Karl Otto Conrady (Hrsg.): In höchsten Höhen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karl Otto Conrady (Hrsg.): In höchsten Höhen

Conrady (Hrsg.)-In höchsten Höhen

EIA WASSER REGNET SCHLAF

I
eia wasser regnet schlaf
eia abend schwimmt ins gras
wer zum wasser geht wird schlaf
wer zum abend kommt wird gras
weißes wasser grüner schlaf
großer abend kleines gras
es kommt es kommt
ein fremder

II
was sollen wir mit dem ertrunkenen matrosen tun?
wir ziehen ihm die stiefel aus
wir ziehen ihm die weste aus
und legen ihn ins gras

aaaaaaaaaamein kind im fluß ist’s dunkel
aaaaaaaaaamein kind im fluß ist’s naß

was sollen wir mit dem ertrunkenen matrosen tun?
aaaaaaaaaawir ziehen ihm das wasser an
aaaaaaaaaawir ziehen ihm den abend an
aaaaaaaaaaund tragen ihn zurück

aaaaaaaaaaaaaaamein kind du mußt nicht weinen
aaaaaaaaaaaaaaamein kind das ist nur schlaf

was sollen wir mit dem ertrunkenen matrosen tun?
aaaaaaaaaawir singen ihm das wasserlied
aaaaaaaaaawir sprechen ihm das grasgebet
aaaaaaaaaadann will er gern zurück

III
es geht es geht
ein fremder
ins große gras den kleinen abend
im weißen schlaf das grüne naß
und geht zum gras und wird ein abend
und kommt zum schlaf und wird ein naß
eia schwimmt ins gras der abend
eia regnet’s wasserschlaf

Elisabeth Borchers

 

 

 

Vorwort

Sofort sei der vielleicht stutzende Leser aufgeklärt über den schillernden Titel dieser Sammlung In höchsten Höhen. Die Formel stammt aus dem Anfang von Peter Rühmkorfs Gedicht „Hochseil“:

Wir turnen in höchsten Höhen herum,
selbstredend und selbstreimend…

Augenzwinkernd ironisch blickt da der Lyriker auf sein eigenes Metier. Aus heiter-ernster Distanz formuliert er gar: „Ich sage: wer Lyrik schreibt, ist verrückt, / wer sie für wahr nimmt, wird es.“ Das ist natürlich nur eine Aussage unter anderen über das weite Gebiet der Lyrik, wie sie sogleich im ersten Abschnitt dieses Buchs kontrastierend zusammengebracht sind. Jedenfalls ist In höchsten Höhen nicht der gewagte Titel einer Anthologie mit dem ohnehin vermessenen Anspruch, Höchstleistungen der Gedichtkunst und also etwas zeitlos Sicheres und Gültiges vorzulegen.
Dieser Band hegt eine andere Absicht. Er möchte dem Leser die Einsicht vermitteln, die spannend sein kann: dass Gedichte Jahrhunderte hindurch eine verborgene oder offenkundige Diskussion miteinander führen, sich ergänzend und auch sich widersprechend, Gedanken aufgreifend und weiterführend oder widerlegend. Der Untertitel „Eine Gedicht-Revue“ ist wörtlich zu nehmen. In einer Folge von Auftritten, die die Kapitel des Buchs bilden, sind Gedichte arrangiert, die einem thematischen Komplex zugeordnet sind; so treten sie auf, präsentieren ihre ,Botschaft‘ und beleuchten die leitende Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven. So unscharf der Begriff ,Thematik‘ hier absichtlich bleibt, so wenig darf erwartet werden, dass in den einzelnen ,Auftritten‘ der ganze Umfang des Angesprochenen ausgeschritten und erfasst ist.
Aber Einsichten, Anregungen und Überraschungen sind dem schweifenden Leser allemal gewiss. Und zum eigenen Widerspruch darf er sich gelegentlich auch provoziert fühlen.
Schon Achim von Arnim (1781–1831) beispielsweise schrieb, ohne von täglichen Fernsehnachrichten übers Auf und Ab der Aktien behelligt zu werden, seine spöttischen Verse über Börsenzeit und Kursbericht, und Hoffmann (von Fallersleben), der 1841 auf der Insel Helgoland „Das Lied der Deutschen“ dichtete, schloss 1872 sein bissiges „Gründers Mittagslied“ mit den Zeilen:

Ich will mir flechten selbst zum Lohne
Aus Aktien eine Bürgerkrone.

Was Magnus Gottfried Lichtwer (1719–1783) in der Form der Fabel vom Streit zwischen dem Mohren und dem Weißen erzählt, bleibt ein aktuelles Exempel für das schwierige und mit Vernunft zu bewältigende Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher Kulturen.
Die Überschriften der ,Aufzüge‘ dieser „Gedicht-Revue“ bedürfen keiner ausführlichen Erläuterung. Aus Gedichten zitiert, weisen die Formeln jeweils die Richtung. Deshalb nur spärlich die eingestreuten Erklärungen, die ich für nötig hielt, um den Leser bei seiner Lektüre durch die neun Akte der Revue zu begleiten.

„Wer Schönes anschaut, spürt die Zeit“: Nachdenkliches und keineswegs Einsinniges über Lyrik, ihre Möglichkeiten und den Umgang mit ihr; poetologische Verse also als Ouvertüre. – „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“: Die von Clemens Brentano erfundene und von Heine besungene Sage von der Loreley samt zugehöriger Rheingegend fügen sich mehrstimmig zusammen, und natürlich macht auch Erich Kästners Turner seinen Handstand auf der Loreley hoch überm Rhein. – „Unser Land“: Gedichte über Deutschland, von Walther von der Vogelweide bis zur Gegenwart, sehnsüchtige und traurige, zukunftsfrohe und kritisch lotende. Die Sequenz dieser kontrastierenden Verse enthält wohl die Substanz jener Diskussion über eine ,Leitkultur‘ (welche Bezeichnung gar nicht vorkommt) und vermag sie aufzuheben, und zwar ins abwägend kritische Bewusstsein. Bereits Friedrich Rückert mokierte sich 1819 sprachvirtuos über allzu forsche Deutschbewusste: „Neulich deutschten auf deutsch vier deutsche Deutschlinge deutschend…“ – „Ade, nun ihr Lieben“: Reiselust und Reiselast, Hoffnungen und Enttäuschungen, die den Fahrten immer oder doch oft beigemischt sind, drücken sich in markanten Gedichtzeilen aus, in Eichendorffs „Ach, wer da mitreisen könnte / In der prächtigen Sommernacht!“, in Tucholskys ernüchternd-lakonischer Schlusswendung „Wie du auch die Welt durchflitzt / ohne Rast und Ruh −: / Hinten auf dem Puffer sitzt / du“, in Gottfried Benns lapidarer Frage „Meinen Sie Zürich zum Beispiel / sei eine tiefere Stadt…?“, in Durs Grünbeins barschem Urteil „Reisen ist ein Vorgeschmack auf die Hölle“, aber auch in der Wortspielkaskade von Helmut Heißenbüttels „Bremen wodu“ −, um nur diese paar Stellen zu zitieren. – „Leben erzählen“: Ein unendliches Thema, in dem die Frau eine führende Stimme zu sprechen hat und wo auf begrenztem Raum wenigstens einprägsame Facetten dessen aufscheinen, was das eröffnende Gedicht begehrt:

Wir dürfen unser
Leben
nicht beschreiben, wie wir es
gelebt haben
sondern müssen es
so leben
wie wir es erzählen werden:
Mitleid
Trauer und Empörung

(Guntram Vesper). – „Liebe denkt in süßen Tönen“: Auch in diesem Abschnitt scheinen die Verse aus älterer und neuerer Zeit miteinander verwoben zu sein, ,thematisch‘ sowieso, sogar bis in wörtliche Übereinstimmungen, und an Anspielungen ist ohnehin kein Mangel. Geflissentlich habe ich hier auch einige Gedichte aufgenommen, die – man möchte sagen: in alter Weise – sicher und klangvoll das Erleben erfüllter, gelungener Liebe intonieren, wo in der Gegenwart eher das begründete Bedenken gegenüber solchem Glück sich auf- und vordrängt. Aber noch in diesem Revue-Akt darf es an heiter-ironischen Einsprengseln nicht fehlen, wie sie schon Heinrich Heine am fiktiven Teetisch inszenierte. Wolfgang Weyrauchs Liebesgedicht in der Vision endzeitlichen Untergangs bietet dann freilich eine schwersinnige Schlusslitanei. – „Dann werden wir kein Feuer brauchen“: Gedichte dürfen der Ort sein, wo Utopie beheimatet ist, das erhoffte und immer zu erstrebende Andere und Bessere. Hier tasten sich Verse behutsam vor und trumpfen auch voller Hoffnung auf: „daß jeder jeden in die Arme nimmt“ (Hanns Dieter Hüsch) und: „Morgen wirst du im Paradies mit mir sein“ (Sarah Kirsch). – „Sonette – So-nette“: Von bedeutenden Sonetten der Tradition spannt sich der Bogen bis zu so netten Stücken dieser Gedichtform, in denen sich Scherz, Satire und tiefere Bedeutung munter auslassen und dabei doch ebenfalls die Tragfähigkeit der vorgegebenen Versstruktur des Sonetts auf die Probe gestellt wird. So kann sich locker der Schlussauftritt anschließen: „Überall ist Wunderland“. Die Gedicht-Revue wird nun zur Wort-Revue, zum freien Spiel mit den Baumitteln der Sprache, bis hin zum Nonsens, der sich bei genauem Hinhören und Hinsehen oft als weit mehr erweist denn törichtes Gerede und inhaltsloses Sprachgetümmel. Freilich haben da der gewohnte, normale Wortsinn und Zusammenhang der Sprache ihre Herrschaft aufgegeben und der Leser wird in ,Wunderland‘ entführt, wenn er sich denn solcher Artistik besonderer Art überlassen mag und sie nicht (eilig-voreilig) als Unsinn disqualifiziert.

Diese Gedichtsammlung zeigt vielerlei Spielarten der Lyrik, führt unterschiedliche Schreibweisen des Gedichts vor. Lyrik erlaubt so viele Variationen. Hier ist nicht der Platz, ausführlich über diese literarische Gattung und ihre Charakteristika nachzudenken. Ich habe es in dem umfänglichen Vorwort zu jener Anthologie versucht, die unter dem pompösen Titel Der Neue Conrady. Das große deutsche Gedichtbuch von den Anfängen bis zur Gegenwart erschienen ist (Düsseldorf, Zürich 2000, 3. Aufl. 2003). Da plädiere ich für völlige Offenheit gegenüber den mannigfachen Schreibweisen, ohne vorurteilsbelastete Annahme einer ,Wesens‘bestimmung dessen, was Lyrik sei und zu sein habe. Erst in der Betrachtung des einzelnen Gedichts in der von den Autorinnen und Autoren gewählten Form (für die, am Rand vermerkt, der Reim schon spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts seine dominierende Funktion verlor) vermag interpretierend-kritische Analyse freizulegen, welche Bedeutung dem Textganzen des Gedichts innewohnt – oder nicht.
Das gilt auch für diese Gedicht-Revue. Sie lädt die Leser ein, die mannigfachen Kontakte der Verse untereinander wahrzunehmen, sowohl aufs Einzelne aufmerksam zu sein als sich auch auf das konzertierende Zusammenspiel und Widerspiel der Gedichte in den einzelnen ,Akten‘ einzulassen, um von bisher vielleicht Übersehenem oder Unbekanntem überrascht zu werden oder Vertrautem wieder zu begegnen. Dann mag nach der Einzelprüfung des Gebotenen über das Maß des Gelingens geurteilt werden, wobei gewiss des Lesers Sehepunkt, um diesen alten, aber tauglichen Begriff des Geschichtstheoretikers Chladenius aus dem 18. Jahrhundert zu benutzen, von leitendem Einfluss ist.

Karl Otto Conrady, Vorwort

 

Erlesenes aus der deutschen Lyrik

Karl Otto Conrady, der Herausgeber der erfolgreichsten Sammlung deutscher Lyrik, setzt einen neuen Standart. Er hat eine Gedicht-Revue inszeniert, deren Verse von Walther von der Vogelweide bis in die Gegenwart reichen. Der Leser kann miterleben, wie Gedichte die Jahrhundert hindurch aufeinander Bezug nehmen, sich ergänzen und widersprechen, Gedanken aufgreifen und weiterführen.
Eine Anthologie für überraschende Entdeckungen und Wiederbegegnungen. Mit Gedichten von Goethe, Heinrich Heine, Kurt Tucholsky, Durs Grünbein, Ingeborg Bachmann, Andreas Gryphius, Robert Gernhardt, Ernst Jandl und vielen anderen. Ein großes Lesevergnügen!

Aufbau Verlag, Klappentext, 2005

 

 

 

Zum 90. Geburtstag des Herausgebers:

Volker Breidecker: Ein Aufklärer
Süddeutsche Zeitung, 18.2.2016

Ralf Stiftel im Gespräch mit Karl Otto Conrady: Über Gedichte, Politiker und völkisches Gerede
wa.de, 29.2.2016

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + ArchivKalliope
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