Kito Lorenc / Johann P. Tammen (Hrsg.): Aus jenseitigen Dörfern

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Kito Lorenc / Johann P. Tammen (Hrsg.): Aus jenseitigen Dörfern

Lorenc und Tammen (Hrsg.)-Aus jenseitigen Dörfern

DIE UNERHEBLICHKEIT BERLINS
BEOBACHTET AUS WUISCHKE AM CZORNEBOH

die unerheblichkeit berlins
ist gerade dadurch erträglicher
daß berlin unerheblich ist

deshalb macht auch niemand viel aufhebens
von der unerheblichkeit berlins

die unerheblichkeit berlins
wird durch zuzug nicht erheblicher
wie durch abzug nicht unerheblicher

ob berlin an seiner unerheblichkeit gelegen ist
es bleibt unerheblich

die unerheblichkeit berlins
ist mit keiner anderen vergleichbar
sie ist unvergleichlich

obwohl berlin nicht unerheblicher ist als anderes
wirkt es besonders unerheblich

die unerheblichkeit berlins
läßt sich nur mit sich selbst vergleichen
indem man all die unerheblichkeiten vergleicht

welche zusammengenommen
die unerheblichkeit berlins ergeben

so würde man durch eine Erhebung sicher feststellen
daß die eine oder andere unerheblichkeit berlins
erheblicher ist als die übrigen

aber insgesamt wird auch dadurch
die unerheblichkeit berlins nicht erheblicher

Kito Lorenc

 

 

 

Auf dem Weg nach der anderen Heimat

Kónc poezije małej komorki,
štož za mnu žedži, hišće spi.

Vorbei der kleinen Kammer Poesie,
was sich sehnt nach mir, es schläft noch in der Früh.

Jurij Chěžka, 23.9.1937

Abgeschieden zwar, doch in der Mitte des Kontinents, sprachlich gebunden an den Osten, kulturell eingebettet im Westen, umgeben von Deutschen – die Sorben. Ein Volk von Bauern, einer kleinen, aber nicht unbedeutenden Schicht Geistlicher und Lehrer. Sie förderten mit Übersetzungen und Verteidigungsschriften seit der Reformation Sprache und Kultur. Sorbische Literatur insgesamt ist vergleichsweise klein und jung, zudem sprachlich zergliedert ins Ober- und Niedersorbische. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erst löste sie sich aus dem Verbund des meist religiösen Schrifttums (Jurij Mjeń: Rěćerski kěrliš – Dichterlied, 1767) und es begann, beschleunigt vom neuzeitlichen Entwicklungsgang, die poetische Entdeckung der sorbischen Sprache.
Ungeachtet anderslautender Prognosen deutscher Polemiker zum Aufbruch der kleineren Slawenvölker ließ sich das „Nationenblümelein“ (Friedrich Engels, 1848) Mitte des 19. Jahrhunderts auch wegen der Nähe zu den nach politischer und kultureller Freiheit strebenden Tschechen und Polen nicht mehr „zerknicken“. Das Sammelwerk Volkslieder der Wenden in der Ober- und Niederlausitz von Jan Ernst Smoler und Leopold Haupt, die zur Enzyklopädie des Volkslebens gediehene erste sorabistische Zweisprachenedition, war soeben, 1841/43, in Grimma bei Leipzig erschienen. Da entfaltete sich, gestützt auf Presse, Verlag, Vereine und bescheidene Volksbildung, von deutscher Seite teils angefeindet, teils aber auch tolerant geduldet oder gar unterstützt, ein eigenständiges kulturelles und literarisches Leben.
Die Fabeln und Lied-Gedichte Handrij Zejlers (1804–1872) ersetzten eine Art nationaler Schule. Denn mit der Alphabetisierung verbreitete sich die Zweisprachigkeit. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts schlugen Verkehrsaufschluß und Industrialisierung tiefe Breschen in die traditionell agrarischen Strukturen der Lausitz. Zur selben Zeit etwa war das literarische Gattungsgefüge ausgeprägt. Literaturfähig wird in Anlehnung an das obersorbische Zentrum in und um Bautzen/Budyšin (das alte Budissin) auch die niedersorbische Sprachvariante nördlich von Cottbus (Mato Kosyk, 1853–1940). Dabei bedeutete „der deutsche Bildungsgang der wendischen Intelligenz“ auch Gefährdung, die slawische Wechselseitigkeit aber wirkte als Korrektiv.
Schreiben in sorbischer Sprache verstanden Jakub Bart-Ćišinski (1856–1909), Mikławš Andricki (1871–1908), Jakub Lorenc-Zalěski (1874–1939) als dichterisches Ethos. Sie nahmen ihren Auftrag, Sprach-Lehrer zu sein, bewußt an, oft unter schmerzlicher Zügelung der eigenen künstlerischen Individualität. Gegen Assimilation und Germanisierung sollte Ćišinskis Helgoland-Bild der Lausitz wappnen:

O daß jedes Sorbenherz ein Fels doch
wäre, standhaft in der fremden Flut
(„Mein sorbisches Bekenntnis“, 1891).

Das so behauptete Sprach-Inseldasein war dennoch spätestens mit den gesellschaftlichen Veränderungen nach dem ersten Weltkrieg kaum mehr haltbar. Literarisch deutete sich die Suche nach nationaleigener Artikulation in einer Auffächerung der Schreibweisen an, was sowohl romantische Mythisierung und politische Polemik einschloß als auch die weitere Entdeckung des Ichs. Gleichzeitig ist die Hinwendung zum Sprachumfeld nicht aufzuhalten, die Auflösung der Sprachbarrieren beginnt in der dritten Generation nach Ćišinski. So emigrierte der eine, Jurij Chěžka (1917–1944), spätentdeckter Erneuerer der sorbischen Poesie, Mitte der dreißiger Jahre in die Tschechische Republik. Sein dichterischer „Weg nach der anderen Heimat“, einer slawischen, endet im Kriegstod. Ein anderer, Jurij Brězan (*1916), Vertreter der heute ältesten Schriftstellergeneration, meinte nach dem zweiten Weltkrieg eher in der deutschen Sprache die ihm angemessene Ausdruckssphäre zu finden.

Seit den 60er Jahren, mit dem Eintritt der Kriegskindergeneration ins literarische Leben, machte sich ein neuartig-schöpferischer Umgang mit dem Schreiben in beiden Sprachen bemerkbar. Die damaligen Mittzwanziger, die unter dem ausdrücklichen Verbot des Sorbischen in der Nazizeit aufgewachsen waren, entdecken jetzt ihre Muttersprache wieder als brachliegende Möglichkeit sprachkünstlerischen Ausdrucks. Später werden sie schreibend die Balance suchen zwischen den beiden so verschiedenen, im eigenen Erleben wohl nicht zu trennenden Welten.
„Die Insel schluckt das Meer“ (Kito Lorenc) – das ist die Frage. Und: Ein Bild wird entworfen, Landschaft des Dorfes gezeichnet, die so vielleicht nicht mehr existiert, die nur noch sprachlich heraufzubeschwören war. Rückbesinnung auf sorbische Kultur und Geschichte prägt ursprünglich diese, heute nun schon ältere, Generation. Wobei die Begegnung mit Johannes Bobrowski gerade Kito Lorenc die Situation der Sorben in eigener Weise verstehen ließ. Jurij Koch ist der Wanderer zwischen den Lausitzen, der sein intaktes sorbisch-katholisches Kindheitsbild auf die bröckelnde Nationalstruktur im Norden zu übertragen sucht. Mit diesen Autoren beginnt die literarische Zweisprachigkeit künstlerisches Prinzip zu werden; obwohl sie sich auch der überkommenen Dichteraufgabe noch verpflichtet fühlen, sprachlich-nationales Bewußtsein zu befördern, ist ihre „Selbstintegration“ in die deutsche Literatur gewollt, Grenzüberschreitung und -auflösung zugleich.
Die jüngeren Schriftsteller, die Kinder des Nachkriegs, wurden Anfang der 70er Jahre vom damals dreißigjährigen Lorenc betreut. Ein Einsatz, der in der sorbischen Literaturgeschichte (wie zuletzt in ihrem DDR-Umfeld) nicht ungewöhnlich war, hier aber besonders nachhaltig gewirkt hat. Ausbrechend aus schulischer Bevormundung und ideologischen Erstarrungen versuchten sie in das „Wortland“ (Kito Lorenc) Eingang zu finden. Um dann, jeder für sich, in ihr „Land vor dem Spiegel“ (Marja Krawcec) aufzubrechen.

Daß gerade Frauen dieser Schriftstellergeneration das Gepräge geben, scheint kein Zufall. Jenes patriarchalische Bild von der geduldigen, mütterlich-häuslichen Bewahrerin der Sprache oder dessen feministische Umkehrung trifft gerade auf diese Autorinnen nicht zu. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts schon bahnte sich in den Gedichten und Weltbetrachtungen Hertas (Herta Wićazec, 1819–1885), veröffentlicht meist unter dem Schutz ihres sorbischen Mentors, eine am Individuum orientierte Kunstauffassung ihren Weg. Die zähe Leisigkeit der weiblichen Gefühlswelt bleibt in den zeitgenössischen Arbeiten deutlich spürbar.

Literarische Zweisprachigkeit ist heute Ausdrucksform vieler sorbischer Autoren. Beinahe alle Jüngeren begreifen Schreiben als poetologisch-ästhetische Erweiterung ihres Schaffens. Doch wird es wohl auch künftig nicht eine ausschließlich „deutsche Literatur der slavischen Sorben“ geben. Wider den „sprachlichen Realismus“ versagen sich einige Autoren den Herausforderungen der Zweisprachigkeit und versuchen mit ihren Werken eine Brücke zum traditionelleren Bereich der sorbischen Literatur zu schlagen. Allein der sorbischen Sprache, oft (aber gewiß nicht notwendig nur) herkömmlichen Erzähl- und Schreibmustern verhaftet, gehört auch dieser Bezirk unverkennbar zu den bestimmenden Elementen einer kleinen Nationalliteratur, die sich ihrer Existenz wie ihrer Herkunft stets von neuem versichern muß.

Christiana Piniekowa, Vorwort

Zu diesem Band

Als Fingerzeige zur zweisprachigen Praxis der Autoren sind diesem Band, soweit es, vom Umfang her, geraten schien, einige sorbischsprachige Proben beigegeben: die Gedichtbeispiele sämtlich obersorbisch, das Prosabeispiel (von Jurij Koch, der sonst eher obersorbisch schreibt) in dem literarisch nach wie vor seltener angewandten Niedersorbisch. Der sorbischen Fassung folgt in diesen Fällen eine deutsche „Autorversion“. Ausnahme: bei der nur sehr vereinzelt deutsch schreibenden Marja Krawcec steht statt dessen eine deutsche Interlinearversion.
Warum der Sachverhalt durch den Begriff der – kraft Autorlizenz ja freieren – jeweils sprachigen „Autorversion“ treffender erfaßt ist als mit den üblichen Bezeichnungen „Original“ und „Nachdichtung“, soll das Beispiel „mjelčiwy – der schweigsame – er tutet“ demonstrieren. Nicht immer jedoch ist die sorbische Autorversion die ursprüngliche, d.h. sie kann zeitlich auf die deutsche folgen oder, seltener, „in einem Arbeitsgang“ mit ihr entstehen. Und nicht jeder (auch nicht jeder in diesem Band vertretene) deutsche Text eines sorbischen Autors hat ein sorbisches Gegenstück und umgekehrt. Die „synoptischen“ Phasen der Doppelarbeit an „ein und demselben Text“ markieren eher Durchgangsstadien, Kreuzungspunkte auf dem Weg wechselweisen Schreibens in der einen oder anderen Sprache, vielleicht auch zu neuer (oder alter) literarischer Einsprachigkeit.
Knapp ein Drittel der Beiträge dieses Bandes (nur die von Marja Krawcec – Nachdichtungen aus einem entstehenden sorbischen Band – durchweg) sind Erstveröffentlichungen oder bisher an meist entlegener Stelle erschienen. Für die freundliche Überlassung der Nachdruckrechte zu den bereits in Buchform publizierten Texten seien bedankt: der Aufbau-Verlag GmbH Berlin und Weimar, der Mitteldeutsche Verlag GmbH in Halle, der KinderBuchVerlag Berlin, der Domowina-Verlag e.V. Bautzen und Gerhard Wolfs janus press GmbH/BasisDruck Verlag GmbH, Berlin.

Kito Lorenc, Nachwort

 

Fakten und Vermutungen zu Johann P. Tammen + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
Brigitte Friedrich Autorenfotos

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Johann P. Tammen

 

 

Zum 75. Geburtstag von Kito Lorenc:

Ulf Heise: Zwang zur Genauigkeit: Am Montag feiert Kito Lorenc seinen 75. Geburtstag
Leipziger Volkszeitung, 4.3.2013

Fakten und Vermutungen zu Kito Lorenc + KLG + Archiv + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde OhlbaumGalerie Foto Gezett +
Dirk Skiba AutorenporträtsBrigitte Friedrich Autorenfotos +
deutsche FOTOTHEK
Nachrufe auf Kito Lorenc: SZ ✝︎ MDR ✝︎ SAdK

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Lorenc“.

 

Kito Lorenc und Miodrag Pavlovic erhalten den Petrarca-Preis 2012.

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