Karl Riha (Hrsg.): Deutsche Großstadtlyrik

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Karl Riha (Hrsg.): Deutsche Großstadtlyrik

Riha (Hrsg.)-Deutsche Großstadtlyrik

 GROSSSTADTLYRIK-ANTHOLOGIEN

Erst um einiges später als in der englischen und französischen Literatur und mit einer starken gattungsmäßigen Verzögerung gegenüber der Erzählung, dem Roman, entwickelte sich kurz vor der Jahrhundertwende auch in der deutschen Lyrik die Großstadt zum zentralen literarischen Thema.1  Dieser Vorgang korrespondierte mit der Ausbildung der Großstadt zur dominanten Erscheinungsform des Städtewachstums im späten 19. Jahrhundert.
Während es 1870 erst acht Großstädte in Deutschland gab, waren es 1910 bereits achtundvierzig. Ein großer Teil der Bewohner dieser Städte kam vom Lande oder aus kleinstädtischem Milieu; diese Menschen mußten sich in einem schockartigen Erlebnis den fremden Lebensformen anpassen, die von moderner Technik, kapitalistischer Wirtschaftsweise und relativer Beliebigkeit der sozialen Beziehungen geprägt waren.2 All dies manifestiert sich auch in der Lyrik der Epoche, die durch die immer wiederkehrenden Bilder von Angst, Hast, Lärm, Isolation ein krisenhaftes Lebensgefühl des Großstadtbewohners widerspiegelt. Dabei ergeben sich aber zwischen 1880 bis heute deutliche Entwicklungen des literarischen Stils und der Einstellung zu diesem Phänomen.
Unter den deutschen Naturalisten, die sich in den frühen achtziger Jahren als Moderne Dichtercharaktere bzw. wiedergeborenes Jung-Deutschland vorstellten, übernahm Arno Holz (1863–1929) mit seinem Buch der Zeit von 1886 eine wichtige Vorreiterrolle für die Aufnahme des Großstadtthemas in die Lyrik; sein Profilierungsversuch als ,moderner Poet‘ bezog sich direkt und zentral auf die aktuelle Großstadtrealität und ihre realistisch-naturalistische Darstellung. – Mit dem Frühexpressionismus vor dem Ersten Weltkrieg trat die impressionistische Einfärbung des Themas, die sich um die Jahrhundertwende mit der Jugendstil-Bewegung durchgesetzt hatte, in einen neuen – mythologisierend auf ,Endzeit‘ und ,Weltuntergang‘ festgelegten – Deutungszusammenhang und gewann in ihm ein frappierend neues Stilprofil, an dem sich in der Weimarer Republik die Lyriker der Neuen Sachlichkeit reiben konnten, einerseits an der expressionistischen Bildlichkeit festhaltend, andererseits auf eine bis dahin unbekannte Detailgenauigkeit des Großstadtsentiments und auf die soziologische Präzisierung der Sichtweise dringend. – Hier wiederum lagen die literarischen Anknüpfungspunkte für Autoren, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den Ruinen jener Städte wiederfanden, aus denen sie ins Exil gejagt oder an die Front gezogen worden waren. Zu einer dem Naturalismus, Jugendstil, Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit vergleichbaren Signifikanz des Großstadtthemas und seiner fixen Verbindung mit einem epochengeschichtlich repräsentativen Stilgestus ist es freilich in der Folgezeit nicht mehr gekommen, aber nicht zuletzt deshalb, weil das Sujet nach dem Zweiten Weltkrieg keiner solchen forcierten Programmatik mehr bedurfte. Wir finden deshalb Großstadtgedichte unterschiedlichster Prägung quer durch die fünfziger, sechziger und siebziger Jahre bei unterschiedlichsten Autoren.
Ich lenke jedoch zunächst – als pragmatischen Einstieg in die Materie – den Blick auf einige markante Lyrikanthologien zum Großstadtthema, die auf ihre Weise das Bild dieses Lyrikgenres – nicht zuletzt für ein breiteres Publikum – geprägt haben. Gerade oberhalb der Marken, die durch einzelne Autoren und vereinzelte Werke gesetzt werden, und unter den Aspekten der Auffächerung bzw. Eingrenzung des Themas nach seinen differenzierenden Gestaltungsmöglichkeiten verdienen sie eine solche – herausgehobene – Aufmerksamkeit. Freilich sind diese Sammlungen ihren Erscheinungsdaten nach nicht gleichmäßig auf alle Kulminationspunkte verteilt, mit denen eben noch die Entstehung und Ausbildung der Großstadtlyrik vom Naturalismus herauf knapp skizziert wurde; sie resümieren und dokumentieren diese Entwicklung, wie es in der Natur solcher Bücher liegt, verzerren sie aber auch, beziehen einen eigenen Standpunkt, entwerfen eine eigene Perspektive, die es zu entdecken und herauszuarbeiten gilt. – Von den signifikanten Titelillustrationen bzw. von der Bebilderung dieser Veröffentlichungen her eröffnen sich über die Gedichttexte hinaus noch einmal eigene Betrachtungsmöglichkeiten und in die bildende Kunst hinüberweisende Signale; sie sollen hier in besonderer Weise genutzt werden!
Das von Heinz Möller herausgegebene, mit Buchschmuck von Ludwig Sütterlin (1865–1917) ausgestattete Bändchen Großstadtlyrik – die erste dieser deutschen Großstadtlyrik-Anthologien – ist 1903 in Leipzig herausgekommen. Die Stadt selbst erscheint in realistischer Manier auf dem Titel lediglich als schwarzer Horizont-Silhouettenausschnitt zwischen zwei flächig aufgezogenen Bäumen gegen einen roten Abendhimmel gesetzt; gleich zweimal erscheint sie jedoch symbolisch-allegorisch: das eine Mal – im Sockel der Einrahmung, die aus zwei zu Pfeilern verstrebten Eisenkonstruktionen gebildet wird, wie wir sie von zeitgenössischen Turm- und Brückenbauten her kennen – als Frauenkopf mit einer Burg auf dem Kopf, die Umsetzung einer geläufigen, für Städte von altersher üblichen Allegorisierung durch weibliche Personen wie Berolina, Hammonia und dergleichen, das andere Mal im Symbol der nächtlich erleuchteten Lampe, die einen Schwarm Mücken anlockt – und verbrennt.
Zieht man die Gedichte heran, die die Anthologie versammelt, ist man durch die Vielzahl von Entsprechungen überrascht, die sich zur eben beschriebenen Titelillustration herstellen lassen; anders als zunächst vermutet, hatte der Designer offensichtlich kein vages Jugendstilarrangement, sondern einen genauen Textbezug im Sinn. Wir dürfen uns deshalb dieser Illustration quasi als Schlüssel für diese Gedichtsammlung bedienen.
Unterrepräsentiert ist das Allegorieverfahren. Schon Heinrich Heine (1797–1856) hatte in Deutschland, ein Wintermärchen eine seltsam gebrochene Darstellung der Hamburgischen Schutzgöttin Hammonia geliefert, indem er sie einerseits als potentielles Straßenmädchen, andererseits als leicht versoffene Matrone karikierte, der allzu leicht ein Glas Rum in die Krone steigt; in „Caput XXIII“ heißt es:

Und als ich auf die Drehbahn kam,
Da sah ich im Mondenschimmer
Ein hehres Weib, ein wunderbar
Hochbusiges Frauenzimmer.

Ihr Antlitz war rund und kerngesund,
Die Augen wie blaue Turkoasen,
Die Wangen wie Rosen, wie Kirschen der Mund,
Auch etwas rötlich die Nase.

Ihr Haupt bedeckte eine Mütz
Von weißem gesteiften Linnen,
Gefältelt wie eine Mauerkran,
Mit Türmchen und zackigen Zinnen.

Sie trug eine weiße Tunika,
Bis an die Waden reichend.
Und welche Waden! Das Fußgestell
Zwei dorischen Säulen gleichend
.3

Derlei Allegorien taugten – unbeschädigt – danach nur noch für biedere Stadtschreiberpoesien; in der modernen Lyrik haben sie keinen Platz mehr gefunden. Dennoch lassen sich metaphorische Restspuren auch noch in dieser Anthologie nachweisen, so etwa wenn es in einem mit „Unterwegs“ überschriebenen Gedicht von Hedwig Lachmann (1868–1918) heißt:

Ich wandre in der großen Stadt. Ein trüber
Herbstnebelschleier flattert um die Zinnen,
Das Tagwerk schwirrt und braust vor meinen Sinnen,
Und tausend Menschen gehn an mir vorüber
.4

Auffallend gehäuft geben die Lyrik-Autoren – darunter mit Julius Hart (1859–1930), Karl Henckell (1862–1941), Johannes Schlaf (1864–1929) und Bruno Wille (1860 bis 1928), dem Begründer der Freien Volksbühne, noch vier Vertreter der naturalistischen Bewegung der achtziger und neunziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts – Panoramaansichten der Stadt in direkter Entsprechung zur Stadtsilhouette des Titelblatts. Eine Reihe dieser Autoren war im Friedrichshagener Kreis zusammengeschlossen, einer Art Vorort-Bohème, die in dem noch dörflichen Friedrichshagen östlich von Berlin residierte, den Naturwissenschaftler Wilhelm Bölsche (1861–1939) zu den ihren zählte und mit Gerhart Hauptmann (1862–1946) im benachbarten Erkner Kontakt hielt.5 Ich zitiere stellvertretend für diese abgehoben-distanzierte und damit pauschalisierende Darstellung die Eingangszeilen zu Georg Reickes (1863–1923) Gedicht „Die Stille“:

Auf abendlichen Wegen vor der Stadt,
Wo seltene Laternen nur die Straßen hellen,
Und aller Weltstadtlärm ein Ende hat,
Geh’ gern ich spät allein. Ein Schimmer, matt
Den Horizont umkränzend, doch an manchen Stellen
Zu röterm Schein sich dichtend, zeigt den Schritt
Der fernen Straßen an, wo gold’ne Lichter
Belebt durch tausend wechselnde Gesichter,
Die Menge treffen, die das Pflaster tritt.
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Es bleibt, was die „Stille“ und den Ort „vor der Stadt“ angeht, bei den zitierten sparsamen Andeutungen. Was aber zunächst nach Fluchtbewegung ausschaut, entpuppt sich rasch als intendierter Zugang zum Thema. Nachdem er sie erst einmal aus seiner Außenperspektive des Abendspaziergangs heraus in die Imagination gehoben hat, läßt der Verfasser gar nicht mehr von der Großstadt und liefert ein Innenbild ums andere:

Ich seh sie hasten, Zahlen in den Zügen
Und Geld im Herzen! Diesem sind es Sorgen,
Dem andern lockender Gewinnst von morgen,
Dem dritten Wunsch nach ehrlichem Betrügen…
Dazwischen Kinder, die zu viel schon wissen,
Fragwürdige Gestalten, halb zerrissen,
Den Hunger in der leeren Tasche tragend,
Und jene Leichten, die den Fremden fragend
Versteckte Blicke hin und wieder schicken
Und ihre Schminke bieten aller Blicken.
Doch Jedes Sinn ist Hast und heißt: Vorbei
Dem Augenblick! Der nächste wird es bringen,
Der nächste schon!… So wogt es mit Geschrei,
Mit Hufschlag, Räderlärm und Glockenklingen.

Die symbolische Ausbeutbarkeit solcher Beschwörungen im Sinne der Titelillustration liegt auf der Hand; sie kann – wie hier – verdeckt geführt werden, kann aber auch – in dieser und jener Form – offen zutage treten. Dies ist bei Karl Henckell der Fall, der in seinem „Berliner Abendbild“ ausdrücklich auf die Lampensymbolik der Titelillustration rekurriert; die Jagd nach dem Licht – gleich Jagd nach dem Glück – fungiert dabei als Mittel der Verallgemeinerung, als gemeinsamer Nenner, unter den sich die verschiedenen Ausschnitte großstädtischen Lebens bringen lassen:

Wagen rollen in langen Reih’n,
Magisch leuchtet der blaue Schein.
Bannt mich arabische Zaubermacht?
Tageshelle in dunkler Nacht!
Hastig huschen Gestalten vorbei,
Keine fragt, wer die and’re sei,
Keine fragt dich nach Lust und Schmerz,
Keine horcht auf der andern Herz.
Keine sorgt, ob du krank und schwach,
Jede rennt ihrem Glücke nach,
Jede stürzt ohne Rast und Ruh
Der hinrollenden Kugel zu
.7

Technischer Fortschritt, der überhaupt die Elektrifizierung der Straßenbeleuchtung erst möglich gemacht hat, und enttäuschte Lebenserwartung – in einigen Gedichten gesteigert zum .toten Dasein‘ – geraten auf diese Weise in unmittelbaren Rapport. Ob sie sich selbst in diesen Befund miteinbeziehen oder sich ihm zu entziehen suchen, darin unterscheiden sich die einzelnen Autoren.
Aus literarhistorischer Sicht ist festzuhalten, daß das soziale Engagement und die aus ihm resultierende Genauigkeit, die die Aufnahme des Großstadtthemas in der naturalistischen Aufbruchsphase charakterisiert hatten, in der vorliegenden Anthologie nicht nur nicht mehr erreicht, sondern – zum Teil jedenfalls – offen abgelehnt werden. Das zeigt zum einen die Ausklammerung von Arno Holz, obwohl gerade er in jenen Jahren mit dem lyrischen Epos Phantasus auf seinen gleichnamigen Gedichtzyklus im Buch der Zeit – eine merkwürdig aus Elendsmilieuschilderung und Freiheitstraum zusammengesetzte Mischung von Gedichten – zurückverwiesen hatte;8 das belegt zum anderen Hugo von Hofmannsthal (1874–1929), der mit Versen aus dem lyrischen Drama Der Tod des Tizian vertreten ist, die im Kontext der Anthologie eine scharfe, gegen die Großstadtbevölkerung gerichtete Wendung erhalten. Das „Anathema über die Großstadt“ wird gleichsam aus weiter Ferne gesprochen, „von einem anderen Ufer her“:9

Siehst du die Stadt wie jetzt sie drüben ruht?
Gehüllt in Duft und goldne Abendglut
Und rosig helles Gelb und helles Grau,
Zu ihren Füßen schwarzer Schatten Blau,
In Schönheit lockend, feuchtverklärter Reinheit.
Allein in diesem Duft, dem ahnungsvollen,
Da wohnt die Häßlichkeit und die Gemeinheit
Und bei den Tieren wohnen dort die Tollen.
Und was die Ferne weise dir verhüllt
Ist ekelhaft und trüb und schal erfüllt
Von Wesen, die die Schönheit nicht erkennen
Und ihre Welt mit unsren Worten nennen.
Denn unsre Wonne oder unsre Pein
Hat mit der ihren nur das Wort gemein.
Und liegen wir in tiefem Schlaf befangen,
So gleicht der unsre ihrem Schlafe nicht:
Da schlafen Purpurblüten, goldne Schlangen,
Da schläft ein Berg, in dem Titanen hämmern –
Sie aber schlafen, wie die Austern dämmern.
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Der verschiedentlich in den Texten angesprochene negative – Zusammenhang von Großstadt und Revolution paßt sich hier ein. Das nächtliche Brodeln der Stadt, die Kulisse der rauchenden Fabrikschlote, die er von einem Vorortbahnhof aus beobachtet, erinnern Detlev von Liliencron (1844–1909) an die deutschen Truppen 1870 vor Paris:

Indessen drinnen die Kommune sich
Im Höllenlärm blutige Wangen wusch
11

und lassen ihn in den Anblick des Sternenhimmels „hoch über allem Zank“ flüchten. Als eine Gespenstererscheinung mischt sich das „Racheweib Revolution“ ins abendliche „Gartenkonzert“ bei Ludwig Jacobowski (1868 bis 1900): „… die langen Knochenarme ausgebreitet“, segnet es vorm Sterben seine Opfer.12 Immerhin: Folgt man der These, die Kurt Mautz in den sechziger Jahren aufgestellt hat, daß der deutsche Frühexpressionismus vor dem Ersten Weltkrieg eine Art Umdrehung der vorhergehenden, um die Jahrhundertwende kulminierenden Stilrichtung sei,13 dann begegnet man hier solchen expressionistisch pervertierbaren Jugendstil-Präfigurationen: sie sind, ins Begriffliche gewendet, ein „letzter Ausfallversuch der in ihrem elfenbeinernen Turm von der Technik belagerten Kunst“ (Walter Benjamin). Die angesprochene Silhouettierung der Großstadtwirklichkeit zum Zwecke ihrer leichteren Imaginierbarkeit und symbolischen Ausdeutung deckt sich in diesen Beispielen mit Tendenzen der Entmaterialisierung, die als bezeichnend für die jugendstilhafte Kunst der Jahrhundertwende gelten.
Die zweite, hier vorzustellende Anthologie neuer Großstadtdichtung – Um uns die Stadt – ist 1931 in Berlin erschienen. Der Einbandentwurf von Martin Weinberg ist für diese Publikation nicht weniger signifikant als der Sütterlins für die Großstadtlyrik von 1903. Wie dort der Jugendstil, so liefern hier das Bauhaus und sein die weitesten Kreise ziehender Einfluß auf die Gebrauchskünste den entscheidenden Aufschluß. Die beiden Gebäude, ein hell erstrahlender Unterhaltungs- und Kaufhauspalast und ein dunkel gehaltener langgezogener Wohnkomplex mit Hinterhöfen und aufgesetzten Fabrikschloten, zwischen denen der Betrachter in der Luft hängt, so daß er fast über einer Schlucht zu schweben scheint, sind jedenfalls in einer Weise formalisiert, daß die Ableitung aus dem Bauhaus-Stil plausibel erscheint. Die volle graphische Einlösung des Titels Um uns die Stadt ergibt sich allerdings erst, wenn man sich den Betrachter tatsächlich hineingestürzt denkt zwischen die beiden Häuserfluchten – und damit in die Position jenes kaum wahrnehmbaren schwarzen Flecks gebracht, der in der Tiefe einen einsamen Passanten markiert. Die Farbgebung arbeitet das Gegeneinander der beiden Baulichkeiten als sozialen Kontrast heraus.
Die expressionistische Gestik, wie sie sich – unterschiedlich nuanciert – in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg in Literatur und Malerei durchgesetzt und gerade auch die Großstadt zum bevorzugten Thema gewählt hatte,14 scheint den beiden Herausgebern – Robert Seitz und Heinz Zucker – für ihre anthologistische Annäherung nicht mehr aktuell; sie setzen denn auch in ihrer Vorbemerkung ,Expressionismus‘ mit ,Sackgasse‘ gleich. In der Tat finden sich quer durch diese Publikation nur noch wenige Verse, die sich auf die metaphorisch aufgeladene, an Endzeit- und Weltuntergangsvisionen geknüpfte Lyrik der Georg Heym (1887–1912), Alfred Lichtenstein (1889–1914) und Georg Trakl (1887–1914) zurückbeziehen lassen, an sie erinnern, sie fortzuführen suchen; so – als Ausnahme – etwa Hans Alfred Kihn (geb. 1885, Todesjahr unbek.) unter dem Titel „Stadtbahnfahrt durch Berlin“:

Hoch über donnernde Brücken rollt der Zug.
Längs hastet grauer Straßen Einerlei.
Lang schrillt ein Pfiff. Der Rauchgestalten Flug
In weißen Fetzenschleiern weht vorbei.

Fern bäumt sich eines Bauwerks Sandsteinknaul,
Das seine Zinnen in den Himmel sägt.
Die Zwischenstraße klafft ihr Pflastermaul
Ganz flüchtig auf und ist vorbeigefegt
.15

Auf einer breiten Basis jüngerer und auch unbekannterer Autoren reicht der Spannbogen der bekannteren Namen von Bertolt Brecht (1898–1956), Walter Mehring (1896 bis 1982) und Erich Mühsam (1878–1934) über Joachim Ringelnatz (1883–1934) und Kurt Tucholsky (1890–1935) zu Werner Bergengruen (1892–1964), Georg Britting (1891–1964) und Günter Weisenborn (1902–1969). Dem Zuwachs an Namen entspricht der Zuwachs an Texten: Um uns die Stadt hat ein etwa vierfach stärkeres Seitenvolumen als Großstadtlyrik.16 Der Grund dafür liegt in der Zunahme von Einzelaspekten, die aus dem inneren Leben der Stadt geschöpft sind; nur so ist es möglich, daß die Herausgeber die Beiträge „unter dem Gesichtspunkt einer Tagesreise durch die Großstadt“ arrangieren können.17 Insgesamt kennzeichnend ist ein betont unaffektierter Zugriff auf die Alltagsrealität. Ich beschränke mich im folgenden auf Texte, die thematisch und ihrer Struktur nach die Titelillustration aufgreifen. Der einfache numerische Überschlag ergibt, daß von den insgesamt einhundertfünfundachtzig Gedichten gut die Hälfte im Motivfeld Straße angesiedelt ist; allein acht Gedichte weisen sogar im Titel darauf hin: „Er ging die Straße hinunter“ (Brecht), „Abendliche Großstadtstraße“ (Britting), „In der Seitenstraße“ (Kästner), „In die Straße gefragt“ (Kessel), „In den Zufahrtsstraßen zwischen den Fabriken“ (Kramer), „Meine Straße“ (Nadel), „Straßen ins Feld“ (Mostar), „Der Strom der Straße“ (Trinius).
Auf der Suche nach möglichst direkten Entsprechungen des ,neusachlichen‘ Designs der Titelillustration stößt man auf Texte, für die ein gewisser formaler Reduktionismus bezeichnend ist, der sich am liebsten auf nackte Daten stützt; ich zitiere als herausragendes Beispiel Erich Kästners (1904–1974) Berlin in Zahlen:

Laßt uns Berlin statistisch erfassen!
Berlin ist eine ausführliche Stadt,
die 190 Krankenkassen
und 916 ha. Friedhöfe hat.

53.000 Berliner sterben im Jahr
und nur 43.000 kommen zur Welt.
Die Differenz bringt der Stadt aber keine Gefahr,
weil sie 60.000 Berliner durch Zuzug erhält.
Hurra!

Berlin besitzt ziemlich 900 Brücken
und verbraucht, an Fleisch, 303.000.000 Kilogramm.
Berlin hat pro Jahr rund 40 Morde, die glücken.
Und seine breiteste Straße heißt Kurfürstendamm.

Berlin hat jährlich 27.600 Unfälle.
Und 57.600 Bewohner verlassen Kirche und Glauben.
Berlin hat 606 Konkurse, reelle und unreelle,
und 700.000 Hühner, Gänse und Tauben.
Halleluja!

Berlin hat 20.100 Schank- und Gaststätten.
6.300 Ärzte und 8.400 Damenschneider
und 117.000 Familien, die gern eine Wohnung hätten.
Aber sie haben keine. Leider.

Ob sich das Lesen solcher Zahlen auch lohnt?
Oder ob sie nicht aufschlußreich sind und nur scheinen?
Berlin wird von 4.500.000 Menschen bewohnt
und nur, laut Statistik, von 32.600 Schweinen.
Wie meinen?
18

Der Autor trifft sich mit dem Leser auf der Ebene abstrakter Zahlenwerte, die frappierend gegeneinander gesetzt werden. Desillusionistisch ist aus solcher Auflistung alle erlebnishafte Dynamik ausgetrieben. Lyrisches Schaffen reduziert sich auf die Versifizierung einer Statistik; in der datenmäßigen Erfassung des Details liegt der Unterschied zu den an sich vergleichbaren Aufzählungen in den Großstadtgedichten der Jahrhundertwende, die an dieser Stelle – das zeigen die Verse Henckells so gut wie die Hofmannsthals – eine stark emotionale bzw. wertende Bildlichkeit ins Spiel bringen. Der Sprung ins spezifiziertere Straßenbild ist von derlei Großraster, wie es Kästner entwirft, nicht weit; als Beleg der Anfang des Gedichts „City“ von George A. Goldschlag (1896–1934):

Lichtbänder zucken über Häuserschächten.
Steile Fassadenfronten stehen stramm.
Rolltreppen schaufeln Menschen aus den Nächten
Der Untergrundbahn auf den Straßendamm.

Geschrei. Geklingel. Hupen und Sirenen.
Schaufenster. Banken. Warenhäuser. Bars.
Haushoch und lächelnd mit entblößten Zähnen
Das Riesenbrustbild eines Kinostars.

Zigarrenhandlungen. Cafés mit Diele.
Bei Bogenlampen Straßenübergang.
In weiter Schlangenflucht Automobile,
Sechsfache Reihen, unabsehbar lang
.19

Individuelles Schicksal relativiert sich in solcher Massierung, hebt sich auf; das herkömmliche individuelle Selbstverständnis faßt nicht mehr, die gewachsenen zwischenmenschlichen Bindungen werden zerrieben. Indem er sie offen kriminalisiert, erhebt Bert Brecht in „Trenne dich von deinem Kameraden auf dem Bahnhof“ – ein Gedicht, das die Zuwanderung in die großen Städte und aus diesem Anlaß die Gesetze plakatiert, die für den Neuankömmling am neuen Ort gelten – provokativ den Verlust, die Preisgabe elementarer menschlicher Tugenden zur geforderten Verhaltensnorm; den Kameraden zu verleugnen, wenn er an die Tür klopft, an den eigenen Eltern fremd vorbeizugehen, falls man ihnen in der fremden Stadt begegnet, überall sich einzurichten, aber nirgendwo Fuß zu fassen, keine Bindungen einzugehen und zu guter Letzt auch keinen Grabstein zu verlangen, der „verrät, wo du liegst“, sind unter das Refrainzeilenmotiv „Verwisch die Spuren!“ gebracht – also: gib deine Identität auf, bekenne dich zu deiner Nichtigkeit innerhalb der herrschenden Verhältnisse usw.!
In der Art und Weise, in der sie auf solche gesellschaftliche Entfremdung zu sprechen kommen, und in den Zusammenhängen, in denen sie diese demonstrieren, kontrastieren die einzelnen Autoren dann freilich. Die aggressive satirische Zuspitzung, mit der Brecht auf „Unstimmigkeiten im gesellschaftlichen Leben der Menschen“20 hinweist, sticht durchaus von der elegischen Haltung ab, mit der Kästner die Erlebnis- und Gefühlssphäre der kleinen Angestellten illustriert, bzw. von den bohèmehaft widersetzlichen Gesängen Mehrings, die von der kabarettistischen Songlyrik herkommen. Es entsteht auf diese Weise eine breite Auffächerung der Positionen, gerade auch was das stoffliche Spektrum angeht. Der Eindruck der besonderen Nähe der Großstadt, den die Anthologie vermittelt, beruht darauf, daß hier großstädtisches Leben wirklich in seiner Nuance getroffen wird. Die Vorbemerkung spricht vom „Spiegelbild“ der „seelischen Besonderheit ,Großstadt‘, wie sie sich den heutigen Menschen darbietet“: „Bei den rasch gewandelten Anschauungen in unserer Zeit sind dem Menschen augenblicklicher Prägung an der Stadt andere Eindrücke, andere Gedankenfolgen wichtig als vor etwa zwanzig, selbst vor zehn Jahren, seine Betrachtung erfolgt aus veränderter Perspektive. Hier liegt der Unterschied dieser Anthologie zu den früheren gleicher Stoffwahl begründet, hier ergibt sich auch die Berechtigung für ihre“ – spezifische, im Schema des Tageslaufs unterschiedlichste lokale und situative Großstadtmomente ansprechende – „Zusammenstellung“.21
In einem Café sitzend zu denken – wie es die Titelillustration entwirft und wie es punktueller Bestandteil auch jener City-Aufzählung ist, die das Goldschlag-Gedicht gibt – ist jener einsame Herr, dessen sich Kästner unter dem Titel „Sozusagen in der Fremde“ annimmt:

Er saß in der großen Stadt Berlin
an einem kleinen Tisch.
Die Stadt war groß, auch ohne ihn.
Er war nicht nötig, wie es schien.
Und rund um ihn war Plüsch.

Die Leute saßen zum Greifen nah,
und er war doch allein.
Und in dem Spiegel, in den er sah,
saßen sie alle noch einmal da,
als müßte das so sein.

Der Saal war blaß vor lauter Licht.
Es roch nach Parfum und Gebäck.
Er blickte ernst von Gesicht zu Gesicht.
Was er da sah, gefiel ihm nicht.
Er schaute traurig weg.

Er strich das weiße Tischtuch glatt.
Und blickte in das Glas.
Fast hatte er das Leben satt.
Was wollte er in dieser Stadt,
in der er einsam saß?

Da stand er in der Stadt Berlin,
auf von dem kleinen Tisch!
Keiner der Menschen kannte ihn.
Da fing er an, den Hut zu ziehn…
Not macht erfinderisch
.22

„Fremde“ bedeutet hier Kontaktlosigkeit, deren Ursachen verdeckt bleiben, Unbehagen, das sich in Traurigkeit und Lebensüberdruß breit macht, die aber auch nur bis zu kleinen irritierten, Hilflosigkeit signalisierenden Geste reichen. Der Vorgang ist beklemmend, ein Äquivalent, wenn man will, zum Schluchtcharakter der Titelillustration. Weiter mit dieser Bildassoziation argumentiert: der ganze Goldglanz des Vergnügungsortes verblaßt, wenn man nur hinter die Fassade schaut, ein Verweis auf die Talmihaftigkeit der großstädtischen Vergnügungen und ihre innere Leere.
Die atmosphärische Vordergründigkeit, die bei Kästner vorherrscht, aufgefüllt durch eine genaue Kenntnis der habituellen Besonderheit jener Sozialcharaktere, auf die er sich als Autor rasch und nachhaltig festgelegt hat, durchstößt Brecht in Richtung oder – besser – aus Richtung einer tiefer liegenden, radikaleren Gesellschaftsperspektive. Sie tritt – nun konkret ans Motiv des Straßenbilds geknüpft – im Gedicht „Er ging die Straße hinunter“ wie folgt in Erscheinung:

Er ging die Straße hinunter den Hut im Genick!
Er sah jedem Mann ins Auge und nickte
Er blieb vor jedem Ladenfenster stehen
(Und alle wissen, daß er verloren ist!)

Sie hätten ihn hören müssen, wie er sagte, er werde noch
Mit seinem Feind ein ernstes Wort sprechen
Der Ton seines Hausherrn behage ihm nicht
Die Straße sei schlecht gekehrt
(Seine Freunde haben ihn schon aufgegeben!)

Er will allerdings noch ein Haus bauen
Er will allerdings noch alles beschlafen
Er will allerdings nicht zu schnell urteilen
(Ach er ist schon verloren, es steht doch nichts mehr hinter ihm!)
(Das habe ich schon Leute sagen hören.)
23

Es dürfte schwerfallen, eine genaue klassenspezifische Festlegung der aufgegriffenen Passantenfigur zu treffen; für den Prototyp eines Kapitalisten ist sie etwas zu niedrig, für einen Proletarier zu hoch gegriffen. Dennoch zielt Brecht mit den in Klammern gesetzten Zeilen, die jede der Strophen und dann noch einmal das ganze Gedicht beschließen und damit eine refrainartige Kommentarfunktion übernehmen, keineswegs nur auf ein privates Malheur, das schon der ganzen Umwelt bekannt ist, während der, den es trifft, noch ganz ahnungslos ist, sondern hat ein tiefer liegendes, grundsätzlicheres gesellschaftliches Übel im Auge. Alle drei Anthologiebeiträge Brechts sind dem 1926 entstanden, 1927 erstgedruckten Zyklus Aus einem Lesebuch für Städtebewohner entnommen, liegen also weltanschaulich vor der marxistischen Wende Brechts, stellen jedoch, indem sie innerhalb der frühen Lyrik den Umschwung von „nur subjektiv erfahrener Vergänglichkeitsproblematik zur Untergangsprognose der spätbürgerlichen Zivilisation“ markieren,24 einen eindeutigen Schritt ins Gesellschaftliche dar.
In unmittelbarer inhaltlicher Kontrastentsprechung zu Kästners Sozusagen in der Fremde und vergleichbaren Texten – zum Beispiel Bergengruens „Das Warenhaus“, Karl Schnogs (1897–1964) „Kinder im Kaufhaus“, Kurt Weses (Lebensdaten unbek.) „Kino am Rande der Stadt“ – stehen Gedichte, die ins Gegenmilieu gehen, also das Armenviertel, das anonyme Mietshaus mit seinem Hinterhof, Dachkammer, U-Bahn, Wartesaal und Leichenschauhaus zum Schauplatz erheben und proletarische Arbeits- und Lebenssituationen, einfache anonyme Schicksale – „Ein Mann, der Nachtschicht hat“, „Arme Frau im Lärm“, „Schöne Asphaltstampfer“, „Auf eine Eisverkäuferin“, „Der Mann im Stellwerk“ usw. – als stofflich-thematischen Vorwurf wählen. Die Poesie eines „mittleren Hauses in der Köpenicker Straße“ – gleichzusetzen „der Avenue des Ternes“, dem „Harvestehuderweg“, denn schließlich enthält die Anthologie auch Gedichte auf New York, London, Paris usw. – bringt Kurt Tucholsky unter dem Pseudonym Theobald Tiger auf folgenden Nenner:

Kotdurchrieselt stehst du,
von Drähten durchzuckt,
ein lebendiger Leib;
oben fassen die Gabeln deiner Antennen in die Luft und ziehen die Musik heran, die Helferin der Gemeinheit;
mit Recht spannen sich die Radiotrapeze, auf denen die Ätherwellen turnen, auf dem Dach aus,
neben den Hypotheken –
denn wer könnte Hypotheken handeln,
ohne die abendliche Hilfe Beethovens!
25

Die literarische Dimension solcher Lokalitäten gilt es – gerade nach der Phase expressionistischer Bild-Hypertrophierung, für die hochgestochene Vergleiche der Großstädte der Gegenwart mit den großen untergegangenen Metropolen der Vergangenheit wie Babylon und Ninive bezeichnend waren – überhaupt erst wieder zu entdecken. Dabei trifft analog zu Tucholsky für die Mehrzahl der Autoren zu, daß sie die realistisch gesehene, im Ausschnitt erfaßte Wirklichkeit nicht mit falscher Schönheit umkleiden, sondern darauf aus sind, gerade aus der Banalität selber zur Poesie zu kommen. Die Poesie verändert sich dabei durch ihr Sujet. Solche Veränderung im Blick schließen die Herausgeber der Anthologie Um uns die Stadt ihre editorische Unternehmung mit Versen Walter Mehrings, der sich herausfordernd ins Lager der Zerlumpten, Ausgestoßenen, Dirnen und Säufer stellt und aus dieser Rollenposition heraus seine modernen Vagantenlieder anstimmt:

Die Poesie!
Ich pfeif’ auf sie
Den alten Leierkasten
Samt Melodie
Und Dichtern, die
Zu eurem Schwindel paßten!
Und klingt’s nicht fein, laßt uns in Ruh’
Wenn euch die Ohren gellen,
Dann pauken wir den Takt dazu
Auf euren Trommelfellen!
Und singen wir nicht, wir pfeifen noch
Bis wir von unsern Lungen
Den letzten Ton erzwungen
Bis auf dem letzten, allerletzten, allerletzten Loch!
26

Damit ist der Zugang von der Titelillustration her, der sich auch hier als ein günstiger Hebel erwies, zwischen Thematik und stilistischer Auffassung, Motivbildung und Wertungsperspektive zu vermitteln, erschöpft. Jugendstil und Neue Sachlichkeit erwiesen sich im Vergleich als fruchtbare Kategorien, die jeweiligen bildhaften und textlichen Darstellungen der Großstadt aufeinander zu beziehen. Im Bändchen Großstadtlyrik von 1903 dominiert die Außenperspektive auf die Großstadt: es kommt zu einer stark negativ gefärbten Imagination. Da liegt es nahe, zu fragen, wie es denn in Um uns die Stadt mit der Umkehrperspektive, dem Blick aus der Stadt in die Natur aussieht. Das Buch noch einmal durchblätternd, stellt man fest, daß es nur wenige Texte gibt, die sich in diese Korrespondenz setzen lassen. Wo von Natur die Rede ist, tritt sie nicht als außerstädtischer Bezirk in Erscheinung, sondern wird nur noch quasi als Ersatzfunktion in der Stadt selber erlebt. Eine seltsame Metaphorik – „man spricht mit Häusern wie mit Tieren“27 usw. – hat hier ihre Wurzel; in ihr mischt sich ein doppeltes Bewußtsein: Großstadt als neuer, akzeptierter Lebensraum und Perversion der Naturqualität im modernen Zivilisationssurrogat. Am bündigsten formuliert sich dieser Widerspruch in dem ausdrücklich mit „Natur“ überschriebenen Gedicht von Ringelnatz, das nach den Worten der Herausgeber nur indirekt mit dem Großstadtthema zusammenhängt, aber gerade deshalb in der Lage ist, ihm dem ,tieferen Gehalt nach‘ gerecht zu werden:

Wenn immer sie mich fragen,
Ob ich ein Freund sei der Natur,
Was soll ich ihnen nur
Dann sagen?

Ich kann eine Bohrmaschine,
Einen Hosenträger oder ein Kind
So lieben wie eine Biene,
Oder wie Blumen oder Wind.

Ein Sofa ist entstanden,
So wie ein Flußbett entstand.
Wo immer Schiffe landen,
Finden sie immer nur Land.

Es mag ein holder Schauer
Nach einem Erlebnis in mir sein.
Ich streichle eine Mauer
Des Postamts, glatte Mauer aus Stein.

Und keiner von den Steinen
Nickt mir zurück.
Es ist zu süß, zu weinen
Vor Glück
.28

Zur Kritik, Korrektur und Ergänzung der beiden ausführlicher besprochenen – programmatischen – Großstadtlyrik-Anthologien bieten sich gleich zwei jüngere Veröffentlichungen an, die damit gleichzeitig den Blick freigeben auf den Fortgang großstädtischer Lyrik über die zwanziger und frühen dreißiger Jahre hinaus auf die Gegenwart hin: die DDR-Publikation Über die großen Städte. Gedichte 1885–1967, 1968 herausgegeben von Fritz Hofmann, Joachim Schreck und Manfred Wolter, und die BRD-Publikation Deutsche Großstadtlyrik vom Naturalismus bis zur Gegenwart, 1973 von Wolfgang Rothe besorgt. Beide Bücher sind ausführlich illustriert, so daß sich auch in dieser Hinsicht ein kontrastierender und fortführender Vergleich mit den herausgestellten Einbandillustrationen von Großstadtlyrik und Um uns die Stadt anbietet.
Schon aus der Titelgebung dieser Sammlungen geht hervor, daß in ihnen auf den Einsatz der deutschen Großstadtlyrik mit dem Naturalismus der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts entscheidender Nachdruck gelegt werden soll. Mit einem Seitenblick auf die in dieser Hinsicht rascher zupackende französische Lyrik, als deren zentrale Autoren Charles Baudelaire (1821–1867), Paul Verlaine (1844–1896) und Arthur Rimbaud (1854–1891) zu nennen sind, formulieren die Herausgeber hier wie dort mit fast identischen Sätzen: „Es ist das Verdienst der Schriftsteller des Naturalismus, die Großstadt als Gegenstand dichterischer Gestaltung entdeckt zu haben“ oder „Die Autorengeneration der Naturalisten schrieb das erste Kapitel im Buche der deutschen ,Großstadtlyrik‘“29 – und da das Stichwort fällt, verweist Wolfgang Rothe ausdrücklich auf die gleichnamige Anthologie von 1903. Zur notwendigen Korrektur – was die stärkere Hervorhebung und Präsentation der naturalistischen Komponente angeht – kann er auf die 1910 von Oskar Hübner und Johannes Moegelin herausgegebene Gedichtsammlung Im steinernen Meer verweisen, in deren Vorwort Theodor Heuss (1884–1963) den Terminus „soziologische Lyrik“ geprägt und auf die anfallenden Texte angewandt hat.30
An beiden Orten wird die Großstadtlyrik der diversen antinaturalistischen Bewegungen – der Neuromantik, des Symbolismus, des Jugendstils etc. – zurückgestellt und abgewertet. Fritz Hofmann verweist im Nachwort zu der von ihm mitedierten Anthologie auf Friedrich Nietzsches (1844–1900) Anti-Großstadt-Diktum im Zarathustra, das seinen Einfluß nicht verfehlt habe:

Speie auf die große Stadt, welche der große Abraum ist, wo aller Abschaum zusammenschäumt…, wo alles Anbrüchige, Anrüchige, Lüsterne, Düstere, Übermürbe, Geschwürige, Verschwörerische zusammenschwärt… Wehe dieser großen Stadt! – Und ich wollte, ich sähe schon die Feuersäule, in der sie verbrannt wird!31

Und Rothe hebt auf Hugo von Hofmannsthals Großstadtverse im Tod des Tizian und deren Wirkung auf die zeitgenössischen Lyriker ab: ihr Anathema über die Großstadt nähre sich aus ihrer Zivilisationsfeindschaft, ihrem Widerwillen gegen die technisch-industrielle Welt und ihrer aristokratischen, nach unten sich abgrenzenden Lebenshaltung.
Wie der Naturalismus dem Großstadtlyrik-Bändchen von 1903 gegenüber als eigentlich dynamische Phase des Großstadtpoems hervorgeholt und unterstrichen wird, so gegenüber Um uns die Stadt der expressionistische Aufbruch schon um 1910 und seine Ausfaltung über den Ersten Weltkrieg hinaus in die zwanziger Jahre hinein. Dieser Vorgang wird einerseits durchaus parallel zur Fixierung der Naturalisten auf das neue Thema gesehen – man spricht zu Recht von einer ,zweiten Blüte‘ der deutschen Großstadtlyrik –, andererseits, besonders was stilistische Ausprägungen angeht, in deutlichem Kontrast. Nie zuvor und nicht danach, hält Wolfgang Rothe fest, hätten sich so viele Dichter dem Phänomen ,moderne Großstadt‘ verschrieben: „Zu keiner Zeit bemühten sich Lyriker mit derartiger intellektueller Intensität und persönlicher Betroffenheit, das Wesen der großen Stadt zu erfassen und Sprache werden zu lassen“; trotz „zahlloser scharfgesehener Details und einer ungeschminkten Wiedergabe der häßlichen Seiten des Großstadtlebens“ liege jedoch „kein Rückgriff auf den Naturalismus vor, den die Programme und Manifeste des Expressionismus ja genauso strikt ablehnten wie den Ästhetizismus“.32
Und Fritz Hofmann versucht, in direktem Zugriff die neue Textqualität und den neuen Dichtertypus wie folgt zu fassen:

Poesie wird zum permanenten Versuch, die Totalität des Daseins in der Stadt mit all seinen Widersprüchen und pittoresken Erscheinungen zu erfassen. Die Stadtlandschaft stellt sich dar als ein vielfältiges, riesenhaftes Panorama. Vorstadt, Fabrikstadt, Bahnhöfe, Straßen, Cafés, Bars, Bordelle, Asyle, Spitäler, Irrenhäuser usw. werden immer wieder neu entdeckt und besungen. Der Dichter ist enthusiasmiert, herausgefordert, bestürzt, verzweifelt, doch niemals unbeteiligt. Seine fast pantheistische Weltbegeisterung steht im Einverständnis mit allen Äußerungen des Lebens und der Kraft, mögen diese noch so häßlich und ekelerregend sein. Die einzelnen Gegenstände werden teilweise mystifiziert, aber die sozialen Sympathien und Antipathien sind klar erkennbar.33

Kriterium fürs Großstadtgedicht ist dabei schon im Frühexpressionismus vor dem Ersten Weltkrieg – seine wichtigsten Vertreter sind neben Heym, Lichtenstein und Trakl, die ich bereits in früherem Zusammenhang erwähnt habe, Gottfried Benn (1886–1956), Jakob van Hoddis (1887–1942), Alfred Wolfenstein (1888–1945), Ernst Blass (1890–1939) und Johannes R. Becher (1891–1958) – nicht mehr ausschließlich die direkte Thematisierung der großstädtischen Wirklichkeit, sondern gerade auch deren vielfach vermittelter Einfluß auf die Sprach- und Formgestik des Gedichts. Die Autoren lassen sich durch das Tempo der ,großen Stadt‘ – die vielfach sich jagenden und überlagernden Ereignisse – inspirieren und schreiben mehr aus diesen Erlebnissen heraus, als daß sie diese von außen nur beschreiben. Das Massenhafte in seiner grellen Erscheinungsvielfalt übt eine eigene Faszination aus; Ausbrüche in Lebenslust und Erfahrungen der Isolation und Ohnmacht wechseln abrupt und lassen sich nicht harmonisieren: daraus resultiert die spezifische Modernität, die expressionistischen Großstadtlyrik.
Wiederum relativ parallelläufig differenzieren die Anthologienherausgeber in Ost und West für den Zeitraum der Weimarer Republik nach Anteil und Stellenwert, den die Lyrik der Neuen Sachlichkeit und die erstarkende Arbeiterlyrik für das Großstadtsujet haben. Hofmann spricht dezidiert von der Eroberung dieses Motivfeldes durch Proletariat und Sozialismus. Damit sind wir historisch auf der Höhe der vorstehend ausführlich besprochenen Gedichtsammlung Um uns die Stadt von 1931 angekommen; Rothe sieht in ihr folgerichtig den Abschluß einer „dritten produktiven Periode der deutschen Großstadtlyrik (…) – für nahezu vier Jahrzehnte die letzte literarische Veranstaltung dieser Art“.34 Einig ist man sich auch noch darin, daß die „offizielle Dichtung im faschistischen Deutschland“ oder – anders formuliert – das „Jahrzwölft des ,Tausendjährigen Reiches‘“ keine „Großstadtlyrik im eigentlichen Sinne“ gekannt hat.35 Auch die Begründungen ähneln sich hier und dort: „Die Naziideologie brandmarkt und verbietet jede Literatur, die die Lebensverhältnisse und die sozialen Probleme in der Stadt zum Gegenstand ihrer Darstellungen macht. Alles Weltoffene und Gesellschaftskritische ist als ,Asphaltliteratur‘ unter Strafe gestellt“, heißt es auf der einen, das offizielle NS-Schrifttum habe eine „blaß-edle, extrem ,verinnerlichte‘, wieder um formale Vollendung bemühte Reimkunst“ gepflegt, „die sich von den Antagonismen der industriellen Gesellschaft betont fernhielt“, heißt es auf der anderen Seite.36 Rothe bezieht in den negativen Befund die Lyrik der ,inneren Emigration‘, die aus der beklemmenden Zeiterfahrung in die ,zeitlose‘ Natur geflüchtet sei, ausdrücklich mit ein.
Nicht zuletzt ähneln sich beide Bücher – partiell jedenfalls – in der Art ihrer Illustrierung. Gemeinsam ist der intensive Rückgriff auf die Graphik des Expressionismus, auch in seiner satirisch-aggressiven Ausprägung: so finden sich hier wie dort Reproduktionen nach Ernst Ludwig Kirchner (1880–1958), George Grosz (1893–1959) und Frans Masereel (1889–1972). Dem streng historischen Aufbau seiner Anthologie folgend, versucht Rothe mit einer Abbildung nach Max Klinger (1857–1920), die eine großstädtische Hinterhofszene vorführt, und mit der Reproduktion einer ornamental aufgefaßten Straßenszene aus der Zeitschrift Jugend den Bogen nach rückwärts – zum Naturalismus und zur Kunst der Jahrhundertwende hin – zu schließen. Über die großen Städte entzieht sich, seiner zuallererst motivisch und dann erst chronologisch orientierten Textanordnung entsprechend, diesem Zwang, geht mit den Abbildungen nicht hinter 1910 zurück, differenziert aber im expressionistischen Bildbereich stärker: so rücken neben den obengenannten Künstlern und etwa Max Beckmann (1884–1950), Otto Dix (1891–1969) und Ludwig Meidner (1884–1966) mit Paul Klee (1879–1940) und Kurt Schwitters (1887–1948) auch abstrakte und dadaistische Entwürfe ins Bild. Ein neusachliches Äquivalent zur Umschlag-Graphik von Um uns die Stadt gibt Oskar Nerlingers (geb. 1893, Todesjahr unbek.) Stadtbahn von Berlin aus dem Jahre 1930 ab.
Ein auffälliges Auseinanderdriften der beiden anthologistischen Unternehmungen ist hingegen für den Zeitraum nach 1945 und vollends nach 1949 zu beobachten! Der Gegensatz in den politischen und damit auch literarischen Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik wird von Fritz Hofmann offen angesprochen – und Wolfgang Rothe antwortet darauf, da ihm ja bei Veröffentlichung seiner Großstadtlyrik-Dokumentation das fünf Jahre zuvor erschienene, konkurrierende Produkt vorliegt. Auch was die Bebilderung angeht, bezieht man sich auf keinen gemeinsamen Illustrationsfundus mehr und geht je eigene Wege.
Zur Kennzeichnung der westdeutschen Literatursituation und ihrer Empfänglichkeit für die Großstadtthematik, die sich angesichts der Ruinenfelder ringsum vor ganz neue Fragen gestellt sah, greift Hofmann auf das Schlagwort von der ,Kahlschlagliteratur‘ zurück:

Großstädtisches Leben im hergebrachten Sinne gibt es nicht mehr, das Stadtthema, wo es aufgenommen wird, impliziert die Frage nach der Bewältigung der Trümmer und der politischen und moralischen Hinterlassenschaft, die Frage nach dem Woher und Wohin. Eine lange, an Höhepunkten reiche Entwicklung ist in ihrer Kontinuität gestört, zwöf Jahre Blut-und-Boden-Dichtung, mystische Heldenlyrik bleiben nicht ohne Folgen für künftige dichterische Bemühungen. Viele Erfahrungen und Sachverhalte sind verwischt, in Vergessenheit geraten, haben eine bösartige Nebenbedeutung erhalten, nicht weniges muß neu begonnen, neu durchdacht und erforscht werden.37

Während man im Osten des Landes, heißt es weiter, antifaschistische und sozialistische Traditionen aufzunehmen und fortzuführen versucht habe, sei man im Westen in expressionistischen, surrealistischen oder neusachlichen Stilwiederholungen steckengeblieben und habe erst spät – mit dem hektischen Wirtschaftsaufschwung und dem Wiedererstarken der Konzerne – das notwendige ,politische Gewissen‘ wiederentdeckt. Trotzdem bleiben harte Kontraste bestehen; Hofmann bringt sie auf die Formel:

Dem Bild der von quälenden Dissonanzen erfüllten kapitalistischen Großstadt stellt der sozialistische Dichter das Bild eines planvoll errichteten, menschlich organisierten Gemeinwesens gegenüber.38

Exakt hier setzt Rothe mit seiner Kritik ein. Zwar bezieht er sich mit ,Trümmerliteratur‘ und ,Rilke- bzw. Benn-Nachahmung‘ der fünfziger Jahre auf ein ähnliches Periodisierungsraster – in der Folgezeit sei die Großstadt eben nur noch ein Motiv unter vielen und übe keinen zwingenden ,Ausdruckszwang‘ mehr aus –, widerspricht aber seinem Editoren-Gegenüber, dem „historisch-dialektischen Literaturtheoretiker“, aus der Sache heraus ganz entschieden:

Wenn es im Nachwort der repräsentativen Anthologie Über die großen Städte heißt, Dichtung und Stadt seien in der DDR „eine neue Gemeinsamkeit eingegangen, beide jung und von hohem Anspruch erfüllt“, so wird hier ein Konsensus suggeriert, den die beigebrachten Werkproben schwerlich bestätigen.39

Im Gegenteil: gerade die Großstadtlyrik der heutigen DDR besitze ja – dank ihres „Insistierens auf dem einzelnen lyrischen Ich“ und ihres „weitgehenden Rückzugs auf die eigene Existenz des Lyrikers“ – einen erstaunlichen Grad an ,Schwerverständlichkeit‘ und präsentiere sich ,esoterischer‘ und ,hermetischer‘, als es – im direkten thematischen Vergleich – bei den bundesdeutschen und Berliner Autoren der Fall sei. Und weiter: trotz mancher baulicher und organisatorischer Anstrengungen überträfen Ostberlin und Leipzig in ihrer derzeitigen Gestalt das „triste Erscheinungsbild“ westdeutscher Großstädte noch um einiges; daher sei es „reines Wunschdenken, in keiner Weise von der Realität des Lebens gedeckt, wenn der Ostberliner Literaturhistoriker Fritz Hofmann schreibt: ,Die neue Stadt hält Abenteuer und Entdeckungen bereit, die im Wagemut und in der Kühnheit ihrer Erbauer begründet sind.‘ Solches Verwischen, ja direktes Ableugnen der Problematik gegenwärtigen und zukünftigen Daseins wirkt dubios“.
Wie immer man zu dieser Kontroverse steht, sie macht doch deutlich und zeigt auch, daß es nach dem Zweiten Weltkrieg keine dem Naturalismus, der Jugendstil-Bewegung, dem Expressionismus oder der Neuen Sachlichkeit vergleichbaren Markierungen für die Fortentwicklung der deutschen Großstadtlyrik gegeben hat: weder aus einem durchschlagenden Formzwang des Sujets heraus, noch aus der stofflichen Konsequenz einer sich durchsetzenden Stillage. Bezeichnenderweise haben sich für die Nachkriegsliteratur seit 1945 bislang keine anderen als rein chronologische Etikettierungen nach Jahrzehnten durchsetzen können: man spricht von der Literatur der fünfziger, sechziger, siebziger und – jetzt eben – achtziger Jahre. Wolfgang Rothe übernimmt diese Ausschilderungen und erhebt sie prompt zu Kapitelüberschriften seiner Anthologie: natürlich kommen dann Autoren der unterschiedlichsten Herkunft und Texte unterschiedlichster Prägung unmittelbar nebeneinander zu stehen. Für die Textdokumentation von Über die großen Städte haben die DDR-Herausgeber inhaltliche Kapitelüberschriften wie „Groß ist der großen Städte Schmerz“, „Die Stadt ist der Stein“, „In den nackten Häusern“, „Die Straßen kommen zu mir“, „Wer aber gibt ihnen Küsse und Äpfel“ und „Ich selber will ein Haus sein“ gebildet, aber dabei handelt es sich nur eben um mehr oder weniger signifikante Verszeilen, die aus den zusammengetragenen Gedichten hergenommen sind; eine epochenspezifische, den Zeitraum strukturierende Energie entfalten sie kaum.
Vergleicht man beide Publikationen nach dem Textmaterial, das sie ausbreiten, kommt man zu überraschenden Beobachtungen, nicht nur im Bereich der Übereinstimmungen, sondern gerade auch dort, wo sie auseinanderdriften, voneinander abweichen. Die Schriftsteller mit bekannten Namen, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg aufgetreten sind und nun erneut ins Blickfeld geraten, dürfen hier vernachlässigt werden, obwohl festzuhalten ist, daß an beiden Orten nur Bertolt Brecht mit gleicher Intensität – und noch dazu mit einer hohen Zahl gleicher Texte („Rückkehr“, „Städtische Landschaft“ und „Als die Stadt tot lag“) – apostrophiert ist, während in der DDR-Publikation Gottfried Benn ganz ausgelassen und in der BRD-Publikation Johannes R. Becher auf seine expressionistische Werkphase reduziert und damit in seiner aktuellen Lyrik vernachlässigt wird. Mit älteren Autoren wie Wolfgang Weyrauch (1904–1980), Günter Eich (1907–1972) und Karl Krolow (geb. 1915), deren erste festere literarische Umrisse unmittelbar mit der Nachkriegssituation verbunden sind, von Wolfgang Borchert (1921–1947) aufwärts zu Ingeborg Bachmann (1926 bis 1973), Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929) und Günter Kunert (geb. 1929) ist ein fester Kern von Autoren gegeben, die als repräsentativ nicht nur für das Großstadtmotiv, sondern generell für die Bewegungen der Literatur der fünfziger und sechziger Jahre anzusehen sind. Teilweise kommt es auch hier zu Abdruckparallelen, so etwa bei Kunert mit „Es sind die Städte“ und „Berliner Nachmittag“, bei Bachmann mit „Brief in zwei Fassungen“ oder bei Enzensberger mit an einen „mann in der trambahn“ und „manhattan island“. Rothe übernimmt aus Über die großen Städte die dort erstgedruckten Gedichte von Heinz Kahlau (geb. 1931) und Wulf Kirsten (geb. 1934).
Auffallenderweise fehlen jedoch in beiden Publikationen wichtige Autoren nicht nur der jeweils korrespondierenden deutschen Teilliteratur, sondern gerade auch der eigenen literarischen Tradition. So vermißt man in der West-Publikation zum Beispiel einerseits Autoren wie Louis Fürnberg (1909–1957) und Kuba, d.i. Kurt Barthel (1914–1967), die einen festen Namen in der DDR-Literatur haben, und andererseits solche fürs Gesamte wie für Teilaspekte der BRD-Literatur doch so wichtige Schriftsteller wie Peter Rühmkorf (geb. 1929) und Gerd Semmer (1919–1967). Nicht weniger schwerwiegend die Defizite in der Ost-Publikation: es fehlen, was den Part der westdeutschen Literatur betrifft, Lyriker unterschiedlicher Generations- und Gruppenzugehörigkeit wie Marie Luise Kaschnitz (1901–1974), Paul Celan (1920–1970), Walter Höllerer (geb. 1923), Ernst Jandl (geb. 1925) und Günter Grass (geb. 1927), man vermißt aber auch DDR-Autoren von Gewicht wie Johannes Bobrowski (1917–1965) und – lange vor seiner Ausbürgerung – Wolf Biermann (geb. 1936). Manches Defizit ist sicher zufällig – wie immer bei solchen anthologistischen Unternehmungen –, querdurch aber haben sie doch eine ganz bestimmte Symptomatik: je auf ihre Weise schlägt so östlich der deutschen Teilungsgrenze die Mißachtung der modernen und experimentellen Poesie und westlich die Vernachlässigung der politisch-engagierten und ,von unten‘ aufsteigenden Lyrik auf das Organisationsprinzip der Veröffentlichung, die Bandbreite der in ihr vorgestellten Texte und deren motivliche Nuancierungen durch.
Am stärksten ist die Differenz natürlich dort, wo es – zum Zeitpunkt des Erscheinens von Großstadtlyrik und Über die großen Städte – um die Erfassung der jüngsten Literatur zum Thema geht. Hier kommt ja hinzu, daß die Auswahlkriterien noch diffus sind und eine entsprechende Kanonbildung erst einsetzt. Doch macht die Vielzahl vorgestellter Autoren deutlich, daß der Komplex Großstadt Ende der sechziger wie anfangs der siebziger Jahre nicht abseits, sondern im Zentrum des stofflich-motivischen Zugriffs der Lyrik liegt. Und das gilt – eher noch verstärkt – auch für die von den beiden Anthologie-Veröffentlichungen nicht mehr erfaßte Gedicht-Literatur der mittleren und späten siebziger und frühen achtziger Jahre. Eine heftig um sich greifende Regionalisierung, die gerade auch die Stadt- und Großstadtlandschaften einbegreift, gehört fest zur Periode nach der Parole vom ,Tod der Literatur‘: neben Berlin, das darin eine lange Tradition hat, entdecken und kultivieren auch andere Städte ein eigenes ,literarisches Image‘; dabei bleibt das Lokalkolorit nicht auf die Erfassung der äußeren Wirklichkeit beschränkt, sondern bezieht sich gerade auch auf die Sprache. Bücher, die aktuell die Ausformungen einer eigens auf eine bestimmte Stadt bezogenen Poesie dokumentieren, bis dahin auf die ehemalige, nach dem Krieg geteilte deutsche Hauptstadt beschränkt, werden nun auch für Frankfurt und Hannover möglich. Wer sich jetzt und heute über den Stand der deutschen Großstadtlyrik informieren will, findet eine reiche Palette poetischer Artikulationsmöglichkeiten vor: sie reicht vom Erlebnisgedicht der ,neuen Innerlichkeit‘ zur auf aktuelle Anlässe zugeschnittenen Songlyrik, vom experimentellen Text zum mundartlichen Jargonpoem, von wilder zu cooler Versgestik u.a.m. Das spricht nicht gegen, sondern für das anhaltende Interesse an dieser Thematik und ihren Facettierungen!

 

 

 

Inhalt

I Einleitung: Problemaufriß

II Großstadtlyrik-Anthologien

III Einzelanalysen

– Arno Holz: Phantasus
– Rainer Maria Rilke: DENN, Herr, die großen Städte sind
– Georg Heym: Der Gott der Stadt
– Walter Mehring: Die Reklame bemächtigt sich des Lebens
– Kurt Tucholsky: Augen in der Großstadt
– Erich Kästner: Die Zeit fährt Auto
– Bertolt Brecht: Untergang der Städte Sodom und Gomorrha
– Wolfgang Borchert: Großstadt
– Günter Kunert: Es sind die Städte
– Hans Magnus Enzensberger: manhattan island
– Rolf Dieter Brinkmann: Oh, friedlicher Mittag

IV Anmerkungen

V Literaturhinweise

VI Abbildungsnachweis

 

Einleitung: Problemaufriß

Was man unter ,Großstadtlyrik‘ zu fassen und zu verstehen hat, ist eine methodische Frage. Handelt es sich um Gedichte, deren Verfasser, deren Leser Großstädter sind, ausgestattet mit einem spezifischen Sensus für das Leben in den ,großen Städten‘ – zusammengekoppelt durch eine eigene – großstädtisch geprägte – Kultur? Handelt es sich um Verse, deren thematischer Vorwurf die ,große Stadt‘ ist – mit allen Motiven, die sich nur denken lassen –, oder haben wir es mit besonderen formalen Eigenschaften, analog etwa zum Großstadtroman zu tun, für den Volker Klotz in seiner großangelegten Untersuchung Die erzählte Stadt, 1969, nachgewiesen hat, daß das Sujet einen eigenen Erzähltypus konstituiert, der sich historisch seit dem achtzehnten Jahrhundert beobachten und beschreiben läßt. Zu widersprechen ist jedoch der dort geäußerten Ansicht, „der Gegenstand Stadt komme literarisch zu sich selbst am angemessensten im Roman“.40 Das gilt allenfalls für den historischen Ansatz von Volker Klotz bei Lesage (1668–1747), Defoe (1660–1731) und Wieland (1733 bis 1813) und auch für weite Teile des neunzehnten Jahrhunderts, aber schon nicht mehr für die letzten Jahrzehnte vor der Jahrhundertwende und schon gar nicht für die Literatur des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit, also dort, wo Die erzählte Stadt mit dem Hinweis auf Alfred Döblin (1878–1957) abbricht. Der Typus des Großstadtgedichts ist durch einschlägige Gedichtsammlungen, die kurz nach 1900 einsetzen, in seinem inhaltlichen und formalen Umriß ausgegrenzt und nachgewiesen; die hier vorgelegten Anmerkungen zur Großstadtlyrik setzen deshalb bei diesem Anthologie-Genre ein und versuchen, sich von ihm aus den Zugang zum Thema – zu den wichtigsten Trends des Großstadtgedichts, den wichtigsten Autoren und Einzeltexten – zu öffnen. Zumindest für die Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts gilt also, daß die Großstadt auf sie eine ähnlich prägende Wirkung ausgeübt hat, wie dies im größeren zeitlichen Rahmen für die Erzählliteratur und besonders den Roman gilt.
In meiner 1970 vorgelegten Untersuchung Die Beschreibung der ,großen Stadt‘. Zur Entstehung des Großstadtmotivs in der deutschen Literatur, ca. 1750 bis ca. 1850 habe ich den Versuch unternommen, ausgehend vom Genre der Reisebriefe, Städteführer, Städteschilderungen und Städtebilder, einen primären, quasi vor-literarischen Fundus an Darstellungssituationen und bildhaften Verarbeitungen des Großstadterlebnisses auszumachen, der sich in die dichterische Adaption und Umformung hinein weiterverfolgen läßt. Ich selbst bin den Spuren dieser Beschreibungsmuster hauptsächlich in der Erzählliteratur des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts nachgegangen; viele der dort aufgespürten Beobachtungsweisen, Bilder, Metaphern etc. – zum Beispiel die Rede vom ,Meer der großen Stadt‘, von der Großstadt als ,Steinwüste‘, aber auch der Babylon-Vergleich – haben hier ihre Wurzel und sind bis heute lebendig geblieben; sie finden sich also auch in der Großstadtlyrik des späten neunzehnten und unseres zwanzigsten Jahrhunderts wieder. Es handelt sich ja sozusagen um poetische Mikroelemente, die sich in unterschiedlichste literarische Strukturen umsetzen lassen, sich aber auch zu selbständigen größeren Darstellungskomplexen ausweiten können. Im Resümee des Buches heißt es deshalb:

In dieser Städteliteratur haben wir die Folie, auf der die dichterische Gestaltung des Stoffs und seiner Motive Kontur gewinnt. Der historischen Betrachtung liefert sie den Schlüssel für den Prozeß der Stoff- und Motiventwicklung. Dabei blieb es nicht. Zugleich zeigte sich, daß dem stofflichen Rezeptionsprozeß die Auseinandersetzung mit den Formen und Strukturen, in denen dieser Stoff sich präsentiert, aufs engste verbunden ist; so mußte die stoff- und motivgeschichtliche Betrachtung notgedrungen in die formale und strukturelle hinüberspielen. Indem wir verfolgten, in welcher Weise Beschreibungsformen der ,großen Stadt‘ zu Erzählformen der ,großen Stadt‘ werden, gewannen wir die typologische Kategorie, die es erlaubt, von Großstadtroman oder Großstadterzählung zu sprechen, auch dann, wenn dabei (…) zunächst nur partielle Momente der behandelten Romane und Erzählungen erfaßt werden.41

Die schmale Lesebuch-Anthologie Stadtleben, die ich 1983 in der Sammlung Luchterhand herausgegeben habe, führt einige dieser aus der Beschreibungsliteratur gewonnenen und poetisch transformierbaren Gestaltungsprinzipien vor – Statistisches zum Auftakt, Großstadtmorgen, Das Erlebnis der Simultaneität, Straßen-Szenen, Häuser-Querschnitte, Von Städten träumen etc. – und dokumentiert, daß sich für jede dieser Einheiten eine Fülle epischer und lyrischer Beispiele aus verschiedenen literarhistorischen Zusammenhängen nachweisen läßt:

So treten, nach Motiven sortiert, aufklärerische, romantische, realistische, naturalistische, expressionistische, sogar dadaistische und – was die unmittelbare literarische Gegenwart angeht – modernistische wie neorealistische Texte zusammen und fügen sich zu einer überraschenden Rezeptionseinheit. Bewußt gesetzte Parallelen und Kontraste über die Ausdrucksgesten unterschiedlicher literarischer Perioden – und auch unterschiedlicher literarischer Gattungen – hinweg, sollen den Leser hierfür sensibilisieren.42

Einen anderen Ansatz hat Marianne Thalmann in ihrem Buch Romantiker entdecken die Stadt von 1965! Wie schon der Titel sagt, geht es ihr um den städtisch-großstädtischen Zuschnitt einer ganzen Dichtergeneration, einer ganzen literarischen Epoche. In ihrer Ausgabe seiner Frühen Erzählungen und Romane nennt sie Ludwig Tieck (1773–1853) einen Städter „bis in die Fingerspitzen“, der „etwas von den Fleurs du mal ahnt, die im Nächtlichen und Künstlichen der Stadt aufschießen“.43 Dieses neue, im Erlebnis der Stadt gründende, nach beigebrachten Lebenszeugnissen vor allem am emporwachsenden Berlin gewonnene Daseinsgefühl der Romantiker, das zunächst in einer ausgeprägten anti provinziellen Haltung und einer gewissen Naturfremdheit in Erscheinung tritt, gipfelt in E.T.A. Hoffmann (1776–1822), der vom Dichter forderte, er habe seine Anregungen „im bunten Gewühl der Stadt“ zu finden. Dabei zielt Marianne Thalmann weniger auf die großstädtische Realität als solche, als vielmehr auf ein Bewußtsein, das deren Struktur eben erahnt, antizipierend erkennt und dichterisch verifiziert; so wird verständlich, daß die Autorin von Großstadterfahrungen und einer aus ihnen resultierenden Städterpoesie sprechen kann, bevor es in Deutschland – anders als in England oder Frankreich – Großstädte im heutigen Sinn gegeben hat. Als ein Schlüsselbegriff dieser frühen Großstadterfahrung, ja geradezu als ein eigener ,Intensitätswert‘ stellt sich dabei das ,Labyrinthische‘ dar: Kernmoment romantischer Poesie-Inhalte und zugleich Hinweis auf eine spezifisch romantische Poesie-Struktur.
Vom frühen neunzehnten Jahrhundert und seiner Fixierung auf die romantische Erzählkunst läßt sich dieser biographische Ansatz Thalmanns mühelos auf den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und damit auf die Anfange der modernen deutschen Großstadtlyrik übertragen: nicht in derselben Einfärbung, aber sicher mit derselben Intensität wie die Romantiker waren die Frühexpressionisten um 1910 Großstädter. Hier – nun aber die Erlebnisqualität in die poetische Struktur spiegelnd – setzt Silvio Vietta mit seinem instruktiven Beitrag „Großstadtwahrnehmung und ihre literarische Darstellung, Expressionistischer Reihungsstil und Collage“ ein, der 1974 in der Deutschen Vierteljahresschrift gedruckt wurde. Er präzisiert zunächst mit Hilfe des Aufsatzes „Die Großstadt und das Geistesleben“, 1902, von Georg Simmel, unter welchen Voraussetzungen die Großstadt erlebt wird und was die Auswirkungen dieses Erlebnisses auf das Subjekt sind:

Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht.44

Und weiter:

Es ist bezeichnend, daß die Beschreibung der großstädtischen Wahrnehmungsform: „rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, der schroffe Abstand“ zwischen ihnen – auch eben jene Lyrik kennzeichnet, die als erste dezidierte Großstadtlyrik im deutschsprachigen Raum gelten kann: die frühexpressionistische Reihungslyrik. Das ist wohl kein Zufall, sondern könnte wesentlich dadurch bedingt sein, daß dieser Typus von Lyrik in seiner formalen Struktur eben jene veränderte Wahrnehmungsstruktur zur Darstellung bringt, die Simmel phänomenologisch als Erfahrungs- und Wahrnehmungsnorm der Großstadt selbst analysiert.

Ein besonderes Augenmerk gilt den ,Schocks‘, mit denen diese neue großstädtische Wirklichkeit – ,Großstadt‘ verstanden als ,Erfahrungsraum‘ der modernen Gesellschafts- und Zivilisationsproblematik, der um sich greifenden Entmetaphysizierung und einer ,Umwertung aller Werte‘, die auch ,primäre Lebensordnungen‘ erfaßt – die Wahrnehmung überfällt und affiziert. Von besonderer Bedeutung sind für Vietta die Baudelaire-Analysen Walter Benjamins. Zum einen deshalb, weil der Franzose als der erste Großstadtlyriker der Weltliteratur überhaupt zu gelten hat, ausgestattet mit einer markanten eigenen Affinität zur ,Schockhaftigkeit des Bewußtseins‘, das den modernen Großstädter kennzeichnet. Zum anderen aus Interesse für das ,literatursoziologische Verfahren‘ des Interpreten, der sich bei der Feststellung der „neuen wahrnehmungspsychologischen Bedingungen“ im großstädtischen Leben, wie sie beispielsweise im turbulenten Durcheinander der Straße in Erscheinung treten, nicht mit Aussagen zum Inhalt begnügt, sondern wesentlich auf die ,formale Struktur der Texte‘ bezieht:

Es ist die durch Brüche und daher Schocks gekennzeichnete formale Struktur der Gedichte, in der die neue Erlebnisnorm zur Darstellung kommt. Es ist auch die intensivierte Geistesgegenwart, mit der ein moderner Autor seine Arbeit selbst reflexiv begleitet und gedanklich durchformt.45

Im Grunde habe Benjamin – so Vietta – Baudelaire schon mit den Augen des zwanzigsten Jahrhunderts gesehen, und weil dem so ist, stelle sich ihm auch ein enger Zusammenhang zwischen der durch die Großstadt ,veränderten Wahrnehmungsstruktur‘ und dem neuen, technischen ,Darstellungsmedium Film‘ her, das die expressionistischen Dichter selbst zum ,adäquaten Ausdrucksmittel moderner Wirklichkeit‘ erklärt hätten. Generell sei ja in dieser ,zerfallenden Welt‘ die Primärwahrnehmung immer weniger unmittelbar und immer stärker ,vermittelt durch Massenmedien‘ gegeben: und hier – speziell beim Problem der Sprachwirklichkeit ,aus zweiter Hand‘, der ,Entfremdung der Sprache von der Primärerfahrung‘ und ihrem dadurch gegebenen Zitat- und Klischeecharakter – schließt nach Vietta die den expressionistischen Reihungsstil aufgreifende, ihn aber in seiner großstädtischen Prägung noch einmal radikalisierende collagierende Schreibweise an.
Signifikant für die im engeren oder weiteren Sinn relevanten, literaturgeschichtlichen Untersuchungen zur Großstadtlyrik, die – mit einiger zeitlicher Verzögerung gegenüber ihrem Gegenstand – erst nach 1930 einsetzen, ist die Anbindung an einzelne Autoren, Autorengruppen und Stilbewegungen: im Ausland Paris, London, Rom und New York, im Inland vor allem Berlin, Hauptstadt des deutschen Kaiserreiches, der Weimarer Republik und des ,Dritten Reichs‘, schließlich eine geteilte Stadt nach 1945. Die Wiener Dissertation von Gertrude Stella – Die Großstadt in der Lyrik, 1935 – und die Münchener Dissertation von Herbert Schelowsky – Das Erlebnis der Großstadt und seine Gestaltung in der Lyrik, 1937 – gehen in die eine, Walter Rehm mit Europäische Romdichtung, 1939, oder Maria Schweiger mit Paris im Erlebnis der deutschen Dichter von Herder bis Rainer Maria Rilke, Wanderungen und Wandlungen, 1943, ebenfalls eine Münchener Dissertation, gehen in die andere Richtung. Gerade bei den topographisch orientierten Arbeiten ist jedoch gegenüber der Geschichte, Symbolik und kulturellen Aura des jeweiligen Ortes das gesonderte Moment der modernen Entwicklung zur Großstadt nicht immer deutlich genug herauspräpariert, so daß man in dieser Hinsicht relativ uninformiert bleibt.
Auf das Desinteresse an der Stadt- und Großstadtthematik innerhalb der deutschen Nachkriegsgermanistik weist Friedrich Sengle einleitend zu seiner Abhandlung des Themas Wunschbild Land und Schreckbild Stadt, 1963, hin und begründet es mit einem allgemeinen Mißtrauen außerästhetischen Fragestellungen gegenüber, die sich nur mit einer komplizierten, wenig geübten Methode auf Dichtung und Kunst beziehen ließen. In direkter Auseinandersetzung mit einigen Thesen, die Sengle zur expressionistischen Großstadtlyrik geäußert hat, begründet Heinz Rölleke den Ansatz seiner Schrift Die Stadt bei Stadler, Heym und Trakl, 1966, mit der er gleichzeitig für eine neue, gegenüber dem Positivismus fortentwickelte Motivforschung plädiert. In der Folgezeit und gerade in den letzten Jahren sind – mit eskaliertem methodischen Interesse und bei spezifiziertem, beziehungsweise verlagertem Epochenschwerpunkt – unterschiedliche Publikationen zur Großstadtthematik erschienen, so, um nur sie herauszugreifen, Gerhard Krischkers Das Motiv der Stadt in der deutschen Lyrik nach 1945, 1975, Iris Reinhardt-Steinkes Untersuchungen zur Lyrik der Moderne am Beispiel der Großstadtgedichte Georg Heyms, 1980, oder Michael Pleisters Das Bild der Großstadt in den Dichtungen Robert Walsers, Rainer Maria Rilkes, Stefan Georges und Hugo von Hofmannsthals, 1982. Weil in ihm auch Autoren behandelt sind, die neben ihren Prosawerken Lyrik verfaßt haben, ist als jüngstes Buch – ebenfalls 1982 herausgekommen – auch noch Andreas Freisfelds Das Leiden an der Stadt, Spuren der Verstädterung in deutschen Romanen des 20. Jahrhunderts zu nennen; der Verfasser berücksichtigt im übrigen einen Großteil der literaturwissenschaftlichen Veröffentlichungen zur Großstadtlyrik – ausführlicher zum Beispiel die Arbeit Heinz Röllekes –, diskutiert sie und unterzieht sie einer kritischen Überprüfung.
Die hier vorgelegte Publikation versteht sich nicht als Geschichte der deutschen Großstadtlyrik, jedenfalls nicht im Sinne einer geschlossenen Chronologie. Dazu müßte wohl – neben einem breiteren literaturgeschichtlichen Zugriff- mit Hilfe entsprechender historischer und soziologischer Literatur46 von der Geschichte der Großstadt selbst ausgegangen werden. Sie aber läßt sich nicht allein auf bevölkerungsstatistische Daten beschränken – also etwa auf die Tatsache, daß London bereits um 1800 eine Million Einwohner zählte, während Berlin noch um 1850 unter der halben Million blieb, doch dann bis 1880 rasch über eine Million kletterte und 1910 die Zweimillionengrenze überschritt etc. –, sondern umfaßt eine Fülle äußerst komplexer Sachverhalte und Probleme. Schon das bauliche Wachstum verläuft ja in keiner steten – planvollen – Kontinuität, sondern im Zeichen innerer Chaotik und wilden Ausgreifens. Erst recht gilt das für die in Wellen und Schüben erfolgende Zuwanderung in die ,großen Städte‘ und die durch sie bedingten Umschichtungen der Population. Unüberschaubarkeit und Komplexität kennzeichnen daher auch die Lebens- und Arbeitsvorgänge in der Großstadt. Dabei kommt es im Zuge der allgemeinen Verstädterung zu einer auffälligen Zunahme des großstädtischen Anteils innerhalb der Gesamtbevölkerung. Selbstverständlich tritt all dies im Großstadtgedicht in sehr spezifischer Weise in Erscheinung: in unterschiedlichster thematischer Nuancierung, unterschiedlichster subjektiver Brechung.
Eben deshalb wird die Aufschlüsselung der Materie von diesen Unterschieden, von diesen Differenzen und Differenzierungen her betrieben, die das Spezifikum der literarischen Sehweise zu sein scheinen. Dabei liegt der Einsatz – wie schon einleitend gesagt – bei jenen Anthologien, die seit der Jahrhundertwende zur Großstadtlyrik erschienen sind und einen festen Anthologie-Typus abgeben, der für die Sondierung dieses Literatur-Terrains wichtige Aufschlüsse bietet. Je nach Herausgeber-Intention wechseln die Thema-Konturen, variiert das Texte- und Autorenspektrum von Sammlung zu Sammlung. Diese Akzentverschiebungen besitzen daher einen eigenen Informationswert sowohl für die Kontinuität wie die Diskontinuität des Stadt- und Großstadtthemas in der deutschen Literatur- und dann natürlich auch und gerade, wie dies bei derlei Publikationen stets der Fall ist, für die Herausarbeitung eines Kanons zentraler, besonders exemplarischer Texte, von denen aus sich größere Werk- und Epochenzusammenhänge rekonstruieren lassen!
An solchen repräsentativen, in einschlägigen Publikationen immer wieder als besonders relevant für die Darstellung der Großstadt angesprochenen Texten – vom Naturalismus aufwärts über Impressionismus, Jugendstil, Expressionismus, Neue Sachlichkeit, Exilliteratur während des ,Dritten Reiches‘, Nachkriegsliteratur bis herauf zur Literatur der unmittelbaren Gegenwart – orientieren sich die interpretierenden Abschnitte, die an das Anthologie-Kapitel anschließen und den Hauptteil der Untersuchung ausmachen. In ihnen erhalten die einzelnen – herausgehobenen – Gedichte, die in ihrer Abfolge dann doch ein historisches Raster bilden, jenes Maß an Detailaufmerksamkeit, das notwendig ist, wenn man sie nicht nur als literarische Belege für eine auch unabhängig von der Literatur konstruierbare Geschichte und Sozialgeschichte der ,großen Stadt‘ agieren lassen will, sondern als dichterische Hervorbringung auf die ihnen eigene inhaltliche und formale Gestaltungskraft hin betrachtet. Das schließt nicht aus, daß man immer wieder Schlaglichter auf die historische und soziale Realität der Großstadt fallen läßt, im Gegenteil: sie sind gerade dort gefordert, wo einzelne Autoren ihre Erfahrungen an ganz bestimmte Großstädte mit einer ganz bestimmten Geschichte – zum Beispiel Hamburg, Berlin, New York – oder an bestimmte historische Augenblicke dieser Städte binden. Da dieser Bezug nicht durchweg offen zutage liegt, sind die Recherchen in diesem Punkt selbst ein wichtiges Moment der Textanalyse.
Die einzelnen Interpretationsabschnitte, die jeweils ein einzelnes Gedicht eines einzelnen Autors ansprechen, stehen separat. Dabei können die Darlegungen bei der Biographie des Autors und den durch sie fixierten Großstadtkontakten, bei einer überraschenden thematischen Nuancierung der Poem-Vorlagen, bei sprachlichen und motivischen Besonderheiten oder beim großstädtischen Zuschnitt des Ausdrucksgestus einhaken; welchen Anteil welcher Ansatz zu erhalten hat, darüber entscheiden die Argumentationszwänge, die vom Text ausgehen. freilich hat dieses Verfahren auch seine Grenzen! Mit unterschiedlicher Intensität wird deshalb immer wieder der Ausblick in größere Werk- und Epochenzusammenhänge gesucht, werden – im angesprochenen Einzelœuvre wie im direkten Autoren-Vergleich – parallele und kontrastierende Texte beigezogen. Das weitet den Horizont über die ausgewählten Beispielgedichte hinaus und gibt Raum für die Verknüpfung der Gedichtanalysen. Dem kommt entgegen, daß sich die einzelnen Autoren bei ihrem lyrischen Rekurs auf ,Großstadt‘, ,großstädtische Lebenswirklichkeit‘, ,aktuelle Großstadtproblematik‘ etc. stets in einem literarischen Kräftefeld bewegen und sich in besonderem Maß natürlich der engeren thematischen Tradition, in der sie sich bewegen, bewußt sind: zum Teil stößt man immer wieder auf Kontrafakturen, bewußte Negationen bestimmter Paradigmata, zum anderen aber auch auf Anklänge, gewollte Wiederaufnahmen und Entsprechungen, die Nachbarschaften signalisieren sollen. Auch diese Beobachtungen geben dem Genre der Großstadtlyrik in seiner Entwicklung eine bestimmte Konsistenz und deutlich ausgezeichnete Kontur.
Und – als abschließender Hinweis – noch eine Sonderung der Materie, der das Prinzip der Einzelinterpretation auf seine Weise gerecht zu werden vermag! Keiner der hier angesprochenen Texte beschränkt sich auf ein einziges Thema: es wurden zwar ausschließlich solche Gedichte ausgewählt, in denen die Großstadtthematik besonders dominant und möglichst unvermischt in Erscheinung tritt, aber stets mengen sich – weil das so in der Bestimmung von Literatur liegt – andere Themata ein, amalgamieren sich und entfalten eine eigene Anziehungskraft; zusätzlich stellen sich Fragen, die stark über die Form- und Stilproblematik determiniert sind. Von ihnen zu abstrahieren, weil für sie kein Raum ist, weil sie abzulenken scheinen, hieße aber, den Gedichten einen wesentlichen Reiz zu rauben, der sie interessant erscheinen läßt. Das naturalistische Großstadtgedicht ist auf soziale Elendsmalerei festgelegt, befreit sich aber davon, indem es vom Künstler-Genie und seinen Erlösungstaten handelt. Der Expressionist stellt die Großstadtthematik unter den Druck von Weltuntergangsvorstellungen, kommt aber – über entsprechende Bilder im mythologischen Apparat – auch zur Ahnung einer umstürzenden Veränderung. Ähnliches gilt für die anderen Perioden. Die Frage lautet: liegt nicht gerade in solchen Einspiegelungen einer erweiternden Thematik ihrerseits eine spezifische Signifikanz des Großstadtgedichts, der nachzuspüren Gelegenheit sein muß? Auf alle Fälle aber binden diese Erweiterungen die Großstadtlyrik an das größere Gesamt der Literatur zurück, aus dem sie sich nur eben für einen Moment herauslöst. Die Aufmerksamkeit für den Zusammenhang von ,Großstadt‘ und ,Lyrik‘ stößt an ihren Rändern auf andere Interessen, die in andere Zusammenhänge führen.

Karl Riha, Vorwort

 

Anders als in der erzählenden Literatur

wird die Großstadt erst in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts – im Naturalismus also und in den ihm nachfolgenden Literaturbewegungen, vor allem im Expressionismus und in der Neuen Sachlichkeit – zu einem wichtigen Thema der deutschen Lyrik.
Die vorliegende Einführung geht diesem Ineinander von Stoff- und Stilentwicklung nach und zeigt auf, was die Lyrik in der Auseinandersetzung mit der Großstadt zur Erfaßbarkeit, Erkenntnis, Kritik und Bewältigung dieses neuen Phänomens beigetragen hat.
Im Mittelpunkt steht dabei eine Folge von Interpretationen einschlägiger Gedichte von Holz, Rilke, Heym, Mehring, Tucholsky, Kästner, Brecht, Borchert, Kunert, H.M. Enzensberger und Brinkmann und belegt die unveränderte Aktualität des Themas.

Artemis Verlag, Klappentext, 1983

 

 

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