Harald Hartung: Zu Ilse Aichingers Gedicht „Teil der Frage“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ilse Aichingers Gedicht „Teil der Frage“ aus Ilse Aichinger. Verschenkter Rat. –

 

 

 

 

ILSE AICHINGER

Teil der Frage

Hoch auf dem Platze steht das
Wasser,
die Luft steigt noch in Blasen,
doch was sie singen,
dringt
nicht mehr zu mir.
Die Fische kreisen um die Kirchentüren,
wer gibt mir
Antwort:
Soll ich in den Berg
oder ins Haus mit denen,
die mich lieben,
und den weiten Blick,
das Knirschen aller Schritte
noch einmal?
Wie
schwarz mein Land wird,
nur tief unten krümmt sich
grün die Zeit.

 

Dunkle Sintflut, schwarzes Land

Die gut neunzig Stücke, die Ilse Aichinger 1978 unter dem Titel Verschenkter Rat veröffentlichte, beschäftigen seither die Freunde der Poesie. Sie rühmen die Magie, das Rätselvolle ihrer Dichtung. Sie wissen aber auch, wie sehr sie an ein Leben gebunden ist, das dem Holocaust mit knapper Not entging. Die unvergessene Hilde Spiel schrieb, man könne ein Aichinger-Gedicht lieben, „ohne es völlig entschlüsseln zu wollen“.
„Teil der Frage“, ein Gedicht von 1959, ist eines der Gedichte, die beim Lesen eher rätselhafter denn klarer werden. Es beginnt mit einer sintflutartigen Katastrophe, einem überschwemmten Ort mit Platz und Kirche. Die Szene ist eher surreal als wirklich. Ihre wenigen Deutlichkeiten enden beim Ich, das hier spricht. Es ist ein Ich, das in einer unüberschaubaren Situation sich selber fraglich wird.
Denn was ist mit dem Singen, das mit den Luftblasen aus dem Wasser dringt? Ist es ein Singen von Sterbenden, das nicht mehr zu hören ist? Was ist mit den Fischen, die um die Kirchentüren kreisen – dringlich, als suchten sie Einlass? „Wer gibt mir Antwort“ – die Ratlosigkeit der Sprecherin ist zugleich die Eröffnung einer weiteren Frage.
Der erste „Teil der Frage“ ist vergleichsweise deutlich. Die Fragende sorgt sich um eine Zuflucht – für ihre Nächsten und für sich:

Soll ich in den Berg
oder ins Haus mit denen,
die mich lieben

Umso kryptischer ist der Fortgang des Satzes:

und den weiten Blick,
das Knirschen aller Schritte
noch einmal?

Dieses „noch einmal“ legt nahe, dass es Bedrohung und Verfolgung schon einmal gegeben hat. Und dass der „weite Blick“ das „Knirschen aller Schritte“ nicht verhindern konnte. Ob das immer schon so war oder ob hier eine historische Situation, etwa der Holocaust, gemeint ist, ist kaum zu entscheiden.
Aichingers Text ist ein Gedicht der Sorge, nicht der Anklage. So wendet sich auch der Schluss des Gedichts nicht ins Aktuelle, sondern ins Visionäre. Er entwirft ein Bild jenes Landes, das die Dichterin emphatisch „mein Land“ nennt. Sie sieht es, schreckensvoll staunend, in Verfinsterung sinken:

Wie schwarz mein Land wird.

Doch ehe diese Verfinsterung erreicht ist, deutet sich ein Umschlag an:

nur tief unten krümmt sich
grün die Zeit.

Wächst in der Gefahr das Rettende, selbst wenn es sich gestaltlos „krümmt“? Oder öffnet sich das endlose, in sich gekrümmte Raum-Zeit-Kontinuum der Relativitätstheorie? Dem tödlichen Schwarz antwortet ein lebendiges Grün. Wie behutsam die Dichterin davon redet! Mit einem „aber“ hätte Aichinger die Hoffnung billig gegeben. Sie belässt es beim „nur“, bei der Ambivalenz dessen, was sich da krümmt – als Hoffnung oder als Gefahr.
So hat das Gedicht allenfalls einen „Teil der Frage“ beantwortet. Offen bleibt, wie sich Gegenwart und Sintflut zueinander verhalten. Immerhin hilft uns zum Sintflut-Motiv die poetische Tradition weiter. Die Leser von Ovids Metamorphosen erinnern sich an die Sintflut-Schilderung im Ersten Buch. Da heißt es von den Landleuten, die sich zu retten suchen:

Der übersegelt sein Feld, wohl auch des versunkenen Hauses
Giebel, und dieser – er fängt einen Fisch im Wipfel der Ulme.

Weitaus näher liegt ein modernes Sintflut-Gedicht, dessen Entstehung Ilse Aichinger womöglich miterlebte. Vier Jahre vor „Teil der Frage“ schrieb Günter Eich, ihr Ehemann, das Gedicht „Wo ich wohne“. Es beginnt, deutlich auf Ovid anspielend, „Als ich das Fenster öffnete,/ schwammen Fische ins Zimmer, / Heringe. (…) Auch zwischen den Birnbäumen spielten sie.“ Das Gedicht malt die Sintflut-Situation absurd-komisch aus. So mit den Seeleuten, „die vielfach ans offene Fenster kommen / und um Feuer bitten für ihren schlechten Tabak“. Eich endet mit der resignativen Wendung:

Ich will ausziehen.

Übrigens zitiert er mit dem Titel „ Wo ich wohne“ ein Prosastück seiner Frau. Andererseits dürfen wir annehmen, dass sein Sintflut-Spuk Ilse Aichinger zu „Teil der Frage“ angeregt hat. Wir lesen ihr Gedicht als Kontrafaktur. Es setzt Eichs surrealer Groteske seine eigene rätselvolle Tiefe entgegen. Die Dichterin hat einmal erzählt, sie habe gelegentlich mit ihrem Mann an demselben Tisch geschrieben. Wir müssen das aber nicht für jedes ihrer Gedichte annehmen.

Harald Hartung, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsunddreißigster Band, Insel Verlag, 2013

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00