Walter Hinck (Hrsg.): Schläft ein Lied in allen Dingen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Walter Hinck (Hrsg.): Schläft ein Lied in allen Dingen

Hinck (Hrsg.)-Schläft ein Lied in allen Dingen

DAS ATELIER DER WORTE

das atelier                    werfen dir
der worte                     die worte
steht offen..                 eine kaskade
wenn du                       ins herz..
um das haus               nahend nah
herumgehst                der flieder
kannst du                   einer diktion..
schon merken           schon ist herb
wie tief wir                 und frisch
frühling                      schnittlauch
haben..                       für punkte
die vögel                    und komma..
sperren                      gegen abend
den mund auf          dann
und holen                 verschließen
satz um satz..          wir das haus..
schon duftet

ein weißes blatt papier drauf eine
aaaaavogel spur
die amsel stieg umher mit hyazinthen
aaaaaspur
was nützt schon mein gedicht? wie fand ich
aaaaaauch ein wort
ein bild gleich dieser zarten amsel
aaaaablumen spur?

H.C. Artmann

 

 

 

Einleitung

Orpheus, der sagenhafte Dichter und Musiker des alten Griechenlands, erhielt seine Leier vom Gott der Künste, Phöbus Apollon, selbst, und als Schüler der Musen lernte er die vollendete Beherrschung des Instruments. Große Gewalt schreibt der Mythos seinem Wort und seinem Spiel zu. Orpheus zähmte wilde Tiere; er bezauberte sogar Bäume und Felsen, so daß sie ihren Platz verließen und seinem Gesang folgten; er rührte die Bewohner des Hades, als er ins Totenreich hinabgestiegen war, Eurydike zurückzuholen. Als Priester Apollons erhob er seine Stimme gegen die Menschenopfer.
In den Gedichten der nachgeborenen Dichter kehrt er wieder als Urbild für die Macht des Gesangs, als der Bezwinger des Wilden und Ungesitteten. Der Humanist Conrad Celtis (um 1500) wünscht sich für Deutschland, das immer noch rohe Land der „Barbaren“, für die Veredlung der Sprache Dichter nach dem Beispiel des Orpheus. Und noch in unserem Jahrhundert huldigt ihm Rainer Maria Rilke in einer seiner großen Dichtungen, einem Zyklus von Sonetten.
Unsterblichkeit winkt dem großen Dichter. Sein Werk sei ein Monument von größerer Haltbarkeit denn Erz, und in der Nachwelt werde sich sein Ruhm noch mehren, so verkündet mit stolzer Selbstgewißheit der römische Dichter Horaz (Horatius Flaccus). Martin Opitz, der Lehrmeister der deutschen Poeten im 17. Jahrhundert, übersetzt nicht nur die Ode „Exegi monumentum aere perennius“, er schreibt auch, gegen die Neider seines eigenen Ruhms, ein neues Lied von der Unsterblichkeit der „Poeterey“. Aber in spielerischer Bescheidenheit durchbricht schon, um die Mitte des 18. Jahrhunderts, Friedrich von Hagedorn das Ritual des dichterischen Selbstlobs und bedenkt, daß er in der Nachwelt Feinde haben könnte. Und in unserem Jahrhundert antwortet Bertolt Brecht auf die „Monumentum“-Ode des Horaz mit der Frage „Warum soll mein Name genannt werden?“ und mit der testamentarischen Notiz:

Ich benötige keinen Grabstein, aber
Wenn ihr einen für mich benötigt
Wünschte ich, es stünde darauf:
Er hat Vorschläge gemacht. Wir
Haben sie angenommen.

Nirgendwo ist eine so unmittelbare Selbstaussage von Kunst möglich wie in der Gedanken vermittelnden Wortkunst. Und im Gedicht dient Sprache nicht nur als Spiegel künstlerischen Selbstverständnisses, hier läßt sich auch das Programm schon in der künstlerischen Form verwirklichen. Wie Dichtung entsteht und wirkt, welche Gegenstände und Themen sie wählt, welche Grenzen und welche besonderen Freiheiten sie hat, wie sie sich in der Geschichte und gegen die Geschichte behauptet, welche Spanne zwischen Einverständnis und Opposition, zwischen Rühmen, Klagen und Anklagen sie durchmißt – über alle diese Fragen der Poetik spricht das Gedicht in Form von Poesie. Im Spiegel des Gedichts erscheint der Dichter als nach Brot gehender oder freier Künstler, als Erleuchteter, Priester und Seher oder als Zauberer, als Originalgenie oder Epigone, als Lehrer und Schüler in der Kunst des Liebens, als Beobachter der Natur oder der Arbeitswelt, als Freiheitssänger und Trommler der Revolution, als Philosoph oder Gaukler, Prophet oder Lügner, als Zeuge der „Macht des Gesangs“ oder als Verstummender, als Chronist der Leiden oder als Botschafter der Menschheitsträume.
Die in dieser Anthologie gesammelten poetologischen Gedichte machen nur einen Teil des gefundenen Materials aus. Sie bilden eine exemplarische Reihe. Am Anfang steht, mit seinem sogenannten „Sumerlaten-Lied“, Walther von der Vogelweide, einer der großen Vertreter mittelalterlicher europäischer Minnedichtung. Er weiß, daß Minnesang Minnedienst ist, aber er kennt auch die Macht seines Wortes: ohne sein Lied wäre die Frau nicht, was sie ist; all ihr Ansehen ist abhängig von seinem Lob. Vielleicht sogar gibt hier der Dichter andeutend zu erkennen, daß die Geliebte nur in und dank seinem Lied existiert, daß sie eine Gestalt seiner Erfindung, also der dichterischen Fiktion ist. Gegenüber einem Meister wie Walther versteht sich der Marner schon als ein Nachgeborener, dessen Kunst zu einem Teil von den Anregungen großer Vorbilder lebt. Das Bewußtsein, als Künstler beim fürstlichen Mäzen um Gunst werben zu müssen, entschädigt sich durch die Heiligung der Kunst und den Stolz auf Sprach- und Kunstfertigkeit (Friedrich von Sonnenburg, Frauenlob). Als ein rechtes Kunsthandwerk wird der Meistersang betrieben (Der Unverzagte, Hans Sachs).
In der humanistischen und neulateinischen Dichtung, die ihre Maßstäbe aus der Antike holt, sieht der deutsche Dichter seinen Eigenwert noch durch das Begünstigtsein und die Überlegenheit romanischer Autoren begrenzt, oder er beklagt die Kunstfremdheit der Zeit und der Stadt: die Dichtung muß im Abseits stehen, wo sich alles um Geld und Reichtum dreht. Aber noch ist auch die Sprache des Dichters, das Lateinische, selbst ein Hindernis für den Durchbruch einer neuen deutschen Literatur von Rang. So macht sich neben anderen Autoren des 17. Jahrhunderts Isaac Habrecht mit seinem Ruf nach der „Teutschen Musa“ zum Sprachrohr einer Bewegung, die aus der Vormundschaft des Lateinischen wegstrebt.
Die Tauglichkeit des Deutschen als Dichtungssprache zu beweisen, wirkt am unermüdlichsten Martin Opitz. Aber noch bleibt die Dichtung fest im Griff der Rhetorik, einer überlieferten Lehre, nach der für bestimmte Themen und Sprachwerke bestimmte Techniken zu verwenden sind. Wo Sprache so sehr als Werkzeug begriffen wird, da bleibt auch der Grad von Vollkommenheit der Dichtung meßbar, da behält Dichten etwas vom Charakter des (friedlichen) Wettstreits der Autoren untereinander – nicht im Sinne des legendären (literarisch fiktiven) mittelalterlichen „Sängerkriegs auf der Wartburg“, also eines Streits um das beste Fürstenlob, wohl aber um den Lorbeerkranz des „poeta laureataus“. Zu solchem Wettstreit gehört auch das wechselseitige Lob der Dichter. Da sind dann, um die Wende zum 18. Jahrhundert, manche Epigramme von Christian Wernike umgedrehte Lobgedichte; so das Epigramm, in dem deutsche Poeten „verkehrte Pygmalions“ genannt werden: sie verwandeln nicht Marmor in Leben, sondern versteinern Leben zu Marmor. Schon wird das Verhältnis von Kunst und Natur zum Thema des poetologischen Gedichts (Johann Ulrich König). Und wo der humanistische Dichter den kaufmännischen Geist der Städte bedauerte, da beschwert sich zur Zeit des fürstlichen Absolutismus Nikolaus Dietrich Giseke über die Lobsüchtigkeit der reichen Bürger und der Fürsten und über deren Verachtung der wirklichen Dichter.
Ihr Amt sei Gotteslob, so lautet in den Versen über die „Edle Dicht-Kunst“ das poetisch-religiöse Manifest der Barockdichterin Catharina Regina von Greiffenberg, die sich im übrigen auf den „unsichtbaren Strahl“ des Himmels und damit auf die göttliche Inspiration beruft. Hier erscheint. also der antike Gedanke vom göttlichen Geist (Pneuma), der den Dichter überkommt, auf einem christlichen Hintergrund. Zu „Priestern der Dichtkunst“ erhoben und auf das Vorbild des biblischen Sängers und Königs David eingeschworen werden die Dichter in Immanuel Jakob Pyras „Tempel der wahren Dichtkunst“ (1737), einem großen allegorischen Lehrgedicht, in dem der Einfluß des englischen Dichters Milton und des Pietismus, der protestantischen Erweckungsbewegung, sich nicht verleugnet. Auf dieser Spur wird Klopstock, der Dichter des „Messias“, weitergehen.
Als Lehrerin der Vernunft und der Weisheit, als Beförderin der Tugend, ja als eine Wegbereiterin des Paradieses auf Erden feiert Gottsched, der Erzieher der literarischen Frühaufklärung, die Dichtkunst. Als Schule des Denkens wünscht sich Abraham Gotthelf Kästner das Lied. Dagegen erinnert der junge Lessing („An den Herrn Marpurg…“) an das Zweifelhafte des abstrakt denkenden „Philosophen auf dem Parnaß“, auf dem Sitz der Musen und Dichter, und erneuert das alte Bild vom dichterischen Genius, der sich wie ein Adler der Sonne entgegenschwingt. Aber all diesen Autoren der Aufklärung ist gemeinsam, daß sie auf das Studium der Naturwissenschaften dringen, auf die Übereinstimmung der Dichtung mit dem modernen naturwissenschaftlichen Weltbild. Ob nicht der Physiker Newton für die neuere Zeit ebendasselbe bedeute wie der Dichter Homer für das Altertum, fragt gar der junge Lessing.
Auch wo in diesen poetologischen Lehrgedichten der Aufklärung, wie beim jungen Lessing, das Korsett philosophischer Abstraktion und poetischer Regeln abgewiesen wird, bewegt sich der Gedanke selbst im Prokrustesbett des sechshebigen und durch die Mittelzäsur geteilten Alexandrinerverses. Noch ist der Adlerflug des „Mustergeistes“ (des Genies), von dem das Gedicht kündet, nicht in Verssprache umgesetzt. Aber den schwerfällig-gezirkelten Gang des Alexandriners vermeidet das Gedicht der Anakreontik. Spielerische Behandlung des Verses lieben die Dichter, die sich unter die poetische Regentschaft des griechischen Sängers Anakreon stellen und sich der Liebe, dem Wein und der heiteren Geselligkeit verschreiben, hin- und hergerissen – wie Johann Wilhelm Ludwig Gleim in einem Gedicht erzählt – zwischen Bacchus und Cythere (Venus). Anachreontische Poesie vertändelt sich leicht, aber in ihrem Preis der Freuden steckt immer auch ein Stück Sehnsucht nach Frieden (siehe Christian Felix Weisses Anruf der „scherzhaften Muse“).
Gegen die scherzhafte Muse Anakreons rückt wehrhaft die „Muse Teutoniens“, der Gesang der deutschen Barden, an. Der Göttinger Hainbund wird zum Heerlager dieser Bardenpoesie, die sich nicht mehr wie die Anakreontik auf eine antike und europäisch-neuzeitliche Tradition bezieht, sondern auf vermeintliche Schlachtensänger und Priester-Dichter der germanischen Vorzeit („Barde“ war in Wahrheit der Name keltischer Hofdichter des Mittelalters). Dem Bardenmythos gibt Klopstock die vaterländische Weihe, aber erst das Klopstock überbietende Gedicht der Hainbündler läßt ihn zur Deutschtumsideologie werden. Und es ist eine der tragisch-ironischen Widersprüchlichkeiten der Literaturgeschichte, daß gerade der früh vom Tod gezeichnete und melancholische Ludwig Christoph Heinrich Hölty, daß ausgerechnet der empfindsamste Göttinger den Bardengesang seiner Freunde zur Maßlosigkeit anfeuert.
Der Geniegedanke, der beim jungen Lessing das rationale Sprachgewand noch nicht abstreift, bricht in den Versen des jungen Goethe, in „Wandrers Sturmlied“, ungestüm aus dem Gehege der grammatischen Ordnung aus und demonstriert so das Eruptive des schöpferischen Akts. Wie schon bei Klopstock entspringt die Wahl der Freien Rhythmen einem – freilich fruchtbaren – Irrtum, für den Horaz verantwortlich ist: der Vorstellung vom reißenden Strom der Verse Pindars, des bewunderten griechischen Oden- und Dithyrambendichters. Am radikalsten spricht der junge Goethe den Individualitäts- und Geniegedanken in „Prometheus“ aus, in der Rolle eines den Göttern trotzenden Titanen, der Menschen nach seinem eigenen Bilde formt. Freilich stellt Goethe neben das selbstherrliche Genie auch die Komplementärfigur, den rechtschaffenen Meistersinger („Erklärung eines alten Holzschnittes, vorstellend Hans Sachsens poetische Sendung“), und rät zur durchdachten, besonnenen Komposition des Kunstwerks („Künstlers Apotheose“).
Es ist denn auch nicht mehr der junge Goethe, sondern der junge Schiller, dessen kolossalische Machtwörter der Schwabe Gotthold Friedrich Stäudlin im Gedicht „Das Kraftgenie“ parodierend vom Kothurn holt. Den Abgesang auf den Geniekult schreibt, die resignierende Bilanz zieht Jakob Michael Reinhold Lenz. Seine Verse „Über die deutsche Dichtkunst“ sind indessen mehr als Absage und Abrechnung, sie sind Zeugnis für einen tieferen Zusammenhang zwischen Genie und Melancholie – für ein Verhältnis, das Lavaters „Physiognomische Fragmente“ auf die Formel bringen, Schwermut sei die „Mutter der Genialität“.
Mit Lenz’ Gedicht teilt Schillers Elegie „Die Sänger der Vorwelt“ (1795) das Ungenügen an den gegenwärtigen Bedingungen der Dichtkunst. In der elegischen Perspektive wird die Antike zur Goldenen Zeit, in der die inspirierende Gottheit, der Sänger und sein Publikum in einem ungeteilten Wirkungsraum leben. Die Sehnsucht des sentimentalischen Dichters schafft sich im Bild der „Vorwelt“ einen Raum für den idealen Entwurf. Mit einem utopischen Blick in ein künftiges Goldenes Zeitalter schließt das Gedicht „Die Macht des Gesanges“: das Lied des priesterlichen, von „heiliger Gewalt“ gelenkten Dichters führt den Menschen aus einem Zustand der Trennung in eine Einheit mit der Natur zurück. Als den mit „reiner Priesterbinde“ gezierten Künstler feiert Schiller den Theatermann Goethe. Kunst versteht sich als Kunstreligion. Im Gedicht „Die Künstler“ schließlich sieht Schiller die Würde der Menschheit in der Obhut des Künstlers und die Dichtung im Dienst der Weltharmonie. Diese religiöse Aufgabe weltlichen Charakters umgibt den Dichter mit der Aura eines neuen Priesterkönigtums.
Niemand ist so sehr als der „Dichter des Dichters“ (Heidegger) interpretiert worden wie Hölderlin. Die Oden „Buonaparte“, „An die jungen Dichter“ und „Die scheinheiligen Dichter“ nehmen zentrale Fragen der poetologischen Lyrik Hölderlins auf: die Spannung zwischen Dichter und Welt, zwischen Dichtung und Geschichte und das Verhältnis des Dichters zu den Göttern (den Göttern Griechenlands). In anderer Bedeutung als in anakreontischer Poesie erscheint in Hölderlins Ode „Dichterberuf“ Bacchus: nicht nur als der Gott rauschhaften Genusses, sondern als der Leben erweckende, dionysische Kraft spendende Gott. Eine doppelte Bindung kennzeichnet Hölderlins Dichterkonzeption: die Bindung an Bacchus/Dionysos und die an des „Tages Engel“, an den „Sonnengott“, den „Ahnen“ der „Sänger des Volks“ („Dichtermuth“), also an Apollon. Ein Gegenentwurf zum prometheischen Dichterbild deutet sich an („es zwinget / Nimmer die weite Gewalt den Himmel“).
Die „Buonaparte“-Ode und die Wendung „Neulich die Donner“ in „Dichterberuf“ verweisen auf die Zeitgeschichte und zugleich auf die (seit 1799 verschlüsselten) jakobinischen Spurenelemente im Denken Hölderlins. Keine bloß allgemein-abstrakte Erneuerung der Welt erhoffte sich Hölderlin. Andererseits aber schloß seine Auffassung vom Dichteramt immer jene direkte öffentliche Antwort auf die politischen Bewegungen der Gegenwart aus, die in seiner Ode „An Germaniens Dichter“ (1795) sein Freund und „Lehrer“ Gotthold Friedrich Stäudlin fordert.
Was Hölderlin mit Klopstock verbindet, ist eine lyrische Höhenlage, eine Sprache des Erhabenen, der nichts Beliebiges anhaftet – sie entspricht dem Selbstverständnis des Dichters als priesterlicher Mittelsperson. Ganz in der sinnlichen Erfahrung und den unmittelbaren Zusammenhängen des Lebens dagegen gründet jene Lyrik Goethes nach 1800, deren poetologische Botschaft aus der erlebten Liebe gewonnen ist und auch in die Liebesbeziehung und den Lebensvollzug zurückverweist, so daß die Vereinigung von „Natur“ und „Kunst“ fast mühelos gelingt. Alle Beispiele dessen, was man die „erotische Poetik“ Goethes nennen kann – die Selbstwahrnehmung des Dichters in der Liebe –, die fünfte der Römischen Elegien (1788–1790), ein Teil der Sonette und eine Fülle von Gedichten aus dem West-östlichen Divan, lassen sinnliches Ergreifen und denkendes Begreifen einswerden. Stärker noch als in den Sonetten öffnet sich im West-östlichen Divan das poetologische Gedicht der geistigen Durchdringung des Erotischen, aber umgekehrt besitzt Dichtung hier für die Liebe eine stärkere, eine geradezu materialisierende Kraft („Dann blick ich in meine Lieder, / Gleich ist sie [die Geliebte] wieder da“). So wird Dichtung tatsächlich zum „Augenglas der Liebe“.
Dichtern der Romantik ist die Selbstreflexion von Kunst ein unabdingbarer Bestandteil des Kunstwerks. Ludwig Tieck löst in einigen seiner Stücke die Selbstdurchleuchtung des Theaters in vielfache Binnenspiegelungen auf, Friedrich Schlegel erklärt seine „Lucinde“ zum „Roman des Romans“ und erwartet die Theorie des Romans im Roman selbst. In Novalis’ (Friedrich von Hardenbergs) „Ofterdingen“ Roman werden Gedichte zu Kristallisationspunkten der poetischen Reflexion. Eine dem rechnerischen Geist entsagende Welt wird entworfen, in der das Lied und die Liebe das tiefste Wissen bergen, wo die Märchen und Gedichte die Weltgeschichte aufbewahren und wo die Reinheit des poeta magus und seines „geheimen Worts“ über alle Verkehrtheit triumphiert. Mit dem „geheimen Wort“ des Novalis vergleichbar ist Eichendorffs „Zauberwort“ („Wünschelrute“), das aus den Dingen, die es berührt, Lieder hervorholt: voller Poesie ist unser Dasein, man muß es nur von seiner Poesie entbinden – und allein der Dichter, „das Herz der Welt“, versteht die mystische Sprache der Dinge, des Lebens. Als dionysisch Trunkenen und Liebenden, als den Herrn über den Tod und als den königlichen Schöpfer von Leben wünscht sich Friedrich Schlegel den jungen Dichter. Gegen die Konzeptionen des magischen und des dionysischen Poeten wie des Dichters als Priester (Novalis, Fragmente) nimmt sich Ludwig Uhlands Bild vom freien Sänger im „deutschen Dichterwald“ wohl konkreter, aber doch allzu wacker und bieder aus. Immerhin setzt Uhland gegen die Gebärde allumfassender Poesie das „Kleine“, das für das „große Ganze“ stellvertretend steht, in sein Recht. Noch mehr zurückgenommen wird der Anspruch der Dichtung von Justinus Kerner: wie der tiefste Schmerz, so versagen sich die „höchsten Poesien“ dem dichterischen Wort.
Als „vielleicht das letzte freie Waldlied der Romantik“ hat Heinrich Heine seine Versdichtung „Atta Troll“ bezeichnet. Doch wußte er, daß die „alte lyrische Schule“ mit ihm geschlossen und die neue Schule der modernen Lyrik durch ihn eröffnet wurde. Als einen Komödianten in romantischer Kulissenwelt erkennt er sich, aber doch auch als einen Schauspieler, der sich selber spielte, also mit seiner Rolle identisch war (Nr. 44 des Zyklus „Die Heimkehr“, 1823–1824). Der Autor der „Zeitgedichte“ (1844) geht auf vollen Gegenkurs zur Romantik, als „Trommler“, als Erwecker des schlafenden Deutschlands: Aufklärung ist das Amt des Dichters. Den Wortschwall und „Enthusiasmusdunst“ patriotischer Freiheitssänger freilich, den Kulissendonner der „Tendenzpoesie“ trifft seine Ironie. Denn das als Schlachtgesang gesungene Freiheitslied gerät nur zu leicht in Gefahr, die Energien, die es wecken soll, zugleich auch abzuleiten, so daß der Geknechtete schon im Freiheitslied selbst Entschädigung sucht. Heine gibt sich über die kompensatorische Funktion politischer Dichtung keinen Täuschungen hin. Das späte Gedicht „Enfant perdu“ besiegelt aber, bei aller Resignation, noch einmal das frühere Bekenntnis des Dichters zur Wachsamkeit im „Freiheitskrieg“.
Den Jammer und das Elend des politischen Illusionismus, nämlich der Verwechslung von Freiheitstraum und Wirklichkeit, konnte Heine an Georg Herwegh beobachten. Was Heine diagnostiziert hatte: das Ende der klassisch-romantischen „Kunstperiode“, Herwegh sucht es zu vollstrecken und findet dafür die griffige Losung „Laßt die Harfen uns zertrümmern!“ Die alte Formel „Politisch Lied, ein garstig Lied“, Hoffmann von Fallersleben dreht sie um. Zwar bleibt der Sieg über die Romantik in der neuen „Poesie der Wirklichkeit“ für einen Autor wie Grillparzer zweifelhaft, aber ein anderer österreichischer Dichter, Anastasius Grün (Anton Alexander Graf Auersperg), rechtfertigt die Umbrüche in der Kunst mit den epochalen Veränderungen in der Wirklichkeit, mit dem Anbruch eines technisch-industriellen Zeitalters, wie es Dampfschiff und Eisenbahn signalisieren. Und sind selbst für Heine noch die „Kohlendämpfe der Eisenbahn der Schönheit feindlich“ („Über Ludwig Börne“, 5. Buch), so entdeckt Anastasius Grün gerade die „Poesie des Dampfes“. Das rühmende Dichterwort dient nun dem Preis des Fortschritts und des erfinderischen Menschengeists.
Ein neues Selbstbewußtsein der Frau kündigt sich an; Schriftstellerinnen reden der Emanzipation das Wort. Ihnen ruft die konservativ-religiöse Annette von Droste-Hülshoff die Mahnung zu, zum „anvertrauten“ Gut zurückzukehren: „Weckt der Natur geheimnisvolle Laute“. Gegen die Kleinmalerei von Naturdichtern des 18. Jahrhunderts und der eigenen Zeit zieht im Epigramm Hebbel zu Felde, unter dem Banner der „Welt-Idee“ und des „Weltenstoffs“. Der Herbst, Spender der Früchte und des Überflusses, ist für Conrad Ferdinand Meyer die symbolische Zeit des Dichters – zugleich aber ist er, als Zeit einer tiefen Erschöpfung der Natur, die symbolische Zeit der Epigonen.
Das erdrückende Erbe, die Verbrauchtheit eines großen Motiv- und Formenvorrats, die Dünnblütigkeit des nachahmenden Talents – das „Los der Epigonen“, aus „den alten Schalen der Zitronen“ noch „einen Tropfen“ pressen zu müssen, Gottfried Keller sieht es als sein eigenes an. Aber dies ist nicht eigentlich seine Situation. Und gerade die wahren Epigonen der Zeit, wie Paul Heyse und Emanuel Geibel, verdrängen den Gedanken, als Künstler aus zweiter Hand zu leben. Sie beantworten die Epigonensituation, indem sie um so ausdauernder auf ihrer hohen Berufung bestehen. So preist sich der Dichter in Emanuel Geibels Versen als Zeugen der ewigen Wahrheit, als Tempelwächter im Heilsamt und als Seher an, als Nachfahren des Orpheus (vom Gott mit der Leier betraut) und als Priester am Altar der „reinen Kunst“. In einer Zeit des politischen Ringens um den Nationalstaat, des wachsenden Einflusses der Naturwissenschaften und der Entstehung eines Industrieproletariats häuft der Epigone auf sich alle sakralen Ämter aus Frühzeiten der Dichtung, ohne noch deren Aufgaben wahrnehmen zu können. Der Anachronismus wird durch tönende poetische Absichtserklärungen überdeckt.
Paul Heyses satirische Verse gegen den Naturalismus, gegen die angebliche Ästhetik des Schmutzes und der Unsittlichkeit, schlagen auf den Spötter zurück, enthüllen sie doch dessen „idealistische“ Ästhetik des Schönen als eine zum bloß Appetitlichen verflachte Ästhetik. Auf der Gegenseite holt Arno Holz die „letzten Mohikaner der Stimmungspoesie“, die literarischen Verächter der Arbeiterbewegung (Lassalles) und der Arbeitswelt durch Parodie von ihren Sockeln. Zu allen Stätten der modernen Industriewelt erweitert Holz den Gegenstandsbereich von Poesie: zu den Fabriken und Kohlengruben wie zu den Armenspitalen.
Gegen solche Ausweitung der lyrischen Welt durch alle Stufen des Sozialen hindurch legt Stefan George noch einmal ein gebieterisches Veto ein. Wieder – freilich auf einer anderen Ebene der Reflexion und der Sprachzucht als im Werk Geibels – hüllt sich der Dichter in die sakrale Aura des Sehers. Entschiedener noch als die Epigonen des Münchner Kreises zieht sich George, der „Meister“, mit dem Kreis seiner Schüler und Jünger „vor dem volke“ und vom „geilen markt“ zurück in die Gemeinschaft der Erlesenen und Eingeweihten, denn: „Des sehers wort ist wenigen gemeinsam.“ Georges „Dichter in Zeiten der Wirren“ redet zu einem „gestählten“ jungen Geschlecht, das sich sowohl vom dreisten Dünkel als auch vom „sumpf erlogner brüderei“ fernhält; er „pflanzt das Neue Reich“. Dieses „Neue Reich“ sollte nicht das „Dritte Reich“ Adolf Hitlers sein, wie George vor seinem Tod im Jahre 1933 mit aller Entschiedenheit klarstellte. Es ist der Bund einer kulturellen Elite jenseits der Diktatur, aber auch abseits vom Geist der Demokratie.
Das Bewußtsein der Erlesenheit teilen Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke mit Stefan George, doch ist ihnen völlig die imperiale Geste fremd. Der junge Hofmannsthal reagiert auf das Leben mimosenhaft mit den Fühlern der Kunst; im Sonett „Was ist die Welt“ ästhetisiert der Dichter das Leben und erlebt das Gedicht als eine ganze Welt. So offenbart das Sonett ein Gesetz des lyrischen Symbolismus: poetisches Zeichen und Bezeichnetes gehen ineinander über, werden umkehrbar und ununterscheidbar; die Metapher wird zur absoluten Metapher. Doch da ist auch, in anderen Versen, der Bannspruch gegen die Taubheit und Blindheit der gegenwartsverachtenden Epigonen und das Bewußtsein vom Dichten als einem existentiellen Wagnis. Von diesem Wagnis, von der Selbsteinbuße in der Hingabe des Dichters, spricht auch Rilke („Alle Dinge, an die ich mich gebe, / werden reich und geben mich aus“). Aus dem „Traum“ wie aus dem „Sein“, „aus Schluchzen und Gelächter“ Sinn zu fügen, zu rühmen und doch in jeder Maske wahr zu sein – in diese Spannung ist der Dichter gestellt. Im Rühmen wird etwas vom Auftrag der ältesten Sänger wieder lebendig. Und das IX. der Sonette an Orpheus bindet, mit der Anspielung auf den Gang des Sängers in den Hades, das „unendliche Lob“ in den mythischen Zusammenhang von Tod und Leben ein.
Christian Morgenstern, der nicht als Autor von Grotesk- und Widersinnspoesie, sondern von Weltanschauungsgedichten ernst genommen werden wollte, spricht das optimistische Vertrauen in die ordnende Kraft der künstlerischen Komposition noch einmal zusammenfassend aus, wenn er dem Dichter die Fähigkeit zuschreibt, „aus Chaos Welt zu machen“. Aber inzwischen hat ein Prozeß der Bezweiflung von Sprache und Dichtung eingesetzt, dessen Wellenbewegungen bis in die Gegenwart reichen, ein Prozeß der Desillusionierung, der seinen entscheidenden Anstoß von Nietzsche erhält. Gewiß, immer unvergessen geblieben ist Platons Verdächtigung des Dichters als eines Schöpfers von Scheinbildern, unvergessen die Diskussion um die Ausschließung der Dichtkunst aus dem idealen Staatswesen („Politeia“). Der Vorwurf „Die Dichter lügen“ hat also seine Geschichte, aber er findet eine natürliche – und damit den Einwand auch entkräftende – Erklärung, wenn er bezogen bleibt auf Platons Lehre, daß Erscheinungsdinge nur Abbilder von Ideen sein und deshalb die Künste nur Abbilder von Abbildern liefern können. Einer anderen Bezweiflung sieht sich Nietzsches Zarathustra ausgesetzt:

nur ein Dichter!
ein Thier, ein listiges, raubendes, schleichendes,
das lügen muss,
das wissentlich, willentlich lügen muss
… Nur Narr! Nur Dichter!
… aus Narrenlarven bunt herausredend,
herumsteigend auf lügnerischen Wortbrücken

Zwar schränkt im Lied Zarathustras das eingeschaltete „so höhnen sie“ den Wahrheitsgehalt des Lügenvorwurfs ein, doch hat Nietzsche auch unzweideutig, zumal in seiner Schrift Der Fall Wagner, in die Verdächtigung der Kunst eingestimmt: immer mehr entwickle sich Kunst als ein Talent zu lügen. Exemplarisch für dieses „Talent“ ist ihm die Verstellungskunst des Schauspielers, und für ebendieses Schauspielertum sieht er ein „goldnes Zeitalter“ gekommen.
Nietzsches Lügenvorwurf entheiligt, entzaubert, ja zerstört bereits die überlieferten Bilder hehren Dichtertums (die ein Autor wie Stefan George noch zu konservieren versucht). Der Abwertung unterliegt auch die Symbolgestalt des Gauklers, des Jahrmarktsartisten (saltimbanque), deren Tristesse bei Baudelaire noch Gegenstand des Mitgefühls ist. In Otto Erich Hartlebens Versen brüstet sich der Dichter-Jongleur gar mit seiner bunten Lüge und seinem kecken Betrug; er ist ein Alleskönner, der kühn mit Gott und dem Weltall spielt. In Hugo Balls Gedicht „Der Literat“ aber stellt sich der Gaukler zynisch als „falschen Propheten“ bloß; er ist zur Gegenfigur des Sehers geworden.
Nietzsches Lügenverdacht sprengt den Sockel, auf den der Dichter gestellt war, und löst damit eine wahre Kettenreaktion im Expressionismus und Dadaismus aus. In der Zarathustra-Analogie von Gerrit Engelkes „Rede des Dichters vom Berge“ zerbrechen scharf betonte Gegensätze die Glaubwürdigkeit des Dichters: Leier und Lärmtrompete, ahnungsvoller Seher und „brunstgequälter Künder“, Priester und „Leierdreher“. Jakob van Hoddis brandmarkt die „Zaubergroschen“ der Dichtung als Falschgeld, Paul Boldt das Literaturcafé als einen Wortwarenladen und Hugo Ball den Literaten als einen Alleszerschwätzer. Die Aggressivität gegen das überlieferte Dichteridol, gegen das Klischee entlädt sich in Pogromstimmung („Schmeißt doch die Dichterschädel ein!“). Auf die Bank der Angeklagten zitiert Ernst Toller die in Worte „verbuhlten“ Dichter. Aber programmatisch setzt Wilhelm Klemm an die Stelle von Poesie die Taschenzauberkunststücke. Und um „ein dadaistisches Gedicht zu machen“, bedarf es nach Tristan Tzara nur der Herstellung eines durch Schütteln erreichten Buchstabensalats.
So wird auch die Kunst in jenen allgemeinen Zerfall überlieferter Werte hineingerissen, den Nietzsche diagnostiziert hat. Aber ein gut Teil der Absage an das überkommene Dichterbild ist in genauerem Sinne Protest gegen die bürgerliche Kunst. Und wie nach 1830 die Opposition gegen die Dichtung der „Kunstperiode“ bzw. der idealistischen Epoche den Dichter zum Protagonisten des politischen Fortschritts bestimmt – Heine beschreibt in der „Romantischen Schule“ die Autoren des Jungen Deutschlands als „Künstler, Tribune und Apostel“ –, so setzt im „expressionistischen Jahrzehnt“, etwa zwischen 1910 und 1922, der radikale Widerstand gegen den Geist des Wilhelminischen Zeitalters auf eine gänzlich politisierte Kunst. Yvan Golls „Sing Hymnen, schrei Manifeste“ verrät freilich auch jenen Zug zu den Extremen des Ausdrucks, mit dem die politische Dichtung des Expressionismus die des Vormärz übertrumpft. Exemplarisch versammeln sich die Stichwörter poetologischer Gedichte des politischen Expressionismus in Johannes R. Bechers „Vorbereitung“: Tuben, Trommel und Manifeste; Tribüne, Sturzwellen der Sätze und Schlagwetter-Atmosphäre; Menschheit, Freiheit und Liebe; der neue heilige Staat, die Insel glückseliger Menschheit, das Paradies. Heinrich Heines Skepsis gegen den Wortdonner eines „so allgemein als möglich“ bleibenden Freiheitsgesangs wäre zwar auch hier nicht gegenstandslos, doch wirkt die Ausdrucksskala der Becherschen Verse geradezu lebendig gegen das rhetorische Räderwerk der Strophen von Walter Hasenclevers „Politischem Dichter“.
Kein blinder Destruktionstrieb ist im Expressionismus am Werk. So könnte Ernst Stadlers Gedicht „Form ist Wollust“ als eine Antwort an Stefan George gelesen werden: Form verführt zu Selbstgenügen; zum Ausbruch aus der strengen Form drängt ein sozialer Antrieb. Dagegen fragen Karl Kraus’ und Franz Werfels Reim-Gedichte nach dem Sinn von Formen. Über die nicht mehr verfügbare Formkultur, über das Ausbleiben der Symbole, also über das Versiegen der schöpferischen Kraft klagt halb ironisch, halb ernst Erich Mühsam.
Die Götterdämmerung im poetologischen Gedicht überdauert das Ende des Expressionismus. Entzauberung und Provokation nehmen eine schnoddrig-zynische Tonart während der zwanziger Jahre an, so in Gottfried Benns „Prolog zu einem deutschen Dichterwettstreit“, einer satirischen Poetik zum Berlin der Nachkriegsschieber und „Börsenbullen“, des „süßen“ Lebens und der Sexualorgien, so in Erich Kästners „Geständnis einiger Dichter“, das die Dichtung zur Handelsware stempelt und das Dichten zu einer anderen Art von Prostitution. Die politische Polarisation der Literatur in der Weimarer Republik spiegelt sich in der „Ode an die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Poeten von heute“, in der Walter Mehring die Programme der Blut- und Bodendichtung und der linken parteihörigen Propagandaliteratur satirisch auf die Spitze treibt.
Gottfried Benn ist es dann freilich auch, der die Zeit einer neuen Sprach- und Dichtungsmystik für gekommen hält („die Dinge mystisch bannen durch das Wort“). Dem neuen Irrationalismus geben Autoren verschiedenster Herkunft sehr unterschiedliche Prägung, ob nun Josef Weinheber, dem Hölderlin zum Bildungserlebnis wurde, ob die durch protestantisch-nationale Erziehung gegangene Ina Seidel oder die zum Katholizismus übergetretene Gertrud von Le Fort. Wo sich der von Naturgefühl beseelte „Dichter“ Wilhelm Lehmanns als Brennpunkt und als „Mund“ des Alls empfindet, zweifeln Lyriker wie Johannes Bobrowski und Peter Huchel schon wieder an dem Vermögen von Dichtung, die Sprache der Natur zu entsiegeln.
Entschiedener stellt Bertolt Brecht das Naturgedicht in Frage. Denn sein Diktum „Schlechte Zeit für Lyrik“ meint vor allem: schlechte Zeit für Naturlyrik. Freilich ist es die Zeit der Hitlerdiktatur und des „Entsetzens“, also die Situation äußerster politischer und gesellschaftlicher Gegensätze, auf die das Naturgedicht, das Lob der Schönheit und ein sinnlich-ästhetischer Reiz des Gedichts keine angemessenen Reaktionen sind. Die lyrische Form als Gefäß für Gedanken über Aufgabe und Fortdauer dichterischer Werke, keinem Autor dieses Jahrhunderts war sie so willkommen wie Bertolt Brecht. Über Jahrzehnte hinweg umkreist seine poetologische Lyrik das dialektische Verhältnis von Werk und Wirkung: in seiner Wirkung erst rechtfertigt sich das Werk. Und Voltaires Satz aus dem Vorwort zum Dictionnaire philosophique von 1765, daß die nützlichsten Bücher: zur Hälfte das Werk der Leser seien, diesen Gedanken der Aufklärung macht Brechts leser- und publikumsgerichtete Poetik auf vielfache Weise anschaulich. Aber der Autor stellt auch, auf dem Grundriß der Klassentrennung, eine klare Rangordnung her: „Die Literatur wird durchforscht werden“ danach, ob sie auch von Menschen, „die Röcke webten “, handelt; und gepriesen werden sollen die Dichter, die „unter den Niedrigen saßen“.
Wo nach dem Zweiten Weltkrieg die Lyrik das Echo der Schreckenserlebnisse aufnimmt, wo Wirklichkeit als Widerstand erfahren wird und zum Widerstand nötigt, da wird das Gedicht zur „Expedition“ oder zur „Welt der diagonalen Messer“ (Wolfgang Weyrauch), da gilt es die Sprache, die dem Dichter „zufällt“, zu kämmen gegen den Strich“ (Marie Luise Kaschnitz) und dem Wort zu entsagen, „das den Drachen sät“ (Ingeborg Bachmann). Für Paul Celan, den jüdischen Lyriker, der zwar der „Endlösung“ entgangen, nicht aber den Alpträumen, die sie auslöste, entronnen ist, wird Sprachnot zur Frage der Existenz.
Das ist nicht mehr die „Krise einer Sprachbezweiflung“, wie sie der junge Hofmannsthal im vielzitierten Brief des Lord Chandos (1901/02) beschreibt, nicht mehr das lähmende Unbehagen, bei dem die Worte im Munde zerfallen „wie modrige Pilze“, weil sie das Eigentliche nicht mehr fassen und die Ganzheit der Dinge zu lauter Bruchstücken verstreuen. Celans Sprachnot hängt mit jenem Dilemma der Lyrik zusammen, das Theodor W. Adorno in einem Satz kennzeichnet, den er erst in der „Negativen Dialektik“ abgeschwächt hat: daß es barbarisch sei, nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben. Denn noch „der Laut der Verzweiflung entrichtet seinen Zoll an die versuchte Affirmation… Indem noch der Völkermord in engagierter Literatur zum Kulturbesitz wird, fällt es leichter, weiter mitzuspielen in der Kultur, die den Mord gebar“. („Engagement“) In dieser Kultur weiter mitzuspielen, ist für Celan immer unmöglicher geworden – darauf jedenfalls deutet sein schließlicher Freitod (1970).
Wie in der europäischen symbolistischen Lyrik seit ihren Vätern Baudelaire, Mallarmé und Rimbaud alle Dichtung immer auch, auf verborgene oder offene Weise, ein Stück Selbstspiegelung und somit ein Stück poetologischer Lyrik ist, so wendet sich ein großer Teil der Verse Celans auf das Gedicht und seine Sprachproblematik selbst zurück. Und zu einem Grundakkord der Dichtung Celans wird, was der Schluß des Textes „Sprachgitter“ ausspricht:

zwei
Mundvoll Schweigen

Das Gedicht zeige heute, so heißt es in Celans Rede „Der Meridian“, „eine starke Neigung zum Verstummen“, es „behauptet sich am Rande seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück“. Das Gedicht am Abgrund des Verstummens – vielfach in den Texten Celans tauchen Zeichen für diese Situation auf: „Wortschatten“, „Worthöhlen“, „Redewände“, „eingespult in dich selber, / grölst du“, „Die nachzustotternde Welt“, „Unlesbarkeit dieser Welt“, „Mit den Sackgassen sprechen“ „Zungenentwurzeln“. In „Keine Sandkunst mehr…“ schlägt sich das Motiv des Verstummens unmittelbar in der Form nieder, in der fortschreitenden Aushöhlung des Wortes „Tiefimschnee“. Dennoch bleibt das Gedicht, das „einsam ist“ und sich „am Rande seiner selbst“ behauptet, gegen alle Theorie vom monologischen Charakter des Lyrischen auf ein Gegenüber gerichtet:

Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere,… es spricht sich ihm zu. („Der Meridian“) 

Celans Bild der „Redewände“ weist zu jenem Verständnis der Sprache als „Sprache des Maulwurfs“ (Günter Eich) und als Gefängnis hinüber, das Dichten zu einem „Ausbrechen / aus den Wortzäunen“ (Wolfgang Bächler) werden läßt. Einer Poetik des Bruchstücks („Sage vom Ganzen / den Satz, den Bruch“) gibt Ernst Meister das Einverständnis. Aber der Sprachskepsis und der Bezweiflung des Gedichts verschließen sich auch engagierte Autoren und Lyriker der sozialistischen Literatur nicht. Hans Magnus Enzensberger demaskiert die Vokabeln der „poetischen Wiederaufrüstung“ als Seifenblasen der literarischen Schickeria; Volker Braun denkt auf der Linie von Brechts „Adresse des sterbenden Dichters an die Jugend“ und „An die Nachgeborenen“ weiter und sieht auch die nachfolgenden Dichter noch in der Situation der „Vorläufigen“; vom Preis für die „Wahrheit, gekleidet in Lüge“ erzählt Heiner Müller („Geschichten von Homer“). Wolf Biermann beklagt die Ohnmacht der Dichtung, der „Wortspiele“, gegenüber der „deutlichen Sprache der Gewehre“: „Mund hat keine Mündung“. Und den alten Topos von der „Macht der Dichtung“ widerlegt ironisch Erich Fried: der Schöpfer des Warngedichts überlebt die Katastrophe nicht, die zu verhindern seine Verse helfen sollten.
Mißtrauen gegenüber dem herkömmlichen grammatischen System und unserem Verkehrs- und Alltagsidiom, aber grundsätzliches Vertrauen zur Sprache bestimmt die Lyrik im Umkreis der Experimentellen und Konkreten Poesie, also jener Textproduktion, die ganz vom Materialcharakter der Wörter, von „Wortobjekten“ (Max Bense) ausgeht. Den Satz Gottfried Benns, daß sich der Lyriker im Laboratorium der Worte bewege (Marginalien), glaubt man mitzuhören in H.C. Artmanns „atelier der worte“. In den Sätzen, so sagt Helmut Heissenbüttel, decken die Dinge ihre „eigene Handschrift“ auf. Auch Lyriker außerhalb der experimentellen Gruppen setzen mit ihrer Frage an den Übergängen zwischen Welt und Sprache an (Karl Krolow, Walter Helmut Fritz, Peter Handke). Und in einer Antwort an Brechts Absagegedicht „Schlechte Zeit für Lyrik“ besteht Jürgen Becker auf der Fähigkeit von Versen, auch das „Entsetzen“ zu beschreiben: erst wo die spannungslose Harmonie des Paradieses eingekehrt ist, drängt nichts mehr den Dichter zum Schreibtisch.
Aber es überwiegt doch im Prüfen dichterischen Tuns die Verschränkung von Zuversicht und Zweifel oder gar die Selbstironie. Sein Plädoyer gegen die „Worte von Worten von Dingen“, also eigentlich gegen poetologische Lyrik und gegen Metapoesie spricht Michael Hamburger im Gedicht „Worte“. Als einen gefährlich-„verrückten“ Hochseilakt „zwischen Freund Hein und Freund Heine“ belächelt Peter Rühmkorf den Höhendrang des Lyrikers, als eine Dressur der Wörter den Schaffensakt Ulla Hahn; und mit einer unendlichen Kette von Negationen umstellt und bestimmt Rolf Dieter Brinkmann das Gedicht. Den Weg des Textes vom Manuskript zum Buch beargwöhnt Michael Krüger als Weg zur Käuflichkeit auf dem „geilen Markt“ der Kommerzialisierung, und als Särge der Literatur erscheinen die Bibliotheken Ernst Jandl und Horst Bienek. Aber Bienek findet andererseits das treffende Bild für die Lebendigkeit und die lebenserhaltende Kraft dichterischer Sprache, in einem Gedicht, dessen Typographie das sprachliche Bild spiegelt:

Wörter
meine Fallschirme

Hier meldet sich Gegenwehr gegen die unerbittliche Sprachskepsis, also auch gegen Paul Celans „Zwei Mundvoll Schweigen“: vor dem existentiellen Absturz rettet den Dichter die Sprache.
Die Streitfrage der Ästhetik über Zweck oder Zwecklosigkeit des Kunstwerks nimmt Günter Kunert wieder auf: zwecklos und sinnvoll zugleich ist das wahre Gedicht, „zur Unterdrückung nicht brauchbar / von Unterdrückung nicht widerlegbar“; auf der „Netzhaut“ des Lesers hinterläßt es auch von Dingen, die keinen Bestand haben, einen nicht mehr zu löschenden Eindruck; die Bilder bleiben widerstandsfähig und haltbar im unaufhaltsamen Lauf der Geschichte. Gegen die Angst, die Feigheit der Anpassung und die Herdenmentalität das Dennoch setzen – solche Eingriffe in die Sinnesart und die Handlungsweise der Menschen erhofft sich Hilde Domin vom Gedicht. Die Verkehrung des „eingreifenden“ Dichters, den Poeten als Chamäleon und politische Wetterfahne führen Hans-Jürgen Heises satirische Verse vor.
Chronik der Leiden ist das Gedicht für Christoph Meckel, ein Ort, wo weder „das Sterben begütigt“ noch das Elend des „Traums“ (des Traums als Lebenslüge) und der „klapprigen Utopien“ verschwiegen wird; ein „Traum in Spiegelschrift“ ist es für Felix Pollak, den in Amerika gebliebenen Emigranten, aber ein Traum, dessen metaphorische Verzerrung Wahrheit enthüllt. Und die Poetik des Tagtraums, die Karin Kiwus in ihrem Aufruf „An die Dichter“ entwirft, handelt von der Selbst- und Welterweiterung im Gedicht: nicht nur zur vergangenen Welt haben die Wachträume den Schlüssel, sondern auch zur künftigen. Denn der Tagtraum, das „Phantasieexperiment“ der Dichter ist, nach Ernst Blochs Ästhetik des „Vor-Scheins“ und der Hoffnung, utopischer Vorgriff auf eine vollkommenere Wirklichkeit.

Die Gliederung dieser Anthologie hält sich an die gebräuchliche Unterscheidung von literarischen Epochen und Autorengruppen, ohne ihr ausdrücklich und sklavisch zu folgen. Zumal für das 20. Jahrhundert bot sich eher eine Zusammenfassung von Gedichten nach thematischen Schwerpunkten an. Doch sind die einzelnen Textgruppen grundsätzlich so zusammengestellt, daß sie bei aller Einheit jene innere Spannung nicht verlieren, die das poetologische Gespräch aller literarischen Perioden kennzeichnet. So erhalten die vorherrschenden Dichterkonzeptionen oft mit kritischen Varianten oder Gegenentwürfen ihre Seitenstücke. Andererseits waren auch, wie im Falle Nietzsches und expressionistischer Autoren (Textgruppe „Gaukler auf lügnerischen Wortbrücken“), Entwicklungslinien über einen längeren Zeitverlauf hinweg zu belegen.
Der starke Anteil von Gedichten des 20. Jahrhunderts an dieser Auswahl ist kein Zufall und beruht auch nicht etwa auf einem einseitigen Interesse des Herausgebers für das moderne Gedicht. Er wird vielmehr dem tatsächlichen Verhältnis der Funde gerecht. So bestätigt sich zumal für unser Jahrhundert, was Hegel in der Einleitung zu seiner Ästhetik die „Reflexionsbildung unseres heutigen Lebens“ nennt – neuere Kunst entspricht in zunehmendem Maße der Fähigkeit und dem Bedürfnis des Geistes, „sich selbst zu betrachten“, und „ladet uns zur denkenden Betrachtung ein“.
Grundsätzlich nicht aufgenommen worden sind Beispiele aus der Unzahl von „Hommage-Gedichten“ (Reinhard Lauer), von Gedichten der Autoren über Kollegen und Künstler (sei es ihrer Gegenwart oder der Vergangenheit), also nicht Texte wie – um wenigstens einige zu nennen – Frauenlobs Verse über Konrad von Würzburg, von Platens Hommage-Sonette, Hebbels Sonett über Kleist oder Benns Gedicht „Der junge Hebbel“, Brechts Verse über Nietzsches „Zarathustra“ oder Elisabeth Borchers’ „Die Kammer des toten Brecht“. Auszuklammern waren auch die zahlreichen Dichter-Balladen (wie Goethes „Sänger“ oder Heines „Dichter Firdusi“) und Gedichte, die – bei sehr allgemeinem poetologischen Gehalt – von ungewöhnlichem Umfang sind und deren Kürzung nicht sinnvoll erschien: etwa Gottfried Kellers „Denker und Dichter“ oder Reinhold Schneiders „Bildhauer und Dichter“. Verzichtet wurde schließlich auf „Wandrers Sturmlied“, das leicht zugängliche lange Gedicht des jungen Goethe.
Diese Einleitung kann allenfalls einen Überblick, eine Skizze bieten. Der Herausgeber hofft demnächst eine Geschichte deutscher poetologischer Lyrik vorlegen zu können. 

Walter Hinck, Vorwort

 

 

Zum 90. Geburtstag des Herausgebers:

Raimund Neuss: Ein Leben für Heine und Brecht
Kölnische Rundschau, 8.3.2012

Paul Michael Lützeler: Walter Hinck wird 90
Deutschlandfunk, 8.3.2012

Friedmar Apel: Ferne bleibe uns Dogmatismus
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.3.2012

Michael Braun: Anwalt der Literatur
Konrad Adenauer Stiftung, 2.4.2012

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Internet Archive +
Kalliope
Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos
Nachrufe auf Walter Hinck: FAZ ✝︎ SZ ✝︎ KSTA ✝︎ Blog ✝︎ Buth

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