Federico García Lorca: Schwarzer Regenbogen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Federico García Lorca: Schwarzer Regenbogen

Lorca/Lorca-Schwarzer Regenbogen

DAS LIED WILL LICHT SEIN

Das Lied will Licht sein.
Das Lied hat im Dunkel
schimmernde Fäden
aus Phosphor und Mond.
Nicht weiß das Licht, was es will.
In seinen eignen
opalenen Grenzen
findet es selbst sich
und kehrt wieder um.

 

 

 

Nachwort

(…) Man muß immer wieder betonen, daß Lorca ein andalusischer Dichter war. Federico García Lorca wurde am 5. Juni 1898 in Fuente Vaqueros in der Granadiner Vega geboren. Sein erstes Buch, Impresiones y Paisajes (Impressionen und Landschaften), in dem er seine Reisen durch Andalusien und andere Gebiete Spaniens in Prosa beschreibt, veröffentlichte er 1918. Die Begegnung des Dichters mit seinem Volk ist das Resultat einer konkreten geschichtlichen Situation, in der nach dem endgültigen Zerfall des spanischen Kolonialreiches (1898) die jahrzehntelang stagnierende spanische Gesellschaft in Bewegung geriet und nach dem Sturz der Monarchie und der Proklamation der Republik (1931) erstmalig seit 1875 die Kleinbourgeoisie wieder an die Macht kam. Damit war die Möglichkeit gegeben, die lange Zeit verzögerte bürgerlich-demokratische Revolution voranzutreiben, obwohl ihre Zielsetzungen bald durch die Halbheit der Regierungsmaßnahmen und durch das Drängen der Volksmassen in Frage gestellt wurden.
Die Umgangssprache der andalusischen Volksschichten, die sich durch ihre Fülle von Vergleichen und Redewendungen auszeichnet und geradezu unerschöpflich immer neue hervorbringt, war bis zu diesem Zeitpunkt bestenfalls als regionale Eigenheit in die kostumbristische Literatur des 19. Jahrhunderts eingegangen. Inmitten einer radikalen dichterischen Erneuerungsbewegung der literarischen Ismen und der Wiederentdeckung und -belebung der poetischen Formen einer alten, verschütteten Tradition, die auf dem Bild und der Metapher aufbauten, griff Lorca gerade den Grundzug der plastischen Bildhaftigkeit jener andalusischen Volkssprache und -dichtung auf und begründete durch die Hinwendung zur Tradition die eigentliche Modernität der spanischen Lyrik. Dieses Zusammentreffen vermittelt dem Werk Lorcas eine Schlüsselfunktion nicht nur zum Verständnis der spanischen Literatur, sondern der zeitgenössischen Literatur überhaupt.
Mitte der zwanziger Jahre war die Dichtung von Luis de Góngora (1561-1627) wegen ihres großen assoziativen Reichtums bei der metaphorischen Bedeutungsübertragung und auch ihrer Fähigkeit, die Dinge auf ihren materiellen Ursprung zurückzuführen, zu einem wesentlichen Bezugspunkt der zeitgenössischen Dichter Spaniens geworden. Dichtungsgeschichtlich ist dabei bemerkenswert, daß etwa im Frankreich jener Zeit die Dichter in ihrem poetischen Selbstverständnis nur bis zu Baudelaire zurückgingen, während Spaniens junge Dichter eine Traditionslinie aus dem 17. Jahrhundert aufgriffen. Góngoras dreihundertster Todestag, im Jahre 1927, wurde in ganz Spanien feierlich begangen. Avantgardistische Dichter (Gerardo Diego), Anhänger der klassischen „Poesia pura ma non troppo“ (Jorge Guillén, Pedro Salinas) und der traditionellen andalusischen Dichtung zugewandte Lyriker (Lorca, Rafael Alberti) nahmen diese Feierlichkeiten gleichermaßen zum Anlaß, ihre Poetik neu zu definieren. Ihre poetischen Ausgangspunkte waren verschieden, doch hatten sie einen gemeinsamen Berührungspunkt: den Gebrauch der Metapher und ihren Einsatz bei der Suche nach einer neuen poetischen Sprache. Lorca selbst hielt in Vorbereitung auf die Góngora-Ehrung in Granada einen Vortrag über das poetische Bild bei Góngora, in dem er ausführte: „Ein dichterisches Bild ist immer eine Sinn-Übertragung. Die Sprache ist auf der Grundlage von Bildern geschaffen, von denen unser Volk einen überfließenden Reichtum besitzt… In Andalusien reicht das volkstümliche Bild bis zu den äußersten Grenzen wunderbarer Reinheit und Empfindsamkeit, und diese Umwandlungen sind absoluter Góngorismus.“
Nun erst wird uns der andalusische Grundzug von Lorcas Dichtung verständlich: Nur die andalusische Volksdichtung barg, im Unterschied zu den zahlreichen anderen traditionellen Dichtungsformen des regional sehr unterschiedlichen Spanien, die ästhetischen Möglichkeiten in sich, ausgehend vom dichterischen Bild in seinen verschiedenen Abstufungen, eine Beziehung zur Dichtung eines Rimbaud, Mallarmé wie auch zur Dichtung der Ismen herzustellen. Diese Stufen reichen von der einfachen Verbindung Nomen plus ungewöhnliches, frappierendes Attribut über das Emblem oder Symbol bis hin zum Mythos, doch liegt das Schwergewicht auf der Metapher.
Lorca hielt 1922 einen Vortrag über die andalusische Volksmusik, den Cante Jondo. Seit einem Jahrhundert wird der Cante Jondo fast ausschließlich von den Zigeunern gepflegt; die ihm auch seine heutige Form verliehen haben. Für diese formenreiche anonyme Kunst, die, als eine Art stilisiertes, primitives Rituell, eine Mischung aus Schrei, Sprechgesang und Lied darstellt, hält Lorca großes Lob bereit: „Eines der größten Wunder des Cante Jondo sind – abgesehen von seiner essentiellen Melodik – seine Gedichte. Unendliche Tonungen des Schmerzes und der Pein pulsen, in den Dienst des reinsten und genauesten Ausdrucks gestellt, im Grunde der Drei- und Vierzeiler der Siguiriya und ihrer Abwandlungen.
Es gibt in Spanien nichts, aber auch gar nichts Vergleichbares an Stilisierung, Ambiente und genauem Gefühlsmaß.
Die Metaphern, die unsere andalusischen Gesänge füllen, bewegen sich fast immer in ihrer Bahn. Zwischen den geistigen Gliedern der Verse besteht kein Mißverhältnis, und es gelingt ihnen stets, sich unseres Herzens ein für allemal zu bemächtigen.“
Der Cante Jondo wird mit Gitarrenbegleitung gesungen, und die Gitarre ist Andalusiens Musikinstrument par excellence. Ihr widmete Lorca eines der ersten Gedichte des Poema del Cante Jondo, das zugleich sein poetisches Programm der zwanziger Jahre enthält: La guitarra. Die Gitarre klagt eintönig und leise, mit der Melancholie der Elemente, des Wassers und des Windes. Unmöglich, sie zum Schweigen zu bringen. Sie beweint die existentielle Tragödie, zu der Jahrhunderte währende geschichtliche Bedingungen die andalusischen Volksmassen, die hier Spanien verkörpern, verurteilt haben. Bis schließlich das leise Klagen der Gitarre in eine andere extreme Klangmöglichkeit umschlägt, in die Dissonanz der sechs Saiten, die von fünf Messern durchschnitten werden.
Lorcas Gedichten aus dieser Zeit ist eines gemeinsam: die mythische Sicht der Dinge und der Menschen mit ihren Ängsten, Leidenschaften, Instinkten, Vorahnungen und Rätseln. Das ist kein anachronistischer Rückgriff, sondern künstlerische Verdichtung einer Weitsicht, die im andalusischen Volk fortdauert. Ihr Wesensmerkmal ist ein sensitiver heidnischer Animismus, die poetische Belebung von Erscheinungen der Natur und des Alltagsdaseins, wobei die sinnlich wahrgenommene Realität der Dinge ein Eigenleben gewinnt. In den ersten vier Gedichtbänden dominiert als poetisches Mittel die Metapher. Während wir in Canciones und im Poema del Cante Jondo vor allem plastische Metaphern finden, herrscht im Romancero Gitano, wo Erzählerisches und Lyrisches sich abwechselt, die dynamische Metapher vor, die „zwei entgegengesetzte Welten mit einem Reitersprung der Imagination“ verbindet. Die Elemente, welche die Metapher in Beziehung setzt, sind – anders als in der klassischen Metapher – Analogiebildungen emotioneller Natur.
Die Zigeunerromanzen machten Lorca zum bekanntesten Dichter Spaniens, legten ihn aber auch auf ein Dichterimage fest, von dem er sich erst mit seinen New-York-Gedichten befreien konnte. Das kompositorische Vorgehen in den Romanzen vergleicht Lorca mit „einer nächtlichen Jagd in einem sehr fernen Wald… Der Dichter muß einen Plan von den Gegenden haben, die er durchstreifen will, und er muß gefaßt sein angesichts der tausend Schönheiten und der tausend als Schönheiten verkleideten Häßlichkeiten, die nun an seinen Augen vorüberziehen…“ Dabei unterstreicht Lorca das besondere Gewicht der verstandesmäßigen Kontrolle im poetischen Schaffensprozeß: „Da er die Imagination gebunden hat, hält er sie an, wann er will, läßt sich nicht nach dem Gesetz der Willenlosigkeit von den dunklen Naturkräften fortschleifen, nicht von den flüchtigen Scheinbildern, an denen die unvorsichtigen Dichter sterben wie Falter an der Laterne… Die Inspiration gibt das Bild, nicht aber das Kleid. Und um sie zu bekleiden, muß man die Qualität und den Klang des Wortes mit Gleichmut und ohne gefährliche Leidenschaften betrachten.“
Der Aufeinanderprall der Kräfte von Leben und Tod, der Lorcas Gedichte bis zu seinen Romanzen kennzeichnet, steigert sich in den Versen von Poeta en Nueva York (postum 1941 in New York und Mexiko erschienen) bis zur Vision. Dieses Gedichtbuch ist nach Lorcas eigenem Bekenntnis das Ergebnis der gewaltsamen Konfrontation seiner poetischen Welt mit der poetischen Welt New Yorks. Lorca hatte seine erste große Reise, die ihn nach New York und Kuba führte, 1929 als Student unternommen; eine zweite, in einem anderen Sinne bedeutsame Reise führte ihn 1933 nach Argentinien, wo seine Stücke mit großem Erfolg aufgeführt wurden und er auch selbst Regie führte. In den Gedichten über New York verwendet Lorca erstmalig systematisch in der spanischen Lyrik den freien Vers. Vor ihm hatten die damals noch surrealistischen Dichter Vincente Aleixandre und Luis Cernuda ihn gelegentlich benutzt, in dem Versuch, die Grenzzen der reinen Dichtung vermittels einer Kunst der Bilder zu sprengen, wie Luis Buñuel sie im Film umsetzte und wie sie die Zeitschrift Caballo verde para la poesía, die Pablo Neruda 1935 in Madrid herausgab und in der u.a. auch Lorca mitarbeitete, programmatisch forderte. In Poeta en Nueva York nun sind die zuvor vom Versmaß begrenzten Metaphern durch mehrschichtige Symbole ersetzt, die zum Teil einen traditionellen Ursprung haben. Die Erfahrung dieser „Saison en enfer“, die für Lorca der Aufenthalt in Amerika zur Zeit der Weltwirtschaftskrise darstellte, schlägt sich in Bildern wie diesen nieder:

Es ist die Hölle nicht, es ist die Straße.
Ist nicht der Tod, es ist der Obststand.

Bei den New-York-Gedichten mit ihrer an Überraschungs- und Schockeffekten reichen Bildsprache ist der Leser angehalten, den Prozeß der poetischen Sinngebung und die strenge Logik des poetischen Verfahrens bewußt zu verfolgen.
In seinem Vortrag „Theorie und Spiel des Dämons“ (1930) versuchte Lorca, das Wesentliche der spanischen Kunst und Lebenshaltung zu definieren und gleichzeitig die Poetik, die den Poeta en Nueva York charakterisiert, zu formulieren. Schlüssel zum „schmerzvollen Spanien“, dem Land, das fortwährend im Angesicht des Todes lebt, sei der „Dämon“. „Alles, was schwarze Töne hat, hat Dämon“, sagt Lorca. „Für den aber, der den Dämon sucht, gibt es weder Landkarte noch Übung. Man weiß nur, daß der Dämon das Blut peinigt wie ein Scherbenhaufen, daß er erschöpft, daß er die ganze liebe angelernte Geometrie verwirft, daß er die Stile zerbricht; daß er Goya, den Meister der grauen, rosa und silbernen Farbtöne der besten englischen Malerei, dazu bringt, mit Knien und Fäusten schreckliche schuhwichsschwarze Farben aufzutragen;… daß er den zerbrechlichen Leib Rimbauds in ein grünes Gauklergewand hüllt; und daß er in der Morgendämmerung des Boulevards dem Grafen Lautréamont Augen eines toten Fisches einsetzt.“
Nach dem Sturz der Diktatur Primo de Rivera, im Jahre 1930, und unter den sich anbahnenden gesellschaftlichen Veränderungen der Republik entfaltete Lorca als Leiter des studentischen Wandertheaters La Barraca eine wichtige kulturpolitische Arbeit unter breiten Volksschichten. Seine Stärke wurden in ganz Spanien mit großem Erfolg aufgeführt, so Bluthochzeit, In seinem Garten liebt Don Perlimplín Belisa, Doña Rosita bleibt ledig und Yerma. Er bezog von einer antifaschistischen Position aus offen Stellung in den politischen Auseinandersetzungen dieser Jahre. Seine Verse erklängen nun auf dem Theater, sagt er in einem Interview aus dem Jahre 1934. Gleichwohl schloß er 1936 einen weiteren Gedichtband ab, der den Titel Divan del Tamarit tragen sollte. Es handelt sich um eine Sammlung von neun Kassiden und zwölf Gaselen, die nur der Bezeichnung und nicht der Form nach maurisch sind.
Im Llanto por Ignacio Sánchez Mejías (Klage um Ignacio Sánchez Mejías, 1935), Lorcas letztem großem Werk, wird der Tod des Freundes als eigener Tod gelebt. Die plastische Imagination der andalusischen Gedichte und die symbolische Inspiration der New-York-Gedichte verschmelzen bei der Klage über einen tödlichen Augenblick:

Schon kämpfen Taube und Leopard.

Die Grenzen zwischen Leben und Tod sind durch den Vers

am Nachmittage um fünf Uhr,

eine Art Kehrreim im ersten Teil („Hornstoß und Tod“), markiert, im zweiten Teil („Das vergossene Blut“) durch den Vers

Nein, ich will es nicht sehn.

Der Vorgang des Sterbens mündet im dritten und vierten Teil in der schrecklichen Feststellung des Todes:

Denn gestorben bist du für immer, wie alle Toten der Erde.

Aber als der Tod seine endgültige Herrschaft errichtet hat, drängt es den Dichter, das Vergessen zu besiegen:

Dich kennt niemand. Nein. Doch ich sing dich.

Subjekt der Trauerelegie ist nicht der Dichter selbst, sondern der Stierkämpfer, indes beide sind zu identifizieren mit dem Schicksal Spaniens. Im Morgengrauen des 19. August 1936, einen Monat nach dem reaktionären Putsch Francos, erschossen die Faschisten Spaniens großen Dichter in der Nähe der Fuente Grande bei Viznar. Lorca jedoch wurde in den darauffolgenden aufopferungsvollen Jahren für das spanische Volk zum Symbol aller vom Faschismus Ermordeten. Wenn wir die letzten Verse der „Klage“ heute lesen, beziehen wir sie unwillkürlich auf den getöteten Dichter:

Lang wird es währen bis zur Geburt, wird je er geboren,
eines Andalusiers, so lauter, an Wagnis so reich.
Seine Feinheit sing ich mit Worten, die seufzen,
und gedenk einer traurigen Brise in den Oliven.

Carlos Rincón, Nachwort

 

Dichtung eines Betroffenen

Wieder ist ein Lyrikband mit Gedichten von Federico García Lorca erschienen. Es sind Gedichte aus anderthalb Jahrzehnten (1921 — 1936), die Jahrzehnte überdauerten und auch in Zukunft ihre Leser finden werden. García Lorca (1898 — 1936) ist ein moderner Klassiker. Er ist ein Klassiker, der nicht nur Spanien und der spanischen Literatur gehört. Er ist einer der Überragenden, der Überregionalen. Er zeigte, wie belanglos ein regionaler Rahmen sein kann. Belanglos dann, wenn ein starkes Talent, frei von allen Tabus, in der Lage ist, im Besonderen das Wichtig-Allgemeine zu erkennen und zu artikulieren.
Wenn sich die DDR-Verlage des Dichters und Dramatikers heute annehmen, so haben sie nicht mehr das Vergnügen, eine Entdeckung zu präsentieren. Mehr publiziert denn gespielt, ist García Lorca bekannt. Der Leser hingegen hat immer wieder das Vergnügen, den Dichter zu entdecken und wiederzuentdecken. Möglich wird das auch durch die neue Auswahl-Ausgabe, die in der verdienstvollen Lyrikreihe von Volk und Welt ihren Platz hat. Carlos Rincón, der die sorgfältig zusammengestellte Edition auf den Weg brachte, war redlich bemüht, die gegenwärtig besten Übertragungen der García-Lorca-Gedichte für den Band zu bekommen. Die Übersetzungen machen den Band zu einem Ereignis.
Schwarzer Regenbogen ist der metaphorische, ein wenig dunkel gefärbte Titel. Er ist für die Dichtung des Spaniers so zutreffend wie er unzutreffend sein kann. Der Andalusier mochte das Grell-Lichte, das Immer-Offensichtliche nicht sonderlich. Er liebte die überlieferten Mythen und entzog sich nicht dem Reiz, der von allem Mystischen ausgeht. Älter geworden und den Kämpfen des Tages nähergerückt — Francos Büttel, die Falangisten, erschossen den 38jährigen in den Feldern von Viznar (Granada) – wurde das Wort des Dichters unmittelbarer im Ausdruck. Zwei Monate vor seinem Tode schrieb García Lorca:

In diesem dramatischen Augenblick, den die Welt zur Zeit erlebt, muß der Künstler mit seinem Volk weinen und lachen. Man muß den Lilienstrauß beiseite legen und bis zur Hüfte in dem Sumpf waten, um denen zu helfen, die Lilien suchen, und ich habe ein wirkliches Verlangen, mich allen mitzuteilen.

Das hieß nicht die Grenzen der Wirkung von Literatur zu überschätzen. Das bedeutete jedoch für den, der dichtete, die Grenzenlosigkeit der Dichtung zu respektieren. García Lorca hat das immer getan. Für ihn war das Dichten stets ein unbeeinflußbares persönliches Erlebnis. Und wenn er etwas wollte, so wollte er unbedingt das persönliche Erlebnis für den möglich machen, der seine Gedichte liest.
Der Weg von der Persönlichkeit zur Persönlichkeit war der kürzeste Weg, den der Dichter wählte. Ein Weg, den er konsequent ging, dem nachzugehen ist, um den leichtesten Zugang zur Dichtung von García Lorca zu haben. Es ist die Dichtung eines Empfindsamen; ihm waren die Klagen des Individuums auch die Klagen der Außenwelt, der sich der Dichter immer weniger verschließen konnte. Dem sehr persönlichen Klagen über die Entfremdung und Isolierung des Subjekts folgten die Anklagen des politisch und sozial Engagierten, der 1936 gemeinsam mit Rafael Alberti einen Bund Antifaschistischer Intellektueller gründete.
Das Un-Bewußtsein, das Nicht-Vorbereitetsein auf die Welt hat der Lyriker oft in seinen Versen formuliert, um so Bewußtsein zu gewinnen für sich und andere, um so für sich und andere das Unvorbereitetsein zu überwinden. Ein enormer Bildreichtum, für den ungewöhnliche Metaphern sorgten, hat jede Zeile des Dichters so wichtig gemacht wie der Reichtum des Sinnlichen und der Sinngehalt, den er zu artikulieren wußte.
Federico García Lorca, der nicht ohne die jahrhundertealten Traditionen der andalusischen Dichtung existierte, war ein Modernist. Indem er sich nicht von den Traditionen trennte, indem er die Bildhaftigkeit der Volkssprache nicht verpönte, bildete er seine eigene Dichtung, die für neue Gedanken auch neue Sprachbilder zur Verfügung hatte. Der Weiterschritt, den der Dichter ging, der seine selbständige Rolle in der spanischen Literatur bestimmte, sicherte seiner Lyrik den Zuspruch der Welt.

Bernd Heimberger, Neue Zeit, 18.6.1979

 

„Federico (unverbesserlicher Dichter)“

Allein das Geheimnis läßt uns leben.
Allein das Geheimnis.
Titel einer Zeichnung Lorcas aus dem Jahre 1934

Der Dichtung Federico García Lorcas liegt eine gefühlsmäßige Unentschiedenheit zugrunde, die den Autor sogar dort noch, wo er begriffliche Erklärungen abgibt (in Vorträgen, Briefen, Interviews), zu einer persönlichen Ausdrucksweise von großer Spontaneität gelangen läßt:

Ich befinde mich auf einer poetischen Ebene, wo das Ja und das Nein gleichermaßen wahr ist.

Diese Worte aus der Rede über Die Kinder-Schlummerlieder (Las nanas infantiles) können geradezu als eine programmatische Selbstcharakterisierung angesehen werden, denn es ging Lorca keinesfalls ums exakte Definieren, sondern ums Evozieren, nicht um ein präzises Zuordnen, sondern um die Abgabe eines leidenschaftlichen Votums.
Lorca war ein Dichter der Affekte. Sein natürliches Ausdrucksmittel war die Metapher, sein großes Vorbild Góngora. Und an seiner Abhängigkeit von dem Cordobesen, den er – Erfahrungen Vicente Huidobros verwertend – durch eine konzisere Ausdrucksform freilich zu modernisieren wußte, änderte auch der Umstand nichts, daß er in seinem 1930 gehaltenen Vortrag „Theorie und Spiel des Dämons“ Góngora jenen Dichtern zurechnete, die nicht vom duende, vom Dämon der Instinkte, inspiriert worden sind:

Die Muse Góngoras und der Engel Garcilasos müssen vom Lorbeergebinde lassen, wenn der Dämon des Juan de la Cruz vorbeikommt…

Der Grund dafür, daß Lorca den Dichter der Soledades plötzlich ähnlich beurteilte wie den an der Renaissancedichtung orientierten Garcilaso, läßt sich wohl am ehesten erklären, wenn man sich verdeutlicht, daß Lorca seit der Mitte der zwanziger Jahre durch äußere – besonders durch familiäre – Umstände gezwungen worden war, seine Existenz als ein ausschließlicher Dichter aufzugeben, und daß er, wenn er jetzt Góngora herabminderte, gegen den Teil seines eigenen Wesens polemisierte, der in ihm selbst mit unverminderter Stärke nach Ausdruck verlangte:

Die Sprache ist auf der Grundlage von Bildern erschaffen, von denen unser Volk einen überfließenden Reichtum besitzt.

Góngora war für Lorca derjenige spanische Lyriker gewesen, der ihm – zumindest mit dem Beispiel seiner nicht italisierenden Werke – eine Methode gezeigt hatte, mit der man zugleich ursprünglich und kunstvoll, metaphorisch und doch genau sein konnte: „… ich habe“, erinnerte sich Lorca, „einen Granadiner Landmann sagen hören: ,die Weiden mögen gern auf der Zunge des Flusses sein‘.“ Und er stellte fest:

In Andalusien reicht das volkstümliche Bild bis zu den äußersten Grenzen wunderbarer Reinheit und Empfindsamkeit, und diese Umwandlungen sind absoluter Góngorismus.

Lorca verwarf Góngora in dem Maße, in dem er sich selbst gezwungen sah, die innere Beziehung zu seinem Ursprung abzubrechen, um so dem Vorwurf des andalucismo, der andalusischen Schöntuerei, zu entgehen. Daß es diesem Dichter (der – zusammen mit dem Komponisten Manuel de Falla – 1922 versucht hatte, den cante jondo, die regionale Volksmusik vor dem spurlosen Verschwinden zu bewahren) nicht gleichgültig bleiben konnte, wenn er fortan in Distanz zu sich und seinen Empfindungen zu stehen hatte, geht aus einer Fülle von Äußerungen hervor, deren Widersprüchlichkeiten den besten Beweis für die Heftigkeit des Konflikts liefern.
Noch im August 1926, als er schon voller Unruhe darüber war, daß sein Vater ihn endgültig nötigte, in der sozialen Welt einen festen Platz einzunehmen, machte sich Lorca zum enthusiastischen Fürsprecher seiner Landschaft:

Wie zauberhaft ist dieses südliche Mittelmeer! Süden, Süden! (Wunderbares Wort: Süden!) Die unglaublichste Phantasie entwickelt sich logisch und gelassen…

Und als ein guter Regionalist, der – zusammen mit der engeren Heimat – auch die größere, die gesamtiberische Ordnung liebte, fügte er auf der an Jorge Guillén gerichteten Postkarte hinzu:

Die Züge des Andalusischen sind verflochten mit Zügen eines festen und abgeklärten Nordens.

Diese auf Natur und Geschichte, auf Mensch und Geographie gleichermaßen abgestimmte pantheistische Grundhaltung sollte jedoch innerhalb eines Monats total erschüttert werden. Und Lorca, der zwar in der poesía tradicional niemals den höchsten Ausdruck gesucht hatte, der aber (ähnlich wie übrigens die Komponisten Albéniz, Granados und de Falla) von der Volkskunst getragen und gespeist worden war, sah sich unvermittelt in einer objektlosen Welt, weswegen er auch in einen ungewöhnlich polemischen Ton verfiel:

Ich kann Dir nur sagen, daß ich die Orgel hasse, die Lyra und die Flöte. Ich liebe die menschliche Stimme. Die schlichte, menschliche Stimme, verarmt durch die Liebe und losgelöst von tödlichen Landschaften. Die Stimme soll sich lösen von der Harmonie der Dinge und dem Konzert der Natur, um ihren eigenen Ton fließen zu machen. Poesie ist eine andere Welt. Man muß die Türen schließen, durch die sie zu den vulgären Ohren und den bösen Zungen entweicht. Man muß sich mit ihr einschließen.

Das Gefühl der Übereinstimmung mit der rustikalen andalusischen Welt gibt Lorca nur unter Zwang auf. Denn seiner tiefsten Überzeugung nach ist Poesie nicht so sehr flackernder Abglanz des Eidos oder der Transzendenz als Klang und Wort gewordener Ausdruck einer auf das Tellurische bezogenen Freude oder Klage. Was die Landschaften tödlich macht, ist keine Eigenschaft, die ihnen immanent wäre; es ist die Wesensart der Menschen: jener Bürger, die des Dichters sensitivem Tun feindselig oder gleichgültig gegenüberstehen, aber auch jener urbanisierten Schriftsteller, denen lediglich noch solche Poesie plausibel erscheint, die zerebral und also machbar ist:

Indem ich zufällig von den Feen spreche [so Lorca in seinem Vortrag über die Kinder-Schlummerlieder], habe ich meine Pflicht als Propagandist des dichterischen Sinns erfüllt, der heute nahezu verlorengegangen ist durch die Schuld der Literaten und Intellektuellen, die mit den menschlichen und mächtigen Waffen der Ironie und Analyse gegen ihn gefochten haben.

Lorca, der dem maternistischen Lebensraum der Zigeuner so zugetane Dichter, der das Geistige nicht erkennt, nicht anerkennt ohne das konkrete sinnliche Detail, sieht sich unversehens (sein Vortrag „Imaginacion, inspiración, evasión“ gibt darüber Aufschluß) veranlaßt, die an die Metapher gekoppelte und in Góngora personifizierte Vorstellungskraft abzuwerten und der Eingebung, vor allem aber der evasión, der Flucht, das Wort zu reden. Erwin Walter Palm bemerkt hierzu in seinem Essay „Kunst jenseits der Kunst / Federico García Lorcas Theorie vom Duende“:

Im Gegensatz zu dieser in der Zwangsjacke des Wirklichen steckenden Imagination… ist die ausdrücklich als Gabe unterschiedene Inspiration Befreiung von der Wirklichkeit… Sie ist der Weg, auf dem man aus der Wirklichkeit entkommt. Evasión, escape, also wird als höchstes Ziel der Dichtung proklamiert. Die historischen Fluchtwege sind für Lorca vorgezeichnet, der des Ironikers: Heine, der des Mystikers: San Juan de la Cruz.

Die zweite Möglichkeit, der Beengung zu entkommen, nämlich die Möglichkeit, die in mystischer Versenkung entsinnlichten Triebe gebündelt zum Himmel emporzureichen, kann für Lorca, den instinktiven Pantheisten und überzeugten Antikatholiken, nicht viel mehr gewesen sein als eine kokett vorgetragene Erwägung. Doch die erste Möglichkeit, die eines Ausbrechens in die Ironie, ja eines Besetzens dadaistischer Freiheitsräume, wurde von ihm genutzt: in den irrealen Prosastücken „Untergegangene Schwimmerin“ und „Selbstmord in Alexandria“, in skurrilen, am amerikanischen Groteskfilm geschulten Mini-Dramen („Buster Keatons Spaziergang“, „Die Jungfer“, „der Matrose und der Student“ und „Chimäre“) sowie vor allem in dem traumhaft-schwebenden Kammerspiel „Sobald fünf Jahre vergehen“. In diesem Drama, an dem Lorca in Amerika arbeitete, wehrte er sich gegen das Chronologische des Seins, gegen das Hineingestoßenwerden des Kindes in die Welt der Erwachsenen. Das verdeutlicht unter anderem der Schluß eines der eingestreuten (und noch ganz im Sinne der Canciones konzipierten) Lieder:

Als Quell will ich sterben,
weit fort von dem herben
Meer will ich sterben…

Schließlich, nachdem Lorca in Dichter in New York dem Gefühl des Fremdseins in der modernen Welt mit schrillen surrealistischen Mitteln Ausdruck gegeben hatte, kehrte er über die Melodramen Bluthochzeit und Yerma“wieder ins lokale Milieu des Andalusischen zurück, das er nun mit Doña Rosita bleibt ledig und mit Bernarda Albas Haus so meisterlich darzustellen wußte, daß er, des erzielten Erfolges wegen, in den Augen der Bürger geradezu als einer der ihren galt, während ihn gleichzeitig viele seiner intellektuellen Zeitgenossen für einen sozialkritischen Autor halten konnten.
An der Entstehung und Verbreitung des Nimbus, ein engagierter Dichter zu sein, wirkte Lorca übrigens selber mit – vor allem durch Interview-Erklärungen –, obwohl er sich nach den Auskünften seiner besten Freunde bis zu seinem Tode insgeheim ausschließlich als Künstler verstanden haben soll. „Sie versuchten und versuchen noch heute“, sagt Dalí, „einen politischen Helden aus ihm zu machen. Ich aber, sein bester Freund, kann vor Gott und der Geschichte bezeugen, daß Lorca, der hundertprozentige Dichter, gleicherweise der apolitischste Mensch war, den ich jemals gekannt habe. Er wurde einfach das Opfer persönlicher, überpersönlicher, lokaler Fehden und vor allem die unschuldige Beute der allmächtigen, konvulsiven und kosmischen Verwirrung des spanischen Bürgerkrieges.“ Und Jorge Guillén (der solange Lorcas intimer Brieffreund gewesen war, wie dieser – zwischen der Hauptstadt und dem verschlafenen Granada pendelnd – die Gelegenheit gehabt hatte, eine prälogische und subsoziale Existenz als „unverbesserlicher Dichter“ zu führen) gibt in „einem Vorwort zu der bei Aguilar in Madrid erschienenen Lorcaschen Gesamtausgabe eine genaue Darlegung von der gesellschaftlichen Position des Autors:

… die Zeit ist für den, der schöpferisch sein muß, wenn er wirklich leben will, kürzer als für andere. Es läßt sich nicht vermeiden, daß wir alle uns den ökonomischen Notwendigkeiten fügen müssen. Wie schwierig ist es, sich nicht von ihnen überwältigen zu lassen, wenn unsere Arbeit… im Reich der Zahlen nichts oder fast nichts wert ist! Unter diesem UnverhäItnis litt Federico noch 1933, vor der Uraufführung der Bluthochzeit. Von diesem Datum an bekamen die Dinge ein anderes Gesicht. Es muß 1935 gewesen sein, daß ich an einem Madrider Sommertag Don Federico, den Vater, traf. „Und was sagen Sie jetzt?“ fragte ich ihn. „Jetzt ja“, antwortete er mir lächelnd, voller Stolz. Im gleichen Jahr 1935 beschrieb uns der Dramatiker das Haus, das er sich am Mittelmeer bauen wollte. „Denn jetzt“, rief er und sah mehr denn je wie ein Junge aus, „bin ich dran mit dem Geldverdienen.“

Die Entwicklung Lorcas von einem introvertierten und der Provinz verhafteten Lyriker zu dem prononciertesten Bühnenautor seit Lope de Vega war jedoch alles andere als eine vom Dichter selbst gewollte und inszenierte Karriere. Das Drama, dieses Medium, das Lorca populär machen sollte, war für ihn lange Zeit nichts anderes gewesen als eine Form, poetische Ideen aufzufächern und historische oder stimmungsmäßige Balladen nicht – wie in den Zigeunerromanzen – episch, sondern in buntem Wechselgespräch vorzutragen („Mariana Pineda“, „Die wundersame Schustersfrau“, „In seinem Garten liebt Don Perlimplín Belisa“):

Welche Mühe hat das Licht,
fortzugehen von Granada!
Es verfängt sich in Zypressen
oder birgt sich unterm Wasser…

Solche Gesangseinlagen in den Stücken unterschieden sich im Ton nicht von gewissen Partien im „Romancero gitano“:

Auf des Weges Hälfte brach er
schön gerundete Zitronen
und er warf sie in das Wasser,
um es ganz zu übergolden.

Wie so viele spanische Kinder aus gutbürgerlichem Hause hatte Lorca im Puppenspiel frühzeitig ein Instrument besessen, das es ihm gestattete, seine Vorstellungswelt zu inkarnieren, sichtbar zu projizieren. Und wenn er sich auch 1920 bereits mit einem unkonturierten Stück bis in die Öffentlichkeit eines Theaters gewagt hatte, im Grunde ging es ihm weniger um die glanzvolle bühnenmäßige Realisation als um eine bescheidene Gelegenheit, die eigene Wirrnis spielerisch abbilden zu können: „Meine ersten Stücke“, bemerkte Lorca noch in seinem Todesjahr Felipe Morales gegenüber, „sind unaufführbar… Diese unmöglichen Stücke entsprechen meiner wirklichen Absicht. Aber um Persönlichkeit zu beweisen und Recht auf Achtung zu bekommen, habe ich andere Sachen präsentiert.“
Die Anerkennung, die Lorca als Theaterschriftsteller genoß, behielt für ihn selber stets einen schalen Beigeschmack. Es war die Honorierung von Leistungen, die der Dichter viel lieber nicht vollbracht hätte – oder doch nicht in dieser auf die Bedürfnisse der breiten Masse zugeschnittenen Weise:

Ich mag mich nicht auf der Bühne verbeugen… Ich spüre dabei sogar eine Art Haß auf das Publikum. Wie wenn ich mich dafür rächen wollte, daß ich wirklich leide; ich glaube sogar, daß diese Art Haß ein wenig durchscheint. Ich kann nicht dafür. So etwas ist gut für die, denen ein flüchtiger Ruhm gefällt. Man sollte dem Werk Beifall zollen, den Autor aber in Ruhe lassen!

Wie sehr Lorca bis zum Schluß an der Lyrik interessiert blieb, geht nicht nur daraus hervor, daß er weiterhin Gedichte schrieb, es zeigt sich auch an der Tatsache, daß er sein reifstes und – sieht man von Bernarda Albas Haus ab – am meisten durchkomponiertes Bühnenwerk Doña Rosita bleibt ledig oder Die Sprache der Blumen im Untertitel als poema granadino, als Granadiner Gedicht bezeichnete. Sehr zu Recht, wenn man das intensive lyrische Sprachklima dieses Szenariums betrachtet, das nostalgisch und nur mit einem Anflug von Kritik auf jene Tage zurückblickt, als das „Sehnen nach Genuß, das die Frauen gewaltsam in die tiefsten Tiefen ihres fiebernden Innern zurückdrängen müssen“, in Spanien noch die unwidersprochene moralische Norm gewesen ist.
Dem Bürgertum, das durch Doña Rositas rosenzüchtenden Onkel verkörpert wird sowie durch Doña Rosita selber, durch diese langsam dahinwelkende und in der Flüchtigkeit der Rosen symbolisierte Schönheit, ist ein derbes, zungenflinkes Hausmädchen beigesellt, das die ganze Familie am Leben hält. Dieses Hausmädchen hat keinerlei Sinn für eine platonische Überhöhung des Daseins. Es wird von Lorca (und zwar in Erinnerung an die einfachen Menschen, denen er in den ersten zehn Jahren seines Lebens in seinem Geburtsdorf Fuente Vaqueros bei Granada begegnet ist) als die Vertreterin einer praktischen Vernunft vorgeführt:

Als ich meinen Mann begrub, hat mich das sehr bekümmert, aber im Grunde habe ich eine große Freude empfunden… nicht Freude… – eine Erleichterung, zu sehen, daß ichs nicht war, die beerdigt wurde.

Diese – einzig auf die sinnlichen Phänomene und auf die konkreten Abläufe bezogene – rigorose weibliche Tüchtigkeit hat Lorca zeitlebens fasziniert, nicht zuletzt wegen der ammenhaften Züge, die sie trug:

Das reiche Kind bekommt das Wiegenlied der armen Frau, die es zugleich in ihrer naturhaft urwüchsigen Milch mit dem Mark des Landes nährt.

So definierte es Lorca in „Las nanas infantiles“. Ähnlich äußerte sich der Dichter 1935 auf einem ihm zu Ehren gegebenen Künstler-Abendessen:

Was würde aus den Kindern der Reichen, gäbe es keine Dienstboten, die sie mit der Wahrheit und dem Gefühl des Volkes in Berührung bringen?

Lorca („Ich irre mich schwerlich in Sachen Intuition.“) weiß sehr genau zu unterscheiden zwischen den spanischen Bürger- und Grundbesitzerfrauen, die – wie die despotische Bernarda Alba – ihre Kinder im Sinne einer paternistisch-katholischen Moral erziehen, und den mütterlichen Geschöpfen aus dem Volk, die zwar auch – wie die Protagonistin aus Yerma – von den gesellschaftlichen Normen irregeleitet werden können, die häufig jedoch – wie die Haushälterin von Rositas Onkel – mangelndes Wissen durch Instinkt wettzumachen verstehen:

Nein, Señora. Für mich riechen die Blumen nach totem Kind oder Nonnengelübde oder Kirchenaltar. Nach traurigen Dingen. Wo eine Orange oder eine gute Quitte ist, kann man alle Rosen der Welt wegtun.

Lorca begibt sich in seinem Granadiner Poem gewissermaßen noch einmal unter die Obhut jener ammen- und kindermädchenhaften Fürsorglichkeit, die ihm einst in der Vega de Granada zuteil geworden ist. Gleichzeitig aber identifiziert er, der in einem ambivalenten Verhältnis zu Frauen Befangene, sich in lustvoller Wehmut mit der Gestalt Rositas, die einmal gesagt bekommt: „Bind ein Bändchen um den Seufzer!“
Rositas Leben vertropft – nicht anders als das des Jünglings in „Sobald fünf Jahre vergehen“, welcher diffuse, weil angstgehemmte Gespräche mit einem Alten führt, der ihn mit seinen Erfahrungen und mit seiner retrospektiven Haltung vollends am Leben hindert:

Innen sind die Dinge lebendiger als außen, wo sie dem Winde oder dem Tode ausgesetzt sind.

Die Worte, die der Jüngling schließlich äußert, könnte auch Rosita sprechen, als sie bemerkt, daß sie eine alte Jungfer geworden ist:

Wie ist es nur möglich, daß in diesem Hause die Luft immer so schlecht ist? Ich werde alle Blumen im Garten schneiden lassen, vor allem diesen verfluchten Oleander…

In einem seiner Briefe an Guillén hatte Lorca erwähnt, daß die vielen blühenden Jasmine und Nachtschatten an dem Sommeraufenthaltsort alle Familienmitglieder unter lyrischem Kopfschmerz leiden ließen. Eine solche Bemerkung, die isoliert nur wie das hingeworfene Stenogramm einer beglückten Minute klingt, bekommt – im Kontext von Werk und Person gesehen – eine tiefere Bedeutung.
Federico García Lorca war ein Dichter, der den Eindruck eines unaufbrauchbaren Vorrats an sanguinischem Temperament und poetischer Liquidität gewiß nur unter großen Willensanstrengungen aufrechterhalten konnte.

Da das Wetter schön ist, steigen die jungen Damen von Granada auf die weißgetünchten Miradores, um die Berge, nicht aber das Meer zu sehen. Die blonden setzen sich in die Sonne und die dunklen in den Schatten. Die mit kastanienfarbenem Haar halten sich im ersten Stock auf, wo sie sich in Spiegeln betrachten und Zelluloidkämmchen ins Haar stecken.

Dieser Launigen Schilderung mit der er seine Freundin, Dalís Schwester Ana María, im fernen katalanischen Cadaqués zu unterhalten trachtete, fügte Lorca weiter unten die ernsthafte Sentenz hinzu:

Das soziale Leben Granadas ist voller Poesie und lyrischer Fäulnis.

Wie für Dalí war auch für Lorca die Morbidität der Gesellschaft nicht das eigentlich evozierende Element – das stellte für beide vielleicht ein physiognomisches Grauen angesichts des Todes dar –, sondern nur ein starkes Stimulans. Die Sozietät: das waren in erster Linie die Familien, die in nuce alle öffentlichen Ansichten über Kunst und Künstler, alle Vorurteile gegen ein differenziertes und nicht ausschließlich der Tradition verpflichtetes Empfinden reflektierten. Und wenn Lorca seinen Vater auch nicht derart schockierte wie Dalí, besonders, nachdem dieser in Paris mit den Surrealisten und ihrem antibürgerlichen Aktionismus in Berührung gekommen war, so genügte doch auf die Dauer durchaus die stille Weigerung, sich beruflich einzugliedern, um jene Schwierigkeiten entstehen zu lassen, die den Dichter 1928 an Sebastián Gasch schreiben ließen:

Ich werde heftig geschüttelt und gequält von Leidenschaften, die ich überwinden muß, aber ich fange an, frei, allein, in meiner eigenen Schöpfung und Kraft zu sein.

Der angedeutete Optimismus war allerdings gewiß mehr hoffnungsvolles Programm als Ergebnis einer bereits gesicherten Position. Doch es bleibt erstaunlich, mit welch eiserner Energie Lorca es fertigbrachte, an dem Gefühl der Andersartigkeit nicht zu zerbrechen, sondern aus ihm sogar stärkende Impulse zu gewinnen:

Mein Zustand ist immer heiter, und mein Traumleben gefährdet mich nicht, da ich über Abwehr verfüge; es ist gefährlich nur für den, der sich von den großen dunklen Spiegeln faszinieren läßt, die Dichtung und Wahnsinn im Hintergrund ihrer Schluchten aufstellen. ICH IBN UND ICH FÜHLE MICH MIT BLEIERNEN FÜSSEN IN DER KUNST. Abgründe und Träume FÜRCHTE ich in der Realität meines Lebens, in der Liebe und im täglichen Zusammentreffen mit den anderen.

Die Trennung zwischen Kunst und Leben und die gleichzeitige Überlappung beider Sphären sind typisch für diesen Autor, der Genauigkeit nicht durch eindeutiges Benennen zustande brachte, sondern durch Intensität, durch assimilierende Annäherung der Begriffe, durch poetisches (und das heißt: emotionales) Mischen:

Nun kommen meine wesentlichen Dinge.
Sind Wiederholungen von Wiederholungen.
Wie seltsam, daß ich noch zwischen Binsen
und Dämmerdunkel Federico heiße!

aus: „Anders“

Ignacio Sánchez Mejías, der 1934 bei einer corrida ums Leben gekommene und von Lorca in einer wortreichen Elegie beklagte torero, hat darauf hingewiesen, daß sein Freund Federico – anders als der in überlieferte Regeln eingepaßte Alberti – ein mächtiges romantisches Ich besessen habe und daß er, wie gewisse Stierkämpfer, „auf eine großartige und regelwidrige Weise“ zu kämpfen wußte, auf eine Art, die gewissermaßen mit jedem neuen Auftritt das Muster einer einmaligen, nie und von niemandem zu imitierenden Meisterschaft zu improvisieren hatte.
Und wie man Lorcas lyrisches Agieren mit dem figurativen Zeremoniell eines Stierkämpfers vergleichen kann, der sich auf dem engen Raum zwischen Stolz und Tod, zwischen Grandezza und Lächerlichkeit einzurichten hat, so kann man es auch zu dem gepreßten Singen eines cante-jondo-Künstlers in Beziehung setzen, der, hin- und hergerissen zwischen dionysischer Entfesselung und Disziplin, sich mit einigen exzessiven Andeutungen begnügt, während er die Fülle seiner Lebenskraft flagellantenhaft einsetzt, um die Anarchie der Triebe sogleich zu bannen. Im Geiste der Zigeuner-Siguiriya, deren erzwungene Verhaltenheit die besten Sänger fast alle herzkrank werden ließ, sowie anderer Volkslied-Formen hat Lorca sein erstes bedeutendes Werk, das Poema del cante jondo, geschrieben, dem die folgenden Gedichte entstammen:

DIE STILLE

Höre, hör, mein Kind, die Stille.
Eine wellengleiche Stille,
eine Stille,
da durch Täler Echos gleiten
und die alle Stirnen neiget
tief zu Boden.

DORF

Auf dem kahlen Berg ein
Leidweg.

Klares Wasser,
hundertjährige Oliven.
In den Gäßchen
Männer, die sich fest umhüllen,
auf den Türmen
Wetterfahnen, die sich drehen,
ewig drehen.

O verlornes Dorf im
Andalusien des Wehs!

KREUZ

Das Kreuz.
(Schlußpunkt
des Weges.)

Es spiegelt sich im Rinnsal.
(Gedankenpunkte!)

Die Kraft, die Lorca ständig zufloß, so daß es zu keinem Nachlassen seiner Kreativität kam, stammte aus der Quelle des Unbewußten. Hierüber heißt es in der Rede „Theorie und Spiel des Dämons“:

Engel und Muse kommen von außen; der Engel verleiht Talent, die Muse Form… Den Dämon aber muß man in den letzten, hintersten Behausungen des Blutes aufrütteln. Man muß den Engel verjagen, der Muse einen Fußtritt geben… Der wahre Kampf ist der Kampf mit dem Dämon… Für den aber, der den Dämon sucht, gibt es weder Landkarte noch Übung. Man weiß nur, daß der Dämon… erschöpft, daß er die ganze liebe angelernte Geometrie verwirft, daß er die Stile zerbricht; daß er Goya… dazu bringt, mit Knien und Fäusten schreckliche schuhwichsschwarze Farben aufzutragen…

Mit diesen Äußerungen, in denen er („angelernte Geometrie“!) die Logik des Kubismus ebenso verwarf wie die – ohnehin wohl nur zum Schein gelobte – konstruktive Vernünftigkeit Valérys, knüpfte Lorca im Grunde genommen an sein altes Bekenntnis zur schöpferischen Unmittelbarkeit an, das er in seiner Góngora-Rede niedergelegt hatte:

Da ich an die gottgesandte Eingebung glaube, glaube ich, daß Valéry auf dem rechten Wege ist. Der Zustand der Eingebung ist ein Zustand der Sammlung, aber kein schöpferischer Dynamismus. Man muß die Vision der Idee ruhen lassen, damit sie sich klärt.

Lorca bekannte sich zur Intuition, er sprach nur von einer Phasenverschiebung zwischen dem Blitz des Einfalls und der Ausführung:

Selbst die Mystiker arbeiten erst, wenn die unermüdliche Taube des Heiligen Geistes ihre Zellen bereits verläßt und allmählich in den Wolken sich verliert. Man kommt aus der Inspiration zurück, wie man aus einem fremden Land zurückkommt. Die Inspiration gibt das Bild, nicht aber das Kleid. Und um sie zu bekleiden, muß man die Qualität und den Klang des Worts mit Gleichmut und ohne gefährliche Leidenschaft betrachten.

Lorca blieb, was immer er später gegen Góngora gesagt hat, ein Adept des sinnlichen Metaphorikers. Denn wenn er beispielsweise Giménez Caballero gegenüber die Bemerkung machte, daß ihm die logische Poesie unerträglich sei, dann votierte er weiterhin für des Cordobesen Methode, über die er gesagt hatte:

Das Bild ist sozusagen ein Austausch von Kleidern, Zwecken oder Rollen zwischen Objekten oder Ideen der Natur. Sie haben ihre Ebenen und Laufbahnen. Die Metapher verbindet zwei entgegengesetzte Welten mit einem Reitersprung der Bildvorstellungskraft.

Der Südspanier Lorca, der sich in einer gefühlsmäßigen Konspiration mit den vertriebenen Mauren und ihrem letzten König Boabdil wußte, war, mochte er bisweilen auch Juan de la Cruz und die bilderlose „trockene Verrücktheit“ Don Quijotes beschwören, der Antikastilier par excellence, der sich aller strengen Nonnen und jeder Aufforderung zu entäußernder Spiritualität mit üppiger Phantasie zu erwehren wußte, besonders als er die spezifische Introversion des Granadinischen verringerte und auf die lyrische Graphik seiner „Dichtung vom tiefinnern Sang“ kolorierte und „aromatische Lieder“ folgen ließ, die das Andalusische in allen Regionen aufsuchten, auch in den Hafenstädten und in den erotischen Bezirken und Phasen: „Es gehen wie der Nachmittag / vom Licht zum Schatten deine Schenkel“, so heißt es in „Lucía Martínez“. Und in „Die Jungfer in der Messe“ finden sich die Verse: „Biete die schwarzen Melonen deiner Brüste / dar dem Geräusch der Messe.“
Lorca, vor allem in den Stücken seiner Canciones (Lieder, geschrieben zwischen 1921 und 1924), war ein Dichter raffinierter und delikater Einfälle. In Bildnissen von Mädchen schuf er sich Spiegelbilder seiner Anima. Und mit den bekanntesten andalusischen Städten, deren Temperamenten er mit subtiler Psychologie nachzuspüren verstand, wußte er seine Gemütszustände zu porträtieren, etwa, wenn er einen schweren Akkord anschlug: „Córdoba. / Einsam und fern“; oder wenn er, scheinbar leichthin, intonierte:

Mein Mädchen ging an das Meer,
wollte Wellen zählen und Kiesel,
aber nicht lange da stand es
am sevillanischen Flusse.

Während der Wunsch nach Natürlichkeit und das Verlangen nach Gemeinsamkeit Lorca dazu brachten, die – nicht kunstlose – Sprechweise des Volkes nachzubilden, ließen ihn seine anspruchsvollen Bedürfnisse Kontakt mit drei erlesenen Geistern aufnehmen: mit Verlaine, Jiménez und Debussy. Jedem dieser Künstler, die Lorca in einer Suite vorstellte, wurde – quasi wie ein Archetypus – ein mythologischer „Schatten“ beigegeben. So erschien im Gefolge Verlaines plausiblerweise Bacchus („Der Mond zählt die Hunde. Er irrt / und beginnt, aufs neue zu zählen.“), und im Zusammenhang mit Juan Rámon, dem empfindsamen Poeten vom Rio Tinto, wurde Venus assoziiert, eine Venus des Todes jedoch: „Das junge gestorbene Mädchen / durchfurchte die Liebe von innen.“ Der Porträt-Schatten aber, den Lorca an den Schluß seiner Folge von Rollengedichten setzte, war der Debussys. Und diese Maske trug Züge, die der Physiognomie dessen, der sich hinter ihr versteckte, so sehr ähnelten, daß die vollkommene Täuschung gelang und der Dichter sich verbergen konnte im hellen Licht seiner Identität:

NARZIS

Kind – du stürzest ja gleich in den Fluß!
aaaaaIn der Tiefe da ist eine Rose,
aaaaain der Rose ein anderer Fluß.

Schau, dieser Vogel! Sieh doch,
den gelben Vogel da, sieh!

aaaaaMeine Augen schon fielen ins Wasser.

Gott! Er gleitet ja aus! O Knabe!
aaaaa… in der Rose bin ich jetzt selbst.

Als er im Wasser verschwand,
begriff ich. Doch ich erklär’ nicht.

Lorcas narzißtische Mentalität, sein Verlangen, die eigene Existenz in den tiefen Quell unschuldiger Selbstliebe zu versenken, hing vermutlich mit zwei bedrohlichen Erkrankungen in der Kindheit zusammen, von denen die erste, eine im Alter von zwei Monaten eingetretene Beeinträchtigung des Bewegungs- und Sprechzentrums, dazu geführt hatte, daß der Junge verzögert laufen und sprechen lernte, was wiederum eine vermehrte Fürsorglichkeit der Mutter und des weiblichen Personals bewirkte und – im Zusammenhang hiermit jene partiell bis zur Identifikation neigende Fixierung auf das andere Geschlecht. Ein geringfügiger Gehfehler, Folge der frühen Störung, trug zu einer Verhaltensunsicherheit bei, welche die homosexuelle Triebartikulation gewiß erschwerte. So besaß die Todesdrohung für Lorca eine komplexe Gültigkeit, die noch potenziert wurde durch ein latentes Schuldgefühl wegen des Interesses an der Männerliebe.
Dalí schilderte, wie sehr die Nekrophilie Lorca zu schaffen gemacht hat. Er berichtet, daß der Dichter voller Theatralik sein eigenes Ende gespielt habe, den fortschreitenden physischen Zerfall, das Schließen des Sarges und sogar das Holpern des Leichenwagens über die schlechtgepflasterten Straßen Granadas.

Danach richtete er sich auf und erschütterte unser Unbehagen mit einem rohen Gelächter, das seine überaus weißen Zähne entblößte. Wir verabschiedeten uns. Er blickte uns triumphierend nach, weil er seine Angst auf unsere Gruppe übertragen hatte, und ließ sich aufs Bett zurücksinken…

Der Tod als ein selbstinszeniertes Ereignis, dem man den Schrecken nimmt, indem man ihn minutiös durchspielt wie ein gewesenes Vorkommnis. Lorca, der Dichter des cante jondo, jener „unendlichen Tönungen des Schmerzes und der Pein“, hob sein tragisches Lebensgefühl nur phasenweise (hauptsächlich in den Canciones) durch Heiterkeit auf, um schließlich (in „Dichter in New York“, „Klage um Ignacio Sánchez Mejías“ und „Divan des Tamarit“) wieder jener Bitternis anheimzufallen, die nur durch eine Hinwendung zum Gestern gemildert werden konnte: „Von damals meine Augen, von neunzehnhundertzehn, / die haben nicht gesehen, wie man die Toten eingrub…“ Lorca war im wesentlichen ein nostalgischer Autor. Seine Zeit war eine Zeit, die bereits vergangen war. So blieb seine Stimmlage die eines Siguiriya-Sängers, und so besaß er ein bevorzugtes Symbol in der Gitarre, die zu spielen er schon als kleiner Junge gelernt hatte:

Seufzend gehn umher die Leute
mit weit offenen Gitarren.

Und:

Konkreter Traum ohne Nord
aus dem Holz der Gitarre.

Das Pathos Lorcas war das des Diminutivs. Die Angst wurde verdichtet zu einem winzigen Punkt. Indem der sensible Mann sich vollkommen in sich selber zurückzog und sich aus ästhetischen Ingredienzen ein psychisches Refugium schuf, machte er sich unauffindbar für das Vulgäre und Grobe:

Ohne sich zu finden.
Um seinen eignen weißen Torso reisend.
So ging die Luft…

Lorca, dessen Kreativität somnambule Fähigkeiten des Nacherlebens und des Vorausfühlens einschloß, empfand das Dasein als einen Alptraum, in dem sich – ähnlich wie in den parabolischen Visionen von Jorge Luis Borges – über einen dunkel-statischen Urgrund lediglich wechselnde dramatische Bilder schoben:

Richter und Zivilgardisten
kommen durch die Ölbaumhaine.
Und es seufzt verglittnes Blut,
stöhnt ein stummes Schlangenlied.
Meine Herrn Zivilgardisten:
„hier geschah, was stets geschieht.
Vier der Römer sind gefallen,
fünf Karthager liegen tot.“

Lorcas Vorstellung von der Geschichte als einer steten Wiederkehr des immer Gleichen erfüllte sich auf erschütternde Weise: im August 1936, kurz nach Ausbruch des Bürgerkrieges, als die politische Gegenwart die alten Muster aktivierte und der Dichter – zusammen mit anderen Häftlingen – ohne Grund und ohne Urteil erschossen wurde, in einer Schlucht bei Viznar, unweit von Granada.

Hans-Jürgen Heise, aus: Hans-Jürgen Heise (Hrsg.): Das Profil unter der Maske, Claassen Verlag, 1974

 

Rudolph Kieve: Federico García Lorca, Merkur, Heft 44, Oktober 1951

Jorge Guillén: Federico García Lorca, Merkur, Heft 175, September 1962

Hans-Jürgen Heise: Ein Andalusier wie kein anderer

Hans-Jürgen Heise: Lorca zwischen Granada und dem Kulturbetrieb

Hans-Jürgen Heise: Die Mörder waren keine Zivilgardisten. Dossiers zum Tod Federico García Lorcas.

Peter Jungblut: Darum wird im Mordfall García Lorca nicht mehr ermittelt

 

 

FEDERICO GARCÍA LORCA, 16.–19. AUGUST 36

schwarz/ den mond sah er nicht
mehr/ nur scheinwurftrübe
schemen/ der herren-
binder um den hals zu lose/ zwei
schwulenschüsse/ es war
eine art nach-
mord vonnöten, kein wort ist
wirklich überliefert. Am sonntag zuvor
muß er barfüßig (hose hemd damen-
jacket) mitgeflohen sein. Auf dem klavier
das namensherz, blieb ein Christus zurück. Nicht
ohne furcht soll er das haus in Granada

verlassen haben/ ein mandelgeschmack kind-
heit auf der zunge das grauen von Alfacar, 3 tage
später hatte etwas von morgenzauber/ Duende vom
Großen Brunnen her Saetastimmen ohne trommeln
banden schwarzes zitronengras/ vorgeahnt
in einem alptraum/ luna, luna (der mutter
erzählt) schatten-
mondin schwarz im halbgebet verhöhnung, ein maul-
tierkadaver und kopftropfenhonig (Dalí)
Ainadamar olivenhain/ trocken-
meermann ohne schuh/ gestrandet
schwarzverschleierte klageweiber
die mit schwarzen kreuzen drohten
(sie wollten keine schwulen
mehr und huren, geschweige einen dichterweichling). So
trug er New York zu felde
den fersen das hautmanuskript vor.
Der das erdloch aushob, Manolo el comunista,
sprach von einer vierten männerleiche
mit krawatte, wie die künstler
schleifen tragen beim spaziergang
oder im kaffeehaus/ „café, mucho café“/ die losung
hatte gelautet „Gebt ihm Kaffee, viel Kaffee“

schwarz/

José F.A. Oliver

 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + Kalliope + UeLEX

 

Zum 25. Todestag des Autors:

Salomé Kestenholz: Federico Garcia Lorca
Die Tat, 19.8.1961

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Sylvia M. Patsch: Die Stimme aus dem Innersten
Die Furche, 4.6.1998

Zum 85. Todestag des Autors:

 

 

Zum 125. Geburtstag des Autors:

Jens Grandt: Das andalusische Genie
nd, 4.6.2023

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + ErinnerungenIMDb +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA


Federico García Lorca – Porträt, Teil 1/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 2/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 3/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 4/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 5/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 6/7.

 

Federico García Lorca – Porträt, Teil 7/7.

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