Sandro Penna: Mein Junge hat leichte Federn

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Sandro Penna: Mein Junge hat leichte Federn

Penna-Mein Junge hat leichte Federn

Die Wände deines Zimmers
sind dir nicht lieb. In den Augen hast
du den roten, fliehenden Mohn. Das Lächeln
des jungen  Akrobaten. Seinen Triumph
oder den Triumph deines Lebens
beim Frühlingserwachen.

 

 

 

Die Lyrik Sandro Pennas:

Schwerelosigkeit und Selbstreflexion

I
Die lyrischen Gedichte Sandro Pennas erinnern bald an eilig hingeworfene Tuschzeichnungen, bald an lichtdurchflutete Aquarelle, in denen mit auffallender Häufigkeit die gleichen Figuren, wenn auch in stets neuen Verbindungen, auftreten. Manche Texte lassen zunächst einen ins Helldunkel getauchten Raum – einen Strand, einen Platz, ein Interieur – erkennen, den eine Zeitangabe näher bestimmt; dann aber richtet sich der Blick auf die im Vordergrund erscheinenden Gestalten junger Menschen – Matrosen, Arbeiter, ragazzi −, die als objets du désir aus Pennas imaginärer Welt nicht wegzudenken sind. Man möchte von Momentaufnahmen sprechen, wüsste man nicht, dass die dargestellten Figuren der Erinnerung entstammen und in sprachlicher Form gegenwärtig sind, was den Reflexionsgrad der Aussage erhöht. Die Dichtung hat Ausdrucksmöglichkeiten, die sich von jenen der Malerei unterscheiden. Der Vergleich mit den bildenden Künsten drängt sich dennoch auf, nicht nur weil Penna zu vielen Malern freundschaftliche Beziehungen unterhielt und in seiner Römer Wohnung selber Kunst sammelte, sondern auch weil die Titel einzelner Gedichte („Paesaggio“, dt. Landschaft, „Passaggio a livello“, Bahnübergang, „Donna in tram“, Frau in der Strassenbahn) diese Affinität bestätigen.
Einer dieser Texte, „Interno“ („Interieur“) genannt, mutet zunächst wie ein Genrebild an. Er berührt den Betrachter jedoch vor allem emotional, sofern dieser nicht nur auf die Darstellung selbst, sondern auch auf die Wortwahl achtet: insbesondere die Kombination von vergröberndem Pejorativ (das zweimal verwendete Suffix -accio, das mit „braccia“ reimt) und anmutigem Diminutiv („gattino“) erzeugt jene zärtlich-herbe Gefühlsmischung, die den besonderen Reiz dieses Gedichts ausmacht. Das dargestellte Sujet spricht folglich nicht nur das Auge, sondern insgesamt die Sinnlichkeit des Betrachters an: „Interno“ versteht sich als erotisches Gedicht. Verweilen wir kurz bei den einzelnen Bildern: Der Blick ins Innere einer schäbigen Portierwohnung fällt – besser: fiel, denn die Szene ist erinnert – auf die verwühlten, im Tageslicht hell leuchtenden Bettlaken. Über einen Tisch aus ungehobeltem Holz gebeugt „schlief“ ein junger Kerl, der als „sehr schön“ bezeichnet wird. Die Ambivalenz der Empfindungen steigert sich im letzten Vers, in dem es bezüglich dieses Schlafenden heisst, dem Dunkel seiner Arme sei „zögernd ein Kätzchen“ entschlüpft:

INTERNO

Dal portiere non c’era nessuno.
C’era la luce sui poveri letti
disfatti. E sopra un tavolaccio
dormiva un ragazzaccio
bellissimo.
aaaaaaaaaaUscì dalle sue braccia
annuvolate, esitando, un gattino.

INTERIEUR

Beim Hauswart war niemand.
Licht fiel auf die armen, verwühlten
Betten. Auf einem Holzbrett
schlief ein kräftiger, sehr schöner
junger Mann.
aaaaaaaaaaaaAus seinen dunklen
Armen sprang zögernd ein Kätzchen.

Obschon im Imperfekt berichtet wird, ist der Erzählgehalt dieser Schilderung gering. Häufiger als die Beschreibung eines in der Zeit ablaufenden Vorgangs finden wir bei Penna die einfache antithetische Grundstruktur der Zweiteilung, womit Kontrastwirkungen erzeugt werden. Beispielsweise wird so der Gegensatz zwischen der indifferent verharrenden Natur und dem durch sein momentanes Liebesverlangen exaltierten Ich hervorgehoben. Anders als in D’Annunzios mystisch verklärter Natur, deren erotische Impulse sich auf den zivilisationsgeschädigten Menschen übertragen und ihn aus seiner Entfremdung erlösen sollen, aber ähnlich wie bei Leopardi, gehören bei Penna Mensch und Natur verschiedenen Seinsbereichen an. Sein Bewusstsein trennt den Menschen sowohl von den „unwissenden“ Kreaturen als auch von der Welt der Dinge. Während die Bäume – im folgenden Gedicht sind es Pinien – in zyklischer Wiederkehr vom Wind gebeugt, vom Gewitterregen berieselt und vom fern grollenden Donner in den Schlaf begleitet werden, ist die Dimension des Menschen eine existenzielle, zeitlich begrenzte. Liebessehnsucht und Tod bestimmen sein Dasein, dem die Natur teilnahmslos gegenüber steht:

I pini solitari lungo il mare
desolato non sanno del mio amore.
Li sveglia il vento, la pioggia
dolce li bacia, il tuono
lontano li addormenta.
Ma i pini solitari non sapranno
mai del mio amore, mai della mia gioia.

Amore della terra, colma gioia
incompresa. Oh dove porti
lontano! Un giorno
i pini solitari non vedranno
− la pioggia li lecca, il sole li addormenta −
coll’amore danzare la mia morte.

Die einsamen Kiefern am trostlosen
Meer wissen nichts von meiner Liebe.
Der Wind weckt sie, es küßt sie
der Regen, fern schläfert
der Donner sie ein.
Doch niemals wissen die einsamen Kiefern
von meiner Liebe, von meinem Frohsein.

Liebe zur Erde, erfülltes,
unverstandenes Frohsein. Wohin in die Ferne
nur führst du! Eines Tages werden
die einsamen Kiefern – der Regen leckt sie,
die Sonne schläfert sie ein – meinen Tod
mit der Liebe nicht tanzen sehen.

Ein Gefühl des Ausgeschlossenseins empfindet das Ich auch gegenüber der menschlichen Gesellschaft. Viele Gedichte Pennas deuten darauf hin, dass er sich in seiner Sehnsucht nach Erfüllung unverstanden fühlt. So schreibt er in „Era la mia città“: „Aber mein Liebeslied, mein aufrichtigstes, / war für die andern ein unbekanntes Lied“, und in „Fanciullo“ spricht er von der „freudlosen Stadt“, die für „die Schönheit“ seines jungen Freundes keine Augen hat. Dass der Dichter angesichts dieser Isolierung nicht einfach versucht, sein Heil „in der Natur“ zu suchen, macht sein Werk nur problematischer. Alfonso Berardinelli hat darauf hingewiesen, dass bei Penna, wie schon erwähnt, auch die Natur sich als indifferent erweist. Menschliches Verlangen, so wie es Penna beschreibt, erschüttert sie nicht, verändert nichts, hinterlässt nichts. Mehrmals erscheint in Pennas Dichtung das Bild des sich gleich bleibenden Meeres, das den Schrei des Herzens verschluckt. Auch die darauf Bezug nehmenden Gedichte bewegen nichts, verändern nichts. Sie werfen lediglich ein Licht auf die ewig abweisende Verschlossenheit des Wirklichen:

Il mare è tutto azzurro.
Il mare è tutto calmo.
Nel cuore è quasi un urlo
di gioia. E tutto è calmo.

Das Meer – eine einzige Bläue.
Das Meer – eine einzige Ruhe.
Im Herzen ein Schrei nur
vor Freude. Und weithin nur Ruhe.

Penna gelingt es, mit geringsten sprachlichen Mitteln eine ganze Lebensphilosophie zu entwerfen. Dies bedingt jedoch die Gegenwart eines denkenden und empfindenden Subjekts, des lyrischen Ichs, das, selbst wenn es unerwähnt bleibt, als emotional betroffener Beobachter im Gedicht anwesend ist. Im folgenden Vierzeiler, in dem ein unverkennbar menschlicher Standpunkt die Voraussetzung für diese Art Gedankenfolge bildet, werden die der Zeit entrückte Unbeweglichkeit der Gestirne (sic!) und der ewig gleiche Kreislauf der Jahreszeiten der einmaligen Gelegenheit, die es zu nutzen gelte, gegenübergestellt. Der begehrte fanciullo, ein personifizierter Eros, wird zum Sinnbild des Glück verheissenden, nicht wiederkehrenden Augenblicks, wie ihn nicht nur der Liebende, sondern auch der Dichter kennt. Damit wird das Liebesverlangen zur Metapher der dichterischen Inspiration:

Le stelle sono immobili nel cielo.
L’ora d’estate è uguale a un’altra estate.
Ma il fanciullo che avanti a te cammina
se non lo chiami non sarà più quello…

Die Sterne sind unbeweglich am Himmel.
Die Sommerstunde ist gleich einem anderen Sommer.
Doch der Junge vor dir – rufst
du ihn nicht, ist er nicht mehr der gleiche…

II
Über seine homoerotischen Wunschvorstellungen spricht Penna mit einer an Unschuld grenzenden Offenheit. Einmal den Krisen seiner Jugend entwachsen, akzeptiert er sein Anderssein und erkennt darin eine Bestätigung seiner Berufung zum Künstler. Anstatt mit dem Schicksal zu hadern, erbittet er sich von seinem Leben nur, „dass es, wie es ist, auch bleibt“. Im wirtschaftlichen Alltag steht er konsequent zu seiner Eigenart. Wenn es ihm gut geht, sichert ihm eine befristete Anstellung als Buchhalter oder Verlagslektor ein bescheidenes Auskommen; in Krisenzeiten ist er auf die Unterstützung anderer angewiesen. Die Grossstadt – einen Winter verbrachte er in Mailand, dann zog es ihn wieder in sein geliebtes Rom – gibt ihm die Freiheit, sein Leben nach eigenen Massstäben einzurichten. Die Welt der Erwachsenen: die Politik, die ideologischen Konflikte der Gesellschaft – all dies berührt ihn wenig. Faschismus, Krieg und die Entbehrungen der Nachkriegsjahre – sie bleiben in seiner Dichtung beinahe unerwähnt. Präzisierungen wie „es war Krieg“ oder „es herrschte Ausgangssperre“ dienen seinen intimen Erfahrungen lediglich als Ambiente. Nach Kriegsende schlägt er sich eine Zeitlang als Trödler auf dem Schwarzmarkt durch. Auch handelt er mit Bildern, die sich, wie Elio Pecora erzählt, in seiner Wohnung zu Dutzenden gestapelt haben sollen.
In den fünfziger Jahren warf der Kritiker Giacomo Debenedetti Penna vor, „er habe sich von der Geschichte verabschiedet“. Was aber, wenn sich die Geschichte nur als menschliches Konstrukt erwiese und Penna eben diese Erkenntnis gehabt hätte? Der Bezug zur Wirklichkeit fehlte ihm nicht. Seine erotischen Erfahrungen hatten ihm bezüglich der Natur des Wirklichen ein Wissen vermittelt, das ihn zum realitätsnahen Dichter machte. Hatten andere die Welt jahrzehntelang durch ihre ideologischen Scheuklappen gesehen, um eines Tages erkennen zu müssen, dass Ideologie und Wirklichkeit sich doch nicht auf einen Nenner bringen lassen, so glaubte Penna nie an Welterlösungsutopien, empfand jedoch spontane Sympathie für die vom Leben Benachteiligten. Auch fehlte es ihm nicht an Mut: So scheute er sich nicht, während der deutschen Besetzung Roms auf dem Campo de’ Fiori unter Todesgefahr Flugblätter zu verteilen. Den Faschismus, der das Land in ein unseliges Kriegsabenteuer gestürzt hatte, muss er verachtet haben. Andererseits konnte er in seinem Tagebuch schreiben, er habe für die deutschen Soldaten, die Rom Hals über Kopf verlassen mussten, Mitleid empfunden, weil sich diese ihm erstmals von ihrer menschlichen Seite gezeigt hätten.
Keiner versteht es wie er, so anmutig und leicht über seine sinnlichen Erfahrungen zu schreiben. Dies tut er im Bewusstsein, dass sein eigenes Weltverständnis für ihn gültiger ist als jenes, das durch die herrschenden Religionen vermittelt wird. Das folgende freche Gedicht bewegt sich innerhalb dieser Polarität, zwischen der Verneinung des Christentums und der eigenen Lebensbejahung, die er zunächst zur ästhetischen Antireligion erhebt, bis auch diese vom Leben verhöhnt wird. Die entweihende, aber vitale Geste des jungen Mannes, der ungeniert an die Mauer pinkelt, ist als Antwort auf die anbetende Haltung des Ästheten zu verstehen:

Il cielo è vuoto. Ma negli occhi neri
di quel fanciullo io pregherò il mio dio.

Ma il mio dio se ne va in bicicletta
o bagna il muro con disinvoltura.

Der Himmel ist leer. Doch in den schwarzen
Augen dieses Jungen bet ich zu meinem Gott.

Doch mein Gott fährt radelnd davon
oder netzt ohne Scheu eine Mauer.

Das Besondere an Pennas erotischer Dichtung ist diese lebensbejahende Einstellung, die zur ästhetisierenden Pose wie zur Pornographie gleichermassen Distanz wahrt. Er ist weder ein „Grieche“ noch ein „Vertreter des vorchristlichen Italiens“, wie der römische Dichter Dario Bellezza einmal behauptet hat. Die Befreiung von seiner kleinbürgerlichen Erziehung verlief für ihn traumatisch, wie dies die frühen Tagebücher bezeugen. Erst der Erwachsene, nachdem er sich unter psychiatrischer Leitung einer – nie zu Ende geführten – Selbstanalyse unterzogen hatte, stand zu seiner Veranlagung. Penna gehört – man mag dies Narzissmus nennen – zu jenen Dichtern, die ihrer eigenen Kindheit nie ganz entwachsen sind und ihr in besonderen Gnadenmomenten immer wieder begegnen. Im folgenden Gedicht aus klassischen Elfsilblern, es ist unseres Erachtens eines der schönsten, geht es um eine solche Wiederbegegnung:

Il mio fanciullo ha le piume leggere.
Ha la voce sì viva e gentile.
Ha negli occhi le mie primavere
perdute. In lui ricerco amor non vile.

Così ritorna il cuore alle sue piene.
Così l’amore insegna cose vere.
Perdonino gli dèi se non conviene
il sentenziare su piume leggere.

Mein Junge hat leichte Federn
und eine heitere Stimme,
in den Augen meine vergeudeten
Jahre. Reine Liebe will ich ihm geben.

So gewinnt das Herz seine Fülle,
so lehrt uns Liebe das Wahre.
Über leichte Federn − bewahre −
will ich kein Urteil fällen.

Das Gedicht gibt uns Gelegenheit zu einem kurzen stilistischen Kommentar. Die Sprache Pennas gilt als unprätentiös, weil sie sich nur ausnahmsweise von der mittleren Stillage entferne. Genau betrachtet zeigt dieser Text jedoch vor allem die subtilen Feinheiten von Pennas Sprachkunst auf. Zunächst ist festzuhalten, dass die Leichtigkeit der besungenen Kreatur zugleich die Leichtigkeit dieser Dichtung meint, die, wie es heisst, bezüglich ihres Inhalts kein Moralisieren zulasse. Die Lyrik Pennas besitzt trotz ihrer Schwerelosigkeit ein hohes Mass an Selbstreflexion. Auffallend in stilistischer Hinsicht ist ferner die zyklische Form: die Anapher, die sich in der zweiten Strophe wiederholt; die Kreisbewegung, die von der Grundmetapher („piume leggere“, leichte Federn) ausgeht und am Ende wieder zu ihr zurückkehrt; die raffiniert wechselnde Betonung, die in der ersten Strophe zunächst die Qualitäten des Geliebten, dann die Haltung des Liebenden heraushebt, in der zweiten Strophe jedoch auf das resümierende „così“ (so, auf diese Weise) fällt – all dies deutet auf einen in sich geschlossenen Text hin, dessen Schlussklausel zudem eine Rechtfertigung der hier praktizierten Poetik der Leichtigkeit enthält. Was Pennas Verse so liebenswürdig und leicht macht, ist nicht so sehr die Wortwahl, als vielmehr der elegant variierte Rhythmus: In Strophe 1 befinden sich die betonten Elemente jeweils am Versende, was den Satzrhythmus anhebt; in Strophe 2 hingegen sind die Versanfänge betont, und der Satzrhythmus ist fallend. Das Gedicht beschreibt eine Wellenbewegung: Es ist, als kehre die aufsteigende Woge der Begeisterung allmählich wieder zum Ruhepol einer allgemeingültigen Lebensweisheit zurück.

III
Penna verbindet in seiner Dichtung die zwei Lebensbereiche der Erotik und der Kunst. In seiner Umgebung galt er als kultiviert: Er hatte für bekannte Verlage Claudel und Mérimée übersetzt und kannte sich in der neueren französischen Literatur wie in seiner eigenen aus. Gide und Proust las er im Original. Rimbaud und Verlaine waren ihm ebenso vertraut wie Leopardi, dessen sprachliche Eleganz er über alles schätzte. Auch Pascoli und D’Annunzio hatten ihn geprägt, doch ungleich weniger als der Dichter aus Recanati. Über Leopardi und Rimbaud fand Penna den Einstieg in die Moderne. Die Literatur der Gegenwart faszinierte ihn: Die Werke der neueren italienischen Erzähler – Svevo, Soldati, Moravia, Alvaro, Comisso – hatte er seit ihrem Erscheinen mit grosser Aufmerksamkeit verfolgt, trug er sich doch zunächst selber mit dem Gedanken, einen Roman zu schreiben. Oscar Wilde, Baudelaire und E.A. Poe bestätigten ihn in seiner Abscheu vor dem Gewöhnlichen. Auch Freuds Trente leçons de psychanalyse weckten sein Interesse.
1932 machte ihn sein aus Triest stammender Psychiater, Dr. Weiss, mit dem Dichter Umberto Saba bekannt, der Penna seine Freundschaft anbot und ihn in den Kreis der italienischen Literaten einführte. Noch im gleichen Jahr veröffentlichte L’Italia Letteraria auf Betreiben Sabas hin zwei seiner Gedichte, drei weitere sollten folgen. Nachdem sich weitere Persönlichkeiten wie Solmi, Ungaretti und Montale für Penna eingesetzt hatten, fand seine Dichtkunst endlich Beachtung. Montale warnte Penna vor der faschistischen Zensur, gestand ihm aber gleichzeitig zu, dass er seine erotischen Gedichte für die besten halte. Das Vorhaben einer Veröffentlichung scheiterte tatsächlich vorerst an der Zensur. Erst 1939 konnte bei Parenti in Florenz ein schmales Lyrikbändchen mit dem Titel Poesie erscheinen. Solmi, Anceschi und Caretti widmeten dem Werk begeisterte Rezensionen. Den endgültigen Durchbruch sollte Penna jedoch erst in der Nachkriegszeit schaffen: mit dem Band Una strana gioia di vivere, der 1956 bei Scheiwiller erschien, und mit der grundlegenden Garzanti-Ausgabe seiner Poesie, deren Zustandekommen er Pasolini verdankte. Dieser Sammelband, für den ihm 1957 der Premio Viareggio zugesprochen wurde, enthielt – neben den bereits bekannten – an die hundert unveröffentlichte Texte, darunter mehrere, die der Zensur zum Opfer gefallen waren. Anfechtungen blieben Penna auch nach dieser Ehrung nicht erspart. Die rechts stehende Presse fand, in Viareggio hätten „Pornographie und Vulgarität“ triumphiert. Doch die Anerkennungen mehrten sich und machten weitere Ausgaben möglich. 1970 folgte, wiederum bei Garzanti, die Sammlung Tutte le poesie, für die Penna den Premio Fiuggi erhielt. Es erschienen ferner der Prosaband Un po’ di febbre (dt. Fieber) und, mit einem Nachwort von Cesare Garboli, das Gedichtbändchen Stranezze. Pennas Ruf als einer der bedeutendsten Lyriker des 20. Jahrhunderts hatte sich gefestigt: Sein Name fehlt heute in keiner Anthologie. Auch im Ausland erfreut sich sein Werk, wie erste Übersetzungen zeigen, zunehmender Beliebtheit.
Die dem Werk Pennas eingeschriebene thematische Spannweite ist durch die beiden Buchtitel Una strana gioia di vivere („Eine seltsame Lebensfreude“) und Croce e Delizia („Qual und Entzücken“) treffend charakterisiert. Neben den oft besungenen Glücksmomenten gibt es in dieser Dichtung auch eine dunkle Seite, dort nämlich, wo Melancholie und Einsamkeit überwiegen. Ein 1928 entstandenes, zweistrophiges Gedicht – Penna wird es später an den Anfang der Erstausgabe stellen – verdeutlicht beide Seiten seiner letztlich neurotisch gesteuerten Dichterexistenz. Der Text erinnert in Form und Inhalt – man vergleiche etwa den insistierenden Gebrauch des Infinitivs – an Montales Verse „Meriggiare pallido e assorto“, in denen, wie hier, eine Poetik entworfen wird. Wenn jedoch Montale in jenem Gedicht von 1916 sein existenzielles Grundbefinden darstellt – es ist das einer endlosen Wanderung entlang einer nicht zu überwindenden Mauer – und in der Folge in diesem philosophischen Pessimismus verharrt, so hält Penna den bedrückenden Erinnerungen, die mit seiner ersten Bewusstwerdung verbunden sind, den „befreienden Moment“ des erotischen Abenteuers entgegen. Rimbauds „Esclaves, ne maudissons pas la vie“ (Une saison en enfer) zeigt Wirkung. Die hellen Farben des „draußen“ lockenden Meeres sind Zeichen nicht nur der Sinnlichkeit und der Lebensfreude, sondern auch des poetischen Aufbruchs:

La vita… è ricordarsi di un risveglio
triste in un treno all’alba: aver veduto
fuori la luce incerta: aver sentito
nel corpo rotto la malinconia
vergine e aspra dell’aria pungente.

Ma ricordarsi la liberazione
improvvisa è più dolce: a me vicino
un marinaio giovane: l’azzurro
e il bianco della sua divisa, e fuori
un mare tutto fresco di colore.

Das Leben… sich erinnern
an ein trauriges frühes Erwachen im Zug:
draußen: die ersten Lichter;
im Körper voll Pein: die herbe
und keusche Schwermut der schneidenden Luft.

Doch sich erinnern an die Befreiung,
aufs Mal, ist noch schöner: mir nahe
ein junger Matrose; das blaue und weiße
Kleid der Marine; und draußen:
ein Meer, ganz Farbe und Frische

IV
Wenn wir nun nach dem biographischen Hintergrund dieser Dichtung fragen, so können wir im Wesentlichen den Ausführungen Elio Pecoras folgen, der auch Zugang zum Nachlass Pennas hatte, d.h. zu unveröffentlichten Briefen und zu einigen vom Autor selbst besprochenen Tonbändern. Freunde Pennas – wie Pier Paolo Pasolini und Natalia Ginzburg haben mit ihren Aufsätzen weitere Bausteine zu einem Porträt des Dichters beigesteuert.
Sandro Penna wurde am 12. Juni 1906 als Erstes von drei Kindern der Eheleute Armando und Angela Penna in Perugia geboren. Sein Vater war ein wenig erfolgreicher Geschäftsmann aus dieser Gegend, die Familie der Mutter stammte ursprünglich aus Sardinien. Das Einvernehmen der Eltern war von Anfang an getrübt: Auseinandersetzungen zwischen den beiden häuften sich mit den Jahren. Als der Vater, an Syphilis erkrankt, aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrt, bricht die Familie auseinander. Angela verlässt ihren Mann und zieht mit ihrer Tochter Elda zuerst nach Pesaro, später nach Rom. Sandro und sein damals noch lebender Bruder Beniamino bleiben beim Vater und werden von einer Tante betreut. Diese gibt Sandro zu verstehen, dass sie sein introvertiertes Wesen nicht mag, was zwischen den beiden kein Vertrauensverhältnis aufkommen lässt. Der kränkliche, sensible Junge leidet zudem unter der Trennung seiner Eltern. Ein Tagebuch aus dem Jahr 1922 gibt Aufschluss nicht nur über sein Leiden, sondern auch über seine zukünftige Berufung. Der Sechzehnjährige schreibt dort, dass er sich „eine Dichtung, die vor Leidenschaft triefe“, wünsche, nicht eine, „die sich über die Leidenschaften erhebe“ und diese „mit dem kühlen Auge des Geistes beherrschen wolle“. Nach dem Abschluss der Handelsschule lernt Penna während der Sommerferien am Meer den zwanzigjährigen Acruto Vitali kennen, der ihn auf die Literatur der „verbotenen Liebe“ aufmerksam macht: Er liest Verlaine, Cocteau und Oscar Wilde, der ihn lehrt, dass er „für die Ausnahme und nicht für die Regel geschaffen ist“. Auch Nietzsche und Hölderlin gehören inzwischen zu seinen bevorzugten Autoren. 1928 wird er durch einen Vortrag Marinettis in seiner Absicht bestärkt, die eigene innere Welt künstlerisch zu gestalten: Er will diese Aufgabe, so schreibt er in sein Tagebuch, „mit futuristischem Elan“ in Angriff nehmen. Nun entstehen erstmals Gedichte, die seine persönliche Lebenserfahrung erhellen. Inzwischen ist Penna zu seiner Mutter nach Rom gezogen, wo er als Buchhalter arbeitet und erste Kontakte zum Literatenmilieu knüpft.
Da Penna als Aussenseiter zurückgezogen lebte, vor allem aber gesellschaftliche Anlässe mied, ist über sein Privatleben wenig bekannt. Nach dem Tod seiner Mutter und dem seiner Schwester Elda, die 1964 und 1965 kurz hintereinander verstarben, blieb er allein zurück. Dauernde Bindungen ging er nicht ein: Er suchte die Liebe und wich ihr gleichzeitig aus. Die wachsende öffentliche Anerkennung vermochte seine zunehmende Vereinsamung nicht zu verhindern. Obschon seine Freunde sich wiederholt für ihn einsetzten, lebte er zeitweise in Armut. Pasolini verehrte ihn wie einen modernen Heiligen und schrieb, die Heiligkeit dieses Dichters bestehe darin, dass er freiwillig auf den Genuss, den unsere Zivilisation anbiete, verzichtet habe. In seinen letzten Jahren war Penna ein kranker Mann, der an chronischer Schlaflosigkeit litt und seine Behausung kaum mehr verliess. Er starb einsam in seiner Römer Wohnung an der Via della Mole de’ Fiorentini, wo er Ende Januar 1977 von Elio Pecora tot aufgefunden wurde. Neuere biographische Recherchen, zwei ergebnisreiche Tagungen sowie Veröffentlichungen aus dem Nachlass – hier besonders erwähnenswert der Gedichtzyklus Peccato di gola („Gaumenfreude“, 1990) – haben seither dazu beigetragen, das Werk dieses Dichters in seiner Einzigartigkeit zu erschliessen.

Georges Güntert, Nachwort

 

Zum Buch

Sandro Penna (1906–1977) gilt als einer der bedeutendsten Lyriker des italienischen Novecento. „Vielleicht der grösste italienische Lyriker dieses Jahrhunderts“, so Pasolini und einer Reihe anderer namhafter Kritiker.
Pennas Lyrik ist vom Eros beherrscht und voll von Gnadenmomenten: Licht, Grazie, Glück werden mit einer Leichtigkeit eingefangen, die ihresgleichen sucht.
Hier wird erstmals eine repräsentative anthologische Auswahl von rund 80 Gedichten geboten, die das Gesamtœuvre, auch die nachgelassenen Bände, berücksichtigt: unmittelbare, fulminante Gedichte, vom Übersetzer unter Beachtung von formalen Elementen wie Rhythmus und Reim in ebenso fulminante deutsche Gedichte übertragen. Die Übersetzungen sind eigenständige deutsche Gedichte, die durch das nebenstehend abgedruckte Original bereichert werden.

Pano Verlag, Ankündigung

 

Sandro Penna – Ein Hinweis

Sandro Penna ist einer der großen italienischen Dichter des 20. Jahrhunderts, der, im Gegensatz zu Ungaretti, Montale, Quasimodo, außerhalb seines Heimatlandes bis heute fast unbekannt geblieben ist. Eine 1985 im Verlag Beck & Glöckler erschienene kleine Auswahl aus dem lyrischen Gesamtwerk Pennas und ein 1987 im selben Verlag erschienener, hervorragend übersetzter Band mit Pennas Kurzprosa erfuhren weder von den Kritikern noch vom Publikum die Beachtung, die sie verdient hätten.
In Italien ist Penna – zumindest unter Literaturkennern und Literaten – ein populärer Autor. Schon 1958 schrieb Pier Paolo Pasolini in einem seiner beiden Essays (in: Passione e ideologia 1985) über den Dichter, daß der Lyriker Penna unter seinen Lesern mehr Freunde als Feinde habe, und daß es auch unter diesen nur wenige gebe, die Pennas Poesie nicht hochschätzten.
Penna wurde 1906 in Perugia geboren. Er starb, nach einem Leben in Armut und bewußter Selbstbescheidung – er brachte sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, als Verkäufer, Korrektor, Übersetzer, Kunsthändler – 1977 in Rom.
Pennas Gedichte stehen von Anfang an außerhalb der literarischen Tradition der italienischen Dichtung, also der Tradition Dantes, Petrarcas, Leopardis, Foscolos etc. Seine ersten Verse veröffentlichte er in den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Damals war die dominierende literarische Bewegung in Italien die der Hermetiker Ungaretti, Montale. Die charakteristische Metaphorik und Epigrammatik dieser Schule beeinflußte Penna jedoch kaum. Seine lyrischen Texte sind schlicht, direkt, eindeutig…
Zwei Dichterpersönlichkeiten hingegen prägten Penna entscheidend: Guido Gozzano und Umberto Saba. Gozzano (1883–1916) war das Haupt einer literarischen Gruppe, die sich i crepuscolari nannte. Gegenstand seines Dichtens war das alltägliche Leben, le piccole cose. Gozzanos Lyrik bleibt programmatisch innerhalb der Grenzen des Alltäglichen, Banalen, während Penna dieses Alltägliche nur zum Anlaß nimmt und sich in jedem seiner Texte auf die Suche nach dem unerklärlichen, geheimnisvollen Licht macht, das die „piccole cose“ von innen her erleuchtet.
Wesentlicher als der Einfluß Gozzanos scheint der Sabas auf Penna gewesen zu sein. Saba war Penna ein Leben lang in Freundschaft verbunden. Er war es, der die erste Veröffentlichung Pennas veranlaßte. Für Saba wie für Penna steht die eigene Person im Mittelpunkt des Dichtens: beider Lyrik ist deutlich autobiografisch bestimmt. Beide schrieben zahlreiche Verse über ihre Sehnsucht, mit den anderen Menschen in engere Verbindung zu treten, in einer Gemeinschaft aufzugehen. Beider Grundstimmung ist die der Melancholie. Aber Pennas Gedichte sind knapper, kompakter, penetranter in ihrer solipsistischen Haltung als die Sabas, schlagen nie den für den älteren Triestiner so charakteristischen, mitteleuropäischen Jammerton des Mitleids mit sich selber an.
Penna war überzeugt, daß seine kürzesten, oft nur vier, drei oder auch nur zwei Zeilen umfassenden Texte seine vollkommensten seien. Er war bestrebt, innerhalb engster Grenzen einen Augenblick der Empfindung schlüssig und gültig zu artikulieren, auch die banalste Erfahrung in ihrem Wert zu erkennen und zu würdigen:

Ich streck mich in des Frühlings
Frühe aus. Ich spür
entstehen in mir verworrne
Morgenröten. Ich weiß nicht mehr
ob ich vergeh ob ich entsteh

Pennas Hauptthema ist die Homosexualität, die pederastia, wie er in Interviews zu präzisieren pflegte. Abgesehen von Kavafis ist Penna wahrscheinlich der bedeutendste homosexuelle Lyriker des 20. Jahrhunderts. Wie der Grieche aus Alexandria hat er ein Werk hinterlassen, in dem er offen die gleichgeschlechtliche Liebe feiert, in dem er aber ebenso offen die Erfahrung der Entfremdung beklagt, die seine Vorliebe zur Folge hat:

Knaben in meinen Gedichten, immer wieder!
Aber ich kann von nichts anderem reden, nicht ich.
Alles andere langweilt mich.
Für euch werd’ ich nicht Fromme Lieder singen.

Pennas minimalistische, zumeist titellose Texte scheinen manchmal zu zerfallen, sich in immer wiederkehrende Ketten begrifflicher Abstraktionen aufzulösen: Adjektive wie lieto, lieve, dolce, bello, Verben wie sognare, sentire, volere, nascere, sapere, Substantive wie amore, cuore, dolore. Pennas formelhafte, aber nur auf den ersten Blick vage Sprache steht immer im Dienst einer spontanen Wirklichkeitserfahrung. Jeder seiner Texte, auch der kürzeste, ist Teil einer großen Chronik erhabener Augenblicke, auch wenn das herangezogene Wirklichkeitsmaterial banal und – für nicht-italienische Ohren – klischeehaft ist: die Sonne, Flüsse, Bäume, Wind, Regen, erleuchtete Fenster, leere Zimmer, verlassene Straßen, überfüllte Züge – und Knaben, immer wieder Knaben…
Was immer das Objekt der Begierde Pennas ist, sein Hauptanliegen bleibt, im Text eine – keineswegs düstere, sondern von seltsam weichem Licht erfüllte – Melancholie zum Ausdruck zu bringen, die Gewißheit des glückhaft Besonderen seiner Ausgeschlossenheit, das Gefühl des Verwiesenseins auf sich selber und des sich selber Genügens…

Stets an einem Fenster steh ich,
ich, der ins Leben so sehr Verliebte.
Wörter und Menschen in Einklang zu bringen,
war die geringe, angemessne
Gabe des Himmels an mich.

Hans Raimund, Neue Zürcher Zeitung, 8.12.1989

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + Kalliope

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

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