Wolfgang Rothe: Zu Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Hölderlin-Herbst“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rolf Dieter Brinkmanns Gedicht „Hölderlin-Herbst“ aus Rolf Dieter Brinkmann: Le Chant du Monde. –

 

 

 

 

ROLF DIETER BRINKMANN

Hölderlin-Herbst

Auf
den Baustellen
wird jetzt Tag
und Nacht gearbeitet.
Auch die Gärten
werden nicht
geschont.
Sie werden
mit rostigen Harken
durchkämmt nach den
letzten Möhren
und Kartoffeln.
(Der Grünkohl
darf stehenbleiben
bis der erste Frost
gekommen ist.)
Weiter draußen
schlachten sie Schweine.
Frisch gewaschen und gebürstet
hängen die offenen Leiber
weiß an den Leitern.

 

Keine Hymne mehr

Am 23. April 1975 endete auf einer Londoner Straße das Leben Rolf Dieter Brinkmanns, unter den Rädern eines Autos. Auf keinen deutschen Schriftsteller seiner Generation hätte dieser gewaltsame Tod des Fünfunddreißigjährigen mehr gepaßt, entsprach doch Brinkmann der geläufigen Vorstellung vom genialischen Künstler geradezu perfekt: unstet, nicht kompromißbereit, ohne Rücksicht auf sich und andere, ungeschickt im „Daseinskampf“, ein „lebensuntüchtiger“ Hungerleider und schwieriger Outsider. Quasi ein deutscher Nachfahr der Ginsberg, Kerouac und Bukowski – als Importeur und Erbe der amerikanischen Pop-Lyrik, vor allem Frank O’Haras, gilt er denn auch zumeist.
Läßt sich ein größerer Gegensatz denken als der zwischen diesem Underground-Poeten und Friedrich Hölderlin, dem Sänger der Deutschen? Zwischen Brinkmanns Lakonie, die karge vier Bilder in sechs knappen Aussagesätzen anscheinend sorglos, kunstlos auf 21 Zeilen verteilt, und der Poesie von Hölderlins Hymnendichtung? Ist es leichtfertiger Scherz, Anmaßung oder gar Verhöhnung des Idols früherer Generationen, wenn Brinkmann über seinen visuellen Bericht einer Wanderung aus der Stadt ins offene Land den geheiligten Namen des romantischen Wanderer-Dichters par excellence setzt? Will Brinkmann das schönheitstrunkene lyrische Ich der „Heidelberg“- und „Neckar“-Oden, der „Stuttgart“-Elegie polemisch dem modernen aufgelösten, dem Non-Ich konfrontieren, welches sich nicht mehr begeistert „ergießt“, sondern sachlich Sehakte und Bewußtseinsvorgänge rapportiert?
Vielleicht. Doch wohnt Brinkmanns Antihymne ein großer, beklemmender Ernst inne, der Ernst dessen, der eine restlose Entzauberung der Welt, den Geheimnisverlust, eine totale Desillusionierung erfuhr. Die einfachen, ruhig aufeinanderfolgenden Sätze sind ganz vom Erlebnis eines Nicht-mehr-Erlebens von Stadt und Land, der menschlichen Lebensräume, geprägt. Die glanz- und schmucklose Sprache (wie wenige, und nachlässige Epitheta!) gewinnt dabei eine eigene Würde und Festigkeit, besitzt einen verborgenen Härtegrad. So elegisch, ja melancholisch die paar Bilder in Wahrheit sind – selbst der bloße Anflug einer Gefühlsäußerung, von Subjektivität wird nachgerade keusch unterdrückt. Nichts flutet, nichts schwingt mehr hölderlinisch in langen Bögen; ein Dokument der Sachlichkeit, Ungestimmtheit. Hölderlin-Herbst: Das meint nicht etwa ein Herbstgedicht in Hölderlins Manier, ebensowenig nur das Ende einer Weise zu dichten und Dichtung aufzunehmen, noch lediglich den Abgesang auf die hochgestimmte Naturerfahrung vergangener Jahrhunderte. Hölderlin-Herbst vermeldet, weit darüber hinaus, Endzeit und Tod überhaupt, in der zerbauten Stadt, den abgeernteten Vorstadtgärten, auf den Gehöften, wo die geschlachteten Tiere aushängen. Die Hast wird den Winter nicht bannen, die Vorsorge nicht die Not.
Der vorgeblich traditionslose Pop- und Underground-Lyriker der sechziger Jahre steht mit seinem Gedicht, dessen Nüchternheit anrührt, in einer langen Überlieferung. Traklhaft muten das zweite und das letzte Bild an. Doch die Kette reicht weiter zurück, bis in die Romantik, und endet dort beim jungen Hölderlin, der als Klosterschüler zu Maulbronn zwar die Natur als „Gottes Tempel“ pries, aber bereits das „Graun der / Großen Vernichtungen“ ahnte, von den „tausend Wunden“ und von „Verwesung“ wußte. Visionär redet der Achtzehnjährige von „der gewißen Vernichtung Grauen“ und vom „ jammerstand“ des Menschen, und dreimal fragt er – 1788 – in „Die Größe der Seele“: „wo ist dein Stachel, Todt?“

Wolfgang Rotheaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierter Band, Insel Verlag, 1979

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