Carlos Rincon (Hrsg.): Metamorphose der Nelke

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Carlos Rincon (Hrsg.): Metamorphose der Nelke

Rincon (Hrsg.)-Metamorphose der Nelke

SCHMALER FRÜHLING

Wenn der Raum, ohne Umriß, in der Strömung,
aaaaaaaaaamit einer Wolke
seine großen Unschlüssigkeiten zusammenfaßt −
aaaaaaaaaawo ist das Ufer?
Während der Fluß mit der gewundenen Richtung
aaaaaaaaaasich neigend
und seinen Ausgang suchend, ein Zeichner,
aaaaaaaaaanie sich beendet,
während das Wasser, von so hartem Grün,
aaaaaaaaaaseine Fische verneint
unter dem tiefen irrigen Widerschein eines
aaaaaaaaaazitternden Windes −
wenn der Morgen, dank der schwingenden Spur
aaaaaaaaaaim Gezweige,
seine Alleen, die langsamen,
aaaaaaaaaaleitet,
begünstigt von dem gewundenen Aufwege, welcher
aaaaaaaaaain Einklang bringt
die allerzarteste Wellung des Himmels
aaaaaaaaaaüber dem Winde
mit der sicheren Bahn der schäumenden Wässer,
aaaaaaaaaadie scharfsinnig steuern −
Schmal ist der Frühling zwischen den Rudern
aaaaaaaaaader Schiffer!

Jorge Gillén
Deutsch von Roy Hewin Winstone und Hans Gebser

 

 

 

Vorbemerkung

Die Textauswahl für eine Anthologie konfrontiert immer mit einem Dilemma, das in der Natur der Sache liegt: was nimmt man auf, was läßt man weg. Davon abgesehen, war jedoch für unsere Auswahl der zu beschreitende Weg ziemlich genau umrissen. Die anhaltende Blüte der spanischen Dichtung in unserem Jahrhundert und das wachsende Interesse an ihr stehen noch in einem deutlichen Mißverhältnis zu ihrer Verbreitung in der deutschen literarischen Öffentlichkeit. Es kam somit darauf an, dem deutschen Leser einen ersten Einblick in die Entwicklung der modernen spanischen Dichtung zu vermitteln und einige ihrer grundlegenden geschichtlichen und literarischen Voraussetzungen darzustellen. Es ist eine offene Auswahl, die den Blick auf die weiteren Wege der spanischen Dichtung frei machen soll und vielleicht bald einmal weitergeführt werden kann. Es sollten einige der hervorragendsten Dichterpersönlichkeiten vorgestellt werden. Hier fiel die Auswahl aus einer geradezu erstaunlichen Zahl bedeutender Dichter in einem Zeitraum von einem halben Jahrhundert sehr schwer. Manch einer wird den einen oder anderen Namen vermissen. Wenn unsere Auswahl auch nicht auf eine Wertung verzichtet, so bedeutet doch die Beschränkung auf die aufgenommenen zwölf Dichter kein Werturteil gegenüber den anderen, die hier nicht vertreten sind. Die Auswahl der zwölf Dichter ist von dem Anliegen der Anthologie bestimmt: einen Einblick in die Entwicklung der modernen spanischen Lyrik durch die Auswahl von symptomatischen Texten der größten Repräsentanten zu gewähren.
Die Auswahl der Gedichte wurde so vorgenommen, daß auch die innere literarische Entwicklung der einzelnen Autoren sichtbar wird. Die poetischen und sprachlichen Formen sind immer die materielle Grundlage der Dichtung, deren Anliegen und Botschaft sich in der Sprachkunst verwirklichen. Das fruchtbare Wechselverhältnis von Volksdichtung und bewußter Kunstübung, das die spanische Dichtung immer wieder auszeichnet, entfaltet sich in einer kontinuierlichen Bemühung um die sprachlichen und poetischen Ausdrucksmittel. Ein neu gewonnener dichterischer Standpunkt ist immer auch Aufhebung aller durchlaufenen Experimente. Deshalb sollte versucht werden, nicht nur den höchsten erreichten Standpunkt zu dokumentieren, sondern auch den Weg zu ihm hin, die dichterische Arbeit anzudeuten.

Carlos Rincón, Karlheinz Barck, F.R. Fries

Einleitung

Die geschichtliche Entwicklung der modernen spanischen Dichtung wird durch drei Daten markiert, die als Meilensteine den Rahmen und die Richtung ihrer Bewegung bezeichnen: 1898, 1917 und 1935.
1898 oder der Modernismus: Die modernistische Dichtung formuliert die Ziele der poetischen Arbeit, die ihre Gültigkeit für den ganzen zu betrachtenden Zeitraum behalten, denn die künstlerische Praxis der Modernisten hat bis zum Zeitpunkt ihrer Überwindung diese Ziele nicht verwirklichen können. Was waren das für Ziele, und unter welchen Bedingungen wurden sie formuliert? Der Verlust Kubas im Krieg gegen die Vereinigten Staaten (1895 bis 1898) hatte die spanische Intelligenz zutiefst erschüttert. Mit dieser äußeren Niederlage wurde zugleich die Rechnung einer größeren geschichtlichen Niederlage beglichen: die Niederlage der Ersten Spanischen Republik im Jahre 1874. Als dann nach 1898 alle Auswege aus der Krise nach rechts und nach links verschlossen waren, zeigt die modernistische Lyrik einen Ausweg. In der Situation, in der sich Spanien befand, konnte ein „authentisches“ Vaterland vorerst nur in der Dichtung geschaffen werden. Mit dem Modernismus beginnt die Überwindung der Konflikte eines zerrissenen Bewußtseins, eines agonalen Denkstils, wie er vielen Spaniern der Jahrhundertwende eigen war. Bis dahin hatte sich das Leiden an Spanien kaum eine Perspektive schaffen können. Die innere Zerrissenheit, wie sie der Dichterphilosoph Miguel de Unamuno verkörpert, ist ganz und gar von einer personalistischen Lebenshaltung geprägt: Aus der Würde der Person leitet man eine Persönlichkeitsethik her, die sich gleichermaßen gegen die Formen eines bürgerlichen Individualismus wie gegen einen katholischen Integralismus behaupten will. Es ist eine religiöse Lebenshaltung, die ihren Ursprung in einer feudalen Wertwelt keinen Augenblick verleugnen kann. Unamunos Leiden an Spanien fließ, so immer in sich selbst zurück und erzeugt einen ewigen Kreislauf des Protestes. Ein Ausbruch war nicht zu gewinnen, und alle innere Spannung dieses „agonischen Spaniers“ bricht sich an dem unbeugsamen Willen, eine letzte Identität des Individuums mit seinem Gott zu erzeugen.
In der modernistischen Lyrik kündigt sich nun zum erstenmal die künftige Selbstbefreiung des spanischen Volkes an, zu einem Zeitpunkt, als die Träger dieser Befreiungsbewegung noch nicht zum Bewußtsein ihrer Aufgabe gelangt sind. So steht im Vordergrund die Befreiung des Geistes durch die poetische Schöpfung. Die Erneuerung der spanischen Dichtung durch die Arbeit an der Schönheit des sprachlichen Ausdrucks, wie sie ein dynamisch bewegter Geist leistet, zielt auf eine Neubestimmung der Beziehungen des Menschen zu den Dingen und damit letzten Endes auf eine Neubestimmung des Menschen und seiner Stellung in der Welt überhaupt. An die Stelle der romantischen Ideale tritt das Streben nach „Aufrichtigkeit“ (sinceridad). Und wenn sich diese Dichtung einen Augenblick lang von der Welt des Zerfalls entfernt, aus der sie als Protest hervorgeht, so weicht sie damit doch nicht den Fragen aus, die diese Welt stellt. Das lyrische Bewußtsein ist der Situation des Menschen auf der Spur: Der Abstieg der Nation ist im Aufstieg der modernen spanischen Dichtung von Anfang an gegenwärtig. Nur aus diesem Bewußtsein heraus konnte das dichterische Unternehmen gewagt werden, dessen innerstes Gesetz Werner Krauss charakterisiert hat:

Wenn die neue Lyrik das Band zwischen Sprechen und Denken zu straffen vermochte, so vertiefte sich doch zugleich der Unterschied eines bloß sprachbedingten von einem sprachbezogenen Denken. Poesie appelliert an die Sinnkraft der Sprache, während begriffliche Logik von der Sprache nur ausgeht. Poesie will die Gedankenbewegung im Ursprung sprachlich belegter Situationen verhaften, den Begriff in die Bedeutung zurückversenken. Sie begnügt sich nicht mit der begrifflichen Verrechnung der Dinge, da sie im wertbeständigen Wort eine Schatzanweisung findet. Während der Pfeil des Begriffs die Dinge nur streift, um für sie seine Entwürfe kenntlich zu machen, glaubt die Wortkunst, ein Besitzverhältnis zu einer durch Sprache bedingten angezielten Welt zu gewähren.
(Werner Krauss).

Der spanische Modernismus hat bei der Formulierung seiner Zielsetzungen auch eine neue Verbindung zu den nationalen und demokratischen Kulturtraditionen Spaniens herzustellen vermocht. Darin liegt eine seiner wesentlichen Leistungen, wenn auch die Mittel seiner Wortkunst dieses Bemühen nicht voll zur Geltung bringen. Eine Vertiefung und Weiterentwicklung dieses Bemühens bleibt deshalb als Aufgabe bestehen, der sich die nachfolgenden Dichter mit Erfolg annehmen werden. In jedem Fall wird man beachten müssen, daß der spanische Modernismus bei allem Bruch mit dem romantischen Erbe doch nicht mit der „Moderne“ gleichzusetzen ist, die im übrigen Europa eine Literaturentwicklung einleitet, die durch die spätbürgerlichen Formen der Zerstörung des dichterischen Bewußtseins und der dichterischen Formen bestimmt ist. In Spanien fallen Modernismus und „Moderne“ auseinander. Als literarische Schule ist der spanische Modernismus auf eine Konzeption des dichterischen Schaffens verpflichtet, wonach der Schaffensprozeß den brennenden Sehnsüchten des Ich Ausdruck verleiht. Hier liegt auch die geschichtliche Grenze dieses dichterischen Weltbildes, das immer auf ein bürgerliches Menschenbild verpflichtet bleibt. Der Weg der Emanzipation des Individuums „vom Horizont eines Menschen zum Horizont aller Menschen“ war noch nicht gangbar. Dem entspricht ein halbwaches Sprachbewußtsein, das sich zwischen den beiden Polen der Anrufung und der Vergegenwärtigung der Schönheit als Harmonie der Sprache bewegt. Die Sprache verlangt vom Dichter keineswegs die Aufgabe seiner schöpferischen Kräfte. Das sprachliche Zeichen und das Bezeichnete werden aber deutlich miteinander verbunden: Die Worte haben ihren alltäglichen Sinn noch nicht verändert, und das Verständnis des Lesers ist eine seit eh und je bestehende Voraussetzung für alle Dichtung. Die Mittelbarkeit der Thematik erscheint in einem direkten Zusammenhang mit der Unmittelbarkeit der dargestellten Erfahrungen. Diese Erfahrungen sind, wenn sie ihrerseits auch auf eine pathetische Position zurückweisen, immer harmonische Erfahrungen. Die Musik erscheint nicht als Musik an sich, sondern man sucht nach außermusikalischen Bestimmungen, die etwa den Bestimmungen der Dichtung vergleichbar sein können. Die Musikalität des Wortes nimmt als Kriterium den Eigenwert der Vokal- oder Konsonantenharmonie an. Man malt gewissermaßen mit den Farbnuancen dieser Harmonie. Aber es ist immer etwas anderes als das „Wortklavier“ Mallarmés. Eher das „de la musique avant toute chose“ Verlaines. In diesem Sinne erweisen sich einige Formulierungen Rubén Daríos (1867-1916) über die Musik der Ideen als eigentlich „modern“: Die Ideen besitzen gewissermaßen den Stellenwert von Noten. Dahinter steht eine Konzeption, die auf den suggestiven Kräften aufbaut. Sie wird jedoch nicht allbeherrschend im Werk Daríos. Sie beweist vielmehr, daß der große lateinamerikanische Dichter des Modernismus sich in seinen späten Jahren über die Unzulänglichkeiten seiner künstlerischen Mittel Rechenschaft ablegte. Für die Modernisten gilt immer, daß der Dichter im Bereich seiner Subjektivität das psychologisch Unmittelbare ausdrückt, den Strom des Bewußtseins, nicht aber die vorgefaßten Begriffe. Die imaginäre Konstruktion ist ihm fremd. An diesem Punkt entstehen dem Modernismus aus den Reihen der von ihm selbst beeinflußten Dichter, die immer mehr oder weniger modernistisch bleiben, sehr bald die verschiedenen Überwinder und Kritiker. Am Vorabend des ersten Weltkrieges zeichnen sich zwei Wege ab: Antonio Machado und Juan Ramón Jiménez. Machado hatte schon im Vorwort zu seinen Soledades (Einsamkeiten) die Grenzen zum Modernismus abgesteckt. Seine Verehrung für Rubén Darío blieb dabei unbestritten,

aber ich wollte einen ganz anderen Weg gehen. Ich war überzeugt, daß das poetische Element nicht das Wort in seinem Lautwert ist, auch nicht die Farbe oder die Linie, oder daß es einen Komplex von Empfindungen zur Grundlage hat; es besteht vielmehr in einer tiefen Erschütterung des Geistes (…), die eine lebendige Antwort auf das Verhältnis zur Welt bedeutet. Ich war überzeugt, daß der Mensch in einem inneren Monolog die Worte in ihrer Sinnbedeutung ertappen kann und so die Stimme von ihrem nur schwachen Widerhall unterscheidet:

Nicht harter und ewiger Marmor,
nicht Musik und nicht Malerei,
sondern Wort in der Zeit!

In dieser „lyrischen Grammatik“ werden Substantiv und Adjektiv dem Verb zugeordnet und mit einem „zeitlichen“ Reim konjugiert. Das Streben nach Aufrichtigkeit zwingt den Dichter jetzt, seine „inneren Galerien“ zu verlassen. Machado, den man zu Recht den „Jakobiner unter den modernen spanischen Dichtern“ genannt hat, trifft 1912 die bemerkenswerte Feststellung, daß „es die Aufgabe des Dichters ist, neue Gedichte des ewig Menschlichen zu schaffen, bewegte Geschichten, die als seine, ureigenste Schöpfung durch sich selbst leben. Die Romanze erschien mir als der höchste Ausdruck der Dichtung, und ich wollte einen neuen Romanzero schreiben“. Für Machado ist die Romanze

ein Lied, das singt und berichtet,
ein Gestern, das noch heute ist

Dank der Melodie, in der diese Gegenwart erklingt, vermag die universale Macht der Dichtung in der Zeit und im Raum einer historischen Landschaft die Überlagerungen einer geschichtlichen Kontinuität zu entziffern. Man verdankt Machado die Wiederentdeckung der Romanze und ihres geschichtlichen Stellenwertes. Diese Aufnahme einer echt spanischen literarischen Tradition vollzieht sich in dem Augenblick, als die geschichtliche Bewegung, in deren Verlauf die Ziele einer bürgerlich-demokratischen Revolution mit nationalem Charakter teilweise realisiert und teilweise schon überwunden werden, ihre ersten Erfolge verbuchen kann. Machados große Leistung geht als fester Bestandteil in den Prozeß der allgemeinen Erneuerung der demokratischen Kultur Spaniens in unserem Jahrhundert ein. Denn die Romanze ist eine aus dem Trümmerfeld der mittelalterlichen Epik hervorgegangene Gattung, worin sich das Volk des mittelalterlichen Kulturgutes der herrschenden Klassen bemächtigt und seine Überlieferung bis auf die Gegenwart sicherstellt. In dieser Überlieferung verewigt sich gleichzeitig auch die Romanzenform selbst, die im Verlauf der Geschichte bereit ist, immer neue Inhalte aufzunehmen. (Es ist der Vierervers mit acht Silben und Assonanz, der den klassischen Sechzehnsilbner der Epik ablöst.) In der Romanzendichtung und in den Sprichwörtern wird die antifeudale Haltung und die Sicht des Volkes zum bestimmenden Grundmerkmal. Die literarische Wiederbelebung ergänzt Machado später in der Polemik mit Ortega y Gasset (1883-1956) durch einen Gedanken, der bis dahin im Bewußtsein der spanischen Intelligenz keinen festen Platz eingenommen hatte: Der Fortschritt der Nation kann nur verwirklicht werden, wenn er vom Volk, „der einzig wirklichen Aristokratie in Spanien“, getragen wird. Damit hat sich die poetische Bewegung durch eine eigene demokratische Fortschrittstheorie ergänzt. Machado bleibt nicht bei der Theorie stehen. In der konsequenten antifaschistischen Haltung nach dem Ausbruch des faschistischen Putsches findet sie ihre selbstverständliche Krönung.
Indes bleibt die Stimme Machados, der in der Abgeschlossenheit in Soria ein zurückgezogenes Lehrerdasein führt, im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts noch ohne größeren Widerhall. Ganz im Gegensatz zu dem Modernisten Juan Ramón Jiménez, der damals auf einem Höhepunkt seines Schaffens steht. In der Auseinandersetzung mit seinen ehemaligen Gesinnungsgenossen und unter dem Einfluß der avantgardistischen Lyrik wird Jiménez zum Haupt der Neuen Dichtung. Rafael Alberti gehört zu seinen Schülern. Jorge Guillén und Pedro Salinas veröffentlichen in seinen Zeitschriften. Auf einer Photographie aus dem Jahre 1921 sieht man einen jungen Intellektuellen aus der Provinz mit weiten Hosen, und Schleife, der Jiménez begeistert ansieht: Federico García Lorca. Seit dem ersten Weltkrieg läßt sich dann im Werk Juan Ramóns ein Prozeß der Abstraktion, des psychologischen Raffinements, der Aussonderung überflüssiger Adjektive und eine Reduktion des lyrischen Raums auf ein immer mehr entäußertes sensibles Ich feststellen. Hauptwaffe bei der Vermittlung und Erkenntnis der Wirklichkeit ist nicht mehr das Symbol, wodurch das Wort zu einer Münze wurde, deren Konturen im Gebrauch immer mehr abgegriffen werden und die „schweigend von Hand zu Hand gereimt wird“. Jetzt tritt eine literarische Figur auf, die der modernen Dichtung ihr innerstes Gepräge gibt: die Metapher. Die Worte verwandeln sich zeitweilig in die Emotionalität oder in die Intuition der Dinge selbst. Auch dann, wenn diese Dichtung einer reinen Gegenstandsdichtung am nächsten zu sein scheint, wenn sie einer Entfremdung von ihrem kommunikativen Sinn verfällt, kann sie sich doch einem Einfluß nicht entziehen, der wie ein Gesetz spanischer Dichtung wirkt und das Wort und die Sprache erneut auf ihre Verständigungsfunktion festlegt. Die Verflüchtigung in den Himmel der Abstraktionen, wie in Juan Ramóns „Piedra y eielo“ (Stein und Himmel), bleibt so doch immer noch eine Hinwendung zur Welt des Menschen.
Diese innere Entwicklung der Dichtung Juan Ramóns akzentuiert sich unter dem Einfluß des Avantgardismus. Seit 1910 hatte der Prophet des Avantgardismus in Spanien, der anekdotenumwobene Literaturpapst des berühmten Madrider Cafés El Pombo, Ramón Gómez de la Serna, die Invasion der Ismen in Spanien mit der Übersetzung des Manifestes des Futurismus betrieben. Die ersten Wellen das Dadaismus folgten auf dem Fuße. Gómez de la Serna gelingt dabei nach einer Reihe eigener literarischer Experimente (Anti-Romane, Anti-Dramen) gleichzeitig die Entdeckung eines für die neue spanische Literatur folgenreichen Explosivstoffes: die greguería. Sie ist eine „literarische Kurzform des Gedankens, ähnlich wie die Paradoxe oder Adagia: ein Spruch“! Um nur einige Beispiele zu geben:

Das Licht ist wie eine nackte und sorgsam enthaarte Frau.

Kleckse sind die Mücken der Tinte.

Das Gähnen ist ein O auf der Flucht.

Wenn man geheiratet hat, blüht einem nur noch die Freude, zu anderer Leute Hochzeit zu gehen. Aber auch das ist keine Freude mehr, sondern nur noch eine Schadenfreude.

In den Höfen spielen die langweiligen Stunden Ball miteinander.

Diese Ramónsche Erfindung, vielleicht die einzige originelle Leistung des spanischen Avantgardismus, erweist sich als

literarische Waffe zur Auflösung aller Zusammenhänge – mochten sie nun logisch verknüpft sein oder rhetorisch gebunden oder durch die Konvention eines Stoffes gefügt. Das ist die Greguería, das Prinzip der Atomisierung, Ramons ureigener Fund… Sie ist ein logisch unartikulierter Schrei, in dem die Dinge zum Protest gegen die lange an ihnen geübte Gewalttat rühren.
(Werner Krauss)

Die mathematische Formel der Greguería lautet: Metapher plus Humor. Humor war die andere Erfindung der avantgardistischen Moderne. Er entfaltet sich zwischen Skurrilität und inakabren Paradoxen. Die Greguería bleibt schließlich vor allem der Versuch, „das moderne Weltbild am Rand der Selbstwiderlegung aller verzweifelten Synthesen“ zu interpretieren. Der spanische Avantgardismus tritt zudem in die Einflußsphäre einer Reihe in Spanien anwesender Künstler, die während des ersten Weltkrieges nach dem neutralen Spanien emigrieren und hier ihre Arbeit fortsetzen. Da ist Delauney, der die farbigen Bestandteile des Lichts zum Gegenstand der Malerei macht, Marie Laurencin, die große Liebe Apollinaires, die den Kontakt zu der Gruppe der Pariser Soirées vermittelt. Das „Russische Ballett“ geht nach Spanien, um hier weiterzuarbeiten. Neue Kunstformen entstehen, wie der Film. Die eigentlichen Gründe für die Entstehung einer avantgardistischen Bewegung in Spanien wird man jedoch in der geschichtlichen Entwicklung suchen müssen. Künstlerische Einflüsse werden ja niemals irgendwie und irgendwo wirksam, ohne daß der Boden für ihre Aufnahme bereitet wäre. Sie wirken niemals unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Entstehungsgrund, und man wird alle literarischen Einflüsse von den „Linien der gesellschaftlichen Ähnlichkeit“ (Werner Krauss) her untersuchen müssen. Ein solches Verfahren verweist auf das Jahr 1917, das in der spanischen Geschichte eine Schlüsselstellung einnimmt. Eine neue soziale Klasse tritt in Erscheinung: die Arbeiterklasse. Sie steht zwar noch ganz im Einflußfeld anarchistischer Ideen, ihre Aktionen stellen aber bereits die Möglichkeit einer bürgerlichen Perspektive der Nation in Frage. Und zwar in einem Augenblick, als eine erfolgreiche bürgerliche Revolution in Spanien noch gar nicht stattgefunden hat. Zwischen beiden Polen liegt die Dialektik der spanischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Seit 1917 wird deutlich, daß eine nationale Perspektive unter bürgerlichen Voraussetzungen nicht mehr möglich ist. Das ist die Kehrseite der relativen ökonomischen Konjunktur, die sich in Spanien infolge der Neutralität während des ersten Weltkrieges vollzieht (Kapitalakkumulation usw.).
Die literarische Entwicklung wird in jenen Jahren durch die beschleunigte Ausarbeitung und Anwendung der Charakteristika bestimmt, wie sie die eigentliche europäische „Moderne“ kennzeichnen: das Rimbaudsche „Denn Ich ist ein anderer. Es ist falsch, zu sagen: ich denke. Es müßte heißen: man denkt mich“ wird zur Konzeption der avantgardistischen Dichter. Probleme, die in anderen europäischen Ländern fünfzig Jahre vorher zur Diskussion standen, kommen jetzt erst in Spanien vorübergehend zur Geltung. Die Beziehung des Künstlers zu seinem Publikum wird aufgehoben, der Schöpfungsprozeß löst sich in eine zersplitterte Dichtung auf, die Kunstwerke werden in die kapitalistische Marktwirtschaft einbezogen, und als Reaktion hierauf verteidigt der Künstler den Gebrauchswert seines Werkes und seiner Gegenstände (die reine Schönheit) vor ihrem Tauschwert. Die Zeichen der Moderne lassen sich auch an der Entwicklung der Gattungen nachweisen. Die Lyrik, die subjektivste aller literarischen Gattungen, dominiert, Roman und Theater führen ein Schattendasein. Viel später erst wird das Theater seine Auferstehung in Spanien feiern, wenn die in der Lyrik ausgedrückten gesellschaftlichen Kräfte zur bewußten Aktion fortschreiten. Die spanischen Ismen versuchen einstweilen noch den durch Rimbaud und Lautréamont begonnenen Bruch mit der poetischen Tradition, den Mallarmé abschließt und den in England Eliot und Dylan Thomas betreiben, auf ihre Weise zu vollziehen oder nachzuvollziehen. In dieser Entwicklung erscheint dann auch der Modernismus als eine Bewegung, die von der Neuen Kunst überwunden werden muß. Schon die Titel der veröffentlichten Gedichtbände und der Zeitschriften zwischen Modernismus und Avantgardismus lassen den Abstand erkennen, den man zu der modernistischen Bewegung herstellen möchte. Die modernistischen Zeitschriften waren u.a. Azul (Blau), Trofeos (Trophäen), Vida Nueva (Neues Leben). Die Nomenklatur der Ismen lautet: Hélices (Propeller), Ritmos cóncavos (Konkavrhythmen), Cosmópolis. Der Modernismus schuf die Cantos de Vida y Esperanza (Gesänge des Lebens und der Hoffnung), der Avantgardismus das Manual de Espumas (Schaumhandbuch). Die dissonierenden Werte setzen sich in einer zerrissenen Welt gegenüber den harmonischen Werten einer spanischen Welt durch, die immer noch viele romantische Züge trägt. Die moderne Großstadt mit ihrem Lärm und ihren Gerüchen wird für die Dichtung entdeckt und tritt in die spanische Sprache ein. Die metrischen Formen verfallen einem Erosionsprozeß. Zum erstenmal in der Geschichte der spanischen Dichtung macht sich ein Rückgang des Reims bemerkbar. Anordnung und Struktur der Gedichte erinnern an Mallarmés „Coup de dés“, wo nicht gar an die lyrischen Ideogramme in Apollinaires „Calligrammes“. Jede Interpunktion wird aufgegeben. Dadurch treten die Worte in ganz unvermittelte Bezüge und bilden untereinander verschiedene Satzverbindungen. Sie erscheinen in einer neuen Lokalbeziehung, wodurch Intonation und Tonalität die logischen Bezüge und Werte verdrängen, so daß sie häufig mit einer Polivalenz behaftet sind, die an die Malerei eines Braque oder Picasso erinnert. Das Moment der Auflösung, Kennzeichen der geschichtlichen Situation selbst, ist unübersehbar. Die Künstler selbst besitzen ein poetisches Bewußtsein der Revolution, die in der modernen Welt durch die mechanischen Reproduktions- und Kommunikationsmittel ausgelöst wurde (Schallplatte, Rundfunk, Film, Tonband usw.). Denn alle diese Mittel dienen der Konservierung und Verbreitung der Sprache und damit der Geschichte, ohne daß man den Umweg über das gedruckte Wort weiterhin gehen muß.
Die Metapher, grundlegendes Element der modernen Dichtung, die sich schon bei Juan Ramón Jiménez ankündigte und bei Ramón Gómez de la Serna weiter durchbrach, bleibt das verbindende Element der ganzen Bewegung, die auf ihre Fahnen die Überwindung der literarischen Traditionen geschrieben hat. Als künstlerisches Mittel birgt die Metapher die Möglichkeit, die Beziehung des Menschen zu den Dingen neu zu bestimmen, ganz so, wie es der Modernismus auch gewollt hatte. Dieses Bemühen bleibt nach wie vor im Zentrum des dichterischen Schaffens. Der Wert der Metapher wird zunächst an der Entfernung gemessen, die sie zwischen dem Ding und dem Bild errichtet. Man kehrt dann nur nicht vom Bild zum Ding zurück, und das dichterische Bild wird auf diese Weise verdinglicht. Zwei oder mehrere unterschiedliche Begriffe werden in diesem assoziativen Verfahren miteinander identifiziert: „Schnee“ und „weiß“ verknüpfen sich zu der neuen metaphorischen Qualität „schneeweiß“. Aus der unverhofften Verbindung verschiedener Bildebenen ergibt sich eine genauere Bestimmung des Wesens der Dinge: „Ihre Augen sind so schwarz wie die Zukunft Francos!“ Es ist eine Art Rösselsprung, der beim Leser jede Art neuer Empfindungen hervorruft und dem Imaginären dabei eine bevorzugte Rolle einräumt. Es hat ganz den Anschein, als würde die Richtung der Poesie vom Sinn zur Sprache umgekehrt und die Reduktion auf die reine Sprachlichkeit zum Endzweck erhoben. Was jedoch in Wirklichkeit passiert, ist die Unterbrechung jeder traditionellen logischen Beziehung, wobei man den Leser auf ganz neuen Wegen – und oftmals sind es Umwege – erreichen will.
Diese Abrechnung mit der traditionellen Dichtung verläuft über zwei Etappen: Über den Kreationismus (von „creación“ = Schöpfung abgeleitet) und den Ultraismus (nach der avantgardistischen Zeitschrift Ultra, die im Griff nach den hinter allen Dingen liegenden Unbekannten ihr poetisches Programm besaß). Beiden Bewegungen ist nur ein Leben von kurzer Dauer beschieden. Das ästhetische Credo des Kreationismus wird wieder von einem amerikanischen Propheten formuliert: von dem chilenen Vicente Huidobro (1893-1948). Von Chile aus postuliert er 1916 in Spanien fast gleichzeitig mit Reverdy in Frankreich eine Gegenstandskunst, die es sich zur Aufgabe macht, eine Transparenz zu schaffen, aus der neue und unbekannte Welten auftauchen können. Diese Welten sollen durch den Gebrauch des Wortes als Gegenstand, als konstruktives Material, geschaffen werden. Das Wort als Sache ist das Material für die neuen Welt-Bauten. Dieses Material wird durch den Intellekt gehandhabt, dem eine Kraft innewohnt, die ihn zur Klarheit der Sinne, zu ihrer Transparenz, befähigt. Allzubald bekommt Huidobro in seinen Schülern das Vergeltungsgesetz des Avantgardismus zu spüren. Als die Bewegung sich institutionalisiert, gibt sie sich selbst auf. Ist der fruchtlose und lautstarke Augenblick der Negation einmal vorüber, folgt auf die eine Avantgarde die andere Avantgarde. Nur aus diesem Gesetz bezieht der Ultraismus seine Daseinsberechtigung. Diese von Guillermo de Torre angeführte Bewegung will nach ihrer eigenen Aussage gegen die Bourgeoisie und die Verbürgerlichung des Lebens schreiben, solidarisiert sich aber gleichzeitig mit der Elitetheorie Ortega y Gassets. In einem ihrer Manifeste kann man nachlesen, worum es ihnen vor allem ging: „Unsere Literatur bedarf der Erneuerung. Sie muß ihr ultra erzeugen. In unserem Credo haben ohne Ausnahme alle Tendenzen Platz, sofern sie dieses Streben als ihr eigenes anerkennen.“ Der Ultraismus will die Ehre des Dichters durch die Konzentration auf die reinsten lyrischen Elemente retten (Bilder, Metaphern). Alles Zufällige wird beiseite gelassen: Anekdoten, Berichte, rhetorische Erläuterungen, Wortschwall. Das Gedicht sieht ganz von seinen auditiven Eigenschaften ab „und erstrebt einen visuellen Wert, ein plastisches Relief, eine sichtbare Architektur. Alles in allem: die Variation der Vorzüge: die Wellenbewegung der Künste: einen Sprung auf die Windrose“ (Jorge Luis Borges).
Die ästhetischen Konzeptionen des Ultraismus und des Kreationismus und ihre Praxis werden in der Abhandlung Ortega y Gassets über die „Enthumanisierung der Kunst“ (1925) noch einmal theoretisch zusammengefaßt und verallgemeinert. Ortega findet die aufgeführten Symptome dieser Bewegungen scharfsinnig heraus, weiß sie jedoch nicht in ihren geschichtlichen und literarischen Zusammenhang zu stellen und erhebt sie daher zur „modernen Kunst“ par excellence. So hat Ortega in dem berühmten Essay nur seine allgemeinen ideologischen Konzeptionell auf den Bereich der Literatur ausgeweitet. Diese Anwendung des Gedankens von der Macht einer Kulturelite deutete sich schon an, als er die Entwicklung der modernen Malerei als einfachen Rückzug vom Objekt zum Künstler-Subjekt interpretierte. Man wird jedoch eine Schule wie den Kubismus eher als die Freisetzung der Malerei im Feld ihrer eigenen Dialektik begreifen müssen. Auch hier erweist sich die Sicht eines Machado als die Überzeugendere. Er erkennt zu Recht in der avantgardistischen Lyrik eine Reaktion „auf den symbolischen Lyrismus“, der die Bilder auflösen, beseitigen, verwischen wollte. Dagegen setzt Machado seine Dichtung der lebendigen Bilder, „mit eigener Leuchtkraft, gleichsam ihrer selbst bewußt, vielgestaltig und veränderbar: das eindringliche Bild oder das Bild gewordene Subjekt, das geschaffene und schöpferische Bild“. Für ihn entsteht zum Beispiel die kreationistische Lyrik auf dem allgemeinen Weg zu einer vollkommen vermenschlichten und integralen Dichtung, die sich in der Volkssprache, im „roman paladino“ (Berceo), ausdrückt. Um dieses Ziel allerdings zu erreichen, „wird es unumgänglich sein, alles abzustreifen, was dieser ganze Kult um das lyrische Bild an Abergläubischem hervorgetrieben hat“.
In anderen Ländern mit einer entwickelteren materiellen Basis konnte der Bruch mit der literarischen Tradition immerhin noch eine neue Tradition begründen. Nicht so in Spanien. Hier bedingt die Kontinuität feudaler Verhältnisse, daß auch das vorübergehende Blendwerk der Moderne die eigentliche Erneuerung der spanischen Lyrik, die ganz andere Wege geht, nicht aufhalten kann. Das Gesetz der mittelalterlichen spanischen Literaturentwicklung behält auch jetzt seine Gültigkeit: „Wie jeder Ansatz zur Hierarchie im anarchischen Zustand des spanischen Volkes endet, so geht auch die höhere Literatur in volkliche Formen über“ (Werner Krauss). Die Erneuerung der Lyrik steht nun nicht so sehr im Zeichen des Protestes gegen eine Ordnung, die sich nicht einmal mehr festigen kann, aber sie wird durch jene Kräfte erzeugt, die in der spanischen, Geschichte und Literatur seit jeher bestimmend waren: durch das spanische Volk, das „elemento pueblo“ (Sánchez-Albornoz), dessen Kommunikationsformen in hohem Maße von einer oralen Tradition bestimmt sind, wie sie zum Beispiel die Volkslieder oder die Romanzen verkörpern. Es sind jetzt im 20. Jahrhundert die Nachfahren der freien Bauern und des niederen Adels (der Hidalgos), der sich niemals ganz vom Volk getrennt hat.
In der kreationistischen Lyrik von Gerardo Diegos Imágen (Bild, 1922) sieht Machado hinter den technischen Renommierstücken der neuen Dichtung die Gegenwart der „Volksinspiration“. Und der zeitgenössische Kritiker Antonio Espina stellt 1923 fest: „Wir empfinden gleichermaßen den Renaissancepalast und den Wolkenkratzer. Die Öllampe und den Lichtbogen…“ Die alten Formen und die moderne Informalität liegen in dieser Lyrik dicht beieinander. Erst wenn man diesen Widerspruch auflöst, kann man die darauf beruhende Dichtung befreien. Das Werk vieler Dichter, darunter auch einiger, die von den Jüngeren als Mentoren akzeptiert werden, wie zum Beispiel der Maler und Dichter Moreno Villa, bleibt jedoch noch lange Zeit von dieser Verkürzung und Erweiterung bestimmt, dieser Selbstbestätigung, die nur Flucht in das Experiment ist.
José Moreno Villa ist einer der ersten, der in seiner Dichtung deutliche Züge der Modernität ausbildet. In seinem Werk treten erste surrealistische Elemente auf. Er ist aber auch einer der ersten, der ganz bewußt dem Volkselement einen Platz in seinem Schaffen einräumt. Beide Richtungen, die moderne und die volkstümliche, sind auch im Werk eines so typisch „Modernen“ wie Gerardo Diego gegenwärtig. Niemand war wohl berufener als er, um 1924 den Bankrott des spanischen Avantgardismus zu verkünden:

Mit zerbrochenen Tafeln,
mit den gleichen Ziegeln,
mit zerstörten Steinen
errichten wir von neuem unsre Welten.

Pedro Salinas, der spanische Proustübersetzer, hat die Dialektik der lyrischen Bewegung in jenen Jahren treffend gekennzeichnet: „Die Tradition ist die natürliche Wohnung des Dichters. Sie verleiht dem schöpferischen Geist die größte Form der Freiheit.“ Salinas versteht es, dem Problem der mechanischen Zeit und der erlebten Zeit im spanischsprachigen Raum den besten Ausdruck zu verleihen. Im Werk der genannten Dichter wird die eigentliche Erneuerung der spanischen Lyrik schon ganz deutlich sichtbar. Sie führt durch den breiten Strom der lyrischen Traditionen. Schon waren die Dichter gekommen, die diesen Weg bis zur letzten Konsequenz gehen sollten. Es ist jene Gruppe, die sich in der Residencia de Estudiantes – einer Gründung der bedeutendsten liberalen Bildungsstätte der spanischen Intelligenz, der Institución Libre de Enseñianza – zusammenfindet. Viele von ihnen betreiben philologische Studien und wirken als Professoren an spanischen, anderen europäischen und an amerikanischen Universitäten (Pedro Salinas, Jorge Guillén, Luis Cernuda u.a.). Eine ihrer wichtigsten Beschäftigungen ist die Sammlung von Volksliedern. Diese Dichterphilologen erarbeiten in einer breiten Front die demokratischen Elemente der spanischen Traditionen. Der Protest gegen eine entfremdete Welt, die Negation, tritt vor diesem Aufbauwerk in den Hintergrund beziehungsweise erscheint in weit konkreteren Formen als etwa in der zeitgenössischen französischen oder englischen Lyrik. Der scheinbare Formalismus eines Guillén hat immer ein solides historisches Fundament, während er etwa bei Valéry nur auf metaphysischer Geistesarbeit beruht. Die Väter dieser erneuerten Lyrik verkörpern eine eigene jahrhundertalte Tradition. Jorge Guillén, der Übersetzer von Valérys Cimetière marin, nennt die Wahlverwandtschaften der neuen Dichter:

Wer sind unsere Väter? Von Gonzalo de Berceo (13. Jahrhundert) bis zu seinen Nachfahren. Góngora schloß San Juan de la Cruz nicht aus, auch nicht Lope de Vega oder Bécquer.

Und Rafael Alberti, der Sänger des revolutionären Kommunismus, stellt fest:

Es waren Garcilaso, die namenlosen Dichter des Cancionero und des spanischen Romanzero, Góngora, Lope, Bécquer, Baudelaire, Juan Ramón Jiménez und Antonio Machado, die mir geholfen haben und die ich verehre und bewundere.

Bei der Herausbildung der Grundzüge der neuen spanischen Dichtung inmitten einer Reihe literarischer Kämpfe und Polemiken wirkt diese Tradition als Wasserscheide. Vor allem in der Polemik um die sogenannte „reine Dichtung“, die poesía pura. Der Begriff der poésie pure war in Frankreich von dem Abbé Bremond in seinen Arbeiten über Paul Valéry geprägt worden. Bremond legte die Dichtung auf einen lyrischen Absolutismus fest, der sich im unvermittelten Raum des Intellekts, der Phantasie und der verselbständigten Sprache entfaltet. Hier wird eine Dichtung postuliert, die sich nur noch im Zeichen suggestiver Übertragungen verständlich machen will. In Spanien zieht man aus diesem Literaturstreit um die poesía pura seinen eigenen Nutzen und kehrt die lyrische Qualität des Verses gegen die hohle Rhetorik: Die poetische Suggestivkraft, so sagt man, hängt allein von der sprachlichen Genauigkeit ab. Suggestion wird als Genauigkeit in den dichterischen Bezügen verstanden. Das Erlebnis muß in der sprachlichen Form gegenwärtig sein, ohne deren Transparenz zu verdunkeln. Es geht also noch einmal um eine Überwindung der modernistischen Dichtung, wie sie Juan Ramón Jiménez selbst schon eingeleitet hatte, als er sich um ein genaueres Wirklichkeitsverhältnis bemühte:

Intelligenz, gib mir
den präzisen Namen der Dinge!
… Mein Wort sei das Ding selbst,
neu geschaffen aus meiner Seele.

Man hat diese Dichtergeneration mit dem Jahr der 300. Wiederkehr des Todes von Luis de Góngora y Argote (1561–1627) die „Generation von 1927“ genannt. Innerhalb dieser Dichtergeneration lassen sich drei Grundpositionen feststellen, womit eine vorgebliche Generationseinheit von vornherein in Frage gestellt ist. Die eine Position verkörpert sich in Gerardo Diego und ist mit der kreationistischen Dichtung verknüpft. Man hat gesagt, daß in Diegos Dichtung eine Grundvoraussetzung der lyrischen „Reinheit“, die Entdinglichung, scheinbar ad absurdum geführt wird. In Wirklichkeit muß die Frage anders gestellt werden. Vor allem muß man sich vor einem Mißbrauch des Ortegaschen Begriffs der „Enthumanisierung“ hüten. Bei Diego zeigt sich ganz klar, daß sich der Mensch und die Dinge jetzt sozusagen auf gleicher Höhe befinden. Dem Dichter stellt sich die Wirklichkeit so dar, als wäre sie in ihren Elementen beliebig austauschbar. Auf das rein lyrische Spiel folgt dann auch bei Diego der Opfergang vor dem Altar der „reinen Aktion“, der Tat um der Tat willen. Die letzte Konsequenz dieses Weltverhältnisses ist dann der organisierte Aktivismus und das Abenteurertum, wie sie die „Falange Española“ auf ihre Fahnen schreibt, die sich bezeichnenderweise als „poetische Bewegung“ feiern läßt. Auf diesem Wege bleibt dem Dichter schließlich nur noch ein Ausweg: die intellektuelle Selbstzerstörung oder das Trugbild der Schöpfung. Die führenden Repräsentanten der neuen Dichtung, wie Guillén und García Lorca, verurteilen und verhöhnen diese Konsequenz als einen Irrweg.
Jorge Guillén, den man in der offiziellen spanischen Kritik gewöhnlich als das Haupt der „reinen Dichtung“ bemüht, verkörpert die zweite Grundposition. In einem berühmten Brief an den Chefredakteur der Revista de Occidente erklärt sich der Dichter als Anhänger „einer ziemlich reinen Dichtung,  a b e r   i n   g e w i s s e n   G r e n z e n“. Guillén will eine Dichtung, die sich im Gedicht selbst verwirklicht. Die „poetischen Zustände“, wie sie Bremond anpries, lehnt er kategorisch ab. Es geht ihm um eine „umfassende ganze Dichtung, um das Gedicht aus Poesie und anderen menschlichen Dingen“. Die Dichtung muß zur Einheit von Sache-Wort-Emotion gelangen. Ein Blick auf die Gedichttitel der ersten Ausgabe seines Lebenswerkes, des Cántico (Lobgesang), zeigt, daß die Entdinglichung niemals direkt hervortritt: „Lebendige Natur“, „Quell“, „Ring“. Das Gedicht „Die Namen“ birgt das Geheimnis dieser Nomenklatur. Verlangte der Kreationismus vom Dichter, daß er die Rose mit seinem Gedicht zum Erblühen bringt, so hält Guillén dem entgegen:

Die Rose
nennt sich noch immer Rose,
auch heut, und das Gedenken
ihres Vergehns heißt Eile,
Eile, noch mehr zu leben.

Die Dialektik der Prozesse im Innern der Dinge wird in den Benennungen sichtbar, und so schließt das Gedicht mit der Feststellung:

Aber die Namen bleiben.

Natürlich ist das Wort keine Sache, und die Benennung schließt die Sünde des Nominalismus aus. In Guilléns Dichtung hat sich trotz aller „Reinheit“ die „Moderne“ nicht behaupten können. Die Verinnerlichung ist Guillén immer fremd geblieben. Er geht geradewegs auf die Dinge zu und folgt damit einem Gesetz der spanischen Wirklichkeit, nach dem Mensch und Dingwelt zwei Pole bilden und die Wirklichkeit dem Menschen nicht entfremdet ist. Im betont intellektuell verstandenen poetischen Schöpfungsakt liegt eine Möglichkeit, immer neue Beziehungen zwischen der Welt und den Sinnen herzustellen. So kommt es zu der semantischen Intensität und der Konzentration im Ausdruck, die sich mit dem Streben nach Reinheit gut vertragen. Deswegen hat man diese Dichtung auch immer wieder als „intellektuell, dunkel und schwierig“, als „inhuman“ bezeichnet. Die Wahrheit sieht anders aus:

Eine Dichtung, die zu neuen Formen hindrängt, die einen neuen Standort für ihr erneuertes Menschenbild bezieht, wird denen immer widermenschlich erscheinen, die in der Bejahung ihres unveränderten Alltags die Norm der Menschlichkeit zu besitzen glauben.
(Werner Krauss)

Von Anfang an kann sich die Dichtung Guilléns von einem Alptraum doch nicht ganz frei machen. Aus dem Lobgesang auf die Existenz (das Sein ist ein Grundwert bei Guillén), wird zuweilen ein Lobgesang auf das jeweils Bestehende. Ursprünglich nahmen die negativen Werte Schmerz, Leid, Tod in seinem poetischen Weltbild keinen Platz ein. Erst in den späten Werken, als Clamor den Cántico ablöst, drängen diese Mächte in den Vordergrund. Doch auch dann bleibt Guillén ein großer Dichter, der in der Wirklichkeit seiner Poesie die Wahrheit des Lebens sucht.
Zu Guillén gehört Pedro Salinas, der selbst seine Dichtung am besten und genauesten charakterisiert hat:

In der Empfindsamkeit und Zartheit liegt ihre große und unbesiegbare Körperlichkeit, ihre Widerstandskraft und ihr Sieg.

Im hellen Licht des Gedichts, wo alles klarer ist, wird eine erneuerte Liebesdichtung hervortreten, die sein ganzes Werk von dem weitergespannten oder differenzierteren Interesse anderer Dichter abhebt und auszeichnet. Die Liebe als das Maß aller Dinge schafft das Unendliche im Endlichen und verleiht uns mit dem Körper des andern die Möglichkeit, zum Wir zu finden, Macht über alle Dinge zu gewinnen. Über die Liebe wird nicht in der dritten Person berichtet, sondern sie entfaltet sich durch die Einbeziehung der zweiten Person, des Lesers. Für Salinas und Guillén gilt gleichermaßen, daß der Begriff der reinen Dichtung wissenschaftlichen sprachlichen Studien nicht im Weg steht und das neue Verhältnis zur Tradition eher vertieft. Auf dem Gipfel der Kämpfe um die Bestimmung der neuen Dichtung im Jahre 1927 stellt Guillén noch einmal klar heraus, daß der Begriff der „reinen Dichtung“ „auch auf die vergangene Poesie anwendbar ist. Man könnte eine Geschichte der spanischen Dichtung unter dem Gesichtspunkt der Qualität und damit der Natur einfacher poetischer Elemente schreiben, wie sie in zahllosen und sehr verschiedenartigen Sammlungen der Vergangenheit auftreten“. Diese beiden Positionen, repräsentiert einerseits in Diego und andererseits in Guillén und Salinas, führen schließlich mit ihrer Forderung nach einer absolut gültigen Dichtung doch in eine Sackgasse. Es ist García Lorca, der sie aus dieser Enge befreit. In seinen theoretischen Reflexionen und vor allem mit seinen Zigeunerromanzen und mit der Klage um Ignacio Sánchez Mejías tritt er für eine Vertiefung des Erneuerungsprozesses ein. Dichtung ist kein apriorisches Wissen, sondern vielmehr ein Wissen um apriorisches Sein, Wissen, das aus den literarischen Formen schöpft, die in der Tradition und in der Volkssprache aufbewahrt sind. Die Sprache des Volkes ist die Sprache seiner Dichter. Die Dichter verwenden Bilder und Metaphern, wie sie in der Sprache des Volkes anzutreffen sind. In den Metaphern verewigt sich (García Lorca zitiert hier Proust) das geschriebene Wort, wenn die Metapher als Bestimmung und Bewertung der Wirklichkeit gebraucht wird. Damit ist der Fetischismus der Metapher endgültig durchbrachen. Nach García Lorca ist der Dichter der Professor seiner Sinne. Nur im Kontakt mit den Dingen entsteht Dichtung: Dichtung als Wahrheit. Die der Dichtung innewonnenden Kräfte führen den Menschen zur Herrschaft über die Veränderungen, die alle Wirklichkeit bestimmen. Der Mensch wird durch die Dichtung zur schöpferischen Tat befähigt. Nicht Abhängigkeit und purer Gebrauch machen das Wesen der menschlichen Beziehung zu den Dingen aus, sondern in den Dingen wird ihm das eigene Sein gegenwärtig. So besitzen wir mit García Lorcas Werk einen höchsten Ausdruck des Erneuerungsprozesses der demokratischen Kultur, wie er sich im Verlauf eines halben Jahrhunderts in Spanien vollzieht. Die künstlerische Gestaltung hat in diesem Werk eine selbstverständliche Voraussetzung: Die gesellschaftlichen Beziehungen und die Natur, wie sie sich im geschichtlichen spanischen Raum vorfinden, sind bereits durch eine ursprüngliche dichterische Aktion seitens der Volksphantasie erarbeitet worden. Dieser Dichtung liegt eine Weitsicht zugrunde, auf der García Lorcas eigene emotionale Vorstellungen von der Wirklichkeit als Form der Aneignung der Welt aufbauen. Die Volkssprache ist in Spanien nie die Erfindung eines romantischen Traums oder der Ausdruck einer sehnsuchtsvollen Rückerinnerung an die Welt des Mittelalters gewesen. García Lorca verkörpert das spanische Volkselement und sein Selbstbewußtwerden in einem geschichtlich entscheidenden Augenblick. Es gelingt ihm, die historisch bedingten Grenzen der anarchistisch beeinflußten Volksmassen aufzuheben und die eigenen Ideale als Menschheitsideale zu stellen. Das ist das eigentliche Wesen der Zigeunerromanzen, in denen García Lorca „den Fortbestand der Verhältnisse und das Walten der Kräfte bezeugt, durch die sich eine anarchistische Tradition in Spanien verewigen mußte“ (Werner Krauss).
Dabei zeigt er uns gleichzeitig die Form, in der diese Kräfte ein neues Menschen- und Weltbild begründen können.
Die Träger der revolutionären Bewegung ließen sehr bald die Zielstellungen der bürgerlich-demokratischen Revolution hinter sich und schritten zur unmittelbaren Aktion für die Verwirklichung ihrer eigenen Ziele. In dieser Zeit schafft García Lorca seine großen Bauerntragödien und die „Klage“. Die Klage auf den Tod des Stierkämpfers Ignacio Sánchez Mejías ist eine Elegie neuen Typs: der Dichter, der den toten Stierkämpfer besingt, besingt nicht mehr nur sich selbst, sondern ganz Spanien und sein Schicksal.
Der Läuterungsprozeß innerhalb der jungen spanischen Dichtung bringt nun ihr innerstes Anliegen immer präziser zum Vorschein. Die Dichtung kommt gewissermaßen zu sich selbst. Die Differenzierung der Dichter und Schulen erfaßt nicht nur den Bereich der Poesie und Politik, sie greift auch auf die Stellung zu der Dichterpersönlichkeit des Goldenen Zeitalters über, die eine Zeitlang das große (aufzuhebende) Vorbild gewesen war: Don Luis de Góngora. Der cordobesische Dichter, den seine Zeitgenossen den „spanischen Homer“ nannten, schilderte „die Welt im Zustand elementarer Bewegtheit“ wie sie sich dem geistigen Auge, vor aller Urteilsbildung, auftut“ (Werner Krauss). García Lorca unterstreicht die „Sprache der Dinge“ bei Góngora. Aus der poetischen Konzentration schafft Góngora eine neue Dichtersprache. Das Ich tritt in den Hintergrund, und die Sache selbst spricht. Ein bemerkenswertes und aktuelles Verfahren, wenn man es zu handhaben weiß. Wichtigstes dichterisches Mittel Góngoras war die Assoziation, in der die Verbalformen aufgehoben werden, und ein offen antigrammatikalischer Satzbau. So dringt García Lorca ganz anders als Diego zum Wesen Góngoras vor und entwickelt im Ansatz ein historisch gültiges Góngorabild, das sich von der allgemeinen Enthistorisierung abhebt, die während der Jubiläumsfeiern 1927 dominierend blieb: Man machte Góngora zu einem Zeitgenossen der neuen Dichtung. Ultraisten und Kreationisten wollten in ihm sogar einen „kristallklaren reinen Dichter“ und „einen wirklichen Ultraisten“ erkennen. Erst die apollinische Klarheit eines Guillén und sein lyrisches Bewußtsein dämmen die Góngorawelle etwas ein. Natürlich blieb schon von ihrem Ausgangspunkt her in der Dichtung Guilléns, der die Entfaltung der Wunderkräfte der Metapher zu verdanken ist, die Allgegenwart Góngoras unbestritten. Entscheidend ist nur die neue Sicht im Verhältnis zu Góngora. Auch García Lorca ist mit seiner Metaphorik und mit seinen mythologischen Bezügen Góngora zutiefst verpflichtet. Durch seine Mythen zeigt er uns die Wirklichkeit. Ein Weg dichterischer Schöpfung, der durch den noch undifferenzierten Charakter der spanischen Wirklichkeit ermöglicht wird. Er kann schließlich Góngora als eine Zwischenstation auf dem Wege zu einer verständlicheren dichterischen Wahrheit begreifen. Er hebt das Prinzip der Imagination auf und komponiert eine Dichtung, die von den Koboldgestalten, den Mächten des Todes und der Verneinung bevölkert wird. Es ist eine Dichtung, die auch aus den Erfahrungen in einer total entfremdeten Welt (Der Dichter in New York) in ihrem bäuerlichen Wurzelgrund genügend Kraft findet, um eine neue Menschenwelt zu fordern.
Ein Dichter ist bisher noch nicht erwähnt worden: Rafael Alberti. Für ihn bringt der Durchgang durch den Góngorismus einen geradezu unermeßlichen Reichtum und Überschwang der Formen und Bilder. Es scheint fast, als mußte er erst alle Erfahrungen einer ihn beinahe verzehrenden, in die Anonymität gesunkenen modernen Welt durchmachen, bevor er der revolutionäre Sänger und Volksdichter wird. Sein Band Über den Engeln hält die durchlaufenen Stationen seiner dichterischen Entwicklung fest. Grundthema ist das Erlebnis der Verlassenheit und Leere, das sich in den so traditionellen und so modernen mythischen Figuren ausdrückt. Der Mensch erscheint ganz auf seine Innerlichkeit gestellt, die ihm als einziger und entleerter Daseinsraum verblieben ist.
Das Werk Luis Cernudas und Vicente Aleixandres baut sich anfangs aus einer gleichen Erfahrungswelt auf. In beider Werk, wie auch bei dem frühen Alberti und García Lorca, trägt ein eigener spanischer Surrealismus seine ersten und authentischen Früchte. Als wirkliche „Revolution“ will der Surrealismus nicht wie der Kreationismus neue Welten im Raum der Imagination schaffen. Er geht einen Schritt weiter: In der surrealistischen Welt ist die Welt eine blaue Apfelsine. Der Surrealismus will Verkörperung der Dichtung im Leben sein, eine subversive Bewegung, die Sprache und Intuitionen gleichermaßen erfaßt. Es ist eine gegen die Aseptik der reinen Dichtung gerichtete Befreiung des Bewußtseins und zielt nicht in erster Linie auf eine Freisetzung des Verses. Der surrealistische Taumel des freien Verses ist nur eine Konsequenz des allgemeinen Strebens nach Befreiung des Bewußtseins von allen Bindungen. In die Dichtung dringen so Aspekte der Innen- und Außenwelt ein, die seit jeher ein illegitimes Feld der dichterischen Arbeit waren. Der spanische Surrealismus hat sich nicht in Manifesten ausgedrückt und eingeengt, aber aus ihm sind künstlerische Persönlichkeiten von Rang hervorgegangen, wie der Filmregisseur Luis Buñuel und der junge Salvador Dalí, der vorübergehend das Haupt der ganzen Bewegung ist. In der dichterischen Praxis setzt sich der Surrealismus nicht durch. Es gibt keine Brücke vom Surrealismus zum Realismus der spanischen Lyrik. Das gilt vor allem für die automatische Schreibweise (écriture automatique): das Wort ist nicht Ausdruck des Bewußtseins, sondern Magd des Unbewußten. Im Briefwechsel mit einem Mitglied der surrealistischen Gruppe in Katalonien (der Wiege Salvador Dalís) stellt García Lorca fest, daß „man frei von jeder Kontrolle schreibt, aber mit einer unerbittlichen poetischen Logik“. Diese Logik gründet sich auf die Verarbeitung der authentischen spanischen Traditionen, wie eine Analyse der scheinbar dunkelsten und esoterischsten Gedichte García Lorcas zeigt. In dieser Einheit von Volkstradition und nationaler Tradition stehen Lope de Vega (Popularismus) und Góngora (Kulteranismus) brüderlich beieinander. Die Macht der Volkssprache setzt sich auch dort durch, wo Halluzinationen und eine Traumwelt einen breiten Raum einnehmen. So entsteht die Fähigkeit des Fabulierens und der Rhythmik, die sich in volkstümlichen Formen von großer Eindringlichkeit und Bildkraft ausdrückt, wie Rafael Alberti 1932 in seinem Vortrag an der Berliner Universität betont hat.
In der Geschichte der spanischen Literatur hat sich der Dichter auf die Dauer nie in eine verselbständigte Sprache geflüchtet, wie es in der „Moderne“, und bei ihren „Klassikern“ in anderen Ländern, gang und gäbe ist. Hier bildet die Sprache eine gefestigte historische Gemeinschaft, wie Guillén in der Zueignung seines Cántico sagt:

Meiner Mutter
in ihrem Himmel
für sie
die mir mein Sein
mein Leben und meine Sprache
geschenkt hat.
Die Sprache
die jetzt ausspricht
mit wie freudigem Willen
ich auf mein Leben vertraue.

Nur in einigen theoretischen Erklärungen und im systematischen Gebrauch transfigurierter Bilder und Metaphern, in denen keine Bezeichnung und Verdeutlichung der Wirklichkeit mehr vorgenommen wird, sondern ihre Verschleierung oder gar Beseitigung (so in Aleixandres surrealistischer Periode), nur dann findet man einen Hinweis auf einen Grundzug der avantgardistischen europäischen Moderne: die Poesie ist keine Angelegenheit der Worte. Sie ist nach dieser Auffassung vielmehr Flucht in ein schönes Reich, souveräne Erfüllung einer überempfindlichen Wirklichkeit und Bau ungewisser Welten. Sie „entdeckt die letzten Potenzen einer dunklen Revelation, in der alle Worte ihren gewöhnlichen Sinn verschieben“. Diese Wendung ist eine Form des Protestes gegen die „reine Dichtung“ – die Dichtung der Wörter. Poesie soll es jetzt mit allem möglichen zu tun haben, nur nicht mit Wörtern. Sie erhebt sich zu einem nahezu erotischen Traumdasein, in dem sie sich vor den zerstörenden Kräften zu bewahren glaubt. In der Poesie verschmilzt der Mensch mit dem Kosmos und mit dem Namenlosen, Das von den destruktiven Kräften bedrohte Leben des Individuums schafft sich ein Scheinbewußtsein, so daß das Leben (zumeist in seinen biologisch-kosmischen Formen und in der Liebe begriffen) unzerstörbar wird.
Auch Luis Cernuda durchlebt die surrealistischen Experimente und kann für sein Werk eine „poetische Askese“ und eine sprachliche Knappheit verbuchen, die sich dann in eine eigene Ethik auflösen. Allenthalben spürt man hier die Gegenwart der destruktiven Möglichkeiten, die er in dem Problem der Zeit zusammenfügt. Die Zeit erscheint nach klassischem Vorbild als das Untier, das die konkrete Zeit, also den Menschen selbst, auffrißt. Die Zeit zerstückelt den Kindheitstraum, den das Individuum nicht verlassen wollte. Der falschen Alternative zwischen Erinnerung und Vergessen hält Cernuda die Beziehung zwischen Realität und Wunsch entgegen: einzig in der Liebe als dem Zusammenfall mit dem Augenblick gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma. Die Liebe kann zwar die Einsamkeit nicht zerstören, wohl aber dem Gesetz der Dauer entreißen. So tritt das „wesentliche Wort“, (la palabra esencial) ans Licht des Tages.
Das „wesentliche Wort“ Cernudas ergänzt sich in der „natürlichen und wissenden Poesie“ (Alberti) von Miguel Hernández. Beide Dichter kämpften seit dem Ausbruch der faschistischen Rebellion in den republikanischen Reihen. Cernuda, Übersetzer deutscher Romantiker, geht mit einem Hölderlinband in die Sierra. Hernández wird nach einem kometenhaften Aufstieg das von García Lorca begonnene Werk nach dessen Tod fortsetzen. Zu diesem Zeitpunkt hat er bereits die spanischen Klassiker verarbeitet (Garcilaso, Calderón, Góngora, Quevedo). Hernández’ Dichtung ist Leben und Kampf der spanischen Bauern. In ihr fließt die spanische Tradition in neuer Vollkommenheit und erhebt sich zu einer neuen spanischen Menschheitsdichtung. Der Dichter antwortet auf die Fragen der Zeit mit der poetisch gestalteten Vision menschlicher Selbstbefreiung: eine spanische Antwort von universaler Geltung. „Ich heiße Lehm“, sagt Hernández, was soviel bedeutet wie die bewußte Einswerdung des Dichters mit seinem Volk. Mit der Eröffnung solcher Perspektiven durch die Dichtung haben sich die innersten Intentionen der lyrischen Bewegung seit dem Modernismus erfüllt. Im Tonfall des traditionellen Cancionero und mit der Bildkraft eines mythischen Symbolismus, der sich auf einen exakten Gebrauch der Adjektive gründet, evoziert Hernández nach dem Kriege das Leben seines Volkes in seiner Bewußtheit und seinem geschichtlichen Schicksal. Seine Gegenstandswelt ist unverfälscht und unzweideutig: Wasser, Haus, Zwiebel… Hierin ist sie zugleich auch „wesentliche Dichtung“. Ein ähnliches Schicksal blieb der Dichtung Cernudas vorbehalten, die sich zuletzt in epischer Meditation entfaltet. Es ist auch der weitere Weg Aleixandres: die frühere Verschmelzung mit dem Namenlosen schließt ein, daß der Dichter heute im Namen aller Menschen dichtet. Auch Alberti schlägt in der gleichen Richtung eine Brücke in die unmittelbare Gegenwart und Zukunft der spanischen Dichtung, nachdem er seine Erfahrungen als Surrealist und als revolutionärer Agitator überwunden hat. Trat die spanische Falange mit dem Anspruch hervor, die Politik zu poetisieren, so konnte Alberti mit seiner Forderung nach der Politisierung der Poesie eine Perspektive eröffnen, die in der spanischen Dichtung der Gegenwart bereits einen neuen Horizont der Dichtung des 20. Jahrhunderts erschlossen hat.

Nach dieser Hast und unerläßlichen Grammatik, in der ich lebe, kehrt das präzise Wort verjüngt zu mir zurück: die Genauigkeit des Verbums mit dem ihm zugehörigen Adjektiv. Denn erst wenn das Wort wirklich und wahrhaftig den Berg, die Wiese bezeichnet und bewertet, wenn es das Blau des Himmels wiedergibt wie das Meer, dann erst empfindet mein Herz die jugendliche Frische und meine Sprache das ewig neue Erstaunen an der Schöpfung.

Carlos Rincón, Vorwort
Deutsch von Karlheinz Barck

 

Metamorphose der Nelke

Metamorphose der Lyrik Spaniens in den ersten vier Jahrzehnten dieses Jahrhunderts, an zwölf Dichtern in diesem Band vorgeführt. Bittere Klage eines sterbenden Spaniens ist die Poesie bei Miguel de Unamuno; süßes Lied von Himmel, Meer und Erde bei Juan Ramón Jiménez; Traum vom neuen Blühen Spaniens bei Antonio Machado; zarte Lilie bei José Moreno Villa; Lerche der Wahrheit bei Gerardo Diego; Reim aus Schnee und dem starren Himmel der Kälte bei Jorge Gillén; spanische Elegie bei Luis Cernuda; Stimme körperlos, leicht bei Pedro Salinas; Stimme eines trauernden Orangenbaums bei Federico García Lorca; Stimme, geschmückt mit den Insignien des Meeres, bei Rafael Alberti; Flamme und Tod bei Vicente Aleixandre; Farbe der großen Passion bei Miguel Hernández; bei allen in diesem Band vereinten Dichtern aber: Wort in der Zeit.

 Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, Klappentext, 1968

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber

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