Pablo Neruda: Viele sind wir

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Pablo Neruda: Viele sind wir

Neruda-Viele sind wir

DIE WAHRHEIT

Euch liebe ich, Idealismus und Realismus,
wie Wasser und Stein,
ihr seid
Teile der Welt,
Licht und Wurzel vom Baum des Lebens.

Schließt mir nicht die Augen,
selbst nicht nach dem Tode,
ich brauche sie noch immer um zu lernen,
um zu betrachten, zu begreifen meinen Tod.

Ich brauche meinen Mund
um, wenn ich nicht mehr da bin, auch zu singen.
Und mein Herz und meine Hände, meinen Leib
um zu folgen dir in Liebe, Geliebte.

Ich weiß, es kann nicht sein, doch will ich es.

Ich liebe was nur Träume hat.

Ich habe einen Garten voller Blumen, die nicht existieren.

Ich bin entschieden triangular.
Ich vermiß noch immer meine Ohren,
jedoch, ich wickle sie ein, um
in einem Flußhafen im Innern
der Republik Malagueta sie zu lassen.

Ich mag die Vernunft nicht mehr auf meiner Schulter zu ertragen.

Ich möchte das tägliche Meer erfinden.

Da kam einmal, mich zu sehen,
ein großer Maler, der Soldaten malte.
Alle waren sie heroisch, und der Gute
malte sie auf dem Schlachtfeld,
wie sie mit Vergnügen starben.

Auch realistische Kühe malte er
und sie waren so über alle Maßen Kuh,
daß man melancholisch wurde
und geneigt, für allezeit wiederzukäuen.

Greuel und Entsetzen! Ich las Romane,
unendlich rechtschaffene,
und so viele Verse über
den Ersten Mai,
daß ich jetzt nur noch über den 2. dieses Monats schreibe.

Wie es scheint, tritt
der Mensch die Landschaft zu Boden,
und die Landstraße, die zuvor Himmel hatte,
drückt jetzt uns nieder
mit ihrer kommerziellen Hartnäckigkeit.
Also pflegt sie vorbeizuziehn mit der Schönheit,
als wollten wir diese nicht kaufen
und einpacken nach ihrem Geschmack und auf ihre Art.

Man sollte es zulassen, daß die Schönheit
mit den unmöglichsten Galanen tanzt,
bei Tag und bei Nacht:
nötigen wir sie nicht, die Pille der Wahrheit
einzunehmen als eine Medizin.

Und das Reale? Ebenfalls, da besteht kein Zweifel,
doch es soll uns steigern,
soll uns größer machen, uns kaltblütig machen,
soll uns druckfertig machen
des Brotes Geheiß sowohl wie das der Seele.

Säusle! befehl ich
dem reinen Wald,
auf daß er heimlich sein Geheimnis nenne,
und zur Wahrheit: Halte dich nicht so zurück,
bis du zur Lüge dich verhärtest.

Ich bin nicht Chef von irgendwas, ich dirigiere nicht,
und somit häufe ich an
die Irrtümer meines Gesanges.

 

 

 

Vorwort

Zur großen lyrischen Landschaft und dichterischen Erlebnissphäre wurde der „Grüne Kontinent“, das südliche Amerika mit seinen Völkerstämmen und Nationen, ihrer tief in die Zeit reichenden tragischen Geschichte, mit seiner Kosmologie, immer noch in Kataklysmen sich vollziehenden Erdumwälzung, erst in unseren Tagen: durch das Werk des Chilenen Pablo Neruda. Nicht in seinem Werk nur findet dieses Universum Ausdruck und Gestalt, auch in seinem Leben wird das Essentielle der Andenlandschaft, ihrer Geschichte, ihrer Vorzeit transparent. Es führt die Einheit eines lyrischen Ichs als Emanation eines Erdteils und eines großangelegten Dichtwerks vor Augen. Und das ferne, noch immer geheimnisreiche „lateinische“ Amerika wird greifbar, präsent, wie die Weltstadt Rom, wie Villon, die Pariser Commune, das Kastilien Cervantes’. Bestandteil unserer Gedanken, Kapitel der Weltdichtung.
Pablo Neruda wurde 1904 in Parral als Sohn eines Lokomotivführers geboren, im äußersten Süden des Kontinents, inmitten eines Himmelsstrichs von ursprünglicher Wildheit, eines von melancholischer Düsternis durchwirkten Kosmos. Sein Geburtsname ist Neftalí Reyes Basoalto, Neruda sein Pseudonym. Er steht seit seiner Kindheit im Bann dieser Zone: Schwermut, Einsamkeit von Urwald und Felshorizonten prägen sein Inneres. Die fast täglichen Sintflutregen, ihre harte Melodie stets im Ohr wie später das Rauschen des Meeres, werden ihm früh zum Symbol der Traurigkeit und eines lebensfeindlichen Daseins: „Der Süden ist ein von Wassern verschlungenes Roß… von Schweigen umringt und Wurzeln.“ Seine Mutter stirbt bald nach seiner Geburt. Einsam das Kind, in der Obhut des Großvaters. Schweigsam der Vater, der kurz nach Nerudas Geburt nach Temuco übersiedelt. Schweigsam die Menschen des australen Südens, wortkarg, herb. Fünfjährig kommt er zu seinem Vater und begleitet ihn auf dessen Fahrten mit dem Lastzug in ein anderes Schweigen, das der Riesenwälder, wie ins Innere der Erde. (Nerudas Dichtung wird immer dem Tellurischen verhaftet bleiben, den Mächten, dem Geruch der Erde, ihrem eruptiven Feuer, das das Kind über sich gewahrte im erschreckenden Licht des Vulkans Llaima). Sein Dasein wird von dieser Einsamkeit durchtränkt, und doch ist sie ihm nie ein begehrenswertes Element des Lebens, wohl akzeptiert und dichterischem Schaffen durchaus zugehörig, doch nicht als daseinbestimmend gewünscht und gefeiert. Sein stetes Wanderleben durch Urwald, Wüsten, Städte, über die Kontinente, in die Bezirke der Liebe, der Freundschaft, in die welthaltige Sphäre der Dichtung ist Ausdruck eines Menschen, der seiner Einsamkeit, die bedrückend lastet, entfliehen will. Das Leben in der unberührten Wildnis von Baum, Pflanze und Stein gründet, elementar wie die Landschaft, seine Natur mit weiten Horizonten, mit Geheimnis und Undurchdringbarkeiten. Hier auch gewinnt sein Wesen die Unerschütterlichkeit, eine innere Sicherheit, die in späteren Zeiten der Verfolgung, seines Getriebenseins durch die Welt, in Krieg und politischem Kampf ihn seinen Weg unbeirrt verfolgen läßt. Trotz einengender wirtschaftlicher Sorgen und inmitten vielen Elends ist seine Kindheit doch unbeschwert: Schmalwüchsig, bleichen Gesichts, mit großen traurigen Augen, streift er zehn- bis zwölfjährig mit seinem Jugendfreund Juvencio Valle durch die Wälder rings um Temuco, entdeckt immer neue Welten, emsig, voll brennender Neugier wie ein gewissenhafter, wißbegieriger Forscher: Seine Herbarien und Insektarien füllen sich. In der Großmächtigkeit solcher Natur verleibt sich der junge Dichter – denn um diese Zeit beginnt er bereits Gedicht um Gedicht zu schreiben – dieses traum- und realitätsgesättigte Universum ein. Chaotisch lebendig und einheitlich zugleich, fügt es sich ihm zusammen: aus Raupe, Schmetterling, Stein (spätere Chiffre der Dauer), Baum und Blüte (Symbol der Schönheit), aus Regen, Rinde und Schlamm, aus Wolkenbruch und Tod, aus dem Schlachten der Tiere, dem Trinken des frischen, warmen Lammbluts, aus Feuersbrunst, Beben und Vulkanfeuer, aus dem harten Gesicht der Holzfäller: seinen Freunden, und dem milden seiner Amme, aus Gitarre (Symbol der Dichtung), aus Meer und Strom. Stärkste Wirklichkeit inmitten all der anderen: die Dichtung. Schon der Knabe fühlt sich zum Schriftsteller aufgerufen, überzeugt, daß das Leben ihn zur Dichtung bestimmt hat. Wie mit der Landschaft lebt er mit der Literatur von frühesten Tagen an intensiv. Neruda ist nicht, wie manche Kritik es hinstellen wollte, eine bloße bedeutende Naturbegabung, ungemein schöpferisch (30 Gedichtbände sind bisher erschienen); er ist einer der belesensten Dichter, mit hohem Kunstverstand und fast enzyklopädischem Wissen, vor allem über die Natur seines Kontinents, dessen Geschichte, Geographie und Kosmogonie. In seinem Haus in Isla Negra am Meer hat er eine der vollkommensten Muschelsammlungen der Welt zusammengetragen, die er jüngst der Universität von Chile zum Geschenk gemacht hat. Ständiges Studium bemüht sich um das innerste Kennenlernen der Realität, seine Lieblingslektüre sind wissenschaftliche Werke über Pflanzen, Vögel, Steine seiner Andenheimat, die er alle wie kaum ein anderer kennt. Sein Canto General verrät uns diese exakte und umfassende Kenntnis. Zu seinem Schaffensstil gehört nicht nur dichterisches Erleben, sondern genauso der Arbeitsplan, die Studien, auch der stete Kontakt mit der sozialen Wirklichkeit, der Kultur seines Landes, mit den schwierigen Existenzproblemen unserer Zeit. Dieses universale Wissen durchdringt die Erlebnissphäre seiner Gedichte, bewirkt eine größere, universelle Lebendigkeit von Metapher und Vers. Interessiert an allen Erscheinungen, Brechungen und Fragen des Lebens, steht er vor uns in seinem Werk, eine rabelaissche Gestalt an Lebensfülle und -begier, einer der sich auskennt, der das Essen liebt, das Trinken, die Liebe, das Gespräch, die Geselligkeit (am liebsten hat er immer, selbst beim Schreiben, einen Schwarm Freunde um sich), der zu kochen versteht, tausend Späße treibt, prall voll Leben und Zuneigungen ist, voll Leben bis in seine abstrakten Studien, bis in sein Schweigen.

Homerisch chronistisch sein Vers, ulysseisch sein Schweifen, die Unrast, Unruhe eines Vaganten, der Welt in sich einsaugt, verweilt, weiterzieht, ein oft Verwandelter, oft sich Wandelnder. In der Nähe des vulkanischen Todes geboren und im ungeheuren Schweigen der Landschaft, Schweigen, das in ihm weiterschweigt, findet er die verhaltene und wilde Sprache dieses Schweigens, des Todes wie des Lebens: seinen Vers. „Von dorther, von Parral stamme ich mit seiner bebenden Erde, von Trauben überhäuft, die von meiner toten Mutter her wuchsen, stamme ich.“ Was er auf seinen bewegten und seßhaften Odysseen auch antrifft und was ihn berührt, er verwandelt es zum Gegenstand der Dichtung. Sein erstes Schreiben war, wie er selbst sagt, „pflanzenhaft“, und der erste Kontakt mit der Größe des Daseins waren „die Träume mit dem Moos, die langen Nachtwachen auf dem Humus gewesen.“ In seinen unveröffentlichten Schulheften klingen alle Themen an, die ihn als Zwölf- bis Vierzehnjährigen beunruhigen und die ihn heute noch inspirieren. Grundelement seines Bestehens in der Zeitflucht, der Vergänglichkeit von Mensch, Liebe und Sein, sind, in der Dichtung aufleuchtend, seine Erde, sein Meer von Anbeginn.
Bevor er, siebzehnjährig, Temuco verläßt, um sich an der Universität von Santiago zu immatrikulieren, hat er, noch unter seinem Geburtsnamen Neftalí Reyes, unzählige Gedichte in Zeitschriften veröffentlicht, in Temuco, Santiago, Valparaiso, Valdivia. Zu seinem Schaffen gehört unlöslich auch das Leben in der fremden Dichtung, seine Lektüre, die wahllos war. Er berichtet: „Damals begann ich wild zu lesen, sprang von Jules Verne zu Vargas Vila, zu Strindberg, zu Gorki, zu Felipe Trigo, zu Diderot… Der Sack der menschlichen Weisheit war aufgerissen und entleerte sich in die Nacht von Temuco… Für mich waren Bücher gleichbedeutend mit der Wildnis, in der ich mich verlor.“ Er, der mit fünfzehn Jahren bereits Dichtung als Beruf, als Arbeit begriff, vielseitige Lektüre als dem Schaffen zugehörig betrachtete, wußte, daß in seinem Werk sein ganzes Eigenleben zusammen mit der Welt sich realisieren sollte: eine an Walt Whitman, an Proust erinnernde Einheit von Dichtung und Leben. Nerudas Dichtung ist vornehmlich die Geschichte eines menschlichen Bewußtseins im Prozeß der Vervollkommnung und Klärung, stets enger sich verbindend, vereinend, identisch werdend mit den Elementarreichen Erde und Meer, mit des Menschen Geschichte, mit Ding und Aberding. Alltäglichem wie Erlesenem. Selbstsucherisch schreibt der Sechzehnjährige Gedichte über seine Augen, seine Stunden, seine Hoffnungslosigkeiten. Ein Lebensalter später zeichnet der Sechzigjährige diesen Jüngling real: „Ich war 14 Jahre alt, war auf stolze Art dunkel, schlank, verdüstert, mit gefurchter Stirn, traurig und formell.“
Im Jahre 1923 erscheint sein drei Jahre zuvor geschriebener Band Crepusculario – „Abend- und Morgendämmerungen“, der die ältere wie die jüngere Dichtergeneration Südamerikas aufhorchen läßt. Ein auf diesem Kontinent bislang nicht vernommener Ton klingt in diesen Gedichten an: hart und klar, die Dinge rücksichtslos benennend: „… ihres Leibes Wölbung, geheim geöffnet wie eine Frucht, eine Wunde.“ Verse, die von dem Verlangen sprechen, Freude und Schmerz der Menschen mitzuleben, in der Sensibilität eines Menschen, der völlig offen ist dem Leid, dem Schmerz der anderen. Allein, da sein Verlangen nach Teilnahme kein Echo findet (nur literarisch im literarischen Bereich), wirft es ihn in Verwirrung und in noch größere Einsamkeit: er flüchtet sich, selbstquälerisch, in Bitternis und Trauer und ins Reich des Erotischen als Fluchtpunkt („Morena la Besadora“, „Farewell“). Die menschliche Verlassenheit in der wesensfremden, dingbesessenen Hauptstadt steigert während der kommenden Jahre das Gefühl seiner grenzenlosen Vereinsamung, das seinen dichterischen Ausdruck in „El hondero entusiasta“ – „Der begeisterte Schleuderer“ und in „Veinte poemas de amor y una canción desesperada“ – „Zwanzig Liebesgedichte und ein verzweifeltes Lied“ findet: zwei ausschließlich der Liebe gewidmete Bücher. Liebe als letzter Versuch, der Einsamkeit und der Verzweiflung zu entfliehen. Trostlosigkeiten und Zweifel geben den Grundton. Ein vergebliches Trachten, sich selbst zu entdecken, sich zu bestimmen und zu befreien: „Ich bin der Verzweifelte, das Wort ohne Echo“. Trotz seines turbulenten Umgangs mit der Bohème Santiagos, mit anderen Dichtern und den dunklen Gestalten der Taverne bleibt für ihn doch die Entfremdung des Menschen von sich selbst, die kalte Autonomie der Sachwelt und ein unumschränkt waltender Tod beherrschend. Auch die letzte Möglichkeit, dem unaufhörlichen Verfall des Daseins zu entfliehen, die Liebe, weist nur die letzte Unvereinbarkeit der Geschlechter: auch hier Vergänglichkeit. Mit den „20 Liebesgedichten“ hat Neruda, im spanischen Sprachraum, der Dichtung eine neue Sprache gegeben. Eine grenzenlose Landschaft breitet sich in den tieferen Bezügen zwischen den Geschlechtern aus. Mit dem tragischen Gefühl seiner Liebe ist real und innerlich seine Jugendlandschaft verwoben, die Gegenwärtigkeit von Meer, finsteren Regenbreiten und australem Himmel, „die großen kalten Regen, die Ströme und das wilde, südliche Meeresgestade“ sind in Wort, Bild und Atmosphäre präsent. Die Dämmerung, obgleich in den Augen der Geliebten gespiegelt, wird zum Signum des Todes. Das unaufhörliche Kommen und Gehen eisiger Meereswogen rollt durch diese Strophen, verbindet sich der Verlassenheit des Menschen. „Trostlosigkeit“ und die „grausame Sehnsucht eines ganz Verlorenen“ nannte Dámaso Alonso als Grundlage dieser Liebesgedichte. Die nächste Veröffentlichung Nerudas, Tentativa del hombre infinitoVersuch des unendlichen Menschen, im Jahre 1926 zeigt das verzweifelte Bemühen, aus der Verdüsterung und Verlorenheit herauszukommen. Allein, das ständige Erlebnis einer Welt in Deskomposition, des Daseinszerfalls, bereits in den Liebesgedichten spürbar, wird hier zum dominierenden Element der Dichtung.
Tiefpunkt seiner Verzweiflung und zugleich Höhepunkt seines Schaffens in dieser Jugendperiode ist seine Residencia en la tierra, Aufenthalt auf Erden, 1925 in Santiago begonnen, dann im Fernen Orient, wohin er als konsularischer Vertreter seiner Regierung geschickt wird, fortgesetzt und nach seiner Rückkehr in Buenos Aires und Madrid vollendet. Ein einziges Infragestellen der menschlichen Existenz, ein bohrendes Fragen nach Sinn und Wert allen Lebens. Und der Dichter selbst im Mittelpunkt dieser Desintegration der Welt ein leidendes, angstgequältes, auswegloses Wesen. Hier ist Vereinsamung, Entfremdung, Verdinglichung als Naturphänomen gesehen, existentiell, als unabänderlich empfunden und dargestellt. So bereits in den Jahren vor dem Aufbruch in den Orient, zu den Stätten einer noch größeren Isolierung: Rangoon, Singapore, Ceylon, Batavia. Eine stete Korrespondenz mit den Freunden daheim, seine Anteilnahme, seine rege Mitarbeit an der Zeitung La Nación in Santiago (Chroniken und Berichte über seine Eindrücke und Erlebnisse in der fremden, befremdenden Welt) und ein besessenes Lesen den Tag über (von Batavia schreibt er: „Ich lese den ganzen Proust zum vierten Mal“) vermögen das sich akzentuierende Drama seiner inneren Verdüsterung nicht zu mindern. Die nackte, erotische Atmosphäre des Orients, die krassen sozialen Gegensätze, das Verkommen der Massen im Elend unerbittlicher Kolonialstädte verdichten es nur, lassen ihm die Ausweglosigkeit aller menschlichen Existenz nur noch greller erscheinen. In der „Residencia“ wird die Realität einzig als ein blindes, gegenseitiges Durchdringen von Lebens- und Todeskräften erlebt: sinnlos, ziellos, ein Chaos mit der Richtung auf Untergang und Auflösung. Das konnte mit den herkömmlichen dichterischen Mitteln, die Schönheit, Regelmäßigkeit, Maß verlangen, nicht gefaßt, nicht zur Gestaltung gebracht werden. Einem solchen Dasein entspricht seine poetische Forderung, eine „Dichtung zu schaffen, unrein wie ein von Speisen befleckter Körper“. Seine Weltsicht und sein alles integrierendes Gefühl sagen ihm, daß alles Mühen Wahn, Ziel des Lebens der Tod ist und das Leben selbst nur bedeutet, dem Tod zu entfliehen, wobei jeder Fluchtschritt der nämliche Schritt des Todes ist und jegliches Tun einzig den eigenen Zersetzungsprozeß fördert. Diese Anschauung bewirkt einen überaus radikalen Realismus, der in den Materien sowohl wie im Überrealen wurzelt. Neue Dimensionen, neue Spannungen, Weiten sind durch das Erlebnis des Orients mit seiner Bilderfülle, seiner Glut, Schwere und Nacktheit in den dichterischen Sprachraum getreten, einmalig, neu für Nerudas Kontinent, beispielhaft, bestimmend für die Entwicklung seiner Dichtung. Dermaßen groß und absolut erscheint Neruda der Zerfall der Welt und der eigenen Individualität, jede menschliche Beziehung für das Nichts erschaffen, die Liebe nur ein Vergebens (Tango des Witwers), daß ihm als einziger Halt allein das Leibliche bleibt, sein Körper, in dem er sich noch leben, noch lebendig fühlt (Ritual meiner Beine). Doch ist kein Jasagen zu diesem blinden Verhängnis in seinem Vers, nur Leiden und ein Fragen, das kontrapunktisch gegen die Desintegration steht. Ein Befragen der Welt und der Erscheinungen, das ein Überlebenwollen, ein Bestehenmüssen anzeigt: „Was ist zwischen Nacht und Zeit?…“ Neruda erstrebt mit seiner Verzweiflung keine „schwarze Poesie“. Mitten im Mahlstrom von Vernichtung und Ängsten fühlt er sich noch immer als Bewohner der Erde, Erdensohn, verwiesen zu seiner irdischen „Residencia“. Dieses nicht verloren gegangene Grundgefühl treibt sein Befragen als Gegenposition manchmal, wie in „Walking around“, zu einem Ausbrechen aus dem Bannkreis des Zerstörerischen: „Und dennoch wäre es köstlich, einen Notar mit einer ausgerauften Lilie zu erschrecken oder eine Nonne mit einer Ohrfeige umzubringen…“ Und des Dichters Auftrag in diesem allgemeinen Sog dem Tode zu? Er hat eine, wenn auch bescheidene Aufgabe: Zeuge zu sein, zu nennen, um so etwas zu bewahren: „… der Wind, der meine Brust peitscht, die Nächte aus unendlicher Substanz, gefallen in mein Schlafgemach, verlangen mir das Prophetische ab, das in mir ist.“
Wie der Dichter im Strom von Selbstzerstörung und Eigenzerfall wie dem der Wesen und Dinge steht, so muß für ihn das Gedicht in Struktur und Form den Gefühlsablauf selber bringen. Psychische Spannung, Schwingung, Fluchten, Abkapselungen in diesem Prozeß bestimmen Modulation, Ausdruck und Rhythmus: ein stetes Auf und Ab, Zögern und Schnellen, Wechsel von Dunkel und Hell, großrhythmisch oder geballt, wie die innere Situation es verlangt. Ausbrüche, Verströmungen, Aufgerissenheiten, Zentrierungen, Wirbel, Steilheiten, Prosaunterbrechungen (Stilmittel des Surrealismus) als Ruhepunkte, den Vers ins Reale rückend. Ein unterirdischer, im Gefühlsstrom webender Bedeutungsbezug verbindet die heterogenen Dinge und Chiffren der stummen Apokalypse. Die Innenwelt, die so objektiviert auftritt – zwischen Wort, Gefühl und Außenchaos keine Distanz – erreicht eine neue dichterische Qualität. Allein eine innere Ordnung unvereinbarer Metaphern schafft die Einheit des Gedichts, unklassisch, untraditionell. Die nurlogische Zone ist aufgelöst in der Schaffenssphäre des Gefühls, höchstens dessen Lichtbrechung oder Akzentuierung. Das Fragmentarische, Deformierende wird Stilelement. Es herrscht Wertgleichsetzung jedes Wortes im Ablauf: „… laßt uns erglühen und schweigen und Glocken.“

Neruda steht mit seiner „Residencia“ keineswegs außerhalb der Dichtung seiner Zeit. Im Kreislauf ähnlicher Bewußtseins- und Gefühlsströmungen in der Weltdichtung kennt er seine Einflußnahme und -gabe. Er ist, wie Apollinaire, Lautréamont, Whitman, Eluard, Majakowski, Aragon, Breton, die mit ihm das neue, unklassische Gedicht geschaffen haben, einer der Bestimmenden der Moderne. Zugleich tritt er das Erbe der Dichtung des spanischen Goldenen Zeitalters an, seine Elemente und dichterischen Errungenschaften weiterführend: Er hat in seinem Vers die Lebensunmittelbarkeit Manriques noch verstärkt, die Schwermut Garcilasos im eigenen Blut erschreckender verdunkelt, den Radius der alles in sich einsaugenden Verskraft Quevedos – der am intensivsten auf ihn einwirkte – um ganze Erdlängen und -bereiche erweitert und vor allem die Bildkühnheiten Góngoras, die keine logischen, syntaktischen Regeln respektieren, ins völlig alogisch Poetische getrieben. Untergründig gab er mit ihnen die Sinnhaltigkeit des Gefühls definitiv als reale Welt: „… Wunde, in die bis in den Tod die blauen Gitarren stürzen.“ – „Schweigen, das einhersprengt auf beinlosen Rossen bis eine Landkarte aus Blut und überschwemmtem Haar die Höhlungen befleckt und das Dunkel.“ −
Der Auflösungsprozeß der Umwelt wird im ersten Teil der „Residencia“ noch nicht als absolut empfunden. Bei aller Verwiesenheit aus einem sinnvollen Leben, das nicht existiert (anstelle Gottes tritt das Nichts, der Tod), tönt, vage zwar, ein Reflex von Liebe auf. Dagegen zerrinnt ihm das Bild der eigenen Person, genannt oder synonym, in fast allen Gedichten des zweiten Teils. Härteste Setzung des mörderischen, selbstmörderischen Zustandes. Doch kein Verstummenwollen. Kein Bekenntnis zu einem „Geworfensein“. Leid als Rebellion. Aber kein Lichtblick. Nirgends ein offener Horizont.
Da, 1936, Neruda ist Konsul in Madrid, wird der alles zu ersticken drohende Bannkreis gebrochen: Die Verbrechen des Faschismus, das Blut in den Straßen Madrids, die Trümmer der geliebten Stadt, der Mord an seinem besten Freund, dem Dichter García Lorca, den er Jahre zuvor in Buenos Aires kennengelernt hatte, der Wille eines fast wehrlosen Volkes zu widerstehen, reißen ihn aus einer dreißigjährigen Passivität, aus bloßer Zeugenschaft. Im harten Licht des Kampfes eines aufbegehrenden Volkes erkennt er erschüttert, daß der Mensch und seine Realität nicht nur naturgegeben, nicht nur Natur ist, sondern auch Geschichte, daß er die eigene Realität im Guten wie im Bösen schaffen kann. Dieser Umschlag in Nerudas Leben war vorbereitet worden durch sein Mitleiden von Jugend auf, an der Armut, dem Elend, der Entwürdigung der Indiovölker, an dem Verkommen in Hunger und Schmutz ganzer Menschenmassen im Orient, vorbereitet in jüngerer Zeit durch die intensive politische Atmosphäre, die ihn in Madrid umgab, in den Tagen des asturischen Aufstands, bei der Gründung der Volksfront und dem Wahlsieg der fortschrittlichen Kräfte Spaniens im Februar 1936. Nun steht er selbst mitten im historischen Geschehen: Teil und Teilnehmer einer geschichtlichen Landschaft, greift er mit seinen Dichterfreunden Rafael Alberti und Miguel Hernández geistig und aktiv in den Kampf ein. Überall im Land hält er Vorträge über García Lorca, den Dichter, und das Verbrechen seines Todes, schreibt darüber in zahlreichen Zeitschriften, widmet sich leidenschaftlich der Aufgabe, die gerechte Sache des spanischen Freiheitskampfes in der Welt bekanntzumachen, leitet die internationale Zeitschrift Die Dichter der Welt verteidigen das spanische Volk, in der unter vielen Vicente Aleixandre, Tristan Tzara, Langston Hughes, Rafael Alberti, W.H. Auden, González Tuiñón, Nicolás Guillén, Jean Gebser, Nancy Cunard mitarbeiten. Er fährt 1937 nach Paris, um sich dort für die spanische Republik einzusetzen, gründet mit César Vallejo den Lateinamerikanischen Zirkel zur Hilfe Spaniens, wird wegen seines Bekenntnisses und Handelns für die spanische Republik von seiner Regierung des Konsularpostens enthoben. Nimmt aktiv teil am zweiten Internationalen Schriftstellerkongreß in Madrid und Valencia, bei dem als Delegierte Malraux, Aragon, Ehrenburg, Hemingway, Waldo Frank und hunderte andere Schriftsteller von Rang anwesend sind, die beraten, wie man der spanischen Republik effektiv Hilfe bringen könne. Beschlossen wird die Gründung Bündnis der Intellektuellen zur Verteidigung der Kultur in jedem Land. Neruda reist im September 1937 nach Chile und gründet dort die chilenische Sektion dieser Allianz, wird zu ihrem Präsidenten gewählt. Chiles neue, dem Dichter freundlich gesonnene Regierung vertraut ihm im März 1939 die Aufgabe an, republikanische Spanier, die nach der Niederlage nach Frankreich geflüchtet waren, aus Lagern und steter Bedrohung ins Asylland Chile zu bringen, Neruda gelingt es, auf dem Schiff Winnipeg rund 3000 spanische Flüchtlinge, unter ihnen viele Schriftsteller und Intellektuelle, zu retten. Nur den ihm sehr nahe stehenden Dichterfreund Miguel Hernández vermag er, trotz des Bemühens des Erzbischofs von Paris, nicht aus den Gefängnissen Francos zu befreien, und Hernández mußte dort elend umkommen.
Der dichterische Niederschlag dieses entschiedenen geistigen Umschwungs im Leben Nerudas ist sein „España en el corazón“ – „Spanien im Herzen“. Der einstige Zeuge des Leides und der Verzweiflung wird hier zum Dichter des Zorns, des Abscheus, der Anklage und des Aufrufs. Jetzt soll das Wort nicht nur kundtun, jetzt soll es dem Menschen helfen, seinen Weg zu finden, soll seinen schwierigen Weg erhellen. Neruda denunziert das Verbrechen, das vor seinen Augen abrollt in Metaphern, hart, voll dramatischer Dichte, voll blutbeladener Schwere, voll Ernst und Hoffnung. Im Gegensatz zu seinen Freunden Alberti, Lorca, Henández, die die volkstümliche Form der spanischen Dichtung, die Romanze, im Kampf weiterentwickelten, verharrt Neruda, heller zwar, transparenter, verständlicher – gemessen an seiner „Residencia“ – in Ton und Spannung, in Eigenwilligkeit der Metaphern, der starken Bilddichte, weiter im Stil seines früheren Schaffens. Jedoch ein neuer Weg ist beschritten, der die eigene Verfinsterung und Entfremdung, die Welt des Zerfalls immer weiter hinter sich lassen wird. An das kämpfende spanische Volk gewandt, schreibt er: „… dein entscheidender Stern schlägt seine rauhen Strahlen tief in den Tod: und er gründet die neuen Augen der Hoffnung“.
Nun auch ist das vierhundertjährige Schattendasein der Indiovölker, Nährboden der Desintegration und Entfremdung, ihm keine Naturgegebenheit mehr. Ein Prozeß, in Parral, Birma, Indien, Java durchlebt, als er die „Armut als ein Geschwür unserer Zeit“ erkannte, ist zum Abschluß gekommen. Er erkennt, daß „das Verbrechen auf dem Thron, nicht beim einfachen Volk“ zu suchen und das Leben lebbar ist, sieht eine mehr und mehr sich aufhellende Welt und darin sich selbst. „Chiles großer Gesang“, später als eines der wichtigsten Kapitel in seinen Canto General aufgenommen, noch während des spanischen Unabhängigkeitskrieges 1938 in Chile begonnen, strahlt bereits das ganze neue Lebensgefühl des Dichters aus: „Woher denn stamme ich, wenn nicht aus diesen uranfänglichen und blauen Materien… Aber ich bin metallisch die Aureole, der Reif, den Weiten verkettet, den Wolken, den Landen, der an hinabgestürzte Wasser rührt und den unendlichen Unbilden abermals trotzt.“ Dieser Gesang ist ein Liebeslied auf alles, was unter dem Himmel sich mit des Dichters Heimat verbindet, auf sein welthaftes Meer, die reißenden Ströme, die Schöpferkraft seiner Menschen, die Majestät seiner Wüsten, auf seine Dichter. „Ich schreibe für eine jüngst den Wassern entstiegene Erde“, verliebt in jene rauhe Zone „leeren Schweigens“, Geschöpf jener kosmischen Großartigkeit, mit der Andentanne fast schwisterlich vertraut wie mit den Gräsern, den Vögeln. Wie im griechischen Mythos wird hier das Meer Ursprung des Lebens, in letzter Größe von Sprache und Rhythmus: „Druck und Traum und saphirne Krallen, o Beben aus Salz und Löwen.“ Wie um ihn gewachsen seit eh des Ozeans grüne zersprengende Gewalt, seine Vielgestalt und weitgespannte Stille.
Bei seiner Rückkehr aus Mexico, wohin er 1940 als Konsul von seiner Regierung bestellt war, sucht er im Oktober 1943 die vorinkaische Ruinenstadt Macchu Picchu im Hochland von Peru auf. Vor dieser versunkenen historischen Welt, die jedoch in ihren gigantischen Resten mächtig vor seinen Augen ersteht, erlebt er eine Erschütterung, vergleichbar nur der sein Bewußtsein umwälzenden im Spanischen Krieg. Zwei Jahre später findet sie ihre dichterische Formulierung in einem seiner bedeutendsten Poeme „Die Höhen von Macchu Picchu“: Schlüsselstellung in seinem Großen Gesang. Angesichts der majestätischen Ruinenwelt dicht unter dem Himmel der Adler muß er die düstere Sicht des eigenen wie des Lebens überhaupt in Frage stellen, erkennt er seine Zugehörigkeit zum amerikanischen Geschick und Dasein, die hier in einer gewaltigen Vorzeit kulminieren, ihm selber wesensverwandt. Er erkennt, daß ein von der Allgegenwart des Todes gezeichnetes Leben überwunden werden kann durch die historische Natur des Menschengeschlechts, in der das Ich sich und sein Wirken zu verlängern vermögen, im realen Leben der Gemeinschaft. Erkennt, daß es für den Menschen kämpfend eine Perspektive in die Zukunft gibt. (Konsequent tritt er in der gleichen Entwicklungsphase in die Kommunistische Partei seines Landes ein). Neruda wird nun seine Dichtung dem Geschick Amerikas verpflichten und in ihr den Menschen darstellen wie Fels und Meer als Natur, aber als eine anders geartete Art unter Arten: als historische. Der individuelle Tod verliert im Leben der Gemeinsamkeit seine Tragik, auch seine Bedeutungslosigkeit. Der Tod als ein Verhängnis (Macchu Picchu wies es) tritt erst dann in Erscheinung, wenn die gesamte Gemeinschaft untergeht. Dichtung steht von nun an im Brennpunkt des Lebens seines Volkes, und ihr Wort verflicht des Dichters Geschick mit dem der Mitmenschen. Vor den Ruinen der präinkaischen Frühgeschichte formuliert er es: „Aus der Tiefe sprecht diese ganze lange Nacht mit mir, als wäre ich verankert mit euch… gebt mir den Kampf, das Eisen, die Vulkane… Eilt an meine Adern, an meinen Mund. Redet durch meine Worte und mein Blut.“
Das Jahr 1947 macht für seine Entwicklung zum bedeutenden politisch-historischen Dichter auf tragische Art Epoche. Der Verrat des chilenischen Präsidenten González Videla an seinem Volk und dem ihm gegebenen Versprechen, an seinen ehemaligen befreundeten Bundesgenossen und an der Arbeiterschaft setzt die Kommunistische Partei Chiles außer Recht und Gesetz, stellt ihre Mitglieder unter polizeiliche Verfolgung, so auch den Dichter Neruda, auf den ein Kopfgeld ausgesetzt wird, da er den Verrat öffentlich brandmarkte wie das kontinentale Verbrechen. Neruda muß sich verbergen, irrt, von Freunden und den Armen geschützt, von Hütte zu Hütte durch das Land: und auf dieser ständigen Flucht, im Versteck, bedroht, gehetzt, schreibt er im Jahre 1948 bis zum Februar 1949 den Großen Gesang zuende, gut zwei Drittel des 342 Gedichte umfassenden Werks. Epopöe eines Erdteils und eine gewaltige Kosmographie. Geschehen, Gestalten, Gesichter, Dinge sind darin der Urgeschichte, dem Ursprünglichen verwoben und ebenso tief und unlöslich der Geschichte seiner Menschen, seiner Erde. Ein breithinrollender Strom, bald düster, bald hell, wirbelnd oft, gewaltsam fortreißend, auch gelassen in welthaltiger Melodie, in kosmischer Melancholie, aus der Zeiten tiefe vernehmbar oder in der gegenwärtigen Trauer um Opfer und Opfer. Alles berühren, durchziehen diese geformten Rhythmen: die Großräumigkeit der Andenlandschaft, die wilde Geschichte aller seiner Völker, Unterdrückung und. Aufbegehren, den dreihundertjährigen Krieg der Araukaner, die Befreier feiernd, die Gründer der einzelnen Länder. Zorn und Blut und Unrecht: „Echsenhaftes Amerika zusammengerollt beim Werden der Pflanzen, am Stamm, … du säugtest schreckliche Söhne mit giftiger Schlangenmilch… ein Gezücht, das voller Blutgier war…“ Oder: „Welch ein Mond, wie ein Gewehrkolben blutbefleckt, welch ein Astgewirr von Peitschen, welch gräßliches Licht, aus Augenlidern gerissen…“ Trauerekloge, Drama und Heldengedicht des Widerstandes, Preislied, Chronik und schöpferische Namengebung. Ein Epos, erdkreisumspannend, mit dem Weltatem eines Saint-John Perse. Ein Epos von überragendem Rang, in der kristallenen Klarheit eines Quevedo, in der untergründigen Melancholie eines Lautréamont, reicher noch, dichter in seiner Substanz als die „Residencia“, profilierter durch seine geistigc Klarheit und Weitsicht. Allein ein hoher, an tausend Versen geschulter Kunstverstand, eine elementare Natur, verbunden mit der durchschauenden Historizität eines Geistes vermochten dieses einmalige Gelingen zu bewirken. Überall in Wort, Metapher und Rhythmengang tritt uns Ding- und Menschenwelt ungebrochen, unrethorisch, direkt entgegen: eine seltene schöpferische Einheit lebt da zwischen den Dingen und einem bildnerischen Geist.

Nur dort, wo das harte Tagesgeschehen, das den Dichter zum Freiwild macht, Not, Blutvergießen und Hunger dicht vor seine Augen führt, gelingt ihm nicht immer in dichterischer Distanz und künstlerischer Verfremdung die Strophe. Er bleibt da der unmittelbare Ankläger, der Zornerfüllte, sein Wort hat da nicht Tiefe und Weite von Geschichte und Natur. Diese mißlungenen Verse sind die unwesentlichen Untiefen in dem an tausend Ufer schlagenden, über Abgründe und Meergebirge hinflutenden Ozean eines Weltgedichts. Doch bringen innere Empörung, Mitleid und die Nötigung des Gewissens, das zu enthüllen, die erschreckende Wirklichkeit eines zeitphänomenalen Geschehens aus dem Verborgenen zu reißen drängt, andererseits auch einmalige Gedichte hervor, unvergeßlich und dicht wie die in „España en el corazón“. Der Canto General will ein handelndes Werk sein. Im südamerikanischen Raum von historischer Notwendigkeit, von einem versklavten Kontinent seit Generationen erwartet, führt es die lethargischen Indiomassen zu den Quellen ihrer Herkunft zurück, verbindet sie der einst großartigen Kultur, dem nicht gebrochenen Dasein ihrer Vorfahren, ihrem Mut, ihrem Handeln. Dieses Dichtwerk erreichte nicht nur sein Volk, es ergriff einen ganzen Kontinent: Südamerika hat, im Gegensatz zu Europa, eine einheitliche Geschichte erfahren, mannigfaltig wohl in Episoden, doch stets einheitlich im Kern. Der Unterdrücker und Eroberer war hier bei allen Völkern der gleiche: der spanische Conguistador. Die Nachfahren der Araukaner, Inkas, Chibchas, Aztcken und Cariben standen um 1800 in einem gemeinsamen, den ganzen Erdteil erschütternden Kampf um ihre nationale Unabhängigkeit, unter Bolívar, San Martín, O’Higgins. Und später, bis in unsere Tage, erlitten alle Andenvölker die Ausbeutung und die Conquista ihres ihnen vorenthaltenen Bodens durch Dollar oder englisches Pfund. Stets aber wird dem Genie des Menschen und des Menschengeistes selbst bei den Unterdrückern vom Dichter Achtung und Hochachtung gezollt, so in den Strophen „Ehrung Balboas“ und „Ercilla“. Ein halbes Jahrtausend Geschichte liegt mit dem Canto General dichterisch erlebbar vor uns, leidenschaftlich in der Sprache, episch-groß in den Rhythmen, bald balladesk zugespitzt, gestrafft; weithin, weither strömend, eine Flut mit scharfumrissenen Ufern.
1949 gelingt es Neruda, den Verfolgern zu entkommen. Nun, ein Emigrant, lebt er nach Aufenthalten in Mexico, Frankreich und Italien in den sozialistischen Ländern Europas und Asiens ein stetes Wanderleben. Frucht dieser Jahre sind Die Trauben und der Wind: Erlebnisse, Daseinsspiegelung in diesen Ländern, gesehen mit den Augen eines Exilierten, der im Sozialismus eine Heimat gefunden hat. Mehr und mehr von seiner politischen Aufgabe erfüllt (Teilnahme an den Jugendweltfestspielen in Berlin, an zahlreichen Kongressen, regelmäßig an der Verleihung des Weltfriedenspreises, nachdem er ihn selbst erhalten, an Lesungen, Konferenzen), läßt er jetzt häufig in Wort und Gestaltung das eigentlich Dichterische außer acht. Zwar gewinnen Sprache und Bild weitere Aufhellung, oft einen euphorischen Glanz, doch verlieren viele seiner Gedichte die ehemalige Kraft der Verdichtung, verlieren an Intensität, einmaligem Duktus, Sprachreichtum, verlieren inhaltlich die notwendige Weite und Tiefensicht. Sie sollen die Massen erreichen und bewegen, werden oft Dokumente der Begeisterung und bloße stereotype Gesinnungsäußerung, bis in das Jahr 1957 hinein. Sie bekunden ein unkünstlerisches Sektierertum. Der jetzige Vers soll frei sein von Geheimnis und Dunkel, Verfremdungselementen der Gefühls- und Unterbewußtseinsschichten. Alogische, doch wesenhafte Bildkühnheiten, Inversionen, Chiffren, Verkürzungen werden abgelöst durch Direktheit des Verses, direkte Aussage, leichte Zugänglichkeit. Oden, empfindsam konzipiert, oft schön in ihrer Transparenz, erhalten einen von vornherein spürbaren, feststehenden Gedankenschluß wie eine Parole. Die poetische Substanz zerfällt, der Einfall wird durch eine gewisse Monotonie und Simplizität des Ausdrucks, durch die häufige Wiederholung eines Symbols unfruchtbar. Der alles verkümmernde Sog des Stalinismus hat zeitweilig auch diesen genialen, eigenwilligen Dichter ergriffen. Die dichterische Vision wird eng, dogmatisch, nur begrenzte Aspekte der Wirklichkeit ergreifend, deren Reichtum und Größe nicht mehr wie einst im Canto General spürbar werden. Er selbst bekennt es 1957 in der Tschechoslowakei:

Auch ich war dogmatisch in Beziehung zu manchen Autoren unserer Epoche… Gegenwärtig bin ich Gegner jeglicher Art des Dogmatismus, jeglicher Formeln und Rezepte in Literatur und Kunst.

Die ganze Wirklichkeit in ihrer Weite und Tiefe, mit all ihren Widersprüchen, Erscheinungen ins Gedicht zu bringen, gelingt ihm in großer Vollendung, als geschlossenes Werk, erst wieder in „Estravagario“. Diesen Befreiungsakt aus politischer Enge und poetischem Versagen und den erneuten Aufbruch zu menschlicher und politischer Größe bewirkte nicht nur die Absage an den Stalinkult und seine doktrinäre Grausamkeit in der Sowjetunion; man ist eher geneigt zu glauben, daß seine Liebe zu Matilde Urrutia entscheidend dazu beigetragen hat: Eine Liebe durch hundert Schwierigkeiten, Mißverständnisse, Verdächtigungen hindurch zu einem schließlich festen Bund. Durch diese, sein ganzes Wesen erfassende Liebe gewinnt er wieder den Ausgleich zwischen Persönlichstem und dem Kollektiven, zwischen Dasein, Tod, Schmerz und Freude: eine spannunggeladene Harmonie, die Menschen, Dinge und Probleme durchstrahlt. Bereits in vielen elementaren Oden, besonders im dritten Odenband herrscht wieder eine volle und gültige Weltsicht. Der Vers ist getragen von der tiefen Irrationalität des Gefühls. Natur, kosmisch im großen wie im einzelnen Ding empfunden, wird wieder Gegenstand des Gesanges. Einfache Dinge des täglichen Gebrauchs, Materien unserer täglichen Nahrung, sonst übersehen in der Dichtung, treten in den Bereich eines wertbegriffenen Lebens, Objekte seines Rühmens wie seine Liebe.
Die „Verse des Kapitäns“, erstmalig anonym in Neapel 1952 herausgegeben, greifen das Thema der „20 Poemas de amor“ und des „hondero entusiasta“ wieder auf. Wieder wie damals in der Jugend die völlige Identifikation des Weibes mit der Erde: „Und du, in deinem Fleisch, umschließt die dürstenden Pupillen, mit denen ich sehen werde, wenn diese Augen, die ich habe, sich mit Erde füllen sollten.“ Die Sprache, von der immanenten Melancholie erlöst, ist in den „Versen des Kapitäns“ bewegter, fordernder, voll Sicherheit und Gewißheit, wenn sie manchmal auch Dichte, Kühnheit und Einmaligkeit in der Formung vermissen läßt. Die Liebe, mit der Schöpfung gleichgesetzt, wird als totale Besessenheit, das Weib als unlösliche Ergänzung des Mannes empfunden:

… ich beuge mich zu deinem Mund, die Erde zu küssen.

Die Strophen enthüllen den langwierigen Kampf Nerudas bei der Eroberung dieser Liebe wie deren Verteidigung gegen eine gehässige Umwelt des Unverständnisses, der Enge. Dem Dichter bedeutet die Liebe Voraussetzung des eigenen Bestehens, Bedingung seines Schaffens. Fortgesetzt wird dieses Liebesgespräch in Versen in den 1960 veröffentlichten Hundert Liebessonetten. Alle Ungelöstheit, alle existentielle Wirrnis der Vergangenheit ist nun überwunden, alles atmet in großen freien Zügen. Endlich, will es scheinen, hat der Dichter die in seiner Einsamkeit und Unrast immer gesuchte Ergänzung gefunden. Es sind ungewöhnliche Sonette, freie, unregelmäßige Formen, unklassisch, ohne Reim, die oft spielerisch die ganze Sicherheit eines erfüllten Daseins künden:

Meine Liebe hat zwei Leben, um dich zu lieben. Daher liebe ich dich, wenn ich dich nicht liebe, und daher liebe ich dich; wenn ich dich liebe.

Oder

… meine Häßliche, ich liebe dich um deiner goldenen Hüfte willen, meine Schöne, ich liebe dich wegen deiner Falte auf deiner Stirn.

Oder leidenschaftbewegt:

Unablässig bedrängte mich die grausame Liebe, bis sie mich zerfetzt hat, mit Schwertern und Dornen, in meinem Herzen einen glühenden Weg geschlagen.

Nerudas Vers hat eine größere Leichtigkeit erreicht; sein Erotismus tritt vor uns: sinnlich und rein, geistig und erdhaft zugleich, voller Glanz und Vitalität. Die Allgegenwart der Geliebten, noch in ihrem Fernsein, durchwirkt alle Melancholien und Schmerzen:

Denn die Liebe, während uns das Leben quält, ist eine einzige Woge über all den Wogen.

Wie der Schlußpunkt einer Fuge, wie ein Schwur als letzte Erkenntnis steht da:

Aber wenn, ach, der Tod naht, um an die Tür zu pochen, bleibt dein Blick allein für soviel Leere, nur deine Liebe, um das Dunkel zu versiegeln.

Ein neuer Pantheismus breitet sich in des Dichters Gefühlswelt aus, der eigentlich Liebe bedeutet, Verbundenheit, Freundlichkeit zur Welt.
Unter diesem Aspekt erscheint vor uns das Hauptwerk seiner letzten Dichterperiode: der „Estravagario“ („Extravaganzenbrevier“ oder sachlicher „Extratouren“). Die einst aus politischer Erwägung gesetzte Einfachheit – nun ist sie dem Dichter Natur geworden. Poetischer Einfall regiert Wort, Vers, Metapher. Wieder, wie in der „Residencia“, wie im Canto General, sind Schöpfung, Tod, Verdinglichung des Daseins, die eigene existentielle Situation Gegenstand des Gedichts, aber in welch anderem Licht, in welch großartiger Welthaltigkeit und Bejahung! Und dann ist ein wesentliches Element hinzugekommen, das alles aufhellt und durchwärmt: ein weltverstehender Humor. Der Tod ist lebenszugehörig. Keine tragisch ausweglose Position, bei aller Tragik, ist dem Menschen mehr gegeben. Subtiler Scherz, Spiel der Einbildung, um eine Wahrheit zu enthüllen, Ausflüge ins Reich des Absurden mengen sich mit neuen Gedanken über den Sinn des Daseins. Die eigene Existenz steht wieder im Mittelpunkt, immer aber unter der Unbestechlichkeit eines Blicks, der die Situation der Welt, ihre Gefahren und Nöte nicht ausschließt, nicht losläßt. Wiedergeboren ist die Vielfalt des Lebens, Licht und Schatten, Abseitiges, Widersprüchliches, Selbstverständliches: unter einem behutsamen, bedachten dichterischen Griff und der Dichter sich selbst gegenüber in voller Selbstironie:

Wenn alles bereit ist, mich als intelligent auszuweisen, ergreift der Dumme, den ich verborgen in mir trage, das Wort in meinem Munde.

Und:

… ich will mich aufschließen und ich will mich einschließen mit meinem perfidesten Feind: Pablo Neruda.

In dieser „ethischen“ Poesie beginnt der Vers zu schweben, in Leichtigkeit und Wohlgesonnenheit.
Die 1959 herausgekommenen Navegaciones y regresosSeefahrt und Heimkehr, könnte man Band IV der Elementaren Oden nennen. Wie in ihnen rühmt er die einfachen Dinge des Lebens, nahe und ferne Tiere, Erinnerungen an Städte, an Freunde, an Dichter, ans Meer, Gedanken über die Flüchtigkeit des Daseins, die Allmacht Zeit mischen sich ein:

Jünger und älter, diesmal wie stets bin ich zurückgekehrt: jünger durch Liebe, Liebe, Liebe, älter, denn gewiß, denn mich nagen an die Uhren, die Monate, des Kalenders schneidende Zähne.

Seine klarsichtige Verstricktheit in die Geschichte und die dunklere Bindung ans Tellurische bekunden die Bände Canción de gestaHeldenepos (1960) und Cantos ceremonialesZeremonielle Gesänge (1961). Canción de gesta läßt die Tragik der kolonisierten amerikanischen Breiten von neuem erstehen. Puerto Rico, schmerzlicher Ausgangspunkt zu den Leiden der „Todesinseln“ im Caribischen Raum, dann kontrapunktisch, Hoffnung und Mut gebend, das Inselreich Cuba. Seine, Nerudas Identifizierung mit dem Leiden, mit der Geschichte ist mit jedem Wort gegeben:

… ich bin und bin nicht. Bin nicht, sondern begleite die Schmerzen derer die leiden: es sind meine Schmerzen.

Er sieht die Einheit aller revolutionären Erhebungen, alles Heldenhaften seit den Anfängen der Geschichte Amerikas bis auf den heutigen Tag und in die Zukunft. In seinem Preislied auf Cuba, den „wegweisenden Mast“, durch die Verfinsterungen rings sichtbar, erwächst auch dem Dichter Befreiung von der eigenen lastenden Vergangenheit, die noch nicht ganz behoben ist: „In diesem Erdraum… verabschiede ich den Schmerz, der mich aufgesucht hat, als gäbe ich einer Taube den Abschied.“ – Die Cantos ceremoniales sind Verse von majestätischer Großartigkeit, beinhalten Geschichtlichkeiten, Visionen, kosmische Substanzen, Geschicke: der „Stier“ als lebendiges blutendes Symbol Spaniens; das Weltmeer, in der Sirene verkörpert, ist gleichzeitig Spiegelung seiner Seele; das Verstummen und einsame Sterben einer einstmals Geliebten, Manuela Saenz’, der Liebe Bolívars. Lautréamonts tragisches Geschick wird zum Dichtersymbol; Tod, Vulkan und Leben gehen eine Einheit ein, die unsterblich ist: „In diesem Vulkan und im andern gründete das Geschlecht der Erde sein Sein und Nichtsein… also ward aus Lehm, dem Lehm der Vulkane, der erste Mensch geboren.“ Aus den Höhen des Fluges erwachsen ihm Größe und Einheit unserer Erde, verkörpert im Andenmassiv:

Es war meine Heimat und war nackt.

Plenos poderesVollmachten, die nächste Veröffentlichung (1962), setzt auch im gewissen Sinne die Elementaren Oden fort, aber in starker Verdichtung und Ausdruckskraft, in substanzieller Geistigkeit! Vieles darin ist Rückschau, unsentimental, bis in die Zeit der Jugend, auch die Ahnung der Vergänglichkeit, der eigenen und aller, ist darin, allein nicht mehr wie vor dreißig Jahren in Verzweiflung und Angst. Jetzt ist Vergänglichkeit ein Schatten, dem begegnet werden muß. Es gilt den Kampf und das Einstehen gegen den Tod:

… so fing das Leben stets von neuem an, indem das Kleid ich wechselte und den Planeten, vertraut werdend mit Gefährten, mit der großen Menschenmenge der Verbannung, mit der großen Einsamkeit der Glocken.

Die letzte bedeutende Veröffentlichung Nerudas, das fünf Bände umfassende Memorial en Isla Negra, 1964 erschienen, ist ein umfassender Rückblick, in voller Jugendlichkeit von der Höhe seiner sechzig Jahre aus gesehen. Retrospektiv, autobiographisch. Vergangenheiten in der Bedeutung eines immer neuen Aufbruchs, der zu jeder Stunde anhebt. Der erste Band Wo der Regen geboren wird beschwört die Kindheitsjahre in Temuco herauf, die Kräfte, die für sein Werden und Sein bestimmend waren: die Trauben (Symbol der Fruchtbarkeit und Lebensfülle in seiner gesamten Dichtung), Trauben, die von der toten Mutter her aufwuchsen, die Güte, in seiner Amme verkörpert, der australe Süden, in ihm als Pakt mit der Erde. – Der zweite Band Der Mond im Labyrinth gestaltet noch einmal die tiefe Wirrnis seiner wechselnden Lieben – Liebe als letzte Zuflucht, als Ursprung seiner Dichtung: Ich denke, daß meine Dichtung nicht nur auf Einsamkeit fußte, sondern auf einem Leib und immer wieder auf einem Leib, bei voller Haut des Mondes und mit allen Küssen der Erde.“ – „Das grausame Feuer“, Band III des Memorial, läßt die spanische Tragödie wiedererstehen, die Toten, den spanischen Tod, spricht von den durch den Dichter Geretteten. Von der Liebe zu Josie Bliss: die verzweifelte, triebbesessene Liebe eines völlig Einsamen im Orient, jetzt eingefangen in einer Melancholie voll Dankbarkeit und Trauer um das Vergehen. – Der Wurzeljäger, Band IV, setzt die Erinnerungswelt und die Reflexionen über die vergangenen Lieben fort, so hier seine innere Position zu „Delia“, seiner ehemaligen Frau: Bekenntnis zu Schuld und Unschuld in der Liebe und ihrer Wandlung. Dann ein großer Lobgesang auf Mexico, das ihm als erstes Land das schwierige Glück dazusein, auf Erden ganz zu sein, wies:

Und die helltönende und gesättigte Erde lehrte mich auf einmal irdisch zu sein: ich anerkannte Niederlagen und Schmerzen.

– Im letzten Buch des Memorials Kritische Sonate steht im Mittelpunkt das aufschlußreiche politische Gedicht „Die Episode“, eine Auseinandersetzung mit der verheerend finsteren Wunde, die der Stalinismus in die Herzen von Millionen Menschen schlug: eine Wunde, real blutig zu seiner Zeit, die nach den Enthüllungen als Zweifel, Trauer und Verwirrung weiterwirkte. Neruda beschönigt nicht, er zeichnet den Stalinismus als eine Zeit der Angst, der Entfremdung, des allseitigen Mißtrauens. Im Gedicht „Die Wahrheit“ wendet er sich gleichermaßen gegen jedes Sektierertum in der Kunst.
„Die Welt der Künste“, schreibt er einmal, „ist eine große Werkstatt, in der alle arbeiten und sich gegenseitig helfen, wenn sie es auch nicht wissen oder glauben mögen. An erster Stelle erhalten wir Hilfe von denen, die vor uns waren, und wir wissen heute schon, daß es keinen Ruben Dario ohne Góngora gibt, keinen Apollinaire ohne Lamartine und keinen Pablo Neruda ohne sie alle zusammen. Mein bedeutendstes, umfassendstes Buch jedoch ist jenes Buch gewesen, das wir Chile nennen.“ Neruda hat sein Wort allein aus dem gelebten, durchlittenen, gierig in sich aufgesogenen Leben, aus dem weiten, harten wie milden Blickfeld seiner Augen, aus dem Tastgefühl seiner Nerven in Fleisch und Hirn: „Aus so vielem Lieben und Umherschweifen entstehen die Bücher“. Ihm ist Dichten ein natürliches Verhältnis zur Welt. Wie er als Kind Wände, Kartons und Papier mit ersten ungeschickten Versen bedeckte, wird heute noch jedes Objekt seiner Sinne und Gedanken, jedes Geschehen ihm Zwang zum Vers: Schreibend sich selbst zu finden. Welt zu finden. Der Faust eines Kontinents, der den „Pakt mit der Erde“ hält.

Erich Arendt, Vorwort

 

„Es geht mir allein um die Grundrechte des Menschen.

Der Mensch muß sich Gehör verschaffen, und der Dichter seine Stimme, sein Schrei werden. Es ist damit auch Aufgabe des Dichters, gegen soziale Ungerechtigkeiten zu kämpfen. In den unterentwickelten Ländern, in den Ländern der totalen Ignoranz, in meinem Lateinamerika gibt es Millionen und aber Millionen Analphabeten. (…) Und wenn man bedenkt, daß diese 60 oder wieviel Millionen auch immer nicht einmal lesen können, dann muß sich ein Schriftsteller die für ihn wichtigste Frage überhaupt stellen, nämlich die Frage nach seiner Existenzberechtigung; für wen er eigentlich schreibt“. – Pablo Neruda, „Dichter der verletzten Menschenwürde“, erhielt den Literaturnobelpreis 1971 „für eine Poesie, die mit der Wirkung einer Naturkraft Schicksal und Träume eines Weltteils lebendig macht“. Neruda, Anwalt in lyricis der Unterdrückten seines Landes und Lateinamerikas, erlebte Unterdrückung und Entfremdung in seinen Gedichten zunächst resignativ als unabänderlichen Naturprozeß (Aufenthalt auf Erden) die Veränderbarkeit der Natur und vorgegebenen Verhältnissen durch bewußte menschliche Eingriffe. Das In- und Miteinander von politischem Engagement und ihrer Mittel sicherer Artistik charakterisiert seine späte, in diesem Band zusammengefaßte Lyrik: Hundert Liebessonette, Chiles Steine, Heldenepos, Zeremonielle Gesänge, Vollmachten, Memorial von Isla Negra.

Luchterhand Verlag, Klappentext, 1972

 

Abschied von Neruda

An dem Tag, an dem wir ihn in der Klinik besuchen wollten, erhielten wir die Nachricht: Neruda war gestorben.

Es war kalt, und der Morgennebel hatte sich noch nicht gelichtet, als wir sein Haus in der Straße Marqués de la Plata in Santiago erreichten. Die kleine, vergessene Straße, ein idealer Zufluchtsort für einen Dichter, geht von einer anderen, nicht minder malerischen aus: Zahlreiche Bäume mit leuchtend roten Blättern verliehen ihr mitten im südlichen Frühling einen Hauch von Herbst. Die Straße Marqués de la Plata endet vor einer Mauer, die von Anhängern der Unidad Popular bemalt worden ist. Sie ist die einzige Mauer der Linken in Santiago, die nicht überpinselt wurde. Gegenüber dem Haus des Dichters ist die Aufschrift zu lesen: NERUDA, DIE JUGEND GRÜSST DICH.

„Don Pablo?“ – Die Frage war absurd, doch die Frau, die in der Tür stand, nahm sie ganz natürlich. – „Er ist oben“, sagte sie.

Der Hof war überschwemmt, auch das Erdgeschoß. Dunkles Wasser floß von irgendwo her. Auf der anderen Seite des Hofes befand sich, etwas höher gelegen, ein ebenfalls überfluteter Garten, voll von Papier, verbrannten Büchern und Scherben, sehr vielen Scherben. Das Glas knirschte unter unseren Schuhsohlen. Zwei Frauen suchten behutsam in dem Durcheinander. Eine von ihnen wandte sich uns zu: „Sie haben alles kaputt gemacht“, sagte sie bloß. Wir hoben eine von Lehm beschmutzte Fotografie auf. Sie war ziemlich alt: drei Männer und eine Frau, nach der Mode der dreißiger Jahre gekleidet, im Schnee. Sie schienen glücklich in die Kamera zu lachen. „Das waren Don Pablos Briefe und Fotos“, sagte die Frau.
Papier lag verstreut umher, mit einer klaren, vertrauten Handschrift beschrieben, an den Rändern vom Feuer angenagt.

„Sie haben nicht einmal gewartet, bis er tot war“, sagte die Frau. „Vor zwei Tagen sind sie hier gewesen.“ – „Wo ist er jetzt?“ – „Dort.“

Sie deutete auf ein kleines Gebäude im oberen Teil des Gartens, das einem Taubenhaus glich. Eine steile Treppe führte hinauf. Als wir die Tür öffneten, standen wir vor dem Sarg. Der Raum war eiskalt und ohne Beleuchtung. Höchstens ein halbes Dutzend Personen war anwesend.
Der graue Sarg, ohne jeden Pomp, ohne Kerzen, ohne Kränze, nur mit zwei weißen Rosen geschmückt, die offenbar in Eile geschnitten worden waren, stand einsam an der einen Wand.
Unter dem Glas erschien Nerudas Gesicht verkleinert, unwirklich. Das Menschliche an ihm war in diesem Augenblick nicht sein Gesicht, sondern sein kariertes Hemd mit dem offenen Kragen und die Tweedjacke. Die sportliche Kleidung erinnerte an unbeschwerte Sonntage auf der Isla Negra oder an Frühlingsvormittage in Paris, eine Stadt, die Neruda liebte und die er vor einem Jahr für immer verlassen hatte.
Neben dem Sarg, allein, saß Nerudas Frau. Wir hatten Matilde Urrutia vor zwei Jahren in Barcelona, im Haus von García Marquez, kennengelernt. In jenem Sommer gab es noch keinen Grund, um das Leben des Dichters zu fürchten, ebensowenig um Chile. Die blonde Frau, die damals angeregt mit uns geplaudert hatte, während im Kühlschrank ein paar Flaschen Weißwein für die Ankunft Nerudas bereitstanden, saß jetzt bewegungslos und ohne zu weinen am Sarg, in diesem Raum, der überall Spuren der Verwüstung zeigte.
Das Haus war durchsucht und geplündert worden. Aus einem Kanal hatte man das Wasser abgeleitet, so daß das Erdgeschoß überschwemmt wurde. Es gab kein elektrisches Licht. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen. Die Lampen zerbrochen, die antiken Keramiken in tausend Stücke zerschlagen, die Bücher verbrannt. Verschwunden waren die Bilder, eine Sammlung naiver Malerei, die Neruda im Laufe seines Lebens zusammengetragen hatte. In dieser Nacht mußte die Witwe des Dichters in einem dunklen Haus an seinem Sarg wachen, in der Stille der durch das Ausgehverbot versteinerten Stadt, während die Kälte vom Gebirge durch die eingeschlagenen Fenster in den Raum kriechen würde.
Auch jetzt, am hellichten Tag, lag eine gespannte Ruhe über der Stadt. Panzerwagen, vollbesetzt mit Soldaten, fuhren langsam durch die Straßen. Angesichts der Lage hatten nur wenige Freunde Nerudas, fast alle Mitglieder der Unidad Popular, zu kommen gewagt. Laura, seine Schwester, und ein paar Verwandte waren da und sprachen in einer Ecke leise miteinander. Gegen Mittag kamen Journalisten mit Filmkameras und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens: Radomiro Tomic, der Chef der Christlichsozialen, und der schwedische Botschafter. Die Botschaft von Frankreich sandte einen Kranz mit einer vielsagenden Karte: „Unser Schmerz gilt Chile.“ Jemand brachte eine chilenische Fahne, die über den Sarg gebreitet wurde. In diesem Augenblick erhob sich Nerudas Witwe von ihrem Stuhl, auf dem sie den ganzen Vormittag gesessen hatte, und ging hinaus in den Garten. Die Stirn an den Stamm einer Weide gelehnt, weinte sie still vor sich hin, abseits der Filmkameras.
Im Garten trafen wir einen Freund, der ebenfalls Schriftsteller war. Der hochgewachsene und trotz seiner weißen Haare jung wirkende Mann war von Matilde Urrutia gebeten worden, die Formalitäten für die Bestattung zu erledigen. Er brauchte ein Auto. Wir boten ihm an, ihn in dem Taxi mitzunehmen, das wir vor dem Haus hatten warten lassen.
Während wir durch graue, kalte Straßen zum Stadtzentrum fuhren, erzählte er uns, warum man den Vorschlag verworfen hatte, Nerudas Leichnam nach Mexiko zu überführen. „Einige Freunde meinten, man könnte auf diese Weise gegen den gegenwärtigen Zustand protestieren. Aber Matilde war anderer Meinung. Das könnte vom chilenischen Volk mißverstanden werden.“
Er öffnete seine Hand und zeigte uns einen Schlüssel. „Der ist für Pablos Grab.“
Das Mausoleum, in dem der Dichter bestattet werden sollte, gehörte der Familie eines bekannten chilenischen Fußballfunktionärs, Carlos Dittborn. Dort sollte Neruda eine vorübergehende Ruhestätte finden, bis man seine sterblichen Überreste, so wie er es gewünscht hatte, nach Isla Negra überführen könnte.
An der Fassade des Begräbnisinstituts bearbeitete eine Frau mit Wasser und Seife die Aufschrift MIR. Doch so sehr sie sich auch Mühe gab, die Buchstaben ließen sich nicht wegwischen.
Der Angestellte des Begräbnisinstituts füllte die Formulare mit bürokratischer Genauigkeit aus. „Name des Verstorbenen?“ – „PabIo Neruda.“ – „Eltern?“ –„José del Carmen Reyes und Rosa Basoalto.“ – Und so weiter.
Bei eingehender Prüfung der Dokumente stellte sich heraus, daß der Personalausweis und der Totenschein fehlten. (Diesen besorgten wir später: Neruda starb infolge von Prostatakrebs und nicht an einem Infarkt, wie es zunächst hieß.)
Schließlich, die letzte Frage: „Wieviele Wagen?“ – Unser Freund zuckte die Achseln. – „Da es sich um Don Pablo handelt, sollten es wohl zwei sein“, riet der Angestellte. „Es wird bestimmt viele Kränze geben.“ – „Normalerweise müßten es mehr sein: sieben oder zehn, was weiß ich“, sagte Nerudas Freund. „Doch ich fürchte, unter den gegenwärtigen Umständen ist ein Wagen genug.“
Sein Ton war etwas bitter. Nerudas Freund war sich zu jenem Zeitpunkt nicht im klaren, ob er sich verstecken sollte, d.h. ob er noch mit seiner Verhaftung zu rechnen hätte. In der Nacht hatte er telefonisch die Nachricht vom Tod des Dichters erhalten, als er gerade dabei war, für den Fall einer Haussuchung seine Bibliothek zu verbrennen, die zum großen Teil aus marxistischen Werken bestand. Als es Tag wurde, verglosten die letzten Bücher im Kamin seines Wohnzimmers.

„Ob jemand kommen wird zu der Bestattung morgen?“ – „Das ist unter den gegebenen Umständen schwer zu sagen.“

Unter den gegebenen Umständen kamen mehr Leute, als zu erwarten war: etwa dreihundert Personen, darunter Journalisten und Fotografen aus Europa.
Die Sonne wärmte kaum. Es lag etwas in der Luft, das die Stimmung des südlichen Winters zurückbrachte. Der Sarg, mit der chilenischen Fahne bedeckt, wurde durch den überschwemmten Garten zum Leichenwagen getragen, der vor dem Tor hielt. Als sich der Zug in Bewegung setzte, in einer Atmosphäre, in der die Angst jener Tage zu spüren war, rief jemand auf der Straße: „Genosse Neruda!“
Einige Stimmen antworteten: „Hier!“
Noch zweimal erscholl der Ruf, und zweimal dieselbe Antwort. Dann schloß die unbekannte Stimme: „Jetzt und für immer!“
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, in tiefem Schweigen und sehr langsam.
Es ist nicht weit von Nerudas Haus bis zum Stadtfriedhof, höchstens zwei Kilometer. Doch in dieser Atmosphäre, die von den ständigen Patrouillen des Heeres geprägt war, wurde der Weg lang, und die Zeit zehrte an den Nerven. An manchen Türen und Fenstern standen Leute und sahen schweigend zu, wie der Sarg vorbeizog.
Als der Trauerzug bei dem hohen bogenförmigen Friedhofstor anlangte, wurde der Sarg vom Leichenwagen heruntergehoben und auf einen Holzkarren gestellt Die Trauernden rückten beim Gehen enger zusammen. Plötzlich setzte gedämpfter Gesang ein, der sich wie das Summen von Bienen anhörte, verstärkt durch den Widerhall der Mauern. Man sang die Internationale.
Hinter uns, auf dem kleinen Platz vor dem Friedhof, waren die Sirenen von Militärfahrzeugen zu hören. Soldaten, mit Gewehren in den Händen, sprangen von den Lastwagen. Aber die Menge sang weiter.
Ein eisiger Wind blies zwischen den staubbedeckten Zypressen, während der Trauerzug voranschritt.
Vor dem Mausoleum der Familie Dittborn verstummte der Gesang. Nur das Surren der Kameras war zu hören. Die Stille hielt an, während drei Schriftsteller und eine Frau ohne Lautsprecher Grabreden hielten. Bleich, ein Blatt aus einem Schulheft in den zitternden Händen, las ein Student ein Abschiedsgedicht an Neruda, das er an jenem Morgen geschrieben hatte. Es war ein sehr schönes Gedicht.
Als der Sarg unter einem Regen von Blumen in das Grabmal geschoben wurde, erscholl abermals der Ruf an Neruda. Und plötzlich noch ein anderer: „Genosse Salvador Allende!“
Es war das erste Mal, daß man in Santiago nach Allendes Tod seinen Namen rief.
Ein mächtiger Chor antwortete: „Hier!“
Es folgte ein Gruß an Victor Jara, einen chilenischen Sänger, der eine Woche vorher im Nationalstadion erschossen worden war. Seine Frau, eine große blonde Engländerin, die neben dem Sarg stand, begann zu schluchzen. Vier Tage zuvor hatte sie in Begleitung des britischen Botschafters in der Leichenhalle unter zweihundert Toten den Leichnam ihres Mannes entdeckt.
Unversehens war das Begräbnis Nerudas zu einer politischen Demonstration geworden. „Erster öffentlicher Akt der Oppositon“ sollte es die französische Tageszeitung Le Monde nennen. Jedenfalls war es ein sehr kurzer Akt. Kaum war das Grabmal verschlossen, das Nerudas sterbliche Überreste aufgenommen hatte, machte sich wieder eine ratlose und gespannte Stille breit. Von draußen hörte man noch immer die Sirenen der Militärautos. Die Menge begann sich hastig zu zerstreuen.
Als wir den Friedhof verließen, sahen wir wenige Meter vom Eingang eine Gruppe schwarzgekleideter Frauen, die weinten. Sie weinten nicht um Neruda. Es waren die Frauen von ermordeten Arbeiterführern. Sie hatten soeben die Leichen ihrer Männer identifiziert und hielten Sterbeurkunden in ihren Händen, die die Militärbehörden ausgestellt hatten. Sie standen da und weinten, nur wenige Meter von den Lastwagen mit den Soldaten entfernt.

Plinio Apuleyo Mendoza, die horen, Heft 101, 1. Quartal 1976
Übersetzt von Robert Hammer

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Pablo Neruda

 

PABLO CANTA Y LUCHA
(Aufschrift auf Nerudas Grab, Herbst 1975)

Schmerzen,
Tod,
Speichel und
Trauer.
Um
den heiligen Dollar
tanzen
die Schlächter und
spucken in die Asche
deiner Gedichte.
Aber aus dieser
Asche,
über deinem gedemütigten Volk,
erhebt sich
bitter und groß
das Lied des
Sturms.

Winfried Roth

 

VENCEREMOS FÜR PABLO NERUDA

Muß ich nicht erst eine Jahreszeit lang
hinter dir her sein siderischer Adler
von deinen Sonnen gepeitscht
zerfressen ausgelaugt von deiner Kälte
dem Fels
ohne daß mich dein Flügel streifte

hinter deinem Walschatten her
schwarzes Leuchtfeuer
festgekrallt
auf einer Planke treib ich im Eis
buchstabierend vergeblich von deinen
antarktischen Salzen gegerbt
immer daheim zu stranden

erst
muß mein Finger wenigstens eine
Winternacht lang den Triften nachfahren
südliche Grenze von Palmen
des Korns
jenseits der Wendekreise

erst
muß ich Wörter ausprobieren:
Ozean
Kupfer
Salpeter
Tellurisches
und verwerfen weil sie mir nicht zustehn
C h i l e

nur einen Morgen lang
mit dir zusammen den Abendröten
Bäckern Fischern Holzfällern Parias
Frieden gewünscht
eine Zwiebel gegessen

zwischen zwei Fluchten
lidschlaglang wenigstens
Andenschnee
Strandgut
Araukanisches
die totale Summe der Nacht

ein für allemal
sei das gesungen
dachte ich
Salz und Honig
dein Tod
wenn er je käme
nährte noch lang

einmal für alle
grünen Pferde
und in Spaniens Straßen das Blut
jedweden Unterdrückten
zu tränken
ein für allemal genug

Nacht und Tag
nie wieder lichter
dunkler schärfer
Lilien Urin
nie wieder Bitteres so bitter
Einsames einsamer
auswegloser
nie mehr der Tod

seit deine hartnäckigen Gesänge
unsere Wörter einholten überall
zwischen Rangoon Batavia
den Ruinen am Baltischen Meer
Almerîa
von Stalingrad
bis tief nach Deutschland hinein
RESIDENCIA

Marter aller Geschundenen
ein für allemal verflucht
Cortés
für alle vorweggenommen
damit Chile unschuldig bliebe

nie mehr ein anderes Rot als Wein
Fahnen
dachte ich
ein für allemal
könne kein Land oder wenigstens
dieses
zurück

nachdem es angelangt war
jenseits deiner
ERKLÄRUNG EINIGER DINGE
„Generäle
Verräter:
seht mein totes Haus“

mit den bis zuletzt offenen Augen
sahst du im Feuer
die Dichter verbrennen
ihre Asche und ihr Salz
Nährlösung
für die verdorrende Erde

während dein Sterben
sich noch einmal
zusammenraffte zum Gegengewicht
zeugte
dein lebenslanges Gedicht

Margarete Hannsmann

 

 

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Zum 1. Todestag des Autors:

Jürgen P. Wallmann: „Ich werde niemanden exkommunizieren“
Die Tat, 21.9.1974

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Uwe Berger: Seine Poesie ist Stimme des Volkes
Neues Deutschland, 12.7.1979

H. U.: Einheit von Poesie und Politik
Neue Zeit, 11.7.1979

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Hans-Otto Dill: Seine Dichtung – leidenschaftlicher Hymnus auf den Kampf der Völker
Neues Deutschland, 12.7.1984

Volodia Teitelboim: Ein Dichter, der auf Erden wohnt
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1984

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Margit Klingler-Clavijo: Ich bekenne, ich habe gelebt
Deutschlandfunk, 12.7.2004

Josef Oehrlein: Die drei Archen des Dichters
Cicero

Karin Ceballos Betancur: Das Kind und der Dichter
Die Zeit, 8.7.2004

Holmar Attila Mück: Krieger mit der Lyra
Deutschlandradio Berlin, 12.7.2004

Claudia Schülke: „Militanter Stalinist und kolossaler Dichter“: Pablo Neruda
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.7.2004

Leopold Federmeier: Der trunkene Durst des begeisterten Schleuderers
Neue Zürcher Zeitung, 12.7.2004

Zum 5. Todestag des Autors:

Sergio Villegas: Beerdigung unter Bewachung
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1978

Zum 10. Todestag des Autors:

Karl Bongardt: Seinen Atem durchwob die singende Liebe
Neue Zeit, 24.9.1983

Zum 50. Todestag des Autors:

Holger Teschke: Sänger des Regens und der Klassenkämpfe
junge Welt, 23.9.2023

Manfred Orlick: „Ich bekenne, ich habe gelebt!“
literaturkritik.de, 23.9.2023

Gerhard Dilger: Dichterfürst im Zwielicht
taz, 23.9.2023

Benjamin Loy: Schwieriges Schweigen
ORFSound, 20.9.2023

 


 

Pablo NerudaFragmente zu einem Portrait. Ein Film von Hans Emmerling, 1974
 

Pablo Neruda – Lesung und Interview des Literaturnobelpreisträgers 1971.

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