Gedichte „Städte sah ich“ und „Pruzzische Elegie“ bezeichnen, war – wie der von 1941 – einer von Form und Inhalt zugleich. Er vollzog sich als Wiederaufnahme der östlichen Themenwelt, in eins damit als kunstvolles Aufbrechen der antiken Odenstrophen hin zu einer freirhythmischen Verssprache, die ihre edle, streng gesetzliche Herkunft im Detail kaum je verleugnet. Dieser nun überlegen-freie, doch stets kenntliche Umgang mit der Tradition darf als das allgemeinste und eigentümliche Charakteristikum der Lyrik Bobrowskis gelten, wie es kein zeitgenössischer Dichter mit ihm geteilt hat. Was die thematische Rückkehr zur Odendichtung der Kriegsjahre auslöste, muß eine umfassende und tiefgehende Selbstprüfung gewesen sein, für die es keine Selbstzeugnisse gibt, die sich offenbar auch nicht abrupt vollzog, da die anspruchsvollen kunstthematischen Gedichte in der herkömmlichen Form noch geraume Zeit neben den neuen Gedichten einherliefen. Erst im Herbst 1954 setzte sich das neue ,sarmatische‘ Gedicht wirklich durch. Vermutlich bildete sich auch die Konzeption des „Sarmatischen Divans“ nur allmählich aus, jedenfalls, was den entscheidenden Gedanken der deutschen Schuld an den Völkern des Ostens betrifft; 1952 ist nur einmal von einem „Landschaften-Projekt“ die Rede.
Erst die ,sarmatische‘ Konzeption in ihrer moralischen Fundierung und geographisch-historischen Weiträumigkeit machte es Bobrowski möglich, nicht nur von den russischen Kriegserlebnissen, sondern – gleichsam im selben Atemzug – auch von der verlorenen ostpreußisch-litauischen Heimat zu sprechen. Wie problematisch, ja riskant das in den fünfziger Jahren war, ist heute kaum mehr bewußt. Die in der Kriegsfolge Polen und der Sowjetunion zuerkannten ehemaligen deutschen Ostgebiete waren in der DDR als Thema – nicht nur als literarisches – tabu, im andern deutschen Staat aber Gegenstand eines hemmungslosen Revanchismus. Diesem auch nicht indirekt oder entfernt nur zuzuarbeiten, war kaum weniger heikel, als im eigenen Lande das Gedenken an die Heimat überhaupt zu artikulieren. So gewiß das ,sarmatische‘ Gedicht 1952 seinen Ausgang von der russischen Kriegslandschaft nahm, so rasch wendete es sich auch der Kindheits- und Jugendlandschaft Bobrowskis zu. Entscheidende Voraussetzung war das volle Ja zum schuldhaften Verlust der einstigen Heimatwelt; nur so konnte von ihr allenfalls auf verantwortbare Weise geredet und das Tabu schrittweise überwunden werden. Zu Hilfe kam, mit Blick auf die deutsche Unrechtsgeschichte, das Aufgreifen des pruzzischen Themas. In der Jugend eher Gegenstand heroisch-romantischer Vorstellungen, wurde die gnadenlose Unterwerfung der heidnischen Pruzzen durch den Deutschen Ritterorden nun als Teilstück der deutschen Schuld, unter christlichem Vorzeichen, im sarmatischen Geschichtsraum begriffen. Das brachte den faschistischen Raubkrieg im Osten und die ostpreußisch-litauische Jugendwelt in einen übergreifenden Zusammenhang. Aber auch dann noch war es keineswegs selbstverständlich, von dieser Jugendwelt in kunstvollen Versen zu sprechen. Wenn es kein Zurück geben konnte, wozu dann Gedichte, die von der Erinnerung genährt sind, von der unlösbaren Verwurzelung in einer Landschaft, die mit allem Recht verloren ist, wie es Bobrowski 1959 für den Süddeutschen Rundfunk formulierte? Doch ein Freispruch von der deutschen Nationalgeschichte war auch in diesem Sinn nicht möglich, d.h. auch nicht als Verdrängung und Totschweigen von Erinnerung. Sie und die unlösbare Verwurzelung in der unbetretbar gewordenen Kindheitswelt konnten im Gedicht nur erscheinen, wenn sie mit Sicherheit jederart Zugriff von außen entzogen blieben. Das war eine moralische und das war eine subtile poetische Aufgabe. Nur von ihr her erklärt sich der fast völlige Verzicht auf die Vokabel Heimat in den vom Autor selbst veröffentlichten Gedichten.
Als historisch-moralisches Thema hätte Bobrowski das sarmatische Gesamtthema kaum erfaßt ohne die Erfahrung, ohne das Bewußtsein der eigenen Mitschuld als Soldat der Hitler-Wehrmacht vor allem in der Sowjetunion. Was dieses Bewußtsein poetisch konstitutiv werden ließ, sind sicherlich ebenso christliche wie historisch-materialistische Gedanken und Einsichten (aus Bekennender Kirche und Antifa-Schule) gewesen, kaum weniger aber im engem Sinn literarische Motivationen. Die rigorose und bald ausschließliche Hinwendung zur ,sarmatischen‘ Welt, dazu unter ihrem spätantiken, die neueren und gegenwärtigen Bezeichnungen beiseite schiebenden Namen, bedeutete innerhalb der fordernden kulturpolitischen und literarischen Situation in der DDR damals auch ein Stück Abgrenzung und unausgesprochener Verweigerung. Wer mit der in diesen Jahren maßgeblichen Lyrik von Becher, Weinert und Fürnberg, Maurer und Kuba, mit ihren Formen und Inhalten, nicht konform ging, war isoliert. Was Bobrowski 1960 in einem internen Vortrag erklärte, daß mit wenigen Ausnahmen… moderne Lyrik hierorts nicht existiere, galt für ihn sechs Jahre zuvor erst recht. Das meinte Lyrik im zeitgenössischen europäischen Kontext, in der vielgestaltig weitergeführten symbolistischen Tradition, deren Aufarbeitung in Deutschland durch das ,Tausendjährige Reich‘ verhindert worden war. In ihr sah er das kompliziert-komplexe Weltbild und Lebensgefühl der Gegenwart angemessener ausgedrückt als in klassizistischen Sonetten, neuen Volksliedern und agitatorischer Versrhetorik. Wer sich solcherweise vom im Lande Erwünschten abgrenzte und dennoch in diesem Lande, dessen sozialistische Prinzipien er bejahte, leben und wirken, weil einfach so östlich wie möglich leben wollte, dem mußte das aus bitterer Erfahrung zugewachsene Thema der deutschen Schuld gegenüber den Völkern des Ostens zum thematisch-moralischen Fundament einer jedenfalls legitimen, ja nützlichen, gleichzeitig aber eben damit sich von der Wirklichkeit dieses Landes dispensierenden Dichtung werden. Als Bobrowski 1962 in einem Brief an Christoph Meckel gelegentlich der Erzählung „Lipmanns Leib“ die rücksichtslose Hinwendung zu seinem „Thema“ hervorhob, fügte er erklärend an:

Ich meine, die Gesellschaft heute und alle ihre Erfahrungen und Unternehmungen versagen sich der Interpretation durch die Künste. So sehr, daß sie nicht einmal die Flucht zulassen. Es ist kein Klima für Kunst.

Das meinte kaum nur, aber zuallererst die Gesellschaft, in der er lebte. Aus offensichtlich gleichem Grunde vollzog sich seit 1952 die Hinwendung zum und das – „ohne jede Rücksicht“ – bald ausschließliche Beharren auf dem sarmatischen Thema im Gedicht.
Mit der von Bobrowski nie erwähnten, die ,Dunkelheit‘ seiner Verse befördernden Einwirkung der symbolistischen Tradition, Georg Trakls vor allem, verband sich von Anfang an auch jetzt der Nachhall Klopstocks und Hölderlins, nicht nur in den freigesetzten metrischen Elementen der Ode, sondern erst recht in denen von Wortwahl, Wortfolge und Syntax, die den insgesamt gehobenen, freilich auch ständig zurückgenommenen ,antiken‘ Sprachton der Gedichte wesentlich ausmachen, von dem alles Wirkliche eine seltene Würde empfängt. Aus beiden Einwirkungen zusammen erwuchs als selbständig Neues das ,sarmatische‘ Gedicht. Hinzufügen mag man noch die Sprach- und Bilderwelt der Lutherbibel, die Bobrowski tief vertraut war; die christlichen Glaubenstatsachen erklärte er freilich als unzugänglich für im strengen Sinn schöpferische Dichtung. Eigentliche Vorbilder hat er nicht gekannt. Einziges eher materiales Vorbild war ihm Peter Huchel, in dessen Gedichten er Landschaft auf exemplarische Weise als Wirkungsraum des Menschen dargestellt fand. Wohl aber war er ein großer Bewunderer verwandter Geister, die er – wie er von seinen Widmungsgedichten mehrfach erklärte – anrief wie die „Sternbilder, nach denen der alte Sarmate die Himmelsrichtung peilt“. Ob neben Klopstock und Hölderlin auch Hölty, Brentano, die Günderrode, Eichendorff und die Droste, später die Lasker-Schüler, Gertrud Kolmar oder Nelly Sachs, ob Góngora, Bezruč, Dylan Thomas, Kavafis oder Saint-John Perse (um nur Lyriker zu nennen), sie alle rief er, wie er schon 1956 betonte, von der Sarmatischen Ebene her an, als Mitträger und Befestiger seiner sarmatischen Vision. Das war nötig, wo er für diese Vision zunächst kaum Verständnis erwarten konnte.

Den sarmatischen Namen hat Bobrowski poetisch nur dreimal gebraucht, freilich an gewichtiger Stelle, aber auch nur im ersten Gedichtband, in der Überschrift des Gedichts „Die Sarmatische Ebene“, als freigestelltes Epitheton und äußerste Abbreviatur im „Stromgedicht“ und im Bandtitel Sarmatische Zeit. Die beiden Gedichte gelten den Grundfiguren der sarmatischen Landschaft, Ebene und Strom. Von den Ebenen und Strömen Rußlands, neben den zerstörten alten Städten, ging Bobrowskis Lyrik im Krieg und wieder 1952 aus. Sie blieben die elementare poetische Faszination des Dichters; erst von ihnen kam beide Male auch die ostpreußisch-litauische Heimat in den Blick. Beide Gedichte sollten als Titelgedichte anfangs auch die Bandtitel liefern. Aus dem Bandtitel Die Sarmatische Ebene wurde rasch Sarmatische Zeit, aus dem anfänglichen Titel des zweiten Bandes Stromgedicht auf Umwegen und in letzter Minute Schattenland Ströme. Das Gedicht „Die Sarmatische Ebene“ weist die sarmatische Landschaft nachdrücklich als das aus, was sie in den Gedichten grundsätzlich ist, als Geschichtslandschaft, in der Geschichte, vom Zweiten Weltkrieg bis in die Völkerfrühe hinab, geheimnishaft gegenwärtig ist, wofür nicht nur die Worte Schlaf und Traum, sondern auch das Lied, das die Ebene singt, und die Seele, / voll Dunkel einstehen. Das ließ der Bandtitel Die Sarmatische Ebene nicht entfernt ahnen, das assoziiert erst der Titel Sarmatische Zeit. Er meint, in Glanz und Verbrechen, die gesamte Geschichtszeit Osteuropas, Sage, Legende und Mythos eingeschlossen, ebenso wie die Zeit, die der Dichter dort selbst gelebt hat, in Jugend-, Kriegs- und Gefangenschaftsjahren. Insofern die Sarmaten ein Nomadenvolk waren, das mit der Völkerwanderung aus der Geschichte verschwand, deutet die Sarmatische Zeit als Zeit des Dichters zugleich auf die düstere Bewegtheit seines persönlichen Lebensganges, der ihn in den Kriegs- und Gefangenschaftsjahren westwärts bis an den Ärmelkanal, ostwärts bis jenseits der Wolga und für immer aus der Heimat führte.
Wenn die Ebene riesiger Schlaf / riesig von Träumen heißt und damit zu verstehen gegeben wird, wie Geschichte in ihr fortexistiert, so bezeichnet das jene Sphäre, ohne die Bobrowskis Gedichte nicht zulänglich verstanden werden können. Traum ist der zentrale Begriff, der sie rückwärts an Symbolismus und Romantik, aber auch noch an die deutsche Innerlichkeit bindet. Geringer an Lebensgehalt und doch die Innenseite alles Wirklichen meint der Schlaf der Ebene, der Schlaf der Steine, Vögel und Bäume (Immer zu benennen). Als Traum und Schlaf oder dunkle Rede begegnet uns, wovon wir kein eigentliches Wissen mehr haben und was dennoch geheimnisvoll da ist. Als Traum ist die sarmatische Landschaft, in geradezu visionärer Schärfe der Bilder, vom ersten Wort an im „Stromgedicht“ gegenwärtig. Sein Ende ist noch nicht das Ende des Gedichts, sondern der Traum geht in ein identisches Zeichen über, in das in den Mörtel der Wand gekratzte Abbild des Stroms; das aber heißt sarmatisch. Das ist offenbar eine Art Beschwörungszeichen, das den Traum nicht nur überdauert, sondern vermutlich auch wieder provozieren kann, allemal aber, wie im Gedichtschluß, den Nachhall des Gedenkens ermöglicht. Auch die Zeichen-Vokabel gehört, als Beschwörungs- und als vieldeutiges Naturzeichen, zu den Grundworten von Bobrowskis sarmatischer Weltsicht und Poetologie. Indem die sarmatische Welt für den Dichter schmerzhaft-intensiv allein in den Versen existiert, verweisen diese auf kein Gegenwärtig-Wirkliches außerhalb ihrer. Was die sarmatische Welt in ihnen ist, das sind auch die ,sarmatischen‘ Verse selbst, Traum- und Zeichenrede vor allem.
Zeichenrede ist das ,sarmatische‘ Gedicht im Laufe der Jahre immer mehr geworden. Anfangs überwog noch der Sprachgestus der Erinnerung und ließ Anekdotisch-Historisches zu, so sehr, daß eine Zeitlang sogar ein wirkliches sarmatisches Geschichtsgedicht von Rang entstand, wovon aber Bobrowski kein einziges Beispiel veröffentlichte, obschon Gedichte wie „Der Samländische Aufstand 1525“ willkommen gewesen wären. Mit ihrer vordergründig-gegenständlichen Wirkung entsprachen sie bald nicht mehr dem mehr summierenden oder mehr grundsätzlichen Gedicht, wie er es (nach einem Interview von 1965) verstand. Daß es mit „Klarstellung von Sachverhalten, Lehrgedicht“ und „Ballade“ aus sei, erklärte Bobrowski 1959 ebenso wie, daß der Vers „wahrscheinlich wieder mehr Zauberspruch, Beschwörungsformel“ werden müsse. Dem dient der suggestive Anredegestus der ,sarmatischen‘ Gedichte, der nicht – nur aus der Odentradition stammt, sondern auch ein Stück Beschwörungsrede ist, nicht weniger als die Vielzahl verbloser Nominasetzungen oder die Mehrdeutigkeit von Aussagen, vornehmlich weil die syntaktischen Beziehungen offen bleiben. Eigentliche Beschwörungskraft erreichen die Verse damit freilich erst, weil ihr Gegenstand stets das Wirkliche in sinnlicher Dichte und Schwere ist; zu Herders Definition von Poesie als „sinnlich vollkommener Rede“ hat sich Bobrowski ausdrücklich bekannt. Was so entsteht, läßt sich – auf eine verkürzende Formel gebracht – als magischer Realismus bezeichnen, der sich für Bobrowski im Grundsätzlichen von Hamann, poetisch-stilistisch vom Symbolismus herleitet. Das gilt erst recht für die zunehmende Zeichenrede der Naturphänomene wie des Gedichts selber, die Geschichtszeichen, aber auch schon ein irdisch Absolutes meint, das an die Stelle Gottes in Hamanns Naturrede tritt, doch kaum zu definieren ist. Nicht zuletzt ist es die gesteigerte innere Gegenwärtigkeit der sarmatischen Welt (als doch immer alter und vergangener Welt) im einzelnen Gedicht, die dessen magisches Fluidum bewirkt.
Das alles ist Bobrowski vielleicht erst bei der endgültigen Titelgebung des zweiten Gedichtbandes ganz bewußt geworden. Es war nicht leicht, einen zweiten Titel zu finden, der das sarmatische Thema ähnlich komplex in Worte brachte wie Sarmatische Zeit. Was zuerst Stromgedicht, dann Wetterzeichen, danach Der Wachtelschlag heißen sollte, hieß im Verlagsvertrag, nach einem später getilgten Titelgedicht, Der Brunnen und der Strom. Ganz zuletzt erst hielt Bobrowski auch diesen Titel für „ein bißchen verdächtig, von wegen Allegorie“ und suchte „einen bessern“, wie er seinem Stuttgarter Lektor schrieb. Im nächsten Brief (vom 20. November 1961) hieß es:

Am liebsten wär mir Schattenland Ströme und dann darunter Gedichte... Die beiden Vokabeln, so einfach zueinander gestellt, müßten (hoff ich) Assoziationen erwecken, die auf eine Art magischer Figur hinauslaufen. Und darauf käm es an.

Das brachte mit „magischer Figur“ die Forderung an den lyrischen Vers, wieder mehr „Zauberspruch“ und „Beschwörungsformel“ zu werden, auf den Begriff. Mit dem artikellosen Plural Ströme wird die sarmatische Landschaft in Größenordnungen beschworen, die den ersten Bandtitel an sinnlich-poetischer Kraft noch übertreffen. Seine eigentümliche Färbung und Tiefe, seine magische Figuration, erhält der Titel aber erst von der Zuordnung der neugefundenen Vokabel Schattenland, die in den bisherigen Gedichten Bobrowskis, selbst in denen des zweiten Bandes, nicht vorkam. Das so betitelte Gedicht „Schattenland“ entstand erst, als der zweite Band schon im Druck war. Weisen die Ströme, wenn in den Versen ihre Namen fallen, noch auf die geographische Wirklichkeit, so signalisiert die Vokabel Schattenland im Bandtitel allein und machtvoll den besonderen imaginären Status der Welt dieser Gedichte.
Was es schon gab, war der vorwiegend personale Gebrauch von Schatten. Von der Schattengestalt im Gedicht „Seestück“ und von der Schattenfabel (der Verschuldungen / und der Sühnung) im Gedicht „An Klopstock“ ist überliefert, daß sie Bobrowski bei Herder gefunden hat. Daß wir auf Erden nur „Schatten“ und „Schattengestalten“ sind, ist eine melancholische Grundüberzeugung Herders ebenso wie die Vorstellung, daß sich die vergangene Geschichte „wie Schatten“ in der gegenwärtigen zeige. Beides geht auf den antiken Glauben zurück, daß die Toten als Schatten in der Unterwelt ein Scheindasein fortführen. Von daher bezeichnet die Schatten-Vokabel nicht nur bei Herder, sondern in der gesamten klassisch-romantischen Dichtung, einschließlich Hamanns, Klopstocks und Hölderlins, alle Formen und Stufen uneigentlichen, reduzierten oder geisterhaften Daseins, bis hin zur hiesig-irdischen Existenzform des Gestorbenseins (wie in Bobrowskis späten Gedichten). Ähnlich weist Schatten in den sarmatischen Versen auf Todesnähe („Seestück“), auf das Unwirklich-Unmenschliche wie Schuldhafte der eigenen Existenz als deutscher Soldat („Dorfkirche 1942“) oder auf die schemenhaft gewordene Existenz des wahnsinnigen Dichters („Hölderlin in Tübingen“).
Wenn der personale Gebrauch von Schatten für Bobrowskis Gedichte erst ab 1960 charakteristisch wird, so deutet das eine Entwicklung an, die in der Findung des Schattenland-Wortes ihr Ziel erreichte. Die sarmatische Welt als Schattenland insgesamt – das assoziiert, darin dem ersten Bandtitel ähnlich, mehreres zugleich: die Heimat und Kindheitslandschaft in ihrem unwiderruflichen, weil schuldhaften Vergangen- und Verlorensein, die schuldbeladene Existenz als deutscher Soldat im Osten, aber auch die im Bewußtsein des Dichters bedrängende innere Gegenwart und Fortexistenz beider Welten, ebenso die magisch-wirklich-unwirkliche Weise, in der sie in den Gedichten präsent sind. Noch in der mehrsinnigen Aufnahme der Schatten-Vokabel beweist Bobrowski jenen gleichzeitig sicheren und schöpferisch-freien Umgang mit großer Tradition, von dem schon die Rede war und der sich mit dem magisch-komplexen Welt- und Dichtungsverständnis in der Tradition des Symbolismus zu so erstaunlicher Einheit zusammenfindet. Eben damit entzog und entzieht sich diese Dichtung jedem aktuell-politischen Zugriff. Ihr Engagement, von dem der Autor so oft gesprochen hat, ist in den Versen selbst – auf sehr vermittelte Art – ein streng moralisches geblieben.
Mit dem Abschluß des Gedichtbandes Schattenland Ströme erklärte Bobrowski im Sommer 1961 die (lyrische) Bestandsaufnahme“ seiner „östlichen Vergangenheit,“ für abgeschlossen und ging – trotz einzelner früherer Versuche – zielstrebig erst jetzt zur Prosa über. In ihr ließ sich das sarmatisch-moralische Thema in seinen historischen und sozialen Details entfalten, wie es das mehr grundsätzliche Gedicht, wie er es verstand, nicht erlaubte. Was in den beiseite gelegten Geschichtsgedichten sich schon im Detail zu Wort gemeldet hatte, ostpreußisch-litauische Landesgeschichte vor allem, fand in der Prosaerzählung sein angemesseneres, auch moderner Gestaltung zugänglicheres Element. Manche Themen wurden sozusagen wörtlich, andere abgewandelt übernommen. Aber auch Strukturelles, lyrisches Reden, Magisches und Zeichenrede sollten inmitten der deutlich historisch-sozial bestimmten Prosa wiederkehren. Indem das Doppelthema von der historischen Schuld der Deutschen gegenüber den östlichen Nachbarn und der nötigen Vermittlung von Kenntnissen an die Epik, an Kurzgeschichte und Roman überging, empfing das Gedicht eine neue Freiheit, in der es zwar noch zu eindrucksvollen Erweiterungen der sarmatischen Welt kam, im ganzen aber das sarmatische Lokal aufgab, bestenfalls noch sarmatische Umrisse behielt oder ahnen ließ und immer häufiger in die eigentliche Lebensgegenwart des Dichters eintrat, in seine Berliner Stadt-Existenz und in eine so grundsätzlich und elementar erfahrene Natur, daß sie als das Wirkliche in letzter Konzentration und Allgemeinheit erscheint. Dieses Wirkliche ist, in Zeichen und Worten, voll lebendiger, nur dunkel vernehmbarer Rede. Mit Stimmen und Mündern, Licht, Finsternis und Schatten tut sich ein hiesig Numinoses von großer Kraft und Fremdheit kund; offenkundiger als bisher wird vom Tod gesprochen. Davon werden die Verse immer karger und lakonischer, immer rätselhafter. So in sich gekehrt sie vielfach dastehen, so deutlich verschließen sie sich jeder herkömmlichen Transzendenz. Was sich erst jetzt als durchweg „magische Figur“ darstellt, handelt immer wieder von Sprache, von der unvollkommenen Sprache des Menschen, die unterwegs bleibt auf dem endlosen / Weg zum Hause des Nachbarn, und von der Geheimnisrede der Natur, die vernommen, benannt, aber nicht gedeutet wird.
In einem Brief Bobrowskis an Gregor Laschen vom April 1965 heißt es:

Funktion des Gedichts ist das Gespräch, freilich oft am Rand des Schweigens.

Das umschreibt dieselbe Situation wie der Satz vom endlosen Weg der Sprache zum Hause des Nachbarn. „Gespräch“ war diesem Dichter kein zufälliges Wort, sondern von Martin Buber her die Kardinalforderung der Zeit. Freilich Gespräch „am Rand des Schweigens“. Hölderlins sicheres Wort „Wir sind ein Gespräch“ hätte er nicht nachzusprechen vermocht, aber auch nicht preisgegeben. Im Gedicht „An Klopstock“ hat er als seine Sprache keine andere als die allgemeine Sprache der vergeßlichen Menschen genannt; ungeflügelt, in karger Rede also, sagt er hinab in die Winter ihr Wort. Auch das umschreibt illusionslos seine Lebens- und Sprachgegenwart. Wenn Bobrowski nicht aufgab, wenn er nicht verstummte, so einzig aus Hoffnung nicht. Sie war, wie er mehrfach nachdrücklich erklärt hat, die schmale, aller Ideologie entzogene, ihm einzig gewisse Basis seines Schreibens. Was er 1961 sein Thema nannte, hielt er eine Hoffnung wert und einen Versuch in deutschen Gedichten.

Eberhard Haufe, Juli 1989, Nachwort

Nachbemerkung

Der Abdruck der chronologisch geordneten Gedichte erfolgt nach: Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Eberhard Haufe. Union Verlag Berlin (1987). Band 1: Die Gedichte. Band 2: Gedichte aus dem Nachlaß. – Das umfangreiche lyrische Frühwerk blieb, mit Ausnahme weniger Oden aus den russischen Kriegsjahren, bei der Auswahl unberücksichtigt. Dasselbe gilt, mit Ausnahme von „Epilog auf Hamann“, für die Epigrammsammlung Literarisches Klima, die als freundlich-satirisches Nebenwerk nur als Ganzes von Gewicht ist und deshalb hier keine Aufnahme fand. Die Anmerkungen zu den Gedichten sind bewußt knapp gehalten und geben nur die nötigsten Auskünfte.

 

Johannes Bobrowski

– Eine Einführung. –

Am 18. März 1963 schrieb mir Johannes Bobrowski: „Ein Herr Matthew Mead […] hat mir mitgeteilt, daß er den größten Teil meiner veröffentlichten Gedichte übersetzt habe, und fragt, ob ich bereits Pläne für eine englische Übersetzung hätte.“ Das war der Beginn meiner Bekanntschaft mit den hervorragenden Übertragungen hervorragender Gedichte, die nun gesammelt in der Ausgabe Shadowlands vorliegen. Nachdem Christopher Middleton und ich Bobrowski versichert hatten, daß Matthew Mead ein guter Dichter sei, wurden diese frühen Übersetzungen der zwei veröffentlichten Sammlungen von Bobrowski uns beiden zur Begutachtung vorgelegt, die ohne Einschränkung positiv ausfiel. Die einzige Ausnahme waren wohl Gedichte in klassischem Versmaß, die nicht in Ruth und Matthew Meads Auswahl vertreten sind. „Deutsche alkäische und asklepiadeische Verse in englischer Sprache – das kommt mir vor wie Zauberei, wenn ganz natürlich fließende Verse herauskommen sollen. (Mit meinen aus der zweiten Sammlung scheint in der Fassung der Meads etwas nicht ganz in Ordnung zu sein.)“ Dies war Bobrowskis Kommentar einige Monate später, nachdem ich ihm meine Hölderlin-Übertragungen geschickt hatte, die zahlreiche alkäische und asklepiadeische Verse enthielten. (Bobrowskis „Ode an Thomas Chatterton“, eines der Gedichte, um die es ging, steht im sapphischen Versmaß.) Jedenfalls war das Ergebnis, daß sowohl Middleton als auch ich Ruth und Matthew Meads Übertragungen zur Autorisierung empfahlen, auch wenn wir beide versucht waren, selbst in diesem Teich zu fischen – wie ich es nur einmal aus besonderen und unvermeidlichen Gründen tun sollte, und dies nur bei Gedichten, die die Meads nicht übersetzt hatten.
Die Veröffentlichung war ein anderes Problem. „Christopher Middleton schrieb mir, daß die Aussichten, einen Verleger zu finden, nicht gerade rosig seien. Das hatte ich auch angenommen“, berichtete mir Bobrowski am 16. April. Selbst in Westdeutschland war Bobrowski als Dichter erst 1960 bekanntgeworden, als einige seiner Gedichte in der Anthologie Deutsche Lyrik auf der anderen Seite erschienen, aber das Schicksal von Bobrowskis Büchern stellte sich als genauso unvergleichlich und wenig vorhersehbar heraus wie das Werk selbst. Man könnte sagen, daß die Übertragungen von Ruth und Matthew Mead weniger einen Verleger gefunden hatten, als von einem Verleger gefunden worden waren, und zwar von Donald Carroll, der allen Widrigkeiten zum Trotz im Jahre 1966 – in einem Jahrzehnt, das aus heutiger Sicht wie ein goldenes Zeitalter der Dichtung in Großbritannien erscheint – einen neuen Verlag gründete, allein um Shadowlands zu veröffentlichen. Innerhalb eines Jahres war dieses Buch eines fast unbekannten deutschen Dichters, erschienen in einem völlig unbekannten Verlag, ausverkauft und mußte neu aufgelegt werden. Auch dies erschien wie Zauberei, widersprach es doch all unseren Erfahrungen mit Übersetzungen aus dem Deutschen.
Meine Freundschaft und Korrespondenz mit Johannes Bobrowski hatte erst 1962 begonnen: Ich fuhr von West-Berlin nach drüben, um eine Lesung von ihm zu besuchen, die unter der Schirmherrschaft der Evangelischen Akademie von Berlin-Brandenburg stand. Zuvor hatte mich das, was ich mir von seinen frühen Veröffentlichungen besorgen konnte, neugierig gemacht. Zwischen dem Erscheinen seines ersten Gedichtbandes im Jahre 1960 und dieser ersten Begegnung war Bobrowski in beiden Teilen Deutschlands zu einem hochangesehenen Dichter geworden. Zwischen 1962 und seinem frühen Tod im Jahre 1965 schrieb Bobrowski zwei Romane und drei Sammlungen von kurzen Prosatexten, die seinen Ruhm noch mehren sollten, und schrieb weiterhin Gedichte, die posthum in einem dritten Gedichtband erschienen. (Seine vierte, 1970 veröffentlichte Sammlung Im Windgesträuch besteht aus Gedichten, die er in den 50er Jahren geschrieben hatte, und aus späteren Gedichten, die er nicht zu seiner Zufriedenheit hatte abschließen können. Ein anderes posthum erschienenes Buch, Literarisches Klima [1977], in dem die satirischen Distichen gesammelt sind, die ihm als Alternative zur Literaturkritik oder zu Polemiken, die er nicht schrieb, gedient hatten, war ebenso ein Produkt dieser fruchtbaren Jahre.)
Beim Wiederlesen der Briefe, die mir Bobrowski während unserer allzu kurzen Freundschaft schrieb, waren es vor allem die Vorahnungen seines frühen Todes, die mich betroffen machten. Wie sehr er sich dessen ständig bewußt war, zeigt sich nicht nur in der Dringlichkeit, die ihn in dieser Zeit als Prosaschriftsteller derart produktiv werden ließ – obwohl er weiterhin nur einen Teil seiner Zeit dem Schreiben widmete und regelmäßige Bürostunden in dem Verlag beibehielt) in dem er als Lektor angestellt war –, sondern auch im Wesen seiner Gedichte. In zwei Briefen sagte mir Bobrowski, daß er jedes Gedicht so schreibe, als werde es sein letztes sein. Ganz abgesehen von ausdrücklichen Bezügen auf seinen eigenen Tod in den Gedichten oder gar feierlichen Schilderungen wie in „Dorfmusik“, ist dieses Bewußtsein in seiner Dichtung derart allgegenwärtig, daß es einen Schlüssel zu der ihr eigenen Unpersönlichkeit liefert, die auch da noch aufrechterhalten wird, wo ein scheinbar biographisches „Ich“ in einem Gedicht agiert; und diese Unpersönlichkeit oder Überpersönlichkeit hebt seine Dichtung ab von dem meisten, was zu seiner Zeit geschrieben wurde. Sie ist Teil dieser Dimension des größeren Raumes, des größeren Zeitraumes, in dem alle von Bobrowski genannten Menschen, Orte und Dinge ihre Existenz haben, gleichgültig, ob sie der Beobachtung oder der Phantasie, der Geschichte oder prähistorischen Mythen entstammen.
Nicht alle Gedichte Bobrowskis feiern die osteuropäischen Regionen und Charaktere, mit denen sein gesamtes Werk immer assoziiert werden wird. Seine Sympathien und Affinitäten erstreckten sich auch nach Frankreich, nach Spanien, bis zu Dylan Thomas’ Südwales und vom Babylon und Assyrien des alten Gilgamesch-Epos über das Mittelalter bis zu seinem eigenen Jahrhundert. Das hatte er mit Peter Huchel gemeinsam. Doch mit sehr wenigen Ausnahmen waren all die Schriftsteller, Maler und Komponisten, denen er Gedichte widmete, tot. In diesem Sinne ist seine Dichtung durchgehend elegisch, gerade so, als sei der Tod für Bobrowski eine Voraussetzung für die Feier gewesen; aber weil es Kontinuitäten über den Tod hinweg sind, die sein Werk zusammenhalten, ist es der Eindruck des Feierlichen und nicht des Trauerns, den seine Gedichte durchgehend vermitteln.
„Mein Dunkel ist schon gekommen“, lautet die letzte Zeile des Gedichts „Kaunas 1941“, eines frühen Gedichts aus Bobrowskis erstem Buch, eines Gedichts über die deutschen Soldaten, die in der Sowjetunion dienten, und die Juden, die von dem Regime, dem jene dienten, vernichtet wurden. Die Schuld der ersten Person Singular dieses Gedichts verdeutlicht folgende Frage:

Sah ich dich nicht mehr an,
Bruder?

Ob wir die Person mit dem Dichter identifizieren, der damals zu diesen Soldaten gehörte, ist für das Verständnis des Gedichts unerheblich, denn Bobrowski schrieb keine „bekenntnishaften“ Gedichte, um sich die Schuld von der Seele zu schreiben. Doch die Wirkung der letzten Zeile wäre nicht dieselbe, wenn Bobrowski die persönliche Schuld einem kollektiven „Wir“ aufgebürdet hätte, da Schuld – ebensowenig wie irgend etwas anderes – weder kollektiv gezeigt noch empfunden, sondern lediglich kollektiv bekannt werden kann – und für Bobrowski stimmt es tatsächlich, daß sein Dunkel schon gekommen war, so daß jedes Gedicht, das er schrieb, geschrieben werden mußte, als ob es sein letztes wäre. Das „Ich“ in Bobrowskis Gedichten – man könnte alle möglichen anderen Beispiele heranziehen und repräsentativ, nicht autobiographisch, aber es muß gleichzeitig einzigartig sein, da Bobrowski seine eigene Erfahrung in der Hoffnung vermittelt, daß andere sie vielleicht als ihre Wahrheit oder Erfahrung erkennen.
Möglicherweise wußte Bobrowski, daß er während seines Militärdienstes in der Sowjetunion oder während seiner langen Kriegsgefangenschaft, die bis 1949 dauerte, nicht wiedergutzumachende gesundheitliche Schäden erlitten hatte, aber wenn dem so war, dann täuschten seine robuste Erscheinung und seine Gewohnheiten darüber hinweg. Seine Freunde kannten ihn als einen Menschen, der gerne aß und trank, der ein starkes Kraut rauchte, das ihm aus Westdeutschland mitgebracht werden mußte, der nicht nur immer für seine vier Kinder und seine Arbeit im Garten Zeit fand, sondern auch für die vielen Besucher, die in seinen letzten Jahren zu ihm kamen. Obwohl er in seinen Briefen vorübergehende Beschwerden erwähnte, war sein Tod für sie ein plötzlicher und unerwarteter Schlag. Seine Todesursache war eine Krankheit, die man normalerweise mit Antibiotika heilt.
Auf der einen Seite war alles an Johannes Bobrowski unnormal und unvorhersehbar, auf der anderen Seite jedoch geradlinig und aus einem Guß. Dieser christliche Dichter, der in einem marxistischen Staat lebte, verdankte seinen relativ großen Freiraum trotz ideologischer und bürokratischer Zwänge einer Anomalie in der Verfassung, nämlich der Existenz einer Oppositionspartei, der CDU, deren offiziell zugelassener Verlag ihn beschäftigte und seine Werke veröffentlichte. Als Wohnort wählte er bewußt Friedrichshagen, einen Vorort, der zu Kaisers Zeiten etwa das Chelsea oder Hampstead Berlins war, ein von Künstlern und Intellektuellen bevorzugtes Viertel, das von den drei drastischen Umwälzungen des letzten halben Jahrhunderts beinahe unberührt geblieben war und unverändert schien. Von West-Berlin mit der S-Bahn dorthin zu fahren, glich einer Reise mit der Zeitmaschine. Noch nicht einmal geparkte Autos oder Verkehrslärm, geschweige denn Neonlichter oder Plakatwände beeinträchtigten die anachronistische Ruhe der Häuser und Gärten. Auch Bobrowskis Haushalt war ähnlich altmodisch eingerichtet. Neben den vielen neuen Büchern und Kunstwerken, insbesondere Grafiken, die sich im Wohnzimmer stapelten, gab es eine kleine Bibliothek mit älteren Büchern, die sein eigentlicher Mittel- und Ruhepunkt war und zu der die alten griechischen Bücher gehörten, aus denen er nur zu seinem eigenen Vergnügen übersetzte; außerdem das Cembalo, auf dem er musizierte, meist Buxtehude und Bach. Nach außen und außerhalb seines Heims war Bobrowski so einfach und unkompliziert wie möglich: bei der Arbeit still und tüchtig, bei literarischen und gesellschaftlichen Zusammenkünften gesellig und bisweilen richtig lustig. Seine Religiosität jedoch behielt er ebenso wie seine extreme Verletzlichkeit und seine Gelehrsamkeit für sich.
Bobrowskis Gedichte mußten ihren ersten Lesern in beiden Teilen Deutschlands völlig außergewöhnlich und überraschend erscheinen. Die Erwartungshaltung an ostdeutsche Lyrik ging in Richtung eines entweder rhetorisch und ermahnend „Nach-Vorne-Blickens“, etwa in der Art von Johannes R. Becher, oder einer knappen und trockenen Sachlichkeit in der Art des späten Brecht. (Die Ausnahmen waren hier meist Dichter einer älteren Generation wie Erich Arendt, dessen Werk westdeutsche Leser über Benders Anthologie kennenlernten, oder Peter Huchel, der einzige ostdeutsche Dichter, dem Bobrowskis Werk verpflichtet war. Die persönlichen Beziehungen zwischen Huchel und Bobrowski wurden durch den Umstand getrübt, daß Huchel, der Gedichte von Bobrowski in seiner Zeitschrift Sinn und Form veröffentlicht hatte, nach 1962 in Ungnade fiel und Schreibverbot erhielt, und das zu einem Zeitpunkt, als Bobrowski in beiden Teilen Deutschlands mit Ehrungen überschüttet wurde. In einem im März 1964 an mich gerichteten Brief erwähnte Bobrowski, daß er sich mit Huchel wieder „feierlich versöhnt“ habe und daß dies auch höchste Zeit gewesen sei, aber Huchel war auch danach noch verbittert darüber, daß Bobrowski in der Öffentlichkeit nicht für ihn eingetreten war.) Daß überhaupt ein Dichter seiner Generation Klopstock, einen Dichter des 18. Jahrhunderts, als seinen „Lehrer“ bezeichnen konnte, schien in Ostdeutschland weniger unerhört als in Westdeutschland, wo es damals galt, möglichst „modern“ und „avantgardistisch“ zu sein. Klopstock – den man einst den „deutschen Milton“ genannt hatte – war für den jungen Hölderlin in dessen Jugend ein Vorbild gewesen, stand aber in späteren Jahren im Schatten Goethes und Schillers und dann auch des späten Hölderlin, nachdem dessen Werk wiederentdeckt worden war. Bobrowskis Verbundenheit mit einem anderen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, Hamann, über den er ein Buch schreiben wollte, läßt sich eher regional erklären, da Hamann, „der Magus des Nordens“, in der „sarmatischen“ Welt, die Bobrowski zu seiner Domäne gemacht hatte, verwurzelt war.
Bobrowskis Affinität zu Klopstock wäre wohl kaum einem Leser seiner Gedichte aufgefallen, wenn er nicht selbst darauf hingewiesen hätte. Seine wenigen klassizistischen Oden stehen Hölderlin formal näher als Klopstock, und seine freien Verse sind in Rhythmus, Struktur, Bildlichkeit und Ton noch weiter von Klopstock entfernt. Die Krux dabei ist, daß das Bekenntnis zum christlichen Glauben, auf das die von Bobrowski bekundete Geistesverwandtschaft mit Klopstock und Hamann sehr wohl hinweist, vielen seiner Leser wahrscheinlich nicht aufgefallen wäre, wenn er sie nicht in einem seiner wenigen und vielfach gelesenen Kommentare zu seinem eigenen Werk darauf aufmerksam gemacht hätte, denn es ist das Besondere an Bobrowski, daß er seine Überzeugungen in seinen Gedichten nicht offen ausspricht. In den meisten Fällen sind seine Überzeugungen zwischen den Zeilen versteckt, in der Auswahl und Anordnung seiner schlichten Worte und in ihrem seltsamen syntaktischen Gerüst. Jeder aufmerksame Leser wird spüren, daß sich in Bobrowskis Gedichten mehr abspielt, als beim ersten Hören oder Lesen auffällt; aber selbst von den Lesern, die in der von Bobrowskis Werk wiederbelebten Tradition – einer gefährdeten – zu Hause sind, hätten nur wenige gewußt, worum es sich dabei handelt, hätte Bobrowski sich nicht in seiner „Klopstock-Notiz“ dazu geäußert.
Selbst wenn Bobrowskis Überzeugung in dieser Äußerung nicht so deutlich zum Ausdruck kommt wie in Teilen seiner erzählenden Prosa, beispielsweise im Roman Levins Mühle, sagt sie uns doch etwas über die von mir erwähnte Dringlichkeit und über die Anomalie von Gedichten, die als Akt der Sühne geschrieben wurden. Vielleicht gibt es noch mehr geheime Verbindungen zwischen diesen beiden. Wenn ja, dann waren dies „Geheimnisse des Herzens“, in die ich nicht eindringen möchte.
Die Themen der Gedichte Bobrowskis konnten nicht zukunftsorientiert sein, da sie eine Welt heraufbeschwören, die durch politische, soziale und wirtschaftliche Umwälzungen und die Auslöschung ganzer Völker und Kulturen – von den alten Pruzzen, deren prächristliche Götter und Helden in den Gedichten genannt werden, bis zu den Juden und Zigeunern – bis zur Unkenntlichkeit verändert worden ist. Diese sarmatische Welt, die Bobrowski mit Hilfe seiner Phantasie aus Fragmenten, Erinnerungen, Relikten und unveränderten Landschaften in seinen Gedichten rekonstruiert, ist deutschen Lesern, die nicht in den äußersten östlichen Randgebieten des Zweiten oder Dritten Reiches geboren wurden, ebenso fremd wie englischsprachigen Lesern. (Wie Matthew Mead in seiner Einführung zur Penguin-Auswahl von Gedichten Bobrowskis und Bieneks unterstreicht, müßte das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik, das wir in Großbritannien als Ostdeutschland kennen, „eigentlich Mitteldeutschland“ heißen, da diese östlichen Gebiete nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschnitten wurden.) Außerdem sollte „die Hoffnung“ in Bobrowskis Äußerung nicht mit dem „Prinzip Hoffnung“ gleichgesetzt werden, an dem der abtrünnige marxistische Philosoph Ernst Bloch, ehemals Bürger der DDR, ungeachtet der bedrohlichen politischen Realitäten festhalten wollte. Bobrowkis Hoffnung dagegen war, als Dichter Zeugnis ablegen zu können von dieser verschwundenen Welt und dabei gleichzeitig einen eher in die Vergangenheit als in die Zukunft projizierten und dennoch exemplarischen Modellstaat als eine Art Utopie zu entwerfen, denn Utopien sind nicht Geschichte, und die Vergangenheit hat den Vorteil, handfesteres Material für Gedichte zu liefern. „Die Liebe ist ein Nebenfluß der Weichsel“, schrieb mir Bobrowski in die Ausgabe von Levins Mühle, die er mir schenkte, und verband auf diese Weise seine Topographie der verschwundenen Welt mit seiner unausgesprochenen Bestimmung zur Sühne, zum Zeugnisablegen und zur Erlösung, und das mittels eines tatsächlich existierenden Brockhauseintrags. Die Mehrdeutigkeit dieses Satzes ist auch ein Schlüssel zu seiner Dichtung, zum einen zu ihrer nüchternen Detailgenauigkeit, zum anderen zu ihrem beinahe unausschöpflichen Reichtum an Bedeutung und Assoziationsmöglichkeiten.
Die Übertragungen von Ruth und Matthew Mead haben bereits gezeigt, daß diese Eigenschaften auch Lesern einer anderen Sprache vermittelt werden können, ohne einen größeren kritischen Apparat als den, den Bobrowski und seine Übersetzer in Form von kurzen Anmerkungen hinzugefügt haben. In dem Bewußtsein, daß die Essenz dieser Gedichte von Lesern, die über nicht mehr Hintergrundwissen über Bobrowskis sarmatische Welt verfügen als ich, selbst dann erkannt wird, wenn diese oder jene Anspielung dunkel bleibt, schließe ich mit der Hoffnung, daß diese größere Sammlung von Bobrowski-Gedichten in englischer Sprache die Aufmerksamkeit findet, die sie verdient, auch im völlig anderen „literarischen Klima“ der achtziger Jahre. Unvorhersehbar, wie er immer gewesen ist, und von Klimaschwankungen, literarischen oder anderen, nicht zu erschüttern, wird Bobrowskis Zauber vielleicht noch einmal wirken.

Michael Hamburger, Johannes Bobrowski: Shadowlands: Selecled Poems. Übersetzt von Ruth und Matthew Mead, London 1984. Bei dem abgedruckten Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung von Hamburgers Vorwort zu dieser Ausgabe.

 

AN JOHANNES BOBROWSKI

Ich habe
deine Gedichte gelesen, und dieses hier
spiegelte etwas von ihrer Textur,
wäre meine Sprache nicht
gefrorene Milch,
deine
ist eine Sache für sich, von der Art
eines gediegenen warmen Steins.

Die Hütten
bewahrt
in deinem Erinnern, Liedworte Litauens,
Torfmoos und Sand, Wörter
ohne Groll, ohne Haß, klarer
wird mir
ihr Sinn
nirgends als in deiner Erzählung von ihrer alten Zeit.

Geduldiger Mann,
ich teile, über die
marschierenden Systeme hinweg,
deine Leidenschaft für die stillen Wörter, alt
wie der Schlag von Riemen, ostwärts
den grauen Njemen hinauf, deine
Hingabe an Wachteln, gastfreundliche
Menschen und Spielleute, gejagt
bis ins tönende Grab.

Und meine Freunde werden hören
von deinem gelassenen
Staunen über alle Dinge,
deiner Rede von wenigen Wörtern,
kühl durch alle Unruhe hindurch,
ihrem Schmerz mit den Menschen
und der Hoffnung,
daß wir, du und ich, unsere Kinder bereiten
für eine Zeit ohne Angst.

Christopher Middleton
Aus dem Englischen übertragen von Jürgen Rennert

 

WO ICH WOHNE
Für Johannes Bobrowski

Am Gewand der vergessenen
Sprache wob hier der Litauer
Kommt darin
Auf uns:
Früh
Wieder das Käuzchen:
Schlaf
Unser verletzlichster Zustand

Thomas Luthardt

 

JOHANNES BOBROWSKI

Komm wir singen…
Wenn wir nicht singen, singen andere…“
Johannes Bobrowski

I
Auf der Suche nach einem Land,
das größer war als das deine,
verströmt sich in meiner Stille
dein Wort.

Zwischen welche Barrieren
ist es geraten –
Sprache von Bernstein,
dunkel und hell,
mit aufgebrochener Kruste
aus dem Schatten
der blauen Erde.

Auf meinem Weg
zu deinen Spuren
haben wir Wanderdünen
durchquert,
über versunkenen Dörfern
das Schattenland
schräger Kreuze.

Unter alten Bäumen
kamst du mir entgegen
mit der jungen Stimme
der Birke.

Im eisigen Winter
tarnte sie sich
mit der Farbe des Schnees.

II
Wir rufen
lang verschwiegene Namen
ins Licht,
die Nacht von Vilnius
die Kälte,
aus der die Flucht gelang.

Ich höre dich reden
über die Wurzeln
der Pfingstrose,
die Dalias1
aufgeschriebenes Leben
verbarg.

Du nimmst Jonušas‘2Atem wahr
unter dem Firnis seiner Bilder,
siehst du den unvollendeten Regenbogen
auf seiner Palette.

III
Mit deinen Versen
suchst du die Orte,
wo die Zeit sich weitet
im Abschied der Memel,
in deinen Zeilen
Glanz gereifter Steine
und das Salz verlorener Jahre.

Von der Beschreibung
deines Zimmers
sind uns nur Worte geblieben.
Erinnerungen
haben dein Haus verlassen,
fanden Zuflucht
im Ort deiner Kindheit.

Wir haben uns gestern
an deinem Grab getroffen.
Es gab an diesem Tag
nur unsere Spuren.
Vom Neuschnee
war es leise
um uns geworden.

Ulrich Grasnick

 

 

Johannes Bobrowski liest Gedichte und Prosa 1962 und 1965 für die Quartplatten des Klaus Wagenbach Verlages.

Johannes Bobrowski liest Gedichte und Prosa 1962. Bei dieser Aufnahme handelt es sich mit ziemlicher Sicherheit um die Lesung Johannes Bobrowskis zur Tagung der Gruppe 47 in Berlin, auf der Bobrowski den Preis der Gruppe 47 erhielt.

 

Gerhard Wolf: Johannes Bobrowski: Leben und Werk

Gerhard Wolf: Beschreibung eines Zimmers. 15 Kapitel über Johannes Bobrowski

Walter Gross: Der Ort, wo wir leben
DU, Heft 2, Februar 1965

Jürgen Joachimsthaler: Bobrowskis Häutungen
literaturkritik.de, 5.4.2017

Andreas Degen: Kafka zum Beispiel
literaturkritik.de, 9.4.2017

Thomas Taterka: Der letzte Talissone
literaturkritik.de, 5.4.2017

Sabine Egger: Martin Buber und Johannes Bobrowski
literaturkritik.de, 16.4.2017

Andreas F. Kelletat: Vom Ende der Sesshaftigkeit
literaturkritik.de, 5.4.2017

Reiner Niehoff: Bobrowski-Fragmente
SWR2, 19.6.2017

 

Zum 80. Geburtstag des Herausgebers:

Kai Agthe: Dem lauteren Gelehrten Eberhard Haufe zum 80.
Das Blättchen, 7.2.2011

Thomas Bickelhaupt: Ein Hüter der Überlieferung
mitteldeutsche kirchenzeitungen, 6.2.2011

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

 

Zum 1. Todestag des Autors:

Jürgen P. Wallmann: ich hab gelebt im Land, das ich nenne nicht“
Die Tat, 3.9.1966

Zum 50. Geburtstag des Autors:

Gerhard Desczyk: „… so wird reden der Sand“
Neue Zeit, 9.4.1967

Zum 10. Todestag des Autors:

Peter Jokostra: Gedenkzeichen und Warnzeichen
Die Tat, 29.8.1975

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Gerhard Rostin: Der geht uns so leicht nicht fort
Neue Zeit, 9.4.1977

Zum 15. Todestag des Autors:

Jürgen Rennert: Von der Sterblichkeit der Dichter
Das Literaturjournal, 3.9.1980

Zum 20. Todestag des Autors:

Gerhard Wolf: Stimme gegen das Vergessen
Freibeuter, Heft 25, 1985

Reinhold George: Brober
Schattenfabel von den Verschuldungen. Johannes Bobrowski zur 20. Wiederkehr seines Todestages, Amerika Gedenkbibliothek, Berliner Zentralbibliothek, 1985

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Michael Hinze: Mitteilungen auf poetische Weise
Berliner Zeitung, 9.4.1987

Eberhard Haufe: Der Alte im verschossenen Kaftan
Neue Zeit, 9.4.1987

Zum 50. Todestag des Autors:

Annett Gröschner: Der sarmatische Freund
Die Welt, 29.8.2015

Christian Lindner: Mit dem dunklen Unterton der Melancholie
deutschlandradiokultur.de, 2.8.2015

Lothar Müller: Nachrichten aus dem Schattenland
Süddeutsche Zeitung, 1.9.2015

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Helmut Böttiger: Große existenzielle Melodik
Süddeutsche Zeitung, 6.4.2017

Dirk Pilz: Dem großen Dichter zum 100. Geburtstag
Berliner Zeitung, 6.4.2017

Dirk Pilz: Ostwärts der Elbe
Frankfurter Rundschau, 7.4.2017

Arnd Beise: Ein Christenmensch und ein großer Geschichtenerzähler
junge Welt, 8.4.2017

Klaus Walther: Johannes Bobrowski: In „Sarmatien“ eine poetische Heimat gefunden
FreiePresse, 7.4.2017

Richard Kämmerlings: Der Deutsche, der an der Ostfront zum Dichter wurde
Die Welt, 9.4.2017

Cornelius Hell: Wer war Johannes Bobrowski?
Die Presse, 7.4.2017

Klaus Bellin: Erzählen, was die Leute nicht wissen
neues deutschland, 8.4.2017

Tom Schulz: Mein Dunkel ist schon gekommen
Neue Zürcher Zeitung, 9.4.2017

Manfred Orlick: Die Deutschen und der europäische Osten
literaturkritik.de, 5.4.2017

Oliver vom Hove: Der Dichter verlorener Welten
Wiener Zeitung, 9.4.2017

Wolf Scheller: Poetische Landnahme im Osten
frankfurter-hefte.de, 1.4.2017

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv 12 +
Internet Archive + Kalliope + KLGIMDbUmzug
Porträtgalerie: Keystone-SDA + deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachrufe auf Johannes Bobrowski: Der Sonntag ✝ Die ZeitSZ
Kürbiskern ✝ Kunze ✝ Grabrede 1 & 2

 

Klaus Wagenbach spricht über Johannes Bobrowski und Günter Grass liest die Erzählung „Rainfarn“.

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