Heinrich Olschowsky (Hrsg.): Der Mensch in den Dingen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Heinrich Olschowsky (Hrsg.): Der Mensch in den Dingen

Olschowsky (Hrsg.)-Der Mensch in den Dingen

WAHRSAGUNG

Ich seh:
Von euren Wänden bleibt kein Stein,
Kein hohler Zahn von euren faulen Mündern,
Keine
(die euch ans Hemd eurer Frauen heftete)
Nadel,
Kein Stück von eurem Zaumwerk.

Ich seh:
Die Wortgießkannen, die ihr heut verehrt, eure Dichter, Kinder,
Werden den Fall des Abfalls sterben.

1924

Tadeusz Peiper
Übersetzung Karl Dedecius

 

 

DIE FORM DER NEUEN LYRIK

Die schnelle Entwicklung und Differenzierung der literarischen Gattungen im 19. Jahrhundert brachte die Poesie an die festumrissenen Grenzen, von denen sie heute umschlossen wird. Didaktisches Schrifttum, Epik, Dramatik – sie alle waren nach und nach von der ungebundenen Rede in Beschlag genommen worden, während die gebundene Rede sich als Lyrik sublimierte. Der Symbolismus vertrieb ein für allemal die episch-rationalistischen Motive aus der Poesie und konzentrierte diese auf den Ausdruck der Gefühle und ihrer Nuancen, der Stimmungen. Die moderne Poesie, die sich dann dem Erbe des Symbolismus widersetzte, bekehrte sich dennoch nicht wieder zu einer Intensivierung der gebundenen Rede durch Prosaismen. Versuche, wie sie in dieser Richtung von den Anhängern einer naiv aufgefaßten Agitationspoesie unternommen werden, sind offenkundiges Epigonentum alter, keineswegs wirksamer Didaktik und versprechen keinerlei Erneuerung.
Die neue Poesie hat nicht aufgehört, Lyrik zu sein, bringt Gefühle aber anders, künstlerisch wirkungsvoller zum Ausdruck, indem sie sie durch Poesie im Leser organisiert. Schon die Verbindung der Wörter und Sätze, der Aufbau der dichterischen Vision soll im Leser ein spezifisches „lyrisches“ Gefühl wecken, das seiner Natur nach in keinem Verhältnis zu dem (ihm entsprechenden) Gefühl im Leben steht, mit diesem jedoch auf tiefere Weise (die das Geheimnis der Form des Autors ist) verwandt und eben darum dessen tiefe Synthese ist.
Das ist das Prinzip der neuen Lyrik, ein Prinzip, das die in Polen so zahlreichen Epigonen des Symbolismus bisher noch nicht begreifen.
Es könnte scheinen, als sei das nichts Neues; schließlich ist in jedem Handbuch der Ästhetik der Satz zu finden, daß uns die Poesie und die Kunst überhaupt ästhetische Gefühle gibt. Worum also geht es den Neuerern? Es geht nicht um den Leser, sondern um den Schöpfer, den neuen Produzenten von Gemütsbewegungen. In der Psychologie des Schaffens ist eine wichtige Verschiebung erfolgt. Es genügt nicht mehr, „freimütige“, „unmittelbare“ Lyrik zu machen. Ausgangspunkt wird die Rücksicht auf das Kunstwerk, der Wunsch, dieses zum vollendeten Organisator der Gefühle des Lesers zu machen. Das bedeutet jedoch nicht, daß das lyrische Schaffen zum seelenlosen Experimentieren mit Wortmaterial wird. Das neue Schaffen hört durchaus nicht auf, Dokument des Geistes seines Autors zu sein, aber es wird es auf andere Weise sein als bisher. Psychische Voraussetzung des Gedichts ist der jedesmalige Wille des Autors, seine Emotionalität in synthetische Kürze zu fassen. Dieser Wille kann seinen Ausdruck nur in der Komplikation der poetischen Mittel finden und verhält sich zur „Einfachheit“ der einstigen unmittelbaren Lyrik wie der Bau eines modernen Flugzeugs zu dem einer Postkutsche. Diese Verlagerung der Inspiration, d.h. der schöpferischen Anstrengung, vom Subjekt auf das Objekt ist eine grundlegende Revolution des modernen Empfindens. Die so verstandene Poesie ist kein Auffangbecken, persönlicher Bekenntnisse mehr; der moderne Dichter will den Leser nicht durch Schmeichelei und das Kokettieren mit eigenen „Herzensergüssen“ bewegen, sondern durch zielgerichtete Organisation der poetischen Vision. Diese gezielte Organisation äußert sich in neuen Mitteln der Wortverbindung, in einem neuen Satzbau, in einer neuen Ordnung der Sätze. Einen höheren Wirkungsgrad der Sprache, dieses allersozialsten Werkzeugs, zu erzielen – das ist objektiv der soziale Wert der Poesie.1 Die moderne Poesie ist das Laboratorium zur Erfindung immer leistungsfähigerer Mittel des sprachlichen Ausdrucks. Das Zufällige der Inspiration hat aufgehört, Grundlage des poetischen Schaffens zu sein. Nicht der mechanische Abdruck und die passive Grimasse des eigenen lyrischen Gesichts – sondern autonomes, „reines“ Bilden.2
Dieses nicht beschreibende, dieses aktive Verhältnis zu den eigenen Gefühlen hat dem modernen Dichter den Bruch mit den bisherigen Schemata des Gedichtaufbaus ermöglicht. Schaut euch den Aufbau der lyrischen Verse an, wie sie von den Epigonen verfaßt werden. Die Art und Weise, in der das Gedicht sich entwickelt, bleibt sich ewig gleich, wiederholt sich in hunderten mechanischen Kopien. Grundlage der Entwicklung des Verses ist entweder die Erzählung, die chronologische Anordnung der Ereignisse, oder die Beschreibung, die Aufzählung der Objekte. Verblüffend ist die Ratlosigkeit, die die Dichter gegenüber ihren Gefühlen zeigen. Statt sie auszudrücken, erzählen sie sie oder beschreiben sie in ihren äußeren Symptomen. Wir wollen annehmen, daß die Lyrik ihr Terrain im irrationalen Reservat der Seele hat. Die Methoden seiner Nutzung müssen sich von Grund auf von den Ausdrucksmitteln unterscheiden, wie sie von der Prosa, der Sprache der logischen Formulierung und der Beschreibung, verwendet werden. Indessen überträgt man in die Lyrik gerade diese prosaistischen Bauweisen, die von höchster Passivität und geringster Wirkung sind.
Welchen Aufbau finden wir außerdem am häufigsten in den Versen der Epigonen? Wenn der Dichter nicht erzählt oder beschreibt, dann sammelt er „Gedanken“. Es sind Quasi-Denkvorgänge, sogenannte Reflexion, die am Ende auf den allgemeinsten und vorgeblich stärksten Satz zustrebt, der das Ganze als sogenannte Pointe beschließt. (Die Leute, die solche Pointen setzen, begreifen nicht, daß in einem guten Gedicht jeder Satz den Wert einer Pointe haben muß.) Wir treffen solche Gedichte jedoch seltener an als den gemischten Typ: Beschreibung und Reflexion (besonders geheiligt im Sonett). Diese plumpe Art, sich der Beschreibung aufzupfropfen, erinnert an die am Schluß der Fabeln gezogene Moral und reicht in ihrem Einfallsreichtum zurück in Äsops Zeiten. Zu den alten Mitteln gehören auch alte Schemata wie die Steigerung, der Kontrast usw., wenngleich sie wegen ihrer „Innatürlichkeit“ schon eher poetisch sind, weil sie stärker dem Willen des Autors unterliegen und stärker an dessen Willen appellieren.
Der Futurismus hat bewiesen, daß die bisherigen Mittel, den „Inhalt“ zu ordnen, durchaus nichts Unwandelbares, Natürliches sind, das sich aus sich selbst versteht. Die zeitlich-räumliche Abfolge wurde von den Futuristen ersetzt durch das Prinzip der Synchronie, der Komprimierung mehrerer verschiedenzeitlicher und verschiedenräumlicher Inhalte in einem literarischen Augenblick. Das äußerte sich in der Zerschlagung der bisherigen logisch-grammatischen Ordnungen und führte zu freien Wörtern. Diese radikale antigrammatische Revolution machte den Assoziationismus endgültig seßhaft als dauernde Errungenschaft des lyrischen Aufbaus.
Der Assoziationismus ist ein Kennzeichen der gesamten zeitgenössischen Poesie Frankreichs. Die Anordnung der Sätze nicht nach ihrer logisch geordneten oder zeitlich-räumlichen Abfolge hat ihren Ursprung in dem Wunsch, mit dem Ausbruch des Gefühls unmittelbar Schritt zu halten. Wir verwerfen den starren, ordnenden Gedanken der Schablone und stellen uns ein auf die unbewußten, instinktiven Regungen des Unterbewußtseins: Stimmen wir aber darin überein, daß die irrationale Sphäre unserer Psyche sich auf die oftmals im Unterbewußtsein verborgenen Instinkte stützt, so wäre diese Methode gieriger Griffe nach Assoziationen das Streben nach einer Unmittelbarkeit des lyrischen Ausdrucks, die nicht unser Ideal ist.
Dieses Streben verlangt jedoch viel Aktivität und schöpferischen Willen; der Assoziationismus fordert, indem er der passiven, weitschweifigen Beschreibung den Garaus macht, wider Willen zur Konstruktion auf.
Der Assoziationismus besitzt viele poetische Vorzüge. Erstens hat er die alten Bauschablonen zerbrochen und deren starre Banalität bloßgelegt. Dieses sein negatives Verdienst ist eines seiner wichtigsten. Zweitens: Indem er dem Dichter das Joch versteinerter Ordnungen abnahm, gestattete er eine außerordentliche Leichtigkeit der Phantasie, die Zusammenführung und Annäherung weit entlegener Visionen.
Durch die Absage an die alten Ordnungen legte der Assoziationismus die Fundamente für das moderne Prinzip der Wahl dessen, was für das Kunstwerk wesentlich, essentiell ist; er ermutigte die Dichter, die vermittelnden Bestandteile des Aufbaus abzuschaffen, Verbindungen und Übergänge zu streichen. Die Komprimierung des Inhalts, die unser Ideal ist, wäre ohne, die Leistungen des Assoziationismus nicht möglich. Auf dem Boden seiner ungeordneten Tendenzen baut die moderne Lyrik ihre visionären Hebewerke.

Julian Przyboś, 1931, Linia

 

 

 

Die Krakauer Avantgarde: Geschichte und Nachwirkung

Die Avantgarde-Bewegungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sind eine gesamteuropäische Erscheinung mit einer eigenen Geschichte. Am Charakter dieser Bewegungen und ihren Schicksalen liegt es, daß sie auch gegenwärtig noch als etwas Unabgegoltenes erscheinen. Die verstärkte Beschäftigung mit der Avantgarde, die sich seit den siebziger Jahren in der DDR bemerkbar macht, hat unverkennbar eine historische und eine aktuelle Dimension. Dem historischen Interesse, das darauf zielt, Selbstverständnis, Bedingungen und Ergebnisse der Kunsterneuerer jener Jahre jenseits vorschneller Schlagworte freizulegen, gesellt sich ein aktuelles hinzu. Es mündet in die Frage: was aus den avantgardistischen Werken und Ideen für die Kunstproduktion und -reflexion in der Gegenwart zu gewinnen sei. Um beide Fragen beantworten zu können, muß zunächst die Voreingenommenheit aufgegeben werden, die Avantgarde wie eine Kinderkrankheit zu behandeln, die, ein Künstler halt durchmacht, aber tunlichst rasch und ohne Spuren hinter sich bringen sollte. Des weiteren bedarf es einer sorgsamen Zuwendung zum reich gegliederten historischen Material, mithin breit angelegter Übersichten über literarische Fakten und Vorgänge. Gerade im osteuropäischen Raum gibt es in dieser Hinsicht für den deutschen Leser noch manches Überraschende zu entdecken. Dem will die vorliegende Sammlung von Programmtexten und Gedichten entgegenkommen. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf den in Deutschland unbekannten literarischen Konstruktivismus in Gestalt der sog. Krakauer Avantgarde. Die Schwerpuhkre, nach denen das Material ausgewählt und gegliedert wurde, charakterisieren zum einen die Besonderheiten einer Bewegung in Polen und möchten zum anderen den aller Avantgarde gemeinsamen Zusammenhang von Kunst- und Lebenserneuerung verdeutlichen.

 

Literaturhistorischer Ort der Krakauer Avantgarde
Mit dem Namen Krakau verbindet sich gemeinhin die Vorstellung einer glanzvollen Tradition, nicht aber die einer Kunsterneuerung. Und doch nahmen zweimal in diesem Jahrhundert künstlerische Aufbrüche in Krakau ihren Anfang. Gewiß mehr als ein Zufall. In der alten Königsstadt, wo zwischen Wawel, Tuchhallen und Marienkirche die historische Tradition sich würdig und gleichsam verdichtet darstellt, war auch der Druck der kulturellen Überlieferung, erstarrter Gewohnheiten am empfindlichsten zu spüren. Wahrgenommen haben ihn die Künstler um die Jahrhundertwende.
Als die Bürger der Stadt und der Adel der Provinz Galizien 1873 ihren Frieden mit der geschwächten Teilungsmacht Österreich gemacht und relative Autonomie erlangt hatten, bekam auch die Tradition eine neue Aufgabe. Die Autonomie bewahrte dem Adel und der Aristokratie die beherrschende Stellung, gewährte mehr nationale Selbständigkeit in Schule, Verwaltung und Kultur und wurde mit Loyalität gegenüber der Monarchie entgolten. Die verhältnismäßig liberale Herrschaft Wiens erzeugte in Galizien ein kulturelles Klima, das auf andere Landesteile ausstrahlte. Krakau wurde zum bevorzugten Ort für nationale Gedächtnisfeiern. Ein Chronist (Tadeusz Boy-Żeleński) schildert es um 1900 als eine Kleinstadt mit dem Anspruch einer Residenz und 56.000 Einwohnern. Die große historische und kulturelle Vergangenheit, die hier mit den Händen zu greifen war, verwandelte die Stadt in ein „Mausoleum Polens“. Es entwickelte sich ein Gespür fürs Dekorative; die Tradition sollte den behäbigen Alltag schmücken, nicht beunruhigen. Immerzu wurde etwas gefeiert:

eine Ernennung zum Doktor sub auspiziis Imperatoris, der Dritte Mai, die Beisetzung Mickiewicz’ auf dem Wawel, der Besuch des Erzherzogs.

Nirgends lebte man so sehr in der Phantasie und so wenig in der Realität wie in Krakau. Hier war das Leben ein beständiger Traum, ein Zuschauen, imaginäre Teilnahme an Krönungsfeiern
.3

Des sozialen Inhalts entleert, blieb von den nationalrevolutionären Erhebungen des 19. Jahrhunderts, von dem kritischen Anspruch der Romantiker (Mickiewicz, Słowacki) nur wenig mehr als das patriotische Schlagwort und pomphafte Heldenverehrung übrig. Vielerlei Umstände – die künstlerische Leistung, die kulturellen Verhältnisse und die politische Lage des Landes – trugen dazu bei, daß die Romantik, die führende literarische Strömung im 19. Jahrhundert, auch zur wichtigsten Tradition der polnischen Literatur im 20. Jahrhundert wurde. Deren Funktionsauffassung, daß die Literatur stellvertretend für den fehlenden eigenen Staat vor allem Anwalt der Nation zu sein habe, war historisch gerechtfertigt. An der Schwelle des 20. Jahrhunderts wurde sie jedoch von den Künstlern des Jungen Polen (1890–1918) als problematisch empfunden. Es war der Umgang mit der Romantik, der zum Widerspruch herausforderte. Die einen empörte der historische Reliquienkult, der den tatsächlichen Verzicht auf nationale Unabhängigkeitsbestrebungen zudeckte (Stanisław Wyspiański). Andere (Stanisław Przybyszewski) empfanden es als unerträglich, daß die konservativen Führer der öffentlichen Meinung unter Berufung auf den nationalen Dienst der Romantiker den Künstlern didaktische, moralische und religiöse Beschränkungen auferlegten. Eine verengte Dienstauffassung, die verlangte, durch harmonische oder heroische Bilder zur nationalen Erbauung beizutragen, verstellte der Literatur um die Jahrhundertwende eher den Blick auf die sozialen Widersprüche, die im Revolutionsjahr 1905 als offener Konflikt ausgetragen wurden. Und überdies isolierte ein so verstandener nationaler Auftrag sie von den geistigen Bewegungen im übrigen Europa. Dagegen wandte sich die literarische Partei um Przybyszewski (1868–1927) und forderte die Autonomie der Kunst, ihre Befreiung von jeglichen außerkünstlerischen Rücksichten:

… die belehrende, die patriotische Kunst, Kunst, die ein moralisches oder gesellschaftliches Ziel hat, hört auf Kunst zu sein.4

Wie überall in Europa riefen sie: Evviva l’Arte, erhoben die Kunst zu einer neuen Religion und schockierten im übrigen die gutbürgerlichen Gemüter mit ihrem bohemehaften Lebensstil. Davon nährte sich lange die literarische Legende. Die Forderungen nach Autonomie fanden indessen wenig Widerhall; die fortdauernde nationale Unfreiheit stand ihnen entgegen. Erst als 1918 die Eigenstaatlichkeit wiedererlangt wurde, haben sich die Bedingungen der Literaturentwicklung in Polen grundlegend verändert. Und schon bald nahm in der alten Königsstadt eine Bewegung ihren Anfang, die unter der Bezeichnung Krakauer Avantgarde bekannt geworden ist.
Die nationale Unabhängigkeit ließ die sozialen Gegensätze unverhüllter hervortreten, und die bewegte politische und gesellschaftliche Wirklichkeit forderte zu radikaleren Träumen von der Veränderung der Welt heraus, zumal kein entlastendes Argument mehr zur Verfügung stand, die Analyse der tatsächlichen Zustände im eigenen bürgerlichen Staat zu vertagen. Das führte zu einer Polarisierung der Standpunkte im kulturellen Leben. Jetzt erst kam der enorme wissenschaftliche und technisch-zivilisatorische Fortschritt des Jahrhunderts der polnischen Intelligenz voll zu Bewußtsein, ihre Hoffnung nährend, daß es mit seiner Hilfe gelingen würde, den Anschluß an die moderne Entwicklung rasch zu gewinnen. Vertreter verschiedener Generationen und literarischer Richtungen begrüßten – unbeschadet ihrer Differenzen – die Unabhängigkeit als eine geschichtliche Wende. Die Überzeugung, daß die neue Gegenwart auch einer ihr gemäßen Poesie bedürfe, setzte eine Suche nach Neuerungen in Gang, bei der es vor allem um die Erarbeitung eines zeitgemäßen Verständnisses von der Funktion der Poesie in der Gesellschaft ging. Der nationale Auftrag in seiner Ausschließlichkeit kam dafür nicht mehr in Betracht; einmal war er geschichtlich abgegolten, zum anderen empfand man die eigene Staatlichkeit gerade als Befreiung der Literatur von dem Zwang, stets das polnische Schicksal vorzuführen, statt das menschliche zu gestalten, wie es Żeromski 1916 formulierte.
In diesen Zusammenhang gehören die historischen Avantgarde-Bewegungen, die zwischen 1917/18 und 1939 aufgetreten sind und deren Merkmale auf  Verwandtschaft mit vergleichbaren europäischen Strömungen verweisen. Die innovatorische Leidenschaft der historischen Avantgarde, darüber herrscht allenthalben Einigkeit, erschöpfte sich nicht darin, einen neuen Stil zu kreieren. Am Kern ihres Anliegens ginge auch vorbei, wer es mit der immanenten Erneuerungstendenz aller Literatur- und Kunstentwicklung gleichsetzte. Ihr Ehrgeiz reichte weiter. Nicht einen neuen Stil, sondern einen neuen Status der Kunst in der Gesellschaft, den Entwurf einer Kultur faßte sie ins Auge, die durch Überwindung bürgerlicher Kulturverhältnisse entstehen sollte. Nicht ohne utopischen Überschuß „erlangte die Idee der Zusammenführung von Kunst- und Lebenserneuerung eine entscheidende Bedeutung.“5 Der Zeitpunkt ihres Auftretens in der Periode, da die Ablösung des Kapitalismus auf die geschichtliche Tagesordnung trat, stiftete einen unabweisbaren Zusammenhang zwischen der antibürgerlichen Grundtendenz radikaler Kunsterneuerung und der sozialen und kulturellen Emanzipation des Proletariats. Historische Wirklichkeit erlangte er in den wechselnden Figuren von Kooperation und Konflikt.
Die antibürgerliche Einstellung teilte die Avantgarde, insbesondere ihr linker Flügel, mit allen Künstlern, die sozialistischen Ideen verpflichtet waren. Sie unterschied sich von ihnen aber dadurch, daß sie die Aufgabe der Kunsterneuerung nicht als etwas Äußerliches, Beliebiges betrachtete, das zu der Lebensveränderung hinzukommen kann, aber nicht muß. Umgekehrt: Struktur und Status der Kunst zu verändern, erschien ihr als zwangsläufiger Ausdruck des gesellschaftsverändernden Anliegens und als wirkungsvolles Instrument seiner Durchsetzung.

In den Augen jedes Avantgarde-Künstlers stellt sich die Parallele zwischen der gesellschaftlichen Revolution und der formalen Revolution  mit unbezweifelbarer Evidenz her.6

Es war die geschichtsphilosophische Grundannahme der Avantgarde, daß zwischen der herrschenden Kunstform und dem prägenden Inhalt der Epoche eine strukturelle Entsprechung bestehe. Folglich sei es möglich und notwendig, Kunst- und Gesellschaftsveränderung zu synchronisieren, wenn nicht gar durch die erste letztere zu betreiben. Diese Annahme hat die Avantgarde beflügelt, und sie war zugleich ihre Achillesferse.
Die allgemeinen avantgardistischen Ideen haben in Abhängigkeit von den jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen regional und national unterschiedliche Funktionen erfüllt. So verhält es sich auch mit dem Konstruktivismus; einer Bewegung, deren besondere Ausprägung die Avantgarde in Osteuropa deutlich von der westeuropäischen unterscheidet, worauf George Grosz und Wieland Herzfelde 1925 hingewiesen haben7 und was durch spätere Forschungen (Endre Bojtar, Harald Olbrich) bestätigt wurde. Für die agrarischen Gesellschaften Ostmitteleuropas waren die zwanziger Jahre eine Zeit des Bauens, beschleunigter Industrialisierung und angestrengter Urbanisierung – unter kapitalistischen oder, wie in der Sowjetunion, sozialistischen Bedingungen. Dadurch erhielt der Impuls der konstruktivistischen Ästhetik, mit Hilfe moderner Technik eine zweite, vollkommnere Natur zu errichten hier ein soziales Bezugsfeld, das ihm größere Konsequenz abverlangte und größere Produktivität sicherte.
Die Krakauer Avantgarde stellt eine originäre Spielart des Konstruktivismus in der Literatur dar. Sie deckt nicht das gesamte Feld innovativer Bestrebungen der polnischen Literatur ab. Ihr Konzept aber war das kohärenteste und folgenreichste, es verband poetologische, kulturtheoretische und gesellschaftliche Erwägungen schlüssig miteinander. Es gab daneben weitere Gruppen in Warschau und Poznań. Ihr am nächsten standen die Futuristen (Bruno Jasieńśki, Tytus Czyżewski, Anatol Stern, Aleksander Wat), die stärker vom russischen als vom italienischen Futurismus inspiriert waren und aus denen die kurzlebige Gruppe Nowa Sztuka (Neue Kunst) hervorging.
Den anderen Flügel bildeten die unter deutschem Einfluß stehenden Expressionisten und die „Formisten“. Auf dem expressionistischen Flügel dominierte die Auffassung, daß die moderne Zivilisation die geistigen Werte und metaphysischen Empfindungen des Menschen zerstöre, daß sie „unabwendbar auf eine Technisierung des Lebens und eine Vermassung der Kultur hinauslaufe, welche dem Künstler wenig Chancen läßt.“8 In gestalterischer Hinsicht wurden die Mittel des Grotesken, Absurden, Tragikomischen bevorzugt. Dafür stehen Namen wie der Philosophierende Maler, Dramatiker und Romanautor Stanisław Ignacy Witkiewicz (Witkacy), der Literaturkritiker Jan Stur, der Maler, Philosoph und Mathematiker Leon Chwistek.
Die zeitliche Entfaltung der polnischen Richtungen läßt sich in drei Abschnitte unterteilen. Von 1917 bis 1923 dauerte die Zeit des Aufbruchs, ein gleichrangiges Nebeneinander unterschiedlicher Standpunkte, in dem die Futuristen am stärksten auffielen. Ab 1923/24 verloren Futurismus und Expressionismus ihren Schwung, einige ihrer Erfahrungen blieben ungenutzt, andere wurden in das nun dominierende Modell der Krakauer Avantgarde einbezogen. Deren Zusammenhalt dauerte bis Anfang der dreißiger Jahre fort. Zwischen 1933 und 1939 ging es dann nicht mehr vorrangig um die Originalität eines bestimmten Konzepts, alle neuen Kunstformen wurden entschieden auf ihr Vermögen geprüft, in die politischen Auseinandersetzungen progressiv eingreifen zu können.
Dem Kreis der Krakauer Avantgarde gehörten folgende Autoren an: Tadeusz Peiper (1891–1969), Julian Przyboś (1901–1970), Jan Brzękowski (1903–1983), Jalu Kurek (1904–1983) und zeitweilig Adam Ważyk (1905–1982). Ihr Organ war die von Peiper geleitete Zeitschrift Zwrotdica (Die Weiche), die in zwei Folgen 1922/23 und 1926/27 in Krakau erschien. Zu Beginn der dreißiger Jahre gründeten Przyboś, Brzękowski und Kurek die Zeitschrift Linia (Die Linie, 1931–1933), an der Peiper nicht mitarbeitete. Sie behielten die allgemeinen Grundsätze der Zwrotnica bei, brachten aber ihre von Peiper abweichenden individuellen Poetiken stärker zur Geltung. War Peiper der führende Kopf der Krakauer Avantgarde bis in die dreißiger Jahre, so wurde Przyboś zur poetischen Schlüsselfigur ihrer Nachwirkung nach dem zweiten Weltkrieg. Die Äußerungen beider bilden den Kern dieser Auswahl.
Wegen seiner Rolle als programmatischer Kopf galt Peiper als „Papst der Avantgarde“ in Polen. Vor dem ersten Wehkrieg hatte er an den Universitäten Krakau, Berlin und Paris studiert. Die Zeit des Krieges verbrachte er als damaliger österreichischer Staatsangehöriger im neutralen Spanien, wo er Kontakte u.a. zu Manuel de Falla, dem Lyriker Vincente Huidobro, dem Maler Robert Delaunay knüpfte. Er schrieb Beiträge für die Zeitungen El Solfl und La Publicidad und nutzte die Gelegenheit zur intensiven Beschäftigung mit der Dichtung Góngoras, mit der der spanischen Moderne und der französischen Symbolisten. Nach seiner Rückkehr nach Polen im Jahr 1921 schloß er sich zunächst den Futuristen an, mit denen ihn mancherlei verband: die kritische Einstellung zur Romantik, Bejahung einer gegenwärtigen und diesseitigen Kunst, Kampf gegen fruchtlose Bewunderung musealer Kulturleistungen. Die anarchische Bilderstürmerei der Futuristen, ihre Strategie des Skandals hatte eine gleichsam notwendige Flurbereinigung besorgt, für ein konstruktives Programm taugte sie wenig. In dem Maße, wie Peiper ein solches Programm in der eigenen Zeitschrift zu entwickeln begann, setzte er sich mehr und mehr vom Futurismus ab. Seine Auffassungen brachte er später in zwei Sammlungen von Aufsätzen heraus: „Neuer Mund“ (Nowe usta, 1925) und „Hierherum“ (Tędy, 1930).
Die Zwrotnica zog bald die dichtenden Studenten Przyboś, Brzękowski und Kurek in ihren Bann. Die Zeitschrift mußte sich an mehreren Fronten gleichzeitig behaupten. Staatliche Zuwendungen bekam sie nicht, und wegen ihres unregelmäßigen Erscheinens war sie für Anzeigen aus der Wirtschaft nicht interessant genug. Das bescheidene Portemonnaie des Herausgebers Peiper bzw. die mühsam abgeknapsten Beiträge der Mitstreiter mußten ihre stets anfällige Existenz finanziell sichern. (Ähnlich erging es später der Linia.) Das Blatt benötigte dringend einen stabilen Leserkreis, der aber aufgrund seines hohen Anspruchs nicht leicht zu gewinnen war, zumal es viele Konkurrenten auf dem Literaturmarkt gab. Am „gefährlichsten“, so erinnerte sich Jalu Kurek, waren die Skamandriten eine künstlerisch einflußreiche Warschauer Dichtergruppe, der bedeutende Talente wie Julian Tuwim, Antoni Słonimski, Jarosław Iwaszkiewicz, Kazimierz Wierzyński und Jan Lechoń angehörten.9 Ihre beherrschende Stellung in dem florierenden literarischen Magazin (Wiadomości Literackie) und in der Lesergunst erreichten sie nicht zuletzt durch gemäßigte Abwandlung der jungpolnischen (neuromantischen) Muster. Außer dem Grundsatz der Begabung erachteten sie keinerlei programmatische Festlegung für sich als verbindlich. Demgegenüber hatte es die Zwrotnica schwer, mit ihren Programmen und Gedichten an die Leser heranzukommen, deren Gewohnheiten mehrheitlich durch die romantische Poesie geformt waren.
Die literarische Öffentlichkeit stand den Neuheiten zurückhaltend bis abweisend gegenüber. Der Traditionalismus erfreute sich in Polen besonderer Autorität. Veränderungen am Althergebrachten nicht zu dulden, das hatte in der Vergangenheit als Verdienst gegolten, weil die kulturelle Identität der Nation vor drohender Überfremdung zu schützen war. Noch in unserem Jahrhundert war die Kultur in der polnischen Gesellschaft ans „Kultische“ gebunden; den Kult der Tradition, der geschichtlichen Vergangenheit, der nationalen Heiligtümer – was ihr einen rituellen Charakter verlieh. Entsprechend unduldsam waren die traditionsbewahrenden Mechanismen, die alles auszuschließen trachteten, was den rituellen Umgang mit Kultur anzutasten drohte.
Zu ihnen gehörte die politische Zensur, die alle revolutionären Ideen verfolgte und für die Kunsterneuerung einen notorisch linken, „bolschewistischen“ Einschlag besaß. Peiper hat sie zu spüren bekommen, als 1931 sein Poem „Na przykład“ (Zum Beispiel) wegen der Szenen, die die Mißhandlung politischer Gefangener zeigen, und obendrein wegen Pornographie konfisziert wurde. Als noch beschwerlicher erwies sich daneben manchmal die „Sittenzensur“, die ganze Bereiche des öffentlichen Lebens tabuierte – von der Religion über die Erotik bis zur Rechtschreibung. (Wegen Gotteslästerung in einem Gedicht wurde der Futurist Anatol Stern 1920 zu einem Jahr Festung verurteilt. Die „Verbreitung obszöner Darstellung“ in der Erzählung „Zenobia Palmura“ von Iwaszkiewicz brachte dem verantwortlichen Redakteur drei Wochen Arrest ein. Die orthographischen Eigenwilligkeiten der Futuristen wurden im Parlament als Schädigung der nationalen Bildungsanstrengungen und Beleidigung der guten Sitten angeklagt.)
Fiel mal ein Angriff aus den Reihen der Avantgarde auf ein anerkanntes „Heiligtum“ der Literatur etwas scharf aus (wie die Polemik von Przyboś gegen Kasprowicz, die als Attacke auf dessen religiöse Dichtung ausgegeben wurde), so schritten die Buchhändler als selbsternannte Kunstwächter zum Boykott; statt die Zwrotnica den Käufern anzubieten, versteckten sie sie unter dem Ladentisch!
Durchaus nicht als kuriose Meinung eines Außenseiters ist zu vermerken, was ein Kritiker über Przyboś’ Gedichtband Śruby (Schrauben, 1925) äußerte: Der Mann habe Talent, „aber wie kann er nur Gedichte über die Stadt machen! Das Dorf allein ist ein Gegenstand für Poesie!“10 Was hier konservativer Geschmack sein mochte, klang von der äußersten Rechten als ein politisches Programm:

Erweckt werden muß das Herzstück künftiger Kultur, das alte, heilige Nest unserer Vergangenheit: der polnische Adelssitz.11

Die skizzierten Kulturverhältnisse verdeutlichten, wie mannigfach die Denkhorizonte waren, die die Avantgarde zu überschreiten suchte, und welche besondere ideologische Funktion ihrer Arbeit zukam.

 

Die gesellschaftlichen und kulturellen Ausgangspunkte des Programms
Das Jahr 1918 bedeutete eine Wende. Der wirkliche eigene Staat tilgte auf ernüchternde Weise den Traum von ihm, den zu hegen und auszumalen alle voraufgegangene Literatur seit den Teilungen, Ende des 18. Jahrhunderts, sich verpflichtet sah. Nun hatte die Literatur ihre Stellung in der Gesellschaft neu zu bestimmen, und zwar unter Voraussetzungen, die denen anderer Länder Europas vergleichbar waren.
Peipers Versuch, die Ausgangslage nach der Oktoberrevolution und dem Weltkrieg zu umreißen, beschränkte sich nicht mehr nur auf die nationalen Gegebenheiten. Er sah eine Welt im Entstehen begriffen, mit neuen Staatsgründungen und veränderter „sozialer Geologie“, die das Antlitz des Jahrhunderts prägen sollte.
Jene universalen Wandlungen im Blick, versuchte er die charakteristischen Grundzüge der Epoche zu erfassen und daraus kulturelle Aufgaben für sein Land abzuleiten. Diese Betrachtungsweise war für Polen so ungewohnt, daß sie den bis heute fortgeschleppten Einwand hervorbrachte, Peiper sei durch seinen Spanien-Aufenthalt der Bewußtseins- und Gefühlslage seiner Landsleute entfremdet worden. Deshalb habe sein Konzept, das westeuropäische, fremde Kunsterfahrungen verarbeitete, die meisten der nach 1918 beginnenden Dichter gar nicht erreichen können.
Wodurch sah Peiper die gegenwärtige Epoche bestimmt? Seine Losungsworte „Stadt. Masse. Maschine“ waren von den futuristischen noch wenig unterschieden. Sie zeigen eine besondere Aufmerksamkeit für städtische Lebensformen, für die politischen Massenbewegungen als gestaltende Kräfte der modernen Gesellschaft und die Begeisterung für den technisch-zivilisatorischen Fortschritt. Urbanisierung und Industrialisierung werden als positive Vorgänge gesehen. Die Zivilisationsbegeisterung, die in der tatsächlichen Zurückgebliebenheit des Landes wurzelte, schloß auch viel an sozialer Zuversicht ein. Sie fußte auf der rationalistischen Utopie, daß Fortschritt stetige Unterwerfung der Natur durch Kultur bedeute und daß er folglich allein von der Vernünftigkeit gesellschaftlicher Organisationsformen und dem Entwicklungsstand technischer Mittel abhinge. Der Einfluß der positivistischen Idee von einer organischen Entwicklung der Gesellschaft ist hierbei nicht zu übersehen. Das Stichwort „Masse“ meint einen arbeitsteiligen, funktionalen Gesellschaftsorganismus, den Peiper durch den „wachsenden politischen Einfluß des Volkes“ bereits in einen Demokratisierungsprozeß hineingerissen sah. So ist weniger von sozialen Kämpfen als vom Bauen die Rede.
Was nun die Kunst angeht, so bindet sie Peiper zuallererst an die Gegenwart, nicht an die kalendarische, sondern an die physiognomische „Jetztzeit“. Der veränderten und veränderlichen Wirklichkeit hat sie sich zu stellen, will sie an deren jetziger und zukünftiger Gestalt mitwirken. Sie muß den neuen Lebensverhältnissen gerecht werden und für sich als Kunst Gewinn daraus ziehen. Das erreicht sie nicht, wenn sie sich als einen ausgegrenzten, klösterlichen Bezirk betrachtet, der sich dem Knurren der ökonomischen und sozialen Eingeweide der Gesellschaft verschließen dürfe. Denn nicht innerhalb, außerhalb der Kunst liegt ihre letzte Begründung. Sie verfehlt ihren Auftrag ebenso, wenn sie, wie die polnischen Futuristen es forderten, in der Wirklichkeit gänzlich aufgeht. Sosehr die Kunst des Anstoßes aus der Lebenspraxis bedarf, ihr Ziel muß ein originär künstlerisches bleiben. Eine dialektische Betrachtungsweise schält sich heraus: Die Kunst schöpft aus den Tatsachen und Bewegungstendenzen der Wirklichkeit, welchen Gebrauch sie allerdings davon macht, unterliegt ihrer souveränen Entscheidung.
Zwei Wege stehen ihr dabei offen. Sie kann die Merkmale der urbanen Welt thematisieren, gleichsam einen Austausch der Requisiten vornehmen; anstelle von Nachtigall und Dorfweiher Straßenbahn und Fabrik setzen. Oder sie geht einen anderen, von Peiper bevorzugten Weg; sie entdeckt in der Wirklichkeit Strukturen, aus denen sich methodische Anweisungen für die künstlerische Arbeit ableiten lassen. Zum Beispiel gilt der Grundsatz, Chaos in Ordnung zu überführen, für alles Bauen wie für die Kunst. Ähnliches gilt für den funktionalen Zusammenhang unterschiedlicher Elemente in einem geordneten Ganzen oder für die Ökonomie im Verhältnis von Mittel und Effekt. Das massenhafte Kunstpublikum verlangt adäquate Kunstformen, die auch technische Erfindungen in ihren Dienst nehmen, ohne sie zu ihrem Götzen oder Meister zu machen.
Bei aller Sorgfalt, mit der Peiper die komplizierten Vermittlungsstufen beschrieb, entging er nie ganz der Gefahr, den Unterschied einzuebnen, der ein und demselben Prinzip anhaftet, je nachdem, ob damit Kunstmaterial oder Lebenspraxis organisiert wird. Insbesondere seine aphoristischen Formulierungen legen solche Kurzschlüsse nahe.
Die von großer Weltoffenheit und scharfem Empfinden der eigenen Zeitgenossenschaft diktierten Vorstellungen der Zwrotnica stießen auf Widerstand bei den Verteidigern des nationalen Charakters der Kunst, die im Grunde auf dem Gegensatz: polnisch-europäisch beharrten. Die Motive, die diese dabei beseelten, reichten von dem denunziatorischen Vorwurf des Plagiats europäischer Muster, über gewöhnliche Abneigung gegen alles Neue und Fremde, bis zur Sorge, die städtische Zivilisation werde die nationale Kultur modisch überfremden. Letzteren Standpunkt vertrat Stefan Żeromski, der u.a. die Bindung an die bäuerliche Kultur als zukunftsträchtige Inspiration der nationalen Kunstentwicklung empfahl. Dem widersprach Peiper, indem er nicht Argumente der Schönheit, sondern der Nützlichkeit ins Feld führte. In der neuen Poesie an das primitiv Ursprüngliche der Folklore anzuknüpfen, hieße eine Lieblingsidee des 19. Jahrhunderts und deren Verlängerung im „Bauernkult“ des Jungen Polen festzuschreiben. Damit trüge man dazu bei, den zivilisatorischen Rückstand des Landes geistig zu zementieren. Daran könne niemandem gelegen sein, der auch mit der Kunst die allgemeine Modernisierung der Gesellschaft voranbringen möchte.
In der Sache gingen die Vorwürfe des Plagiats oder der Traditionslosigkeit an den Vorstellungen der Zwrotnica vorbei, gleichwohl klingen sie noch heute in pauschalen Urteilen über sie nach. Indessen zeigt näheres Hinsehen, daß die Neuerer weit differenzierter mit den europäischen Anregungen umgingen und über die Tradition dachten, als es ihnen unterstellt wurde. So entschieden Peiper mit dem messianistischen Denkschema gebrochen hat, das aus dem Ausnahmecharakter der Lage Polens im 19. Jahrhundert und gleichsam, als Kompensation seiner politischen Ohnmacht einen Sendungsauftrag für Europa ableitete, so wenig ließ er die wirklichen Unterschiede der historischen Ausgangslage im 20. Jahrhundert außer acht. Er warnte vor der unbesehenen Übernahme zivilisationsfeindlicher Tendenzen des deutschen Expressionismus, weil es im eigenen Lande noch genug überlieferte Vorurteile gegenüber der Technik gab, die es abzubauen, nicht zu stärken galt. Und ein weiteres Beispiel: Weil er in der Psychologie eine von der polnischen Literatur noch nicht ausgeschöpfte Gestaltungsmöglichkeit erkannte, wies er den Antipsychologismus der italienischen Futuristen (Marinetti) zurück, deren gesamte Kunstauffassung er im übrigen in seiner Zeitschrift vorgestellt und gewürdigt hatte. Auf die Entfaltung einer modernen nationalen Kunst bedacht, vergaß er nicht, jede neue Idee daraufhin zu prüfen, welche besondere Funktion ihr in seinem Lande zuteil würde. Er widersprach auch einem Universalismus, der die geschichtlich entstandenen nationalen Gegebenheiten einfach überspringen wollte.

Nicht die Geschichte, die Belange der Gegenwart bestimmten die Einstellung der Avantgarde zur Tradition. Werke und Ideen der Vergangenheit wurden danach befragt, ob und wie sie bei der Lösung aktueller Aufgaben hilfreich sein können. Solche Optik stand natürlich konträr zu jener Haltung, die alles zeitgenössische Schaffen daran zu messen suchte, ob es den klassischen Mustern und Normen der Tradition entsprach. Eine genauere Kenntnisnahme der Programmtexte weist die oft beschworene Traditionsfeindlichkeit bzw. den vorsätzlichen Traditionsbruch der Krakauer Avantgarde als einen Fetisch aus. Lehrreich ist für Peiper jene Tradition, die ein Beispiel der freien Wahl im Umgang mit der Überlieferung bietet.

Wir können also wählen. Wenn dem aber so ist, dann laßt uns die glänzendste Tradition dieses Landes wählen, die kopernikanische, die Tradition des Widerstandes gegen die Tradition – sofern diese tot ist. („Poesie als Bauwerk“)

Als einen Feind des Traditionalismus, nicht der Tradition bezeichnete sich Przyboś.
Die Avantgarde-Künstler waren keine Ignoranten, vielmehr intime Kenner der Werke ihrer jungpolnischen Vorgänger (Wyspiański, Leśmian, Kasprowicz, Staff) und der beherrschenden Tradition in Polen, der Romantik. Sie bedurften ihrer Dichtungsauffassung (Eingebungstheorie; der Dichter als Genie und Prophet, die Dichtung als spontaner Ausdruck des Gefühls) als des oppositionellen Hintergrundes, der es erlaubte, ihre eigenen Vorstellungen deutlich herauszustellen. Das brachte Übertreibungen mit sich. Zugleich aber würdigten sie die romantische Literatur dafür, daß sie zu ihrer Zeit die vorgegebenen Regeln sprengte und gegenwärtig zu sein verstand, so daß von ihr gelernt werden könne, wie der eigenen Gegenwart zu begegnen sei. Dies bedeutete also kein Verwerfen aller Überlieferung, sondern ein „Destillieren“ und damit Neuentdecken bestimmter verschütteter Seiten an ihr.
Mit dieser Haltung widersetzte sich die Avantgarde freilich den diesbezüglichen Gewohnheiten der polnischen Kultur. Noch heute ist ein Verständnis keine Seltenheit, das die Inhalte der Tradition vor allem dadurch als wertvoll legitimiert sieht, daß sie die Weihe des Vergangenen besitzt. Geradeso, wie der Wert eines Adelsnamens steigt, je weiter in die Vergangenheit sein Träger sich nachweisen läßt. Ein Zusammenhang übrigens zwischen den Mustern der Adelskultur und der verbreiteten Traditionsauffassung ist nicht von der Hand zu weisen. In den Hintergrund gerückt zu sein scheint dagegen der Umstand, daß Traditionen unter aktuellen Gesichtspunkten ausgewählt und verworfen, gepflegt und bekämpft, gebraucht und mißbraucht werden können. So kann Tradition im landläufigen polnischen Verständnis vor allem als ein Impuls der Vergangenheit gelten, dem die Gegenwart gewissermaßen Gehorsam schuldet.
Die entschiedene Verlagerung der Akzents auf die Gegenwart und die kritisch-prüfende statt andächtige Einstellung zu den kanonischen Werten der Vergangenheit hat bis heute nicht aufgehört, eine Herausforderung zu sein.

Groß ist nur die Vergangenheit, die zu ihrer Zeit Gegenwart war und von der wir lernen können, wie man Gegenwart macht. („Poesie als Bauwerk“)

Indem sie den üblichen Gehorsam aufkündigte, hat die Avantgarde eine gewaltsame und heilsame Modernisierung der Traditionsauffassung in Gang gesetzt; ihr dialektischer Charakter wurde ins Licht gerückt.

 

Poetik: Der konstruktivistische Umgang mit dem Erbe des Symbolismus
Aus Programm und Poesie der Krakauer Avantgarde läßt sich ein Kanon poetologischer Leitsätze gewinnen:

– Epik und Lyrik sind streng voneinander zu scheiden, denn Lyrik organisiert die Sprache so, daß sie maximal verdichtet ist und, anders als Prosa, nicht die „Namen“ der Dinge nennt, sondern ihre „Pseudonyme“.

– Anzustreben ist ein Gedicht, das weder äußere Zustände abschildert noch Emotionen einfach erzählt. Der Zwiespalt von äußerer Welt und innerem Erleben (wie er in der neuromantischen Lyrik klaffte) soll überwunden und deren wechselseitige Durchdringung in der poetischen Äußerung festgehalten werden.

– Das bevorzugte Instrument hierfür ist die antimimetische Metapher, die – voneinander entfernte Begriffe und Bedeutungen miteinander assoziierend – eine autonome poetische Wirklichkeit schafft, die in der Lebenswirklichkeit keine unmittelbare Entsprechung besitzt. Damit soll eine radikal neue lyrische Situation aufgebaut werden. Der dargestellten Dingwelt wie dem ausgedrückten Erleben gegenüber verhält sich die Metapher wie ein Äquivalent; sie ist weder getreues Abbild der Realität noch Beichte der Gefühle.

– Das Kunstwerk als Bauwerk betrachtend, verstand die Avantgarde den Dichter, nicht als einen Propheten oder Ideologen, sondern als Handwerker. Schöpferischer Einfall und produktive Präzision werden miteinander gekoppelt; höchste formale Sorgfalt wird dem Dichter zur Pflicht gemacht. Dem Dichten wird jeder Anflug von Weihe genommen, er gilt als eine spezielle Form von Arbeit inmitten anderer Arten geistiger und materieller Produktion.

– Angestrebt wird eine schlüssige, effektive poetische Konstruktion, in der jedes Element nicht ornamental, sondern funktional eingesetzt ist. Nicht das auffällige einzelne Wort, der Satz ist die Quelle poetischen Wertes. Mit ungebundenen „Worten in Freiheit“ kann die Wirklichkeit lediglich inventarisiert werden, die empirische Wahrnehmung in eine poetische umzuwandeln, vermag nur der „schöne Satz“.
Insbesondere Peiper betrachtete die Homogenität jeder Kunstart und Gattung als einen besonderen Wert. (Er hatte die auf die Malerei bezogenen Thesen der französischen Puristen Ozenfant und Jeanneret/Le Corbusier in seiner Zeitschrift vorgestellt, wonach ein Bild Farbe, Form und Perspektive des realen Gegenstandes nicht kopiert, sondern purifiziert, d.h. durch Auswahl von allem Zufälligen reinigt, und den Gegenstand zu einer rein malerischen Synthese seiner wesentlichen Eigenschaften verwandelt.) Reim und Rhythmus sollten rein literarische Funktionen erhalten und nicht länger fremde, musikalische Elemente darstellen, Bildhaftigkeit als Anleihe bei der bildenden Kunst sollte vermieden werden. Diese Postulate waren in der Gruppe umstritten. Die Unterschiede brachen auf, wo das Schreiben jedes einzelnen unmittelbar berührt war. Über die Rolle der Pointe im Gedicht, über die assoziative Reihung, über das Verhältnis von Begrifflichkeit und Anschaulichkeit, über die Metapher als Topos oder umfassendes Konstruktionsprinzip – waren Przyboś, Brzękowski und Peiper durchaus verschiedener Meinung. Offen ausgetragen wurde der Streit hauptsächlich in der Zeitschrift Linia, was dem Gesamtkonzept Lebendigkeit und Dynamik sicherte.

– Gegen das passiv erlebende lyrische Subjekt ihrer Vorgänger setzte die Zwrotnica-Gruppe ein aktives, das die Welt als Raum für seine schöpferisch-verändernden Eingriffe versteht. Der poetische Gegenstand zeigt sich nicht in endgültig ruhender Gestalt, vielmehr im Werden; er muß als Resultante bestimmter Möglichkeiten erschlossen werden. So erscheint die Welt als unfertig, als Aufgabe, die vom Dichter und Leser zu leisten ist. Poetische Erkenntnis und Selbstaussage verwirklichen sich nicht als Beschreibung dessen, was ist, sondern als kreativer Eingriff in die Ordnung der Dinge, als Gestaltung der Natur durch Kultur. Der Dichter, so heißt es, der eine neue Sehweise der Wirklichkeit durchsetzt, entwirft deren Zukunft.

– Aus der Einsicht, daß eine solche auf Entdeckungen erpichte Lyrik dem Leser Schwierigkeiten bereiten würde, faßte die Avantgarde zunächst einen geringeren Empfängerkreis ins Auge (für zwölf schreiben), hoffend, daß er sich vervielfachen wird.

Der Krakauer Dichterkreis stand im Banne des Visuellen. Seine Poesie wie seine Poetik waren von der Kategorie des neuen Sehens her organisiert, die der sinnlich-visuellen Anschauung den Vorrang vor dem gedanklichen Diskurs einräumte.
Die ganzheitliche, auf den „schönen Satz“ gegründete Vision galt mehr als das futuristisch entfesselte einzelne Wort. Das verband sie mit den bildenden Künstlern und hob sie von der sprachmusikalischen Neigung der Symbolisten ab, an deren Ästhetik sie im übrigen an zentraler Stelle – mit dem Prinzip des Äquivalents – anknüpften. Was Mallarmé z.B. als Symbol definierte: „… einen Gegenstand evozieren, um einen Seelenzustand zu zeigen, oder umgekehrt, einen Gegenstand auswählen und daraus mittels einer Reihe von Dechiffrierungen einen Seelenzustand herauszulösen“12 – das ist von der Krakauer Avantgarde aufgegriffen und weiterentwickelt worden.
In einem Rückblick auf die gesamte Avantgarde (1938) zitierte Przyboś die Meinung, daß sämtliche poetische Strömungen im 20. Jahrhundert im Grunde Testamentsvollstrecker der Symbolisten sind, und fügte hinzu, ohne die reinigende Arbeit der Rimbaud, Mallarmé u.a. wären die meisten Neuerungen unseres Jahrhunderts nicht vorstellbar. Die russischen Symbolisten hatten die Krakauer nicht im Blick. Dagegen waren die Warschauer Skamandriten von der Schulbank her (bis 1918 russisches Teilungsgebiet) mit der modernen russischen Lyrik vertraut und von der Sprachmusik Konstantin Balmonts, Waleri Brjussows und Alexander Bloks stark beeinflußt. Vom polnischen Symbolismus, der unentfaltet geblieben war, läßt sich sagen, daß die Krakauer Avantgarde ihm im Grunde seine poetische Theorie nachgeliefert hat. Przyboś’ Beschäftigung mit dessen bedeutendstem Vertreter Bolesław Leśmian (1878 bis 1937) zeigt ein unterscheidendes Herangehen. Der Gewinn an lyrischer Sprachkultur: Betonung der appellativen gegenüber der darstellenden Funktion des Wortes, kreatorische Haltung, Tilgung erzählender Momente, gesteigerte Sinnlichkeit der Wortschöpfungen – das alles wird gewürdigt und deutlich abgehoben von der magischen Unergründlichkeit, vom mystischen Idealismus Leśmians, Przyboś’ Beobachtungen im Detail wurden im erwähnten Rückblick verallgemeinert:

Wie bekannt, beseitigte der Symbolismus das Beschreiben und Erzählen bestimmter Themen in der Lyrik und reinigte sie dadurch… Zum ersten Mal in der Lyrikgeschichte haben die Symbolisten damit begonnen, ins feine Netz ihrer Gedichte Gefühle in statu nascendi einzufangen, keine fertigen, schon formulierten Gefühle, sondern deren Geburt…

Seither falle es schwerer, Gedichte nachzuerzählen, genau zu benennen, welches Gefühl der Dichter darin ausdrückt.

Ausdrückt? Nein – im Gedicht hervorbringt…13

Der letzte Satz bezeichnet den Punkt, den die Avantgarde besonders verstärkte: das Gewicht wird vom Ausdruck auf die Produktion verlagert. Es kommt nicht zuerst darauf an, subtile Empfindungen des Dichters möglichst getreu auszudrücken, sondern darauf, unbenannte Empfindungen zu entdecken und beim Leser zu evozieren.
In das Umfeld jener Symbolismus-Faszination gehört die langjährige, intensive Beschäftigung Przyboś’ mit Rilke, die auch während des zweiten Weltkrieges anhielt und in Nachdichtungen fruchtete. Rilkes eigentümliche Werkgesinnung, das „Aufbrauchen der Liebe in anonymer Arbeit, woraus so reine Dinge entstehen“,14 ist am deutlichsten dem „Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth“ eingeschrieben. Von den Dichtern heißt es dort:

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaWie die Kranken
gebrauchen sie die Sprache voller Wehleid,
um zu beschreiben, wo es ihnen weh tut,
statt hart sich in die Worte zu verwandeln,
wie sich der Steinmetz einer Kathedrale
verbissen umsetzt in des Steines Gleichmut.

Diese Stelle kommentierte Przyboś 1959 in dem ersten von ihm besorgten polnischen Rilke-Band nach dem zweiten Weltkrieg:

Der Dichter tritt nicht neben die Dinge als ihr Beobachter und Empfinder, er stellt sich gleichsam in deren Mitte, dringt in Sie ein, so daß sie im Wort gestaltet da sind und sprechen, ohne einer von außen hinzugefügten Reflexion zu bedürfen.15

Die so umrissene Poetik berührt sich auf verblüffende Weise mit den Anschauungen von Przyboś.

Es genügt nicht mehr, ,herzliche‘ unmittelbare Lyrik zu machen. Ausgangspunkt wird die Rücksicht auf das Kunstwerk, der Wunsch, dieses zum vollendeten Organisator der Gefühle des Lesers zu machen… Die Verlagerung der Inspiration, d.h. der schöpferischen Anstrengung, vom Subjekt auf das Objekt ist die grundlegende Revolution des modernen Empfindens. („Die Form der neuen Lyrik“)

Die Krakauer Avantgarde knüpfte an den Symbolismus an und verstand sich als dessen Überwinder. Ln ihrer diesseitig-rationalistischen Weltsicht war kein Raum für die Suggesstion einer zweiten Dimension des ewig Unsagbaren, ihre Bemühungen gingen dahin, das Sagbare auszuschöpfen. Die ideologische Kritik vertrug sich allerdings sehr wohl mit der produktiven Würdigung seines ästhetisch fortgeschrittenen poetischen, Materials.

 

Konstruktivistische Gemeinschaft der Künste
Als Konstruktivisten haben sich die Dichter des Zwrotnica-Kreises selber nie bezeichnet, aber ihr Programm, das in regem Austausch mit bildenden Künstlern des Konstruktivismus entstand, ordnet sie eindeutig dieser Richtung zu. Der Konstruktivismus ist vor allem als Richtung der bildenden Kunst bekannt, die sich in unterschiedlichen Spielarten im nachrevolutionären Rußland, in den Ländern Ostmitteleuropas (Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien) und in Westeuropa entfaltet hat. In Deutschland verknüpft sich dieses Stichwort mit Bauhaus und neuer Architektur, aber mit keiner bedeutsamen literarischen Erscheinung. Von Anfang an war er „begleitet und motiviert von einem Streben nach systematisch durchführbarer, wissenschaftlich begründbarer Ordnung in der Kunst in konkreter Relation zur Wirklichkeit“.16
Polen lag in den zwanziger Jahren im Schnittpunkt der Einflüsse aus Ost und West. Im Zeichen der Eigenstaatlichkeit, trugen die konstruktivistischen Ideen hier die Hoffnung auf eine unbeschränkte und im Vergleich zu den übrigen europäischen Ländern ebenbürtige Entwicklung der Kunst. Erfahrungen aus Sowjetrußland vermittelten Karol Hiller, insbesondere aber Władyslaw Strzemiński und Katarzyná Kobra, die Malewitsch-Schüler aus Witebsk und Mitglieder der dortigen UNOWIS-Vereinigung,17 die 1922 nach Polen zurückgekehrt waren. An der Großen Berliner Kunstausstellung 1922 und 1923 nahm Henryk Berlewi im Rahmen der linken November-Gruppe teil, er nahm auch Beziehungen zu Mies van der Rohe, László Moholy-Nagy, Hans Richter auf. Mieczysław Szczuka, dessen frühe Arbeiten unter dem Einfluß Tatlins entstanden sind, stellte 1923 in Herwarth Waldens Galerie Der Sturm aus. In Paris knüpfte Henryk Stażewski Kontakte zu Mondrian, Seuphor, Doesburg und Hans Arp.
Die konstruktivistischen Künstler Polens schlossen sich nacheinander zu den Gruppen Blok (1924–1926) und Praesens (1926–1929) um die gleichnamigen Zeitschriften zusammen. Zu einer Gruppenbildung besonderer Art kam es, als sich unter der Bezeichnung a. r. (artistes revolutionnaires) bildende Künstler (Strzemiński, Kobro) und Dichter (Przyboś, Brzękowski) zusammenschlossen (1930–1935). Programmatische Vorstellungen steuerten dazu vor allem Przyboś und Strzemiński bei, der 1928 sein Buch Unismus in der Malerei veröffentlicht hatte. Darin entwickelte er eine Theorie, welche die Anregungen von Malewitschs Suprematismus, Mondrians Neoplastizismus und des Kubismus zum Ausgangspunkt nahm und auf originelle Weise weitertrieb.
Im Kommuniqué Nr. 1 der Gruppe hieß es:

a. r. schließt bildende Kunst und Poesie durch gemeinsame Arbeit zusammen. Die Probleme der neuen Kunst werden in ganzer Breite aufgeworfen, statt wie bisher Neuerungen in einer Kunstart mit faulen Kompromissen und Ignoranz in anderen zu erkaufen18

Die gemeinsamen Prinzipien besagten, daß jeder Quadrat- bzw: Kubikmillimeter bildkünstlerischen Materials durchorganisiert und jedes Wort in der Lyrik als das wichtigste behandelt werde: Zumindest im Programm färbte die wissenschaftliche Methodik der Maler auf die Lyriker ab.
Ein bezeichnendes Beispiel internationaler Zusammenarbeit der Avantgarde-Künstler ist die durch Bemühung Strzemińskis in Ƚódź gegründete Sammlung moderner Kunst. Viele günstige Umstände waren dazu nötig: eine sozialistische Mehrheit im Magistrat der Stadt, die hilfreichen Beziehungen Brzękowskis zur Pariser Kunstszene, wo er 1929/30 die Zeitschrift L’Art Contemporain französisch und polnisch herausgab. Auf diese Weise wurden, neben den Arbeiten der polnischen Konstruktivisten, durch Bildschenkungen und Austausch-Werke folgender Künstler zusammengetragen: Arp, Max Ernst, Masson, Matta, Marcoussis, Léger, Ozenfant, Doesburg, Vantongerloo, Mondrian, Vasarely, Prampolini u.a. Im Februar 1931 konnte das zweite Museum konstruktivistischer Kunst (neben Hannover) in Europa eröffnet werden. Ihrem Hauptstreiter in Polen, Strzemiński, verlieh die Stadt Ƚódź ein Jahr darauf den Kunstpreis, begleitet wurde die Verleihung freilich von Protesten gegen „die bolschewistischen Umstürzler“ in der Kunst.
Peiper beschränkte sich in der Zwrotnica von Anfang an nicht allein auf die Literatur, er suchte über Ideen gleichgesinnter Künstler zu berichten und womöglich deren Mitarbeit zu gewinnen. So gehörte Strzemiński zu den ständigen Mitarbeitern der Zeitschrift und war ihr graphischer Gestalter. Von den internationalen Kunstströmungen war Peiper an jenen interessiert, die seine schöpferische Problematik bestätigen oder anregen konnten. Er informierte über das Programm des italienischen Futurismus, über die Thesen der französischen Puristen Ozenfant und Jeanneret (Le Corbusier) oder über Fernand Léger, den er als Gestalter seines Buches Der neue Mund (1925) gewann. Er legte Wert darauf festzuhalten, daß die Orientierung, für die er sprach, sich als Zweig einer internationalen Bewegung verstand, die in verschiedenen Bereichen, aber in gleicher Richtung an der Erneuerung der Kunst arbeitete. Dabei war nicht Nachahmen seine Devise, sondern Lernen:

Im Unterschied zu vielen meiner Landsleute reiste ich nicht nach Berlin oder Paris, um dort neue Ideen einzukaufen, sondern um das Entstehen von Laboratorien neuer Ideen kennenzulernen und diese Kenntnis für die Errichtung von Ideen-Werkstätten im eigenen Lande zu nutzen.

Lernen – das schloß Kritik ein. Die Information verfolgte den Zweck, zur Reformation des künstlerischen Lebens im eigenen Lande beizutragen.
Im Frühjahr 1927 begleitete Peiper den Maler und Begründer des russischen Suprematismus, Kasimir Malewitsch (der polnischer Abstammung war und eigentlich Kazimierz Malewicz hieß), nach Berlin und ans Bauhaus nach Dessau. Der Bericht darüber zeigt, daß sowohl Sympathie als auch Distanz das Verhältnis des Verfassers zu Malewitsch wie zum Bauhaus bestimmten. Malewitschs Überzeugung, daß die Unabhängigkeit der Kunst gegenüber utilitären Ansprüchen gewahrt werden müsse, fand Peipers Zustimmung, aber bei der Beurteilung seiner Kompositionen räumlicher Körper, der „Architektona“, als Experimentierfelder wirklicher künftiger Bauten störte Peiper das Fehlen des Funktionsgedankens. In diesem Punkt teilte er die Ansichten von Gropius und Mies van der Rohe. Andererseits regte sich Widerstand in ihm gegen die im Bauhauskonzept enthaltene Vorstellung, daß die Kunst der technischen Produktion mit Formhilfen beispringen solle: in solcher Auffassung sah er die wesentlichen Aufgaben der Kunst verfehlt. Peiper hielt streng an der Trennung zwischen Kunstwerk und Industrieprodukt fest. Seiner Ansicht nach verfolgte jedes seine eigenen Zwecke. Nicht die geborgten Kunstformen verbinden sie miteinander, sondern die zeitgemäßen Prinzipien der Materialbearbeitung und die in der Lebenspraxis wie im Zeitbewußtsein eingebetteten Denkstandards. Vorstellungen von einer Produktionskunst, wie sie Wladimir Tatlin oder Sergej Tretjakow vertraten, waren der Krakauer Avantgarde fremd.
Das universelle Selbstverständnis der Avantgarde, darüber sind sich Literatur- und Kunstwissenschaftler einig, speiste sich aus verschiedenen Motiven. Ihre Wirklichkeitssicht hob die sozialen, zivilisatorischen und technischen Veränderungen der Gegenwart hervor, die alle universellen Charakter trugen. Dadurch wurden die nationalen Unterschiede zwischen den Kulturen weniger wichtig genommen. Ihren internationalen Zusammenhang, faßte die Avantgarde nicht als Abhängigkeit und Unterordnung, sondern als ein gleichrangiges und gleichberechtigtes Verhältnis. Des weiteren hat das geschärfte Empfinden für den Unterschied zwischen alter und neuer Kunst, das gemeinsame Streben danach, den der Kunst eigenen Status zu verändern, Literaten, bildende Künstler, Architekten und Theaterleute zusammengeführt. Auch der gemeinsam erfahrene Mangel an breiter gesellschaftlicher Resonanz, das Ringen mit den konservativen Gewohnheiten des Publikums und den Gesetzen des kapitalistischen Kunstmarktes erzeugten ein Gefühl der Zusammengehörigkeit über die Grenzen der Künste und der Länder hinweg.
In welchen Punkten berührte sich das Programm des literarischen mit dem des künstlerischen Konstruktivismus?
Ausgehen kann man von der schon erwähnten Vorliebe der Krakauer Avantgarde für die visuelle Phantasie. Davon war ihre Poetik durchdrungen, und das erzeugte eine deutliche Affinität zu den Anstrengungen der bildenden Künstler, eine neuartige Sehkultur zu entwickeln. Ähnlich gehandhabt wurde in beiden Bereichen der Begriff Funktionalität. Er bestimmte die innere Verfassung des Kunstwerks als eine exakte, ökonomisch organisierte Konstruktion und auch den Zusammenhang von Werk und sozialer Wirklichkeit. Im Nebeneinander von Konstruktion und Erfindung drückte sich die enge Nachbarschaft von Harmoniedenken und Veränderungsbewußtsein aus. Die von den bildenden Künstlern verfolgte „Purifizierung der Historismen“ (H. Olbrich) hat ihre Entsprechung in der Art, wie Peiper den Eigenwert der Gattungsreinheit hervorhebt; strenge Scheidung von Lyrik und Prosa, keinerlei Anleihen beim Bildhaften oder Musikalischen, Ihr Wichtigstes und Wesentliches besitze jede Kunstart und Gattung in dem, was nur sie allein zu leisten vermag. Daher auch die Beharrlichkeit, mit der Peiper in seinen Ansätzen zu einer Film- und Radiotheorie die Spezifik dieser durch Nutzung technischer Erfindungen entstandener neuer Kunstarten herauszuarbeiten suchte.
Auch die vom Suprematismus/Unismus kommende Tendenz zur Gegenstandslosigkeit in der Malerei und das Hintanstellen (nicht Aufkündigen) des Themas in der Lyrik gehen zusammen. Gleichsam als Kehrseite dieser Tendenz wurde die „soziale Form“ etabliert, die dank ihrer strukturellen Beschaffenheit jenseits des thematischen Bekenntnisses sozial aktiv zu wirken vermag.
Konstruktivistische Prägung trägt die Beziehung zur Natur, die eine Humanitätsauffassung enthüllt, in der Menschliches gleichgesetzt wird mit der Entäußerung unangefochtener Souveränität.

Mensch sein – heißt Schöpfer sein. (Przyboś)

Von der dialektischen Auffassung, die in der Natur das „Werk“ und den „unorganischen Leib“ des Menschen erkennt (Karl Marx), wurde der zweite Aspekt kräftig vernachlässigt. Der vernünftige Rausch schöpferischer Mächtigkeit war ebenso einseitig wie für die zivilisatorischen Ziele der Avantgarde zweckmäßig. Das Bewußtsein kreatorischer Naturbearbeitung konnte sich in dem Maße entfalten, in dem namentlich die Poesie der Romantiker unter den Aspekt kreatürlicher Naturseligkeit gewaltsam zusammengefaßt wurde.
Nimmt man die Auffassung von der Natur als Rohstoff und Werkstatt des Menschen einmal für sich, so lassen sich von heute zurückblickend schwerwiegende Einwände vorbringen. Hat nicht die Umweltproblematik dem zivilisatorischen Enthusiasmus nachträglich seine problematische Kehrseite präsentiert, für die dieser blind gewesen war. Die Wirklichkeit scheint die Utopie überholt und ausgelaugt zu haben. Zu einfach sollten wir uns aber den Sieg über einen Traum von gestern nicht machen. Zu bedenken ist, daß dieses Konzept gegen eine verbreitete Haltung der Naturanbetung gesetzt worden war und durchaus auch dem Gedanken Raum gab, Kultur habe die Natur nicht einfach nur zu unterjochen und auszubeuten, sondern sie durch die Erkenntnis ihrer Gesetze zu erhöhen.
In Przyboś’ Poetik, die auf Verdinglichung des emotionalen Gehalts drangt, läßt sich ein Anklang an die von den Malern geforderte „neue Gegenständlichkeit“ entdecken. Strzeminskis Theorie des „Unismus“ suchte die absolute formale Kohärenz des Bildes zu begründen.

Farbkontrast, den das Barock zum Zweck der Darstellung dramatischen Konflikts verwendete, sollte bei unistischer Konzeption nicht vorkommen. Nicht Spaltung des Bildes in feindliche Lager, sondern Einstimmigkeit aller seiner Teile.19

Diese Theorie beeinflußte deutlich Przyboś’ Forderung nach gleichmäßiger Verteilung der Spannungen im Gedicht, was eine Absage an das aufdringliche Ungleichgewicht zwischen der Pointe und dem übrigen Gedichttext bedeutete. Das vollkommene Gleichgewicht der Formen und Farben auf der Fläche ergab ein Bild von so geringen Spannungen, daß es aller Momente des Ausdrucks oder der Bedeutung entbehrte. Soweit ist Przyboś im Gedicht nie gegangen: Die professionelle Konsequenz eines künstlerischen Mitstreiters bewundernd, gab er seine Distanz nie auf; er erkannte das Ziel dieser Malerei als einen Nullpunkt, ihre Erfahrung als wertvollen Ausgangspunkt für weitere Suche.
Die Kooperation der Dichter mit den bildenden Künstlern im Zeichen des Konstruktivismus erwies nicht darin ihre Fruchtbarkeit, daß Schaffensprinzipien aus einem fremden Metier direkt übernommen worden wären. Anregend wirkte sie viel eher als ein Angebot, bestimmte schöpferische Möglichkeiten auf fremden Terrain gedanklich durchzuspielen, zumal dann, wenn das sprachliche Material oder die persönliche künstlerische Veranlagung sich der praktischen Verwirklichung im eigenen Bereich widersetzten. Gewinn erbracht hat die Kooperation in jedem Fall für das Niveau der ästhetischen Betrachtungsweise und die Eindringlichkeit einer verständig-kritischen Analyse von Kunstwerken und -tendenzen, was insbesondere Przyboś’ Aufsätze nach 1945 belegen.

 

Autonomie und Engagement der Kunst
Die Krakauer Avantgarde gehörte zu der von kommunistischen, sozialistischen und radikal-demokratischen Ideen inspirierten Linken. Den „Sieg des Proletariats in einem wirklich schöpferischen Polen“ nannte Peiper seinen Wunschtraum. Mit den Vertretern der proletarischen Poesie, vor allem Władysław Broniewski, Stanisław Ryszard Stande, Witold Wandurski, die 1925 mit dem gemeinsamen Band Drei Salven von sich Reden machten, teilten sie nicht nur bestimmte politische Überzeugungen. Gemeinsam war ihnen die gesellschaftliche Motivation der Kunst, die Gegnerschaft gegenüber der neuromantischen Überhöhung des Dichters als eines Priesters sowie das Streben nach Ablösung des passiven, gefühlsseligen lyrischen Subjekts. Unterschiede zeichneten sich in der Frage ab, ob überhaupt und auf welche Weise das politische Engagement für eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft mit der Veränderung und Erneuerung der Kunst zusammengehen sollte. Auf der Überzeugung fußend, daß sich die fortschreitende Arbeitsteilung der modernen Gesellschaft nicht aufhalten lasse, bekräftigte die Avantgarde die Eigengesetzlichkeit und die Unersetzlichkeit der Kunst. Sie knüpfte damit an Autonomie-Vorstellungen des Jungen Polen an, die um die Jahrhundertwende sich in dem Konflikt: L’art pour l’art contra nationaler Utilitarismus geäußert hatten. Nicht übernommen hat sie seine ahistorische Begründung, wonach wahre Dichtung sich nur behaupten könne, wenn sie sich aus den profanen Verstrickungen der Zeit in den Bezirk des Absoluten, der religiös aufgefaßten Schönheit oder der „nackten Seele“ zurückzieht.
Im Gegenteil. Die Eigengesetzlichkeit im Bereich künstlerischer Themen, Verfahren und Ziele schloß in ihrem Verständnis die Wahrnehmung spezifischer gesellschaftlicher Funktionen nicht nur nicht aus, sie leitete sich ja gerade aus dem funktionalen Zusammenhang her. Nicht die grundsätzliche Nützlichkeit der Kunst wurde in Frage gestellt, sondern deren instrumentelle Benutzung, die Unterstellung unter beliebige Zwecke, bei denen die ästhetische Eigenart der Kunst wenig auszurichten hatte und für sie nichts zu gewinnen war.
Das hauptsächlich von Peiper entwickelte und von Przyboś später fortgeführte Konzept entzog sich der überkommenen unfruchtbaren Alternative: Autonomie oder Engagement. Künstlerische Freiheit und gesellschaftliche Einbindung bildeten darin keinen Gegensatz. Es ist der gesellschaftliche Auftrag des Künstlers, herzustellen, was nur er herstellen kann, neue Kunstformen nämlich. Der dialektisch gehandhabte Autonomie-Gedanke suchte die Poesie gleichberechtigt neben anderen kulturellen Tätigkeiten in die gesellschaftliche Arbeitsteilung einzugliedern. Innerhalb dieses Gefüges ist sie durch nichts anderes zu ersetzen. Denn „dieser Eigencharakter motiviert ihre wirkliche Notwendigkeit im kollektiven Leben“ (J. Sławiński).20
Das Prinzip der Autonomie, wie es von der Krakauer Avantgarde gehandhabt und begründet wurde, liegt heute als eine bestimmte literaturgeschichtliche Erfahrung vor. Sie berührt sich mit ähnlichen in diesem Jahrhundert gemachten Erfahrungen in anderen Ländern. Den Thesen zu einer marxistischen Theorie der Autonomie der Kunst, wie sie in jüngster Zeit von Günter Hartung anhand der Ästhetik Brechts formuliert wurden, widerspricht sie nicht nur nicht.21 Sie stützt diese vielmehr durch historisch andersgeartetes Material.
Wie sich dieses Poesie-Konzept in die literarische Landschaft vom Ende der zwanziger Jahre eingepaßt hat, zeigte die seit dem Erscheinen der Drei Salven nicht mehr verebbende Debatte um Leistungen und Möglichkeiten der „proletarischen Poesie“. Darin unternahm Peiper 1928 den Versuch, der Krakauer Avantgarde über den Tag hinaus einen Platz innerhalb der linken Kräfte zu sichern, ohne die eigenen ästhetischen Auffassungen aufzugeben. Seine politische Überzeugung war an Grundideen des Sozialismus ausgerichtet. Praktische Erfahrungen aus politischer Tätigkeit besaß er nicht. Durch seine Herkunft sozialdemokratisch geprägt, vermied er die parteipolitische Bindung und gab in seinen Analysen den Interessen des Proletariats als Ganzem stets den Vorrang vor den Parteiinteressen. Dabei sah er nicht blauäugig an den politischen Tatsachen vorbei. Als Kunsttheoretiker war er zugleich auch Ideologe, der, mit Übersicht agierend, stets bemüht war, nicht nur seinen Vorstellungen Geltung zu verschaffen, sondern auch die Vielfalt progressiver Literatur nicht zu beschädigen. So distanzierte er sich gelegentlich vom Übereifer seiner Mitstreiter und suchte die Divergenzen zwischen der Kommunistischen und der Sozialistischen Partei mit seinen literarischen Vorschlägen möglichst nicht zu vertiefen.
Im Mittelpunkt der Debatte stand ein allgemeines Problem, das Eisler und Bloch später, 1937, so formuliert haben:

Läßt sich das sozial fortgeschrittene Bewußtsein heute bereits mit dem ästhetisch fortgeschrittenen verbinden und umgekehrt?22

Und eine weitere Frage knüpfte sich daran (die Peiper 1928 in einem Interview gestellt wurde):

Wer ist ein besseres Mitglied der Gesellschaft: ein guter Künstler, der seine Kunstmittel zu verbessern trachtet, oder ein schlechter Künstler, der unentwegt seine soziale Einstellung beteuert?23

Poesie, die im Zeichen „proletarischer Kunst“ gefordert und geschrieben wurde, unterwarf Themen und poetische Mittel strikt der politischen Agitation. Auf sofortige Wirkung in den politischen Tageskämpfen bedacht, suchte sie hohe Verständlichkeit durch plakative Themen, einfache Formen und Angleichung an herkömmliche poetologische Muster zu erreichen. Auf diese Weise wurde das überlieferte Dienstmodell der Literatur mit veränderter inhaltlicher Bestimmung fortgesetzt.
Dem stellte Peiper die Auffassung gegenüber, daß jedes Werk, in dem sich ein sozialistischer Autor ausdrückt, dem Proletariat diene. Freilich nicht allein durch Verbreitung jedermann verständlicher Losungen, sondern auch noch anders:

Kunst dient der Gesellschaft auch durch die sog. Form ihrer Werke. („Auch auf andere Weise“)

Hierin besitze schöne Literatur ihre eigentümliche Wirkungsmöglichkeit. Eine womöglich wertende Alternative: thematische oder formorientierte Kunst – stellte Peiper nicht auf. Sein „auch“ respektiert die agitatorische Poesie als eine Variante linker Lyrik mit einer besonderen Wirkungsabsicht. Dagegen wertete Brzękowski diese Variante später als l’art utile gegenüber der reinen Poesie ab. Darin besaß er aber weder die Unterstützung Peipers noch Przyboś’.
So wichtig sei die Form deshalb, weil sie auch Bedeutung vermittelt, mehr noch, sie sei das untrügliche Indiz für die Haltung des Schöpfers zu seinem Gegenstand, für seine Psyche und Ideologie – und präge sich unmerklich, aber eindringlich der Vorstellungswelt des Empfängers ein. Epigonale Formen würden demnach konservative Haltungen in der Gesellschaft stärken, unkonventionelle dagegen in allen Lebensbereichen die Lust auf Neues wecken. Abgekürzt faßte diesen Gedankengang Peipers Aphorismus zusammen:

Mein Reim ist sozialistisch. („Kunst und Proletariat“)

In solcher ideologischen Behandlung poetischer Mittel steckte ein gehöriges Maß Illusion und – wie sich später zeigen sollte – auch Gefahr.
Zu beantworten war nun aber die praktische Frage, wie eine unkonventionelle Form den ihr eingeschriebenen sozialen Impuls beim Massenpublikum entfalten sollte, wenn das Publikum gar nicht in der Lage war, diese aufzunehmen. Der ehrgeizige Vorschlag, künstlerische Erfindungen zu machen und damit die Sache der proletarischen Leser zu befördern, eröffnete den oben erwähnten Konflikt. Als Ausweg bemühte Peiper ein Organisationsprinzip, das er in der Gesellschaft beobachtet hatte. Die Arbeitsteilung trieb die Spezialisierung voran und isolierte zunehmend die einzelnen Tätigkeiten voneinander. Peiper bejahte diesen Prozeß, weil er als dessen Kehrseite ein dichtes Netz funktionaler Abhängigkeiten sich entfalten sah, so daß einander nicht berührende Bereiche dennoch auf Entfernung miteinander kooperieren konnten. Durch solche „Kooperation auf Entfernung“ sollte auch die Poesie, die zunächst nur „für zwölf“ und nicht für den Massenempfänger verständlich und bestimmt war, auf dem Umweg über ein spezialisiertes Publikum den Interessen des Proletariats dennoch dienen. Niemand hatte dabei eine elitäre Absonderung im Sinn oder einen Verzicht auf das Massenpublikum in der Zukunft.

Mit meiner Losung einer Kunst für zwölf wollte ich beileibe nicht den Dienst am Leben aufkündigen, es ging mir nur darum, den Wert jener Künstler zu begründen, die nach besten Werken streben, auch wenn diese anfangs nur eine Handvoll zu interessieren vermögen… Die Entdecker in Wissenschaft Und Kunst liefern Nutzen auf Entfernung. Er wird durch Fachgenossen in die Gesellschaft übergeleitet. („Kunst und Proletariat“)

Jene Lyrik, die gegenwärtig „das Zentrum des Suchens und Entdeckens“ bilde, sollte eines Tages nicht zwölf, sondern zwölf Millionen Leser erreichen.
Nur unter den Voraussetzungen einer evolutionären Entwicklung der Gesellschaft konnte eine solche Laboratoriumsliteratur ihre Anregungen der breiten literarischen Produktion zur Verfügung stellen. Bezeichnenderweise legte man im Kreis der Zwrotnica mehr auf die kreative Leidenschaft, auf das Bauen, weniger auf das Kämpfen den Nachdruck. In Momenten sozialen Umbruchs konnte das nicht mehr gelten. Das belegen die neuen sozialen Akzente in den dreißiger Jahren bei Przyboś sowie die Wandlung in Peipers Lyrik, die angesichts der politischen Krise einer alternativen funktionalen Variante gefolgt ist: weg von den Pseudonymen der Welt – hin zur sprachlich direkten Montage des aktuellen politischen Geschehens (z.B. der Zyklus „Tageschronik“).
Peiper behielt die Vielfalt progressiver Literatur im Auge. Ohne auf dem Monopol avantgardistischer Lyrik zu bestehen, faßte er die Beziehung der einzelnen Spielarten zueinander als ein Verhältnis unterschiedlicher, aber gleichrangiger, einander ergänzender Wirkungsabsichten. Er verteidigte die Agitationspoesie (Broniewski, Wandurski), die nachweislich ihre Wirkung in den Arbeiterversammlungen getan hatte, gegen die Angriffe seiner Mitstreiter (Przyboś, Czuchnowski), deren Forderungen aus ästhetischer oder politischer Radikalität unangemessen waren. In den wechselhaften Beziehungen zwischen der Avantgarde und der politischen Linken verfolgte Peiper eine Strategie der Zusammenarbeit – bei Respektierung der unterschiedlichen künstlerischen und politischen Standpunkte.
Für die deutschen Künstler hatte der Vormarsch des Nationalsozialismus die Beziehungen zwischen der künstlerischen und der politischen Avantgarde auf den einen, akut gewordenen Punkt antifaschistischer Sammlung und Wirkung zusammengezogen. Die politischen Kräfte erkannten in dem Bemühen um das Erbe, um das freilich auf den „großen Realismus“ des 19. und 20. Jahrhunderts verkürzte, einen wichtigen integrierenden Faktor der angestrebten Volksfront. Das gleich wichtige Problem, wie das Verhältnis der sozialistischen Künstler zu den vom Faschismus politisch gleichfalls verfolgten und ästhetisch verfemten bürgerlichen Avantgarde-Künstlern zu gestalten sei, wurde indessen in den Hintergrund gedrängt. Von den Schlußakzenten (Lukács, Kurella) der um den deutschen Expressionismus zwischen 1934 und 1938 geführten Debatte läßt sich nicht sagen, daß sie auf eine Synthese zwischen der politischen und künstlerischen Avantgarde als auf ein erstrebenswertes Ziel verwiesen hätten. Herausgekehrt wurde etwas anderes: der Expressionismus als Kinderkrankheit, Antirealismus und Verfall.
Auch in Polen hat es im Verlauf der Debatte an persönlichen Anzüglichkeiten und an liquidatorischem Eifer im Theoretischen nicht gemangelt. Als sie Ende der dreißiger Jahre abgebrochen wurde, war sie jedoch nicht ohne Ergebnis geblieben. Nach Austausch der Argumente und Korrekturvorschläge von seiten der politischen Linken und der Avantgarde-Künstler waren die Möglichkeiten eines Zusammengehens greifbarer geworden. Das Bekenntnis zur politischen Gemeinsamkeit schloß die Unterordnung unter die eine oder andere Schreibweise nicht ein und war auch nicht an die Bedingung einer Synthese gegensätzlicher Poetiken gebunden. Die Idee von der Aufgabenteilung innerhalb der progressiven Poesie hatte Anerkennung gefunden. Dem handlichen Grundsatz, daß um einer operativen Wirkung willen neuer Wein am besten in alte Schläuche gefüllt wird, trat kritisch die Einsicht zur Seite, daß einem literarischen Werk damit aktuelle Durchschlagskraft womöglich gesichert werden kann, daß andererseits damit aber auch sein spezifisches Vermögen unterlaufen wird, als Kunst über den Tag hinaus antizipatorisch zu wirken. Antizipation. Ein Schlüsselwort für die vorausgreifenden ästhetischen und gesellschaftlichen Entwürfe der Krakauer Avantgarde. Welche Erwartungen an die Möglichkeiten der Kunst in einem sozialistischenStaat geknüpft wurden, zeigen Peipers Ausführungen, in denen er die schwierige Lage des Avantgarde-Künstlers in der bürgerlichen Gesellschaft und seine Hoffnungen immer mitreflektiert. Was dominiert in Peipers Bild? Den Überfluß an Freizeit, den er voraussetzt, sieht er zwangsläufig mit einem Zuwachs an Kunstinteresse bei den Werktätigen verbunden. Die Befreiung der Kunst von den Zwängen und Verfälschungen der Konkurrenz auf dem Markt, wird als die entscheidende Veränderung ausgemacht. Das rationale System gesellschaftlicher Produktion im Sozialismus weise der Kunst einen Raum zu, in dem sie frei von fremden Rücksichten: nur auf die subjektive Schöpferkraft gestellt, ihr Wesen entfalten könne. Die frühe Begeisterung für die Ökonomie als dem Prinzip stringent künstlerischer Bauweise ist um die soziale Einsicht ergänzt worden, daß die ökonomische Grundregel des kapitalistischen Kunstmarktes den künstlerischen Neuerer zum Außenseiter stempelt. Der Sozialismus wird demnach als Gesellschaft begriffen, die das autonome Wesen der Kunst freisetzt und damit die vom bürgerlichen Publikum geschmähte Avantgarde rehabilitiert. Das Utopische dieses Entwurfs ist ebensowenig zu übersehen wie die Stringenz der Argumentation.
Eine literaturhistorische Bilanz der Krakauer Avantgarde versuchte im Jahre 1938 der marxistische Kritiker Ignacy Fik. Er sprach nicht von der Niederlage und nicht vom Sieg der Avantgarde. Er betrachtete ihre Leistungen und Schwächen und erfragte ihre künftigen Möglichkeiten. Zusammenfassend stellte er fest:

Eine neue soziale Poesie ist  ohne dieses Erbe nicht denkbar… Insgesamt legte die Avantgarde den Grundstein zu einer neuen, der Dynamik der Gesellschaftsstruktur und der Psyche des zukünftigen Menschen angemessenen Ästhetik. Ihr urbaner Charakter kann sich für die proletarische Poesie als besonders brauchbar erweisen… Eine Synthese der formalen künstlerischen mit der gesellschaftlichen, sozialistischen Avantgarde kann Bedingungen für eine große Literaturepoche schaffen…24

 

Die Avantgarde in den Kunstdebatten der sozialistischen Gesellschaft
Der zweite Weltkrieg hat die Avantgardisten versprengt. Brzękowski, der Mitarbeiter der polnischen Botschaft war, hat der Kriegsausbruch in Frankreich überrascht; er kämpfte in der Résiszance und blieb danach in Paris. Peiper verbrachte die Jahre 1939 bis 1945 in der Sowjetunion. Zusammen mit Broniewski 1940 aufgrund provokatorischer Anschuldigungen verhaftet, legte er einen schwierigen Weg zwischen Lwów, Kuibyschew, dem sibirischen Jakuzk und Moskau zurück, zudem gequält von den Anzeichen einer psychischen Krankheit. Kurek und Przyboś waren im Lande geblieben. Letzterer hielt sich nach seiner Rückkehr aus Lwów, wohin er mit vielen Intellektuellen bei Kriegsausbruch geflohen war, in seinem Heimatdorf Gwoźnica vor den deutschen Okkupanten verborgen.
Nach Kriegsende waren sie, außer Brzękowski, in Lublin und Krakau wieder zur Stelle. Wie stand es nun, nach 1945, unter den Bedingungen der volksdemokratischen Revolution, um die Möglichkeit, zu jener Synthese der künstlerischen und gesellschaftlichen Avantgarde zu gelangen, die Ignacy Fik vor dem Krieg ins Auge gefaßt hatte? Wie gestaltete sich in der kulturellen und literarischen Öffentlichkeit während der ersten beiden Jahrzehnte (1945–1965) sozialistischer Entwicklung das Verhältnis zur Avantgarde als zu einem vorliegenden Werk- und Ideenangebot sowie zur Aktivität ihrer Vertreter?
Der Krieg hatte die literarische Landschaft gründlich verändert und wesentliche Grundsätze avantgardistischer Weltanschauung und Poetik in die Krise gebracht. Durch das Kriegsgeschehen gemindert wurde das Vertrauen in die humanisierende Wirkung technischer Entdeckungen. Den Erfordernissen des nationalen Befreiungskampfes folgend, hatte sich in der Kunstprogrammatik allgemein das Prinzip strenger gesellschaftlicher Instrumentalisierung durchgesetzt, das der Lyrik vor allem erbauliche Unmittelbarkeit abverlangte. Die mannigfachen Brüche im Leben der Nation weckten das Bedürfnis nach Bestätigung in der eigenen geschichtlichen Vergangenheit und förderten mithin das Moment der Kontinuität in der Auffassung der Tradition. In den Auseinandersetzungen nach dem Krieg ging es um die Ortung der Literatur in der veränderten Gesellschaft; um einen geschichtlich fundierten Humanismus, um ein neues Aufgabenverständnis der Poesie und um angemessene Ausdrucksformen für die Erfahrungen des Krieges und der sozialen Revolution. Neue Lösungen wurden in der poetischen Praxis sowie in der streitbaren und offenen Debatte um die Gestalt der zu errichtenden sozialistischen Kultur gesucht.
Von Anfang an beteiligte sich Przyboś mit Elan am Aufbau eines demokratischen kulturellen Lebens, u.a. als erster Vorsitzender des 1944 im befreiten Lublin gegründeten Schriftstellerverbandes. Peiper wirkte bis etwa 1949 als Theater- und Filmkritiker. Seine Krankheit, die den menschlichen Umgang wie auch die fachliche Zusammenarbeit mit anderen erschwerte, drängte ihn allerdings mehr und mehr an den Rand des literarischen Lebens.
Die wirtschaftlichen und kulturellen Startbedingungen Polens erwiesen nun den utopischen Charakter mancher avantgardistischen Idee. Peipers Sozialismusvorstellung z.B. war von der Harmonie eines rational geordneten und funktionalen Gesellschaftsorganismus beherrscht gewesen, die ersten kulturrevolutionären Maßnahmen der Volksmacht indessen richteten sich auf so elementare Aufgaben wie: Beseitigung des Analphabetismus, Durchsetzung einer demokratischen Bildungsreform; Wiederaufbau, Erweiterung und Entkommerzialisierung des Netzes kultureller Einrichtungen – dies alles in den ersten Jahren unter bürgerkriegsähnlichen Bedingungen. Grundsätzlich mußte allen bisher von der künstlerischen Kultur ausgeschlossenen Schichten des Volkes der Zugang zu ihr ermöglicht werden. Der Schwerpunkt der Bemühungen lag folglich auf der Verbreitung von Kultur. In aller Regel war damit der Kanon national repräsentativer Kunstleistungen der Vergangenheit gemeint; die realistische Prosa des 19. Jahrhunderts und die romantische Poesie.
Dennoch gingen die frühen Vorstellungen der Kulturpolitik und der marxistischen Literaturkritik an dem Phänomen Avantgarde nicht achtlos vorüber. Ausdrücklich sprachen sie auch jenen Erscheinungen gesellschaftliche Bedeutsamkeit zu, die sich als „Laborationen der Formen und Werkzeuge, künstlerischer Mittel und Verfahren“ (Leon Kruczkowski) verstehen. Bereits 1945 nahm S. Żółkiewski, Chefredakteur der marxistischen Kulturzeitschrift Kuźnica, den Gedichtbatnd von Przyboś Miejsce na ziemi (Ort auf der Erde) zum Anlaß, die Rolle der Krakauer Avantgarde in der sozialistischen Kulturrevolution grundsätzlich zu erörtern. In Przyboś’ Lyrik erkannte er die einzige künstlerisch überzeugende Überwindung des Symbolismus, verbunden mit einer konsequent sozialistischen Position. Damit besäße sie alle Voraussetzungen, um ein Orientierungsmuster für junge fortschrittliche Dichter zu werden. Was dem entgegensteht, sei die soziale, kommunikative Seite; nämlich die geringe Chance, daß eine solche artifizielle Lyrik auch vom Massenleser aufgenommen werden kann. Dieser Widerspruch zwischen einer künstlerisch und ideologisch fortgeschrittenen Position und der im Augenblick mangelnden Aufnahmefähigkeit der Leser wurde nicht einfach dem Dichter angelastet, sondern als das dringendste Problem bezeichnet, dem sich Kritik und Kulturpolitik stellen müssen. Der „Fall Przyboś“ müsse gelöst werden. Ein Vorankommen gebe es nur, wenn beide Seiten – die Verteidigung der avancierten Poetik und das Streben nach einer möglichst breiten Zugänglichkeit – im Zusammenhang gelöst würden. Nicht als ein Muster zur Nachahmung wollte Żółkiewski die Avantgarde betrachtet wissen, sondern als Herausforderung an die neuen Literaturverhältnisse, sich dem eigenen kulturprogrammatischen Anspruch des Sozialismus zu stellen: die Lösung des vorgefundenen Widerspruchs zwischen hohem ästhetischen Standard und dem Kunstbedürfnis eines Massenpublikums aus dem Bereich der Utopien in praktische Organisationsformen zu überführen. In diesen Überlegungen wurde die sozialistische Kulturrevolution zu Recht als der gemäße Horizont für die Entwürfe der historischen Avantgarde ausgemacht. Sie waren auf eine Langzeit-Perspektive bemessen, und verlangten eine entsprechend reife Strategie der Handhabung des genannten Widerspruchs. In der kulturpolitischen Praxis der folgenden Jahre, insbesondere ab 1948/49, wurde dieser spannungsvolle Zusammenhang zugunsten kurzfristiger politischer Aufgaben und didaktischer Wirkungen einseitig aufgelöst.
Przyboś, der nun aktivste Repräsentant der Avantgarde, griff seinerseits aus verschiedenen Anlässen in die frühen Debatten ein. Von der entstandenen Lage ausgehend, verschloß er sich nicht einer notwendigen Korrektur seiner Traditionsauffassung. In den Mickiewicz-Essays (1945 bis 1950) löst eine unterscheidend-lernende Betrachtung sein einstiges polemisches Verhältnis zur Romantik ab. Bestehen blieb freilich die grundsätzliche Überzeugung, daß nur „eine starke gegenwartsbezogene, schöpferische Haltung“ eine nicht epigonale Einstellung zur Vergangenheit  gewährleistete.
Wozu er sich im einzelnen auch äußern mochte – zur Verantwortung des Dichters, zur nationalen Besonderheit der Literatur, zum Realismus in der Lyrik –, zumeist entwickelte er Alternativen zu jenen Vorschlägen von Kritikern und Kulturpolitikern, von denen er befürchtete, daß sie die erreichte Weltoffenheit partikular einschränken, die sprachkünstlerische Eigentümlichkeit moderner Poesie im Namen wohlgemeinter Ziele nivellieren und sie damit ihrer originären Tüchtigkeit berauben würden. Der entscheidende Punkt betraf die Kommunikativität. Die damals gängige Formel „Für alle schreiben“ machte die Zugänglichkeit von Gedichten zum Kriterium der politischen Beurteilung ihres Verfassers. Dagegen verlangte Przyboś, dem Dichter müsse aus politischer Überzeugung am höchsten künstlerischen Standard gelegen sein, denn große Kunst sei ihrem Wesen nach immer auch Träger fortschrittlicher Ideen. Jene Lyrik, die alte Schablonen vorsätzlich-überschreitet, sollte nicht am überwundenen Kanon gemessen werden, sondern an der neuen Sensibilität, die sie entdeckt und ermöglicht. Przyboś übersah dabei nicht, daß der „ideale Empfänger“ der Avantgarde bei weitem nicht deckungsgleich mit den, sozial neuen Leserschichten war. Er widersprach aber jenen, die den kommunikativen Zusammenhang als starres Entweder-Oder faßten und den Dichter in die Alternative zwangen, sich dem gegebenen Rezeptionsniveau anzupassen oder als volksfremder Formalist zu gelten. Sein Vorschlag ging von der wirklichen Lage aus und stellte die Langzeitwirkung des kulturrevolutionären Programms in Rechnung. Unter entfalteten sozialistischen Verhältnissen, die auch einen kompetenten Leser herangebildet haben würden – so argumentierte er –, mag Zugänglichkeit allein Sache des Autors sein. Gegenwärtig, beim beträchtlichen Unterschied in Bildung und Kulturniveau zwischen einer kleinen Schicht und den Massen, müsse an zwei Fronten vorgegangen werden. Die Schulreform müsse zur Hebung der allgemeinen Bildung beitragen und eine „verständige Kritik“ zur ästhetischen Qualifizierung des Lesers.
Und der Dichter selber? Er wurde bei der Aufgabenverteilung draußen gelassen. Wäre hier nicht der Ort gewesen, könnte man fragen, über eine zeitweilige Zurücknahme bestimmter avancierter poetischer Mittel nachzudenken, der in späterer Phrase der Entwicklung eine „Zurücknahme der Zurücknahme“ folgen müßte, wie sie z.B. Hanns Eisler 1960 im musikalischen Bereich für eine Übergangsperiode der sozialistischen Gesellschaft erörtert hat?25 1945, an der Schwelle der neuen Entwicklung; als der tatsächliche Stand und die dynamische Differenzierung der Kulturbedürfnisse großer sozialer Gruppen noch im dunkeln lag und die kulturpolitischen Strategien noch unerprobt waren, stellte sich das Problem offenbar nicht. Ein Jahrzehnt später, als die Literatur und die Gesellschaft ein Stück gemeinsamen „Lernprozesses“ absolviert hatten, sprach Przyboś diese Möglichkeit an, bezeichnenderweise jedoch auf die bildenden Künste bezogen. In dem Aufsatz „Schlußfolgerungen und Vorschläge“ erörtert er am Beispiel des Klassizismus von Jacques-Louis David, dem Maler der Französischen Revolution und Napoleons, das Zurückgehen in den darstellenden Mitteln weit hinter die niederländische Malerei bis auf die antikisierende Renaissance, um das französische Bürgertum römisch-republikanisch und Napoleon caesarisch zu stilisieren. In publizistisch erregtem Ton behandelt er 1955 diesen kunstgeschichtlichen Rückgriff und findet darin nur eine didaktisch-heroische Kostümierung, unannehmbar für die sozialistische Gegenwart.
Drei Jahre später kommt er noch einmal darauf zurück („Versuch einer Annäherung. Über den Beruf des Dichters und des Malers“) und fragt, womit das Abwenden von der innovatorischen Kunst eines Malewitsch oder Lissitzky und die Reproduktion klassizistisch repräsentativer Architektur des 19. Jahrhunderts in sozialistischen Ländern von den dreißiger bis in die fünfziger Jahre zu erklären sei. Diesmal konzentriert er sich unter Berufung auf Äußerungen sowjetischer Architekten auf die Kulturbedürfnisse der zumeist bäuerlichen Massen, die durch Revolution und sozialistische Industrialisierung in einen beschleunigten Verstädterungsprozeß hineingerissen wurden und diesen als sozialen und zivilisatorischen Aufstieg erfuhren. Als ästhetischen Ausdruck dieses ihres Aufstiegs machten sie sich die vorgefundenen architektonischen Muster der feudalen Palais bzw. der Bürgerhäuser zu eigen. So erklärt sich, daß die soziale Revolution ein zeitweiliges Sinken des ästhetischen Geschmacks bewirkte – um danach das vorrevolutionäre Niveau in größerer Breite zu überholen: Jetzt, 1958, nimmt Przyboś den Fall Davids und den Aufschwung der französischen Malerei im weiteren Gefolge der Revolution als Beleg hierfür. Unter Bezug auf Strzeminskis theoretischen Versuch, den Wandel des Sehbewußtseins in der Kunstgeschichte historisch-materialistisch zu erklären, interpretiert Przyboś den partiellen Rückschritt des Sehbewußtseins (vom Ende des 18. Jahrhunderts auf das 15. Jahrhundert) als Preis, den die Kunst erbrachte, um durch den Rückgriff auf klassizistisch-didaktische Muster einen wirkungsvollen Beitrag zur politischen Emanzipation des französischen Bürgertums zu leisten. Der kunstgeschichtliche Casus erscheint nun nicht mehr bloß als Kostümierung, sondern als erhellende Analogie für die Dialektik der Künste in der Revolution. Przyboś’ Erwägungen betreffen den objektiven Modus der Kunstentwicklung, d.h: die Ungleichzeitigkeit, in denen politischer, sozialer, ideologischer und künstlerischer Fortschritt zueinander stehen; sie berühren den Prozeß der Stilbildung, „der mächtiger und zwingender als der menschliche Wille ist.“26
Eine vorsätzliche Entscheidung, im eigenen Schaffen die erarbeiteten Kunstmittel mit Rücksicht auf den Empfänger zurückzunehmen, hat Przyboś nicht in Betracht gezogen. Seine Persönlichkeitsstruktur war die eines Lyrikers. Und als solcher war er dem im letzten nicht tilgbaren Ausdrucksmoment der Subjektivität verpflichtet. Seide Auffassung von Poesie als „absoluter Moral“ und das Konzept verschiedener Arten von Dichtung, die einander ergänzen, machten es ihm schwer, Zurücknahme ohne Selbstverleugnung oder Unaufrichtigkeit zu denken. Erfahrungen, wie sie Eisler und Brecht im Umgang mit den Kunstinstitutionen (bürgerliche Konzertpraxis, proletarische Musikbewegung, Filmindustrie, Theaterapparat) gesammelt hatten, standen ihm nicht zur Verfügung.
Zurück zum Jahr 1949, in dem mit der Annahme des Sechsjahrplans (1949–1955) die sozialistische Industrialisierung im großen Stil begann und das neue Kunstprogramm des sozialistischen Realismus vor allem administrativ in Kraft gesetzt wurde. Die Industrialisierung wurde von einer Gesellschaft in Angriff genommen, deren Gewohnheiten, Sitten und Mentalität von feudalen Relikten nicht gänzlich frei waren, so daß es in der städtischen, industriellen Umwelt häufig zur Wiederbelebung traditioneller bäuerlicher Verhaltensweisen kam. Die glänzenden Technik-Visionen der avantgardistischen Gedichte waren nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen mit der Situation des allgemeinen Mangels und der extensiven Anstrengung menschlicher Arbeitskraft, die die erste Phase der Industrialisierung charakterisierte.
Diese Bedingungen ließen verständlicherweise wenig Raum für die Beachtung der künstlerischen Eigengesetzlichkeit von Poesie und erklären auch die kulturpolitische Orientierung, diese vor allem als Instrument ideologischer Erziehung einzusetzen. Es war nicht die von Kulturpolitikern und Kritikern an die Künstler gerichtete Forderung, in ihren Werken die politische Verantwortung entschiedener wahrzunehmen, die Schwierigkeiten heraufbeschwor, sondern die Schlußfolgerungen, die daraus in Ästhetik, Literaturkritik und verlegerischer Praxis gezogen wurden. Erst die Auslegung der erzieherischen Funktion als Bebilderung vorgegebener Thesen, als Belehrung in einfachen Formeln, die den Leser zur distanzlosen Identifikation mit den angebotenen Vorbildern anhielt – engte das Feld gestalterischer Möglichkeiten ein.
Für die Lyrik bedeutete das die faktische Ausschaltung der Krakauer Avantgarde aus dem literarischen Leben. 1947 ging Przyboś als Botschafter seines Landes für vier Jahre in die Schweiz. Durch die kulturpolitische Atmosphäre und seine Krankheit isoliert, zog sich Peiper aus der Öffentlichkeit gänzlich zurück. Die Auseinandersetzung der jungen Dichter mit der in den ersten Jahren nach dem Krieg einflußreichen avantgardistischen Poetik verstummte, denn die Kritik bescheinigte jedem dieser Versuche, auch so kritischen wie dem von Tadeusz Różewicz, er sei von bürgerlich dekadenter Ästhetik belastet. Auf der zentralen Kunstausstellung 1948 waren Maler der avantgardistischen Tradition zum letzten Mal vertreten.
So blieb ungeprüft und ungenutzt, was die konstruktivistische Avantgarde an brauchbaren Angeboten für die damalige gesellschaftliche Situation bereithielt, die im umfassendsten Sinn von einer Strategie des Bauens bestimmt war. Vier Gesichtspunkte wären hier zu nennen:

Erstens. Das optimistische, konsequent gegenwartsbezogene und aktive Weltverhältnis. Es beschränkte sich nicht auf das Bekenntnis oder ein abzuarbeitendes Thema, das in beliebiger Sprache vorzutragen wäre, sondern drängte auf Ausdruck in einer adäquaten poetischen Struktur.
Zweitens. Der Urbanismus als poetischer Gegenstand, als Betrachtungsweise und Werthierarchie enthielt die Chance, dem eklatanten Mangel an Urbanität in der polnischen Kultur, der gerade im Zuge der Industrialisierung spürbar wurde, positiv zu begegnen.
Drittens. Die Rationalität und Weltoffenheit der Avantgarde enthielt Potenzen, die Ausbildung internationalistischer Haltungen zu fördern – und zwar gegen die Mythisierung der nationalen Besonderheit wie gegen das Leugnen internationaler Gemeinsamkeiten in der Literatur- und Kunstentwicklung des 20. Jahrhunderts.
Viertens. Der konstruktivistischen Idee, daß Fortschritt die Unterwerfung der Natur durch Kultur (Zivilisation) bedeute, eröffnet sich jetzt eine neue geschichtliche Chance. Die auf technische Beherrschung der Welt gerichtete Kreativität hätte unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen ihre eigentliche Bewährungsprobe haben können. Gerade der Gegenstand Arbeit bot sich als Bindeglied zwischen den Bedürfnissen des gesellschaftlichen Aufbaus der frühen fünfziger Jahre und der Ästhetik der Avantgarde an. Für Przyboś war Arbeit stets ein wichtiges Problem, nicht als bloßes Thema, er sah den Grundcharakter der Poesie von ihr bestimmt. Seine Poetik hatte das Vermögen entwickelt, den Arbeitsvorgang als Ausdruck schöpferischer Leidenschaft des Menschen zu fassen. Für Belehrung und Aufforderung des Arbeiters zu mehr heroischer Leistung war darin allerdings kein Platz. Ein solches rhethorisches Modell „tyrtäischer“ Kampflyrik (W. Broniewski) erhielt den kulturpolitischen Vorzug. Przyboś wurde nicht müde – auch dann noch, als dafür kein Beifall zu erhalten war –, von der Literatur einer sozialistischen Gesellschaft zu verlangen, daß sie sich ernsthaft und künstlerisch einfallsreich dem Problem der befreiten, aber noch immer harten, mühseligen Arbeit stellen müsse.

Das Abdrängen der Avantgarde-Problematik aus der Öffentlichkeit hatte eine Vernachlässigung des künstlerischen Materialbewußtseins zur Folge; das Interesse für Stil und Komposition wurde zu den „sonderbarsten Absonderlichkeiten“ gerechnet. Hand in Hand damit verbreitete sich eine schematische Sicht der Realität, die, gestützt auf Axiome von der Art: „In unserer Wirklichkeit gibt es für die Kategorie des Tragischen keinen Platz“, die wirklichen individuellen und gesellschaftlichen Konflikte einebnete. Aus dem historischen Abstand betrachtet, läßt sich sagen, daß im ersten Jahrzehnt nach dem Krieg eine deutliche kulturpolitische Präferenz für dieses schwierige Modell nicht zu erwarten war. Seine praktische Ausklammerung aus dem lebendigen Kunstprozeß in den Jahren 1949 bis 1955 war jedoch keineswegs unumgänglich und kann nicht als gerechtfertigt erscheinen; sie führte zu einem Abfall der künstlerischen Leistungen in der Lyrik und zur scholastischen Verflachung der Literatur- und Kunsttheorie.
Eine Phase neuerlicher Prüfung und kritischer Aneignung der Avantgarde begann 1955. Schon zwei Jahre davor hatte die Zeitschrift Nowa Kultura mit einer Diskussion über den „Fall Przyboś“ das bis dahin herrschende Schweigen gebrochen. Die Rückkehr der anstehenden Fragen in die Öffentlichkeit war damit eingeleitet, aber ein produktives Verhältnis zu ihnen noch nicht gefunden. Den Stein ins Rollen brachte eine Ausstellung junger Künstler, die unter dem Motto „Gegen Krieg und Faschismus“ anläßlich der V. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Warschau eröffnet wurde. Zum ersten Mal seit 1948 wurden dort Bilder gezeigt, die, deutliche Impulse der modernen europäischen Kunstströmungen aufwiesen. Die Anleihen bei Picasso, Braque, Léger, Matisse, Chagall u.a. waren nicht zu übersehen. Eine heftige Kontroverse, die auf die gesamte kulturelle Öffentlichkeit ausstrahlte, schloß sich an. Es ging um die Frage, wie eine Kunst erreicht werden könne, die ihr revolutionäres Anliegen vorträgt, ohne ihre Modernität zu verleugnen. Ein Problem, das schon 1945 aufgeworfen wurde. Und ein weiteres offenbarte die Ausstellung – die unter den jungen Künstlern verbreitete ästhetische Orientierungslosigkeit. Das lange gestaute Bedürfnis nach internationalem Austausch von Kunst, nach Modernität überhaupt, ließ, bei beträchtlicher Unsicherheit, die Unterschiede zwischen moderner Tapete, moderner Architektur und moderner Literatur verschwimmen. Es ging ziemlich konfus zu, weil man ohne die sichere Kenntnis der bereits historischen Kunstströmungen der zwanziger und dreißiger Jahre diskutierte. In dieser Situation bewahrte sich Przyboś einen nüchternen Blick für das tatsächliche Leistungsvermögen der jungen Künstler. Unbestechlich wies er ihnen ihre theoretische Unselbständigkeit nach, die Unkenntnis der modernen polnischen Tradition – und er machte Vorschläge zur Überwindung dieses Zustands.
Dieses Ereignis verweist auf einen grundsätzlichen Wandel im kulturellen Leben, und zwar im Zusammenhang mit den politischen, gesellschaftlichen und kulturpolitischen Veränderungen, die seit 1956 in Polen eingetreten sind. Neben der künstlerischen kehrte auch die literarische u8Avantgarde auf mannigfaltige Weise in die Öffentlichkeit zurück; durch das publizistische und poetische Auftreten ihres hauptsächlichen Protagonisten Przyboś, durch die einsetzende Edition von Texten der zwanziger und dreißiger Jahre und auch die literaturgeschichtliche Forschung, die sich nun der gesamten Periode 1918 bis 1939 ohne Tabus zuwandte.
Die Lyriker der Generation 56 (Herbert, Białoszewski, Karpowicz, Grochowiak, Harasymowicz, Drozdowski), geleitet vom Interesse an einem möglichst originellen Ausdruck für die individuelle Phantasie, machten die Poetik und Poesie der Krakauer Avantgarde zum zentralen Bezugsfeld ihrer im einzelnen gegensätzlichen Lösungsversuche. Keineswegs verstanden sie sich aber als deren Testamentsvollstrecker. Die Anknüpfung vollzog sich durchaus nicht so, daß nun genau das nachgeholt worden wäre, was zuvor ungenutzt geblieben war. Ein neues Funktionsverständnis der Literatur setzte sich durch: Austausch der Individuen über die Widersprüchlichkeit der Entwicklung im Sozialismus als der eigenen Lebenswirklichkeit. Die differenzierten Literaturverhältnisse lenkten die Aufmerksamkeit der Autoren zuallerletzt auf die konstruktivistischen Glaubenssätze. In der Handhabung der debütierenden Dichter verlor die avantgardistische Poetik ihre puristische Strenge, die vielberufenen Verständnisschwierigkeiten wurden abgeschliffen und fielen immer weniger ins Auge. So verhalfen die literarischen Enkel der Krakauer Avantgarde dieser zu einer zuvor nicht erreichten Breitenwirkung, lösten damit aber die systemhafte Geschlossenheit ihrer Poetik auf. Der Vorgang bestätigt die Beobachtung Tynjanows:

Man denkt gemeinhin, der Lehrer bereite die Rezeption seiner Schüler vor. In Wirklichkeit geschieht das Gegenteil.

Spätestens seit Mitte der sechziger Jahre hört die Krakauer Avantgarde auf, ein umkämpfter Gegenstand zu sein. Sie ist als eine wichtige literaturhistorische Erscheinung des 20. Jahrhunderts akzeptiert und wird durch systematische Ausgaben und Forschungen erschlossen. Aus historischem Abstand werden ihre Leistungen benannt, ihre Illusionen und Pyrrhussiege nicht verschwiegen. Zu letzteren gehören: der Präsentismus, der es vernachlässigte, Bindungen an die Kultur der Vergangenheit sichtbar zu machen (Przyboś. „Nein, ich besitze keinen Geschichtssinn. Ich entstamme der ahistorischen Schicht namenloser Bauern“); der betonte Antipsychologismus bei Przyboś, ein übertriebener Ernst und Mangel an Spielerischem, so daß kein Raum blieb für komische, groteske oder absurde Gestaltungsweisen; thematische Einseitigkeit; eine rigorose Formstrenge, die zum Aufstellen ästhetischer Normen neigte.
Als poetisches Modell ist sie allerdings durch die Praxis einiger junger Dichter in den sechziger Jahren (Bordowicz, Jerzyna, Gasicrowski u.a.) in Mißkredit geraten. Deren Handhabung machte aus der Aufforderung zur poetischen Erneuerung sozial unverbindliche Sprachspiele, voll erlesener und rätselhafter Metaphern. Nur über Anspielungen auf Anspielungen hielt diese Lyrik noch Kontakt zur Realität: das avantgardistische Programm mit seinem aktiven Wirklichkeitsbezug wurde auf eine Sammlung bloßer Kunstgriffe zurechtgestutzt. Kurz: das poetische Handwerk trat an die Stelle der Weltanschauung. Für solchen epigonalen Umgang konnte das historische Grundmuster eigentlich nicht belangt werden, aber die Kritik unterschied nicht immer zwischen den beiden Ebenen, wenn sie, auf die sechziger Jahre gemünzt, feststellte, daß die Avantgarde „zur billigsten Eintrittskarte in die Literatur geworden ist“ (A. Wasilewski).27
Schon die Nachfolger jedoch, die sogenannte „Neue Welle“ vom Anfang der siebziger Jahre, fanden einen anderen Zugang zur Avantgarde. Die Entleerung der sozialen Funktion und die hermetische Selbstgenügsamkeit in der Lyrik ihrer Vorgänger kritisierend, entdeckten sie Peipers ganzheitliches Kulturprogramm, versahen es mit kritischen Akzenten, und aktualisierten es für sich. Poesie sollte ihre Ausdrucks- und Wirkungsmöglichkeiten auf eine u.a. durch die Massenmedien veränderte Wirklichkeit einstellen und sich als Organisationsweise individueller und kollektiver Erfahrungen verstehen. Der Prozeß ständiger Neu- und Umbewertung hält an.
Aufs Ganze gesehen, läßt sich die Bedeutung der Krakauer Avantgarde aus den konträren Meinungen des Protagonisten Jalu Kurek. „Die Zeit hat der Avantgarde den Sieg zuerkannt“, und des Gegenspielers Czesław Miłosz: „Die Avantgardisten haben meist geirrt“ – nicht ableiten, wohl aber läßt sich daran ihr herausfordernder Grundzug ablesen. In der romantisch dominierten polnischen Kultur stellt sie eine rare rational-aufklärerische Gegenströmung dar, die sich eingebürgerten Denk- und Wertungsmustern produktiv widersetzte. Sie befreite sich vom Diktat der Tradition, verweigerte dem Nationalen den mythischen Rang einer Ultima ratio, stellte die konstruktive Beziehung zu Gegenwart und Zukunft über das Beschwören der glorreichen oder leidvollen Vergangenheit. Sie führte einen Poesiebegriff ein, der gegen die musikalisch-stimmungshafte Empfindung die sprachliche Erfindung und gedankliche Arbeit zu Ehren kommen ließ. Die Eigengesetzlichkeit der Kunst gegen zudringliche Verwertungsansprüche aller Art verteidigend, bekräftigte sie zugleich entschieden deren gesellschaftliche, humane Verantwortung.
Bei alledem ließ sie sich in das alternative polnische Zwangsmuster, das als Erbschaft des vergangenen in unser Jahrhundert übernommen wurde: entweder .romantischer“ Gefühlsüberschwang oder „positivistisch“ trockene Vernunft – nicht sperren: Quer zu solcher Zweiteilung steht Peipers Aphorismus:

Ein Herz haben, das, ins Gehirn verpflanzt, nicht schrumpft, sondern wächst.

In den einzelnen Phasen gesellschaftlicher und literarischer Entwicklung nach 1945 war die Avantgarde nicht gleichermaßen geschätzt, und es gab unvermeidbare Schwierigkeiten und vermeidbare Fehlschlüsse. Als lebendiges Erbe der sozialistischen Gesellschaft führt die Avantgarde uns Heutigen unter anderem einen lehrreichen Grundriß literarischen Lebens vor Augen, worin im schöpferischen Gegeneinander persönlicher künstlerischer Auffassungen sich die konzeptionelle Gemeinsamkeit der Bewegung konstituiert.

Heinrich Olschowsky, Berlin, Juni 1984, Vorwort

P.S. Der Herausgeber fühlt sich gedrängt, den polnischen Wissenschaftlern Janusz Sławiński, Stanisław Jaworski und Andrzej Lam zu danken, deren Forschungen heute die Grundlage aller weiteren Beschäftigung mit der Krakauer Avantgarde bilden, sowie den Kollegen seiner Arbeitsgruppe am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der AdW für die gewinnbringenden Diskussionen. Des weiteren gilt sein auf richtiger Dank der Lektorin Frau Monika Heinker, die den Fortgang der Arbeit in kritischer Partnerschaft, umsichtig und geduldig begleitet hat.

 

Inhalt

Heinrich Olschowsky: Die Krakauer Avantgarde: Geschichte und Nachwirkung

PROGRAMMTEXTE

„Umarmung der Gegenwart“ – Bestimmung der kulturellen Ausgangspositionen
Tadeusz Peiper: Der Ausgangspunkt
Tadeusz Peiper: Stadt, Masse, Maschine
Julian Przyboś: Der Mensch in den Dingen
Julian Przyboś: Der Mensch über der Natur

Poetik: Das Gedicht – ein Bauwerk
Tadeusz Peiper: Die Metapher der Jetztzeit
Tadeusz Peiper: Poesie als Bauwerk
Tadeusz Peiper: Das neue Schaffen
Julian Przyboś: Die Form der neuen Lyrik
Julian Przyboś: Über die integrale Poesie

Kunst und Proletariat
Tadeusz Peiper: Auch auf andere Weise
Tadeusz Peiper: Kunst und Proletariat
Jan Brzękowski: Angewandte und proletarische Poesie
Tadeusz Peiper: Unterscheidungen

Konstruktivistische Gemeinschaft der Künste
Tadeusz Peiper: Malewitsch in Polen
Tadeusz Peiper: Im Bauhaus
Władysław Strzemiński: Kommunique Nr. 1 der Gruppe „a. r.“
Julian Przyboś: Władysław Strzemińskis Neuerertum
Julian Przyboś: Strzemińskis Theorie des Sehens

Entdeckung neuer Kunstgattungen: Film, Rundfunk
Tadessz Peiper: Für die Spezifik des Kinos
Tadeusz Peiper: Die Autonomie der Leinwand
Tadeusz Peiper: Das Radio als Anwalt

Von der Pflicht des Künstlers. Vorschläge in den Kunstdebatten der sozialistischen Gesellschaft
Julian Przyboś: Aus der poetischen Theorie und Praxis
Julian Przyboś: Von der Pflicht des Künstlers
Julian Przyboś: Über die Grundlagen einer Ästhetik
Julian Przyboś: Poesie und Revolution
Julian Przyboś: Schlußfolgerungen und Vorschläge
Julian Przyboś: Vom Bündnis der Arbeit mit der Kunst

GEDICHTE

 

 

„Allenorts und jederzeit

sind wir umgeben von einem dichten Wald von Dingen, ausgesät von der Hand der Zivilisation. In unsere Werke verstrickt, sind wir mit ihnen verbunden wie mit unseren eigenen Händen. Wir leben und handeln in einer Welt der Dinge; Dinge formen unsere Gedanken und Gefühle; Dinge definieren unablässig unseren Geist; Dinge, die jeweilige Beziehung zu ihnen, erfüllen unsere Psyche. Mensch sein – heißt Schöpfer sein.“ Dies schrieb Julian Przyboś in dem Aufsatz „Der Mensch in den Dingen“, erschienen 1926 in Tadeusz Peipers Zeitschrift Zwrotnica (Die Weiche). Beide waren die führenden Köpfe jener avantgardistischen Gruppierung, die unter dem Namen „Krakauer Avantgarde“ bekannt geworden ist und die das konsequenteste und folgenreichste literarische Programm der polnischen Avantgardebewegung im Zeitraum 1918 bis 1939 formulierte. Peiper, theoretisches Haupt der Gruppe, wollte die Lyrik rigoros disziplinieren, sein Konzept stellt etwa eine poetische Entsprechung der Bauhaus-Ideen dar. Weiterentwickelt und modifiziert, vor allem von Przyboś, dem repräsentativen Lyriker der Krakauer Avantgarde, setzten sich diese Prinzipien im Laufe der Zeit durch und gingen in den verschiedenen Tendenzen der polnischen Gegenwartslyrik auf.

Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, Klappentext, 1986

 

Ein Beitrag zur Moderne

„Der Kunst schadet nicht das Gehirn, sondern das gewöhnliche Gehirn. Not tut das gute Gehirn.“

„Denn das Gedicht ist ein Bauwerk. … Ein Kunstwerk bauen heißt, das Chaos zur Ordnung zu bringen.“

„Kunst dient der Gesellschaft auch durch die sog. Form ihrer Werke.“

„Poesie ist, was sich in der Umgangssprache, in Prosa nicht sagen läßt.“

„Die allererste gesellschaftliche Pflicht des Künstlers als Künstler ist seine Pflicht der Kunst gegenüber.“

Mit diesen fünf Zitaten sind Grundmotive der Krakauer Avantgarde angedeutet. Was Olschowsky zusammengestellt, kommentiert und mit einem klugen Vorwort versehen hat, ist eine aufregende Lektüre. Das Aufregende kommt zunächst aus der Entdeckung: Wer außer ein paar Spezialisten kannte denn bisher lyrische und essayistische Texte von Tadeusz Peiper oder Julian Przyboś, den beiden zentralen Figuren der Krakauer Avantgarde? Wer hat gewußt, welch brillante und konsequente Denker sie waren?
Unser Bild von der künstlerischen Avantgarde im ersten Drittel dieses Jahrhunderts ist geprägt durch Kenntnis der westeuropäischen (wenn nicht gar nur der deutschen) und der sowjetischen Avantgarde. Weder die tschechoslowakischen noch die polnischen Beiträge zu dieser ästhetischen Erneuerung haben bisher unser Verständnis der Avantgarde mitbestimmt. Olschowsky schließt eine Lücke, deren Vorhandensein erst jetzt bewußt wird. Denn die Krakauer Avantgarde hat – ebenso wie die tschechoslowakische – einige Besonderheiten, die, gerade die allgemeine Bedeutung der Avantgarde deutlich machen. Dazu gehört vor allem der zeitliche Faktor. Wie die westeuropäische Avantgarde setzte die Krakauer 1917/18 ein, war Reaktion auf den ersten Weltkrieg als erschütterndem Beweis für die Krise des kapitalistischen Gesellschaftssystems, war Reaktion auf die Oktoberrevolution als Beginn von Zukunft. In einer Welt im Umbruch konnte nichts mehr so sein wie zuvor – auch und, gerade die Kunst nicht. Revolutionierung der Kunst als Teil und als Zeichen einer kulturellen Revolution, das war die Aufgabe, mit der die Avantgarde antrat. Peiper schrieb 1922 lakonisch:

Eine neue Epoche beginnt: die Epoche der Umarmung mit der Jetztzeit.

Und Władysław Strzemiński formulierte im Kommuniqué Nr. 1 der Gruppe a. r. 1930 das Selbstverständnis so:

Moderne Kunst ist keine weitere Stilrichtung. Moderne Kunst widerspricht allem, was früher war. Sie ist die Revolution der bisherigen Empfindungsgrundlagen. Moderne Kunst verändert das Verhältnis des Menschen zu allen Werken seiner Hand.

Die Krakauer Avantgarde hatte zwanzig Jahre Zeit, ihre Ziele zu formulieren, zu überdenken und die Positionen in der Debatte zu festigen. Fünf Jahre länger als in Deutschland. Dies waren entscheidende Jahre, ging es in ihnen doch um ein politisches Bündnis aller antifaschistischen Kräfte. In ihnen hatte die Krakauer Avantgarde ihren Platz – gewiß nicht unumstritten, aber gesichert durch sozialistische Gesinnung und durch dialogbereite und -fähige Partner unter den Marxisten (wie Ignacy Fik). In den Debatten um proletarische Kunst, um Tendenz und Poesie, um die Funktion von Kunst vertraten vor allem Peiper und Przyboś eine Position, die alte Dualismen überwand – darunter auch solche, die den Beginn der Avantgarde-Bewegung bestimmt hatten. So den Dualismus von Autonomie der Kunst und politischem Engagement, von avanciertem Kunst-Standard und Massenwirksamkeit von Kunst. Überwindung von Dualismen hieß allerdings nicht eklektisches Verwischen von Gegensätzen. Ein Beispiel: Zu den umstrittensten Schlagworten, die je in der künstlerischen Avantgarde gebildet wurden, gehört ohne Frage das Wort von der „Poesie für Zwölf“. Bekenntnis zu einer elitären Poesie, zu l’art pour l’art? Oder Verteidigung der Poesie gegen die Indienstnahme für Zwecke, die auch mit anderen Mitteln als denen der Poesie erfüllt werden können? Peiper wie Przyboś akzeptierten die Forderung, Kunst solle der Gesellschaft dienen. Aber Wie? Worin besteht das Unersetzbare dieses Dienstes?

Um ihrem gesellschaftlichen Dienst nachzukommen, braucht sie keine sozialen Losungen zu verkünden; um von allen geliebt zu werden, muß sie nicht von ihrer Liebe zu allen schreien… um nützlich zu sein, braucht sie nicht tendenziös zu sein; unentbehrlich für die Gesellschaft, bleibt sie entbehrlich beim Klößemachen.

Der „Dienst“, den Poesie der Gesellschaft leisten sollte, besteht darin, „Produktionsstätte verschiedenartigen Erlebens“, „Laboratorium zur Erfindung immer leistungsfähigerer Mittel des sprachlichen Ausdrucks“ zu sein. Deshalb hat Poesie vor allem die Aufgabe, Poesie weiterzuentwickeln. Daran hielten Peiper wie Przyboś fest – aber ohne Verdikt gegen andere Art von Dichtung, gegen Gebrauchslyrik etwa, politische Tagesdichtung. So verteidigte Peiper in der Kunst-Proletariat-Debatte eine Lyrik (wie die von Broniewski), die nicht dem Avantgarde-Standard entsprach, aber von großer Wirksamkeit war. Und so erläuterte Peiper später, Poesie für Zwölf sei nie das Ziel gewesen, sondern ein notwendiges Zwischenstadium.

Es ist der Anfang des Weges, nicht der ganze Weg. Es ist keine Absonderung von der Allgemeinheit. Es ist der Anspruch der ambitioniertesten Kunst auf größte gesellschaftliche Nützlichkeit. Es ist der Glaube an den gesellschaftlichen Wert des Allerbesten.

Verbunden war damit die Überzeugung, eine künftige sozialistische Gesellschaft werde aus dieser Poesie für Zwölf eine für zwölf Millionen machen. Die Wirkung dieser Poesie sei eine auf Zeit, sie habe Laboratoriumsarbeit für die Zukunft zu leisten – ein Selbstverständnis, das ganz ähnlich von Vertretern der Avantgarde in anderen Ländern formuliert wurde, etwa von Adolf Behne in Deutschland.
Als die Debatten 1939 durch die faschistische Okkupation beendet wurden, die Vertreter der Krakauer Avantgarde ins Exil oder in den Untergrund gingen, schien dieser Avantgarde ihr Platz in einer sozialistischen Kunstentwicklung der Zukunft sicher. Und nach 1945 nahmen die Überlebenden diesen Platz auch ein. Bis 1948 die Wende erfolgte – in Polen wie in allen sozialistischen Ländern. Eine Wende, die in einem radikalen Bruch mit dem Erbe der künstlerischen Avantgarde bestand, in deren Ausgliedern aus dem Kunstprozeß der Gegenwart und ihrer Diffamierung als Formalismus und Dekadenz. Andere Traditionen – klassische, nationale – wurden bevorzugt, eine andere Ästhetik mit der sozialistischen Kulturpolitik verbunden. Wenn auch recht bald – in Polen 1955 – die Diskussion wieder eröffnet wurde und Vertreter der Avantgarde in die Öffentlichkeit zurückkehrten, so waren doch bestimmte Folgen des vorangegangenen Bruchs nicht zurückzunehmen. Entscheidende Ämter waren von anderen besetzt, Vertreter der Avantgarde (wie Strzemiński) waren gestorben, andere verzweifelt, krank (wie Peiper), der Wiederaufbau zerstörter Städte und der Neuaufbau der Gesellschaft hatten ohne den produktiven Beitrag der Avantgarde begonnen. Olschowsky schreibt dazu:

Aus dem historischen Abstand betrachtet, läßt sich sagen, daß im ersten Jahrzehnt nach dem Krieg eine deutliche kulturpolitische Präferenz für dieses schwierige Modell nicht zu erwarten war. Seine praktische Ausklammerung aus dem lebendigen Kunstprozeß in den Jahren 1949 bis 1955 war jedoch keineswegs unumgänglich und kann nicht als gerechtfertigt erscheinen; sie führte zu einem Abfall der künstlerischen Leistungen in der Lyrik und zur scholastischen Verflachung der Literatur- und Kunsttheorie.

Was war es, was da abgeschnitten wurde und dessen Ausgliederung aus dem Kunstprozeß unsere ästhetische Kultur bis heute mitprägt (und keineswegs nur in der Lyrik)? Olschowsky nennt vier Angebote der Krakauer Avantgarde, die ungeprüft und ungenutzt blieben: das optimistische, konsequent gegenwartsbezogene und aktive Weltverhältnis; Urbanismus gegen romantische Ruralität; Rationalität und Weltoffenheit gegen die Mythisierung nationaler Besonderheiten; die konstruktivistische Idee von der Arbeit als Grundlage und Mittel des Fortschritts in allen Lebensbereichen, auch in der Kunst.
Diese Angebote – und noch einige mehr – teilten die Krakauer Avantgardisten mit jenen in der Sowjetunion und in anderen Ländern. Und es zeigen sich auch Übereinstimmungen dort, wo zunächst nur Unterschiede zu vermuten waren. Die führenden Vertreter der Krakauer Avantgarde waren Literaten; in anderen Ländern spielten bildende Künstler und Architekten die zentrale Rolle. Die Krakauer plädierten für die Reinheit der Poesie und wehrten sich gegen die Vermischung, gegen Synthese der Künste. Diese aber war zum Beispiel am Bauhaus ein wichtiger Programmpunkt. – Doch es reicht eben nicht aus, die Worte gegeneinander zu halten, es muß schon nach den Bedeutungen gefragt werden. Und da zeigt sich: Die Krakauer wollten das Poetische rein halten gegenüber dem Malerischen und dem Musikalischen, in Deutschland ging es eher darum, Theater wie Malerei vom Literarischen frei zu halten. In beiden Fällen aber ging es um die Abwehr von Gefühligkeit, das Setzen auf Rationalität, um Objektivierbares und Gesetzmäßiges. Abgewehrt wird, was Brecht im „Dreigroschenprozeß“ „Kunst als Ausdruck einer Persönlichkeit“ nannte. Przyboś schrieb in dem Aufsatz, der dem vorliegenden Band den Titel gab:

Der Mann, der uns seine Gefühle geradezu beim Namen nennt, ist ein Grobian; er ist es hundertfach in der Poesie, der Sprache höchster Zucht und Zurückhaltung. Der Mann, der uns aufdringlich die Gefühle anderer verrät, ist ein Klatschmaul; in der Poesie ist das Klatschmaul ein Verleumder. Der zeitgenössische Dichter der Gegenwart schreit seine Gefühle nicht heraus; in die Disziplin der Ökonomie gespannt, hat er sich die Würde männlicher Knappheit erworben… er kleidet seine Gefühle in die Stärke einer zurückhaltenden Gedichtkonstruktion.

Gegen dieses Programm wurden und werden Einwände erhoben – im Namen der Gefühle, im Namen des ganzen Menschen. Von der Gefahr der Verarmung wird gesprochen. Gerade heute wieder. Ist doch das Expressive zum wiederentdeckten Kunstwert geworden, wird doch in der Kunst das Spielerische und Spontane neu geschätzte als notwendiger Freiraum gegenüber der Disziplin der Ökonomie und rationalistischen Konstruktion. So sind die Angebote der Avantgarde erneut in die Diskussion geraten, wird ihre Tauglichkeit für heute eher bezweifelt als angenommen. Allerdings: Dies geschieht häufig unter dem Vorzeichen eines Entweder-Oder. Mit der Furcht, vor einer Diktatur von Konstruktivismus, Rationalismus, auch Funktionalismus. Von dem Anspruch auf Ausschließlichkeit waren die Vertreter der Krakauer Avantgarde jedoch weit entfernt. Przyboś schrieb:

Jedes künstlerische Monopol führt zur Verkalkung. Erst in der theoretischen Auseinandersetzung und in der Konfrontation der Leistungen, erst im Kampf entsteht das Neue.

Tatsächlich hatte in der Geschichte sozialistischer Kulturentwicklung diese Tradition der künstlerischen Avantgarde wohl nie das Monopol, ihre Präsenz war stets eher gefährdet als selbstverständlich. Das Potential dieser Form von Wirklichkeitsaneignung und von Haltung in der Konfrontation mit anderen zu erproben bleibt notwendiges Entwicklungsmoment unserer ästhetischen Kultur.
Konstruktion und Bauen waren zentrale Begriffe der künstlerischen Avantgarde – auch der polnischen. Gedichte sollten gebaut werden, ebenso wie Bilder und Häuser. Dies ist eine Grundidee des Konstruktivismus, die auf alle Künste zielt. Und so betonten die Krakauer zwar nicht die Synthese, aber die Kooperation der Künste. Und sie praktizierten sie. Zum Beispiel in der Kooperation mit dem bildenden Künstler Strzemiński. Liest man, was Przyboś in den fünfziger Jahren schrieb, um das Werk dieses vom Formalismus-Verdikt Getroffenen und 1952 Verstorbenen vor dem Vergessen zu bewahren, so fragt man sich: Warum gibt es bis heute bei uns keine Übersetzung der „Theorie des Sehens“ von Strzemiński? Er war ein Mann, dem die Gründung der Sammlung moderner Kunst in Łódź zu verdanken ist, der ganz offenbar nicht nur ein bedeutender Vertreter des Konstruktivismus, sondern auch ein kluger Theoretiker war.
Was Strzemiński, Peiper und Przyboś verband, das war eine Grundhaltung zum Verhältnis Kunst und Leben. Kunst sollte nicht nur, nicht in erster Linie appellieren, nicht wiedererzählen und nicht heroisieren. Sie sollte mit ihren Gestalten eine neue Art zu sehen vorführen und modellieren. Sie sollte Lust machen an einem aktiven aneignenden Weltverhalten und eine neue Schönheit zeigen:

Schön ist, was ich leisten kann.

Kunst sollte Vorarbeit leisten für eine künftige sozialistische und demokratische Gesellschaft, indem sie Schluß macht mit überkommener Hierarchisierung der Gegenstände. Indem sie statt des Irrationalismus und des Luxus die Grundsätze von Knappheit und Konzentration vertritt, eine Ökonomie der Mittel als Ausdruck des Sicheinlassens von Kunst auf die Anforderungen der Realität. Was Zeitgenossen – damaligen wie heutigen – Anlaß für Klage und Besorgnis um das Schicksal der Kunst und der menschlichen Gefühle war und ist, das nahmen die Vertreter der Avantgarde als Herausforderung an; für die andere Haltung hatten sie nur Hohn und Spott übrig. Sie stellten sich der Dominanz der Ökonomie, der Präsenz von Technik, Stadt und Massen. So prägten sie Grundzüge von Modernität in ihren Werken aus und bekannten sich zur Modernität im Leben. Das hat ihnen den Vorwurf der Traditionsfeindlichkeit eingebracht. Sie aber haben ihre Feindschaft genau gerichtet. Peiper bekannte 1925:

Groß ist nur die Vergangenheit, die zu ihrer Zeit Gegenwart war und von der wir lernen können, wie man Gegenwart macht. Das ist die wertvollste Rolle der Tradition. Tradition ist entweder Beispiel der Freiheit gegen eine ältere Tradition – dann ist sie lehrreich; oder sie ist eine Krypta mit dem Anspruch, Speicher zu sein – dann ist sie ein Unglück. Wir können also wählen. Wenn dem aber so ist, dann laßt uns die glänzendste Tradition dieses Landes wählen, wählen wir die kopernikanische Tradition, die Tradition des Widerstands gegen die Tradition – sofern diese tot ist.

Was ungemein genußvoll zu lesen ist, das ist polemisch und entschieden, sehr klar. Manchmal auch mit lustigen Verabsolutierungen der eigenen Rolle. So, wenn bei aller Abwehr von Nationalismus der eigenen, nationalen Avantgarde die führende Rolle zugesprochen wird. „Die Idee von der Integration des Lebens durch die Kunst wurde in Polen geboren“, schrieb Przyboś 1958. Aber auch dies gehört zu dem, was Hans Magnus Enzensberger einmal die Aporien der Avantgarde genannt hat.
Die Texte sind von einer Überzeugungskraft, die, glaube ich, nur aus der Wahrheit kommen kann. Das betrifft zum Beispiel, was Przyboś zum Thema Realismus, Volkstümlichkeit, Massenwirksamkeit von Kunst in den fünfziger Jahren schrieb – nach der Erfahrung der Widerstände gegen die eigenen Angebote. Sehr schnell hat sich Przyboś wieder eingemischt, zu Wort gemeldet. 1955 forderte er:

Wenn es der Grundsatz der sozialistischen Wirtschaft ist, die wachsenden Bedürfnisse der Gesellschaft durch die Entwicklung einer auf die modernste technische Basis gegründeten Produktion zu befriedigen, so muß sich die Befriedigung der künstlerischen Bedürfnisse des sozialistischen Menschen ebenfalls durch Werke vollziehen, die auf der Basis der höchsten künstlerischen Technik geschaffen werden.

Und er argumentiert gegenüber den zumeist im Namen – der „einfachen Menschen“ erhobenen Bedenken gegen moderne Kunst und avancierten technischen Standard der Kunst mit der Unterscheidung von einfachen und einfältigen Menschen. „Wer auf die Einfältigen baut, baut nicht auf das Volk. Dieses ist in seiner Masse einfach, aber nicht einfältig. Es hat ein Recht auf wahre Kunst.“ „Daß ein Professor ein bestimmtes Werk nicht versteht, bedeutet nicht, daß ein Arbeiter oder ein Bauer es nicht verstehen kann, … der einfache Mann nimmt es unvoreingenommen auf, nicht wie der Intelligenzler über den Bezug zu alten, bekannten Werken.“
Unter diesen Vorzeichen forderte Przyboś eine Rückkehr zum Realismus, die kein Rückzug sein dürfte. Und das heißt: kein Rückzug von der Erneuerung der Kunst, ihres Materials, ihrer Technik, ihrer Form. Denn trotz aller Beschuldigungen, Formalisten zu sein, den Inhalt zu vernachlässigen, blieben die Vertreter der Krakauer Avantgarde bei ihrem Axiom (und hier liegt vielleicht die wichtigste theoretische Leistung): Inhalt und Form sind in der Kunst nicht zu trennen, Erneuerung der Form ist immer auch Erneuerung des Inhalts.

Auch die Form ist Inhalt.

Und ich finde bemerkenswert, wie Peiper das viel gebrauchte Bild vom Gefäß und der darin befindlichen Flüssigkeit als Modell für die Beziehung von Form und Inhalt umformt. Man müßte sagen, „daß die Form ein Gefäß ist, dessen Wände eine chemische Wirkung auf die in ihnen enthaltene Flüssigkeit ausüben und dadurch deren Natur völlig verändern. Oder: Die Form sickert in den Inhalt ein und wird zum Inhalt.“ Nach diesem Verständnis muß in der Kunst gebaut werden – nicht nur eine Form für einen möglicherweise auch anders zu formierenden Inhalt, sondern der Inhalt selbst, die bedeutende Form, die geformte Bedeutung. Wieder die zentrale Rolle des „Bauens“.
Und es ist einleuchtend: Wer für die Kunst von Bauen, von Konstruktion und Ordnen spricht statt von Intuition, Gefühl und Selbstausdruck, der steht auch neuen Techniken und Medien außerhalb der Kunst neugierig gegenüber, nicht skeptisch. Der fragt, welche Art von Anregung in ihnen stecken könnte, nicht nur als Gegenstand, sondern als Produktionsmittel, als Gestaltungsmittel der Kunst selbst, Jahre vor Brechts „Radiotheorie“ oder Benjamins „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ dachte Peiper am Beispiel von Radio und Kino über das Verhältnis von Technik und Kunst nach, fand in der Technik eine große Anregerin für die Kunst. Auch für die tradierten Künste. So beschrieb er die Möglichkeiten, durch Technik Bewegung in bisher statische, Kunstformen zu bringen – was in praktischen Kunstexperimenten wie László Moholy-Nagys Licht-Raum-Modulator in den zwanziger Jahren auch erprobt wurde. In Plastik wie in Malerei könnte so nach Peiper das Element der Zeit, auch der Überraschung, eingeführt werden, neue bildnerische Ideen könnten entstehen. – Dies nur als Beispiel dafür, welche Entdeckungen dieses Reclam-Bändchen bereithält.
Nein, bloß historisches Interesse ist es nicht, das durch diese Text-Sammlung geweckt und befriedigt wird. Sie macht deutlich: Die künstlerische Avantgarde, die sich zwischen 1917 und dem Ende der dreißiger Jahre in Europa entwickelt hat, war mehr als eine innovative Kunstströmung unter anderen, war mehr als avancierte Kunst. Sie war eine tiefgreifende Revolution in der Kunst, die zu tun hatte mit den Hoffnungen auf Revolutionierung der Gesellschaft und die deshalb nicht nur auf Veränderungen der Kunst, sondern der ästhetischen Kultur zielte. Sie war eine internationale Strömung, geprägt von Internationalismus, und sie war in den jeweiligen Akzentuierungen und Polemiken durchaus von den nationalen Traditionen mit bestimmt. Dies zeigt sich am deutlichsten in der Kunst selbst, in diesem Falle in der Lyrik der Krakauer Avantgarde.
Der vorliegende Band enthält nach den, thematisch geordneten, Programmtexten eine Auswahl von Gedichten von Tadeusz Peiper, Julian Przyboś, Jan Brzȩkowski und Jalu Kurek. Biographien der Vertreter der Krakauer Avantgarde und ein Abbildungsteil vervollständigen die Textsammlung.

Karin Hirdina, Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1988

 

 

Fakten und Vermutungen zu Heinrich Olschowsky + Kalliope

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