Norbert Lange: Das Schiefe, das Harte und das Gemalene

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Norbert Lange: Das Schiefe, das Harte und das Gemalene

Lange-Das Schiefe, das Harte und das Gemalene

TAGLIED

Andererseits das Leben besteht ja auch nicht nur aus
aaaaafeineren Pixeln

(digital)

Heute morgen verschiebt es die Stadt
Indem es Anflug nimmt, es schiebt die Zeit
Beiseite, legt dort Einkaufszeilen ab
Es zieht Gardinen zu und zieht die Sicht
Auf Kaffeeschwaden vor, die letzte Nacht, ein Kuss
Gewesen sind. Es werden schleichend aufgelöst. Bedauern sitzt
Am Tassenrand, die Fliege döst und putzt: jetzt ihre Beine
aaawird am Tassenboden aufgelöst
Und wach zu spät, es wird ein Kuss entfernt
Ist Haut, ist Haar, ist da Geflecht von Arm und Bein
Sind angespülte Reste Nacht, ganz nah
Doch für Hitze nicht mehr heiß genug und nur für den Moment gemacht
Es schneidet dich zurück : Schnitt auf eine Tür
Aus Ziffern taucht es wieder auf, es schiebt / es dreht
Sich zwischen Wände und den Globus etwas weiter
Den Moment rasiert es dich und lässt dich kalt : es schiebt / es dreht
Dich aus den Ziffern, und den Globus, stücke-weiter
Steht es vor dem Kühlschrank offen da, es steckt und steckt
Ein Zittern in den Aggregaten, das spaltet weg
Den Blick mit Kälteschocks, das rückt die Zeit und schiebt
Zur Seite was dazwischen liegt : Geflügel, Zwiebeln, Wein
Das BEIZT, die Birne flackert, dann ein Motor summt
Das legt sich über Haar und Haut, und : Geräusch
als täten Knochen, Leber tanzen, die Lungen
aaaNieren : und der Kühlschrank summt

 

 

 

Zum Buch

Kunstkammer, wie Das Schiefe, das Harte und das Gemalene im Untertitel heißt, ist ein laufendes Projekt. Es soll ein erster Teil von einem im Entstehen begriffenen, über mehrere Bücher verteilten Hypertext sein, eben der Kunstkammer aus Texten. Die Ordnung der Gedichte folgt daher keiner strengen Aufteilung in kurze, motivisch-thematische Abschnitte. Stattdessen sind sie auf drei unterschiedlich lange Kapitel verteilt in der Hoffnung, sie mögen sich bei jedem Lesen zu neuen Clustern anordnen. Was nicht heißen soll, die Kapitel wären ohne Blick auf Thema und Variation zusammengestellt worden. Vermutlich wäre statt einer Seiten-Chronologie ein Verzeichnis von Stichworten sinnvoller, doch damit möchte ich bis zu einem späteren Stadium des Projekts warten. Auf die Idee, Kunstkammer als Hypertext zu konzipieren, musste ich glücklicherweise nicht selbst kommen, denn der Brite Robert Sheppard verwendete bereits in den 90er Jahren ein ähnliches System für seine über zwanzig Jahre und mehrere Publikationen hinweg entstandene Arbeit Twentieth Century Blues, die erstmals 2008 komplett bei Salt Publishing erschienen ist. Sollte es mir gelingen, mein Projekt erfolgreich abzuschließen, dann sicher nur durch die Hilfe guter Freunde. Besonders danken möchte ich hier: Jan, Konstantin, Mara, Mathias, Michael, Susanna, Swen, Tobias und Ulf. Danke auch an die Lyrikknappschaft Schöneberg, von der die Arbeit an diesem Buch sittlich-moralisch unterstützt worden ist sowie an die Künstlerhäuser Schloß Wiepersdorf und Edenkoben, wo ich 2006 und 2009 als Stipendiat an meiner Kunstkammer habe schrauben dürfen. 

Norbert Lange, Januar 2012, Nachwort

 

 

Zaubersprüche, Wortbeile, Honigprotokolle 

– Randbemerkungen zu einigen aktuellen Gedichtbänden. –

„Zum Tagewerk eines Dichters“, so hat Joseph Brodsky geschrieben, „gehört die Abwehr der Schatten, deren Atem er heiß oder kalt im Nacken spürt.“ Der Berliner Autor Norbert Lange sucht den intensiven Austausch mit diesen Schatten und Gespenstern der Tradition. Dabei folgt er einem Kunstkammer-Konzept, das auf mehrere Bücher angelegt ist.
Kunstkammern, wie sie zuerst in der Renaissance entstanden, waren ursprünglich Universalsammlungen, die nicht nur Artefakte unterschiedlichster Herkunft präsentierten, sondern auch rare Alltagsobjekte und exotische Materialien. Norbert Langes Kunstkammer versammelt in ihren drei Abteilungen nicht nur Gedichttypen, Schreibweisen und Tonarten unterschiedlichster Couleur, sondern sucht in den einzelnen Gedichten auch den direkten Bezug auf die „Urschriften“ der Dichtung. Lange versteht seine Poesie als „Quellenkunde“, als das Freikratzen und Übermalen kanonisch gewordener Urtexte, deren Energien der Dichter durch Konfrontation des historischen Stoffs mit Materialien der Gegenwart entbinden will. Diese Quellen findet er bei den Merseburger Zaubersprüchen ebenso wie in der Ursonate von Kurt Schwitters, vor allem aber in den Rhapsodien der amerikanischen Poeten Charles Olson und Jerome Rothenberg. Langes neuer Gedichtband lässt bereits mit der Sperrigkeit seines Titels erahnen, dass es hier nicht um gefällige Stimmungspoesie geht, sondern um eine intensive Auseinandersetzung mit historischer Sprachmaterie. Das Schiefe, das Harte und das Gemalene: Beim flüchtigen Hinsehen mag „das Gemalene“ als orthografischer Patzer erscheinen. Es verweist indes auf die Affinität des Autors zum „Gemalten“, die sich in wuchtigen Gemäldegedichten manifestiert, etwa in einem äußerst suggestiven Gedicht zum „Knochenmann“ Hans Holbeins. Und es spielt mit der Wortgeschichte des „Gemälenen“, das im Mittelhochdeutschen das Zermalmen von Steinen oder Nahrung meint.
Am Anfang des Gedichtbandes überrascht uns Lange mit einem Taglied, das in zarten, tastenden Fügungen vom Erwachen der Sinne am Morgen handelt, von einer poetischen Osmose zwischen dem lyrischen Ich und einer Welt, die immer mehr in den Bann der Digitalisierung gezogen wird. Solche liedhaften Verse setzt Lange immer wieder in scharfem Kontrast zu seinen hart gefügten Standphotos und Collagen deutscher Unheilsgeschichte. Im Gedicht „Ein Foxtrott nicht“ werden etwa die Vokabulare und Bildweiten des Flugzeugbaus, der Waffentechnologie, der Vogelwelt und der Ölbild-Komposition eng miteinander verknüpft. Bilder aus der militärischen Sphäre stehen direkt neben Metaphern des Sentiments:

aus der Waffenkammer
hüpft der Kummer

In ihren harten Schnitten, Montagen und Übermalungen erinnern die Gedichte bisweilen an die Schädelmagie des 2005 verstorbenen Thomas Kling, mit dem Norbert Lange befreundet war. Dann wieder bezaubert der Autor mit „blitzend fein geschliffnen Wortbeilchen“ und ganz leichthändigen Alltagsbildern. In dieser „Kunstkammer“ gibt es viel zu entdecken: kryptische Geschichtscollagen, zarte Lieder und magische Dinggedichte. 

Michael Braun, die horen, Heft 246, 2. Quartal 2012

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Jan Kuhlbrodt: Keinen Augenblick zu früh
poetenladen.de, 15.6.2012

Jan Kuhlbrodt: Kammern
fixpoetry.com, 30.4.2013

Lnpoe: 56. Norbert Lange und Andre Rudolph
de.paperblog.com

Kristoffer Cornils: Schiefe Konfession
junge Welt, 13.9.2012

 

Fakten und Vermutungen zum Autor
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Norbert Lange am 28.11.2013 in der Lettrétage Berlin Kreuzberg.

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