Die Sonnenuhr

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Die Sonnenuhr

Die Sonnenuhr

ELEMENTE PRÜFTE ICH VON IHNEN GEPRÜFT

Elemente prüfte ich von ihnen geprüft
im Steinturm auf kühlem Felsen von Lava
ein Schorf auf dem Kahlkopf des Toten
prüfte ich Urkraft geprüft von ihr
im Buchungsort des Luftzugs
verdarb ich mir die Augen
die Sprache und spannte vier Sinne breit
damit der fünfte versinkt Störsender unten
die so rar kommen in diese böhmischen Berge
ich wußte Bescheid über den Zustand
diverser Dinge in so vielen Händen
ich der eigenhändige Klima-Dolmetscher
seines Entstehens und Vorgangs
ich der Prag-Seher der fernen
winziggewordenen Stadt
im Anprall des Lichts an Wolken
wahrsagend
wieder das Windlose
vertieft in den Morgen
die Augen verblendet durch Dunkles
durch Dunkles beim Prüfen der Urkraft
je nach drei Stunden verwandelt in:
KQW 1
je nach drei Stunden mir Antwort
424
so schnitt ich durch Pausen
das Mono der Sprache rückübersetzbar
durch Kabbala-Zahlen
in eines Sinnes Sinn
wo dankbar die Erde schluckt ihr Gekotztes
der Wind mich an die Turmwand nagelt
wo das Erzgebirge zur Schmerzgrube wird
eines schwefligen Quintärs
hinter dem grün-roten Auge des Funkers
hat es geprasselt und meinem Nichtgesagten
fauchte die Antwort entgegen:
Verstanden-Erhalten-Ende
kein anderes Wort zurück
über das Lieben
so verstummt
über die Texte abhanden gekommen
über die Freunde im Knast
über die hungernden Sippen
über das Lavagestein kalt
wo ich die Arme leer schließe
wie Gott der die Welten leer laufen läßt
und wahllos die Tage entkettet
kein Wort darüber daß ich wie er
den Irr-Lauf der Tempi bewohne
in dem dies alles Dauer und Platz hat
das Wetter die Pausen der Kerker der Durst
der Schorf auf dem Schädel
eine nie brennende
eine nie schließende Narbe
ja ich verstehe:
habe erhalten
Ende
geblendet vertieft schauend
durchs Dunkle

Petr Kabeš
Übersetzung Georg Birno

 

 

 

Vorbemerkung

Die Ziele dieser Anthologie sind nicht rein literaturgeschichtlich, maßgebend sind die Frische und poetische Aktualität der Verse, ihre heutige Lesbarkeit. Diesem Standpunkt wurden etliche Perioden und Namen besonders der älteren Zeit, die nur einige Kenner ansprechen können, geopfert. Die entstandenen „Lücken“ werden durch einen kurzen Kommentar in den Einleitungen zu den drei Teilen der Anthologie überbrückt. Andererseits sind aber auch Tendenzen und Arten vertreten, die oftmals dem Auge der Anthologisten entgehen. Das geschieht aus zwei Gründen: entweder weil solche Erscheinungen in der deutschen Literatur keine oder nur vage Parallelen haben (Poetismus, betont imaginative Töne, lyrische Prosa) oder aber weil die deutsche Analogie eindeutig ist (expressive, ja expressionistische Anklänge, Heine-Erinnerungen, Bänkellieder). Erwähnt sei, daß als Poesie heute manchmal auch das klingt, was in früherer Zeit andere Funktionen erfüllte (Titelseiten der Comenius-Bücher, Anleitungsreimereien alter Dorfchronisten, Protestsongs der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts etc.).
Die Gedichte des 10. bis 18. Jahrhunderts reihen sich in unserer Anthologie mehr oder weniger chronologisch nach den kulturgeschichtlichen Epochen aneinander. Aus dem 19. Jahrhundert – an dessen Beginn die überragende Gestalt K.H. Máchas steht – werden die wichtigsten Persönlichkeiten in einzelnen „Porträts“ vorgestellt. Die tschechische Verssatire wurde absichtlich ausgeklammert, erstens wegen des betont lyrischen Grundgestus dieser Anthologie, zweitens weil diese „Gebrauchsgattung“ allzuviel Kommentar benötigt. Diese Regel bestätigt eine Ausnahme: die Satire des Havlíček Borovský, in der sich die zeitkritischen und lyrischen Werte großartig ergänzen und multiplizieren. Ab 1900 ändert sich die Art der Präsentation: Die tschechische Poesie wird im Kontrapunkt der Zeit, innerhalb der „Magnetfelder“ ihrer Entwicklungstendenzen betrachtet. Den Grundriß des dritten Teiles der Anthologie bilden also die geschichtlichen Knotenpunkte: Der Zusammenhang der tschechischen Poesie mit dem Zeitgeschehen ist im 20. Jahrhundert „direkt proportional“. Zwischen diesen Brennpunkten bleibt genügend Raum für „Intermezzos“: Liebeslyrik, Naturlyrik, Experimente.
Die Übertragungen ins Deutsche erleichterten seit den Zeiten der nationalen Wiedergeburt den Eintritt der tschechischen Poesie in den europäischen Kontext. Die Arbeit der „Deutschböhmen“ Joseph Wenzig und Eduard Albert – sie gaben im 19. Jahrhundert mehrere Anthologien heraus – führten mit einem qualitativen Sprung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts deutsche Dichter und Nachdichter aus Böhmen weiter: Rudolf Fuchs, Otto Pick, Paul Eisner (Die Tschechen. Eine Anthologie aus fünf Jahrhunderten. Piper-Verlag, München 1928), F.C. Weiskopf, Peter Pont, Louis Fürnberg. Ihr Zugang zur tschechischen Poesie war unvermittelt: dichterische und philologische Fähigkeiten überdeckten sich. Letzter Vertreter dieser Tradition war der vielsprachige O.F. Babler.
An der Schwelle der sechziger Jahre entstehen erste Übertragungen tschechischer Poesie, welche jüngere deutsche Dichter auf Grund von Interlinearübersetzungen schaffen. Dieses Vorgehen wird immer öfter in vielen Ländern Europas praktiziert und führt zu guten Ergebnissen, sofern drei Bedingungen erfüllt sind: daß erstens wirkliche Dichter am Werk sind, zweitens eine ständige philologische Beratung erfolgt und drittens ein gründliches Eindringen in die innere Struktur der Texte und den äußeren Zeit- und Kunstkontext vonstatten geht.
Zu Beginn dieser Periode hat Franz Fühmann Bedeutendes geleistet. Er war einst auch Anreger dieser Anthologie, in der viele neue Nachdichter zu Wort kommen. Dieser Generationswechsel führte methodisch zur Herausbildung einer „neuen Schule“ von Übersetzern. Ihre Prinzipien sind schon bei Fühmann angedeutet und setzen sich parallel auch in der neuen deutschen Poesie durch: Freier wird der rhythmische Grundriß behandelt, die Poetik der verschiedenartigen freien Rhythmen wird nuancierter durchgearbeitet, der sogenannte reine Reim weicht allmählich bisher „unerlaubten“ Zusammenklängen und „unklassischen“ Reimen, Assonanzen, ja Konsonanzen. Nicht jede Vorlage erlaubt automatisch dieses freiere Vorgehen. Aber für die mittelalterliche Dichtung, das Volkslied und die Texte der Moderne sind das oft geeignete Mittel, die viel mehr Assoziationsmöglichkeiten erschließen und so dem Sinn der Originaltexte näherkommen. Mehr Freiheit bedeutet also hier mehr Treue!
Es liegt in der Tradition der tschechischen Kunst, in der – nach Halas – „die Dichter immer gemeinsam mit den Malern zogen“, daß im Unterschied zu strikten deutschen Gepflogenheiten die Buchausgaben tschechischer Poesie, besonders nach 1918, fast immer graphische Arbeiten begleiten: Umschlag, Frontispize, oft mehrere Illustrationen. Proben dieser Buchgraphik in der Sonnenuhr ermöglichen dem Leser einen Einblick in das Gewebe der tschechischen bildenden Künste.

Ludvík Kundera, Sommer 1985, Vorwort

Zur 2. Auflage

In schlimmer Zeit war es dank menschlicher Solidarität gelungen, den Text der 1. Auflage dieser Anthologie den tschechischen Zensurbehörden vorzuenthalten und den Lesern so ein unverstümmeltes Bild der tschechischen Dichtung zu bieten. Die Anthologie endete etwa mit dem Jahr 1950, was die Notwendigkeit von Kompromissen bezüglich des Abdrucks drittrangiger partei-offiziöser Gedichte der fünfziger bis achtziger Jahre a priori ausschloß.
Für die 2. Auflage wurde der Text wesentlich gekürzt, um der neueren und neuesten tschechischen Poesie in einem 4. Teil der Anthologie Raum zu geben. Die Bewegung der poetischen Schichtungen im Verhältnis zu einem ungünstigen Zeitgeschehen wurde wohl real skizziert. Aus räumlichen, aber auch aus übersetzerischen Gründen mußten viele Gedichte – also Dichter – wegfallen: Underground, Songs, die allerjüngste Poesie…
Andere Anthologien werden hoffentlich bald das Gesamtbild ergänzen.

Ludvík Kundera, Frühjahr 1993, Vorwort

Nach dem Mai 1945

entfaltet sich die tschechische Dichtung wieder in alle Richtungen. Dithyrambisch und in unvergeßlichen Rhythmen, gefühlvoll und sachlich, liedhaft und „formzerstörend“ wird die Befreiung begrüßt und der Aufbruch zum Wiederaufbau des verwüsteten Landes verkündet, aber zugleich werden in „Erbschaften“ und erschütternde Zeugnisse Licht gebracht, Worte des Grauens laut. Denn es wird vieles gedruckt, das in den Okkupationsjahren unveröffentlicht bleiben mußte – wegen antinazistischer Tendenzen, aber auch, weil es als „entartet“ nicht zugelassen worden wäre. Dennoch überwog die Freude, ein mitreißender Elan, für den es in der tschechischen Geschichte kaum eine Analogie gibt. Das beinahe überstürzte Tempo dieser Zeit war nicht imstande, die überempfindlichen Seismographen in den Dichtern abzustumpfen, ohne die sie des Namens Dichter unwürdig wären. Im Kontext der europäischen Dichtung wurde sehr bald die Drohung, die für die Menschheit aus der Explosion über Hiroshima erwuchs, erfaßt und sofort auch dichterisch ausgedrückt: bei Halas (der schon 1946 in elf kurzen Versen einprägsamer Imagination seine Vision der Welt „nach dem Platzen der Bombe“ skizzierte), bei Hrubín (1948: das Hiroshima-Moment im Kontrapunkt mit der „schlichten Sehnsucht in uns“, der Sehnsucht zu leben), bei Nezval (der sinnbildlich das alte Motiv der „batavischen Träne“ neu weiterführte) und bei etlichen anderen. Das Gewissen der Menschheit äußert sich hier in verschiedener Form und Art, stets aber wirkungsvoll.
Nach sechsjähriger Isolation war im Mai 1945 die tschechische Kultur wieder einmal im Stadium des „Nachholens von Europa“. Es entstanden sechs Dichtergruppen (zwei von ihnen mit bildenden Künstlern), die den Zivilismus, Surrealismus, „präsozialistischen“ Realismus, Dynamoarchismus (schwer zu schildern), Existentialismus und „Neokatholizismus“ repräsentierten. In Umlauf kamen die Bücher der Emigranten (z.B. Egon Hostovský) oder der jüdischen Autoren, die das ganze sogenannte Protektorat im Versteck („im Badezimmer“) verbracht hatten (Weil, Heisler). Bald starben die Klassiker der Jahrhundertwende (Toman, Šrámek, Neumann – ehemals Anarchisten), es lebten und wirkten aber die um 1900 geborenen Klassiker der Moderne: Nezval, Halas, Seifert, Zahradníček, Biebl, Holan… Bevor sich diese verschiedenen Tendenzen entfalten konnten, kam der Februar 1948, die Gruppen wurden einfach verboten, das Feld beherrschte der Dogmatismus, die Uniformität.
Die fünfziger Jahre waren grau und brutal. Die Bestrebungen, mit allen (allen!) Mitteln die tschechische Literatur zu unifizieren, zu verflachen – gleichzuschalten! –, waren vehement. Mindestens fünf Jahre durften die maßgebenden Dichter (Halas, Seifert, Zahradníček, Holan, Hrubín) nicht publiziert werden. Am Anfang dieser Periode stand der Tod von František Halas (1949), der kurz danach offiziell in persona et in opere verflucht wurde; Konstantin Biebl beging 1951 Selbstmord. Aufgrund vollkommen konstruierter Vorwürfe wurden der slowakische Dichter und Politiker Laco Novomeský und der katholische Dichter Jan Zahradníček für etliche Jahre eingekerkert. Auf dem Schriftstellerkongreß 1956 traten Hrubín und Seifert mutig hervor, wurden jedoch vom „Schriftstellerpräsidenten“ Zápotocký streng getadelt.
Die sechziger Jahre: Man kann allmählich von einer Liberalisierung des kulturellen Lebens sprechen. Die Attacke gegen den Parteidogmatismus, gegen die Unmenschlichkeit führen Schriftsteller (Vaculík, Milan Kundera, Kohout, Klíma…). Ende 1967 kann man schon öffentlich sagen, der König sei nackt. – Die sowjetische Okkupation im August 1968 macht brutal Schluß mit all dem.
Am Anfang dieser Periode kann man, abstrahiert, von einer Polarität zwischen der Nezvalschen und Halasschen dichterischen Auffassung sprechen: spontaner und vitaler Optimismus gegen „die Größe der Befürchtungen“, die traditionelle und betont orale Poetik (allerdings geschult an Experimenten) gegen eine „rauhe“ Poetik der Knappheit und des „Fragmentarischen“, sprühende Emotionalität gegen das sich auf neuen Wegen durchsetzende Gedankliche.
Die siebziger Jahre sind in der tschechischen Geschichte vielleicht die finstersten überhaupt. Stalinismus-Breshnewismus! Der reformierte tschechische Schriftstellerverband mit Jaroslav Seifert als Vorsitzendem wurde aufgelöst. Der neugegründete „Auswahl“-Verband hat drei Viertel der tschechischen Schriftsteller nicht akzeptiert. Hier fängt eine große Existenzmisere an, viele wurden Nachtwächter, Arbeiter, Portiers, Heizer usw., einige gingen außer Landes. Viele, die „durften“, deckten mit ihrem Namen die Handschriften verbotener Kollegen („Dachdecker“ nannte man sie). Die Mafia der Ultrakommunisten und Karrieristen beherrschte Verlage, Ämter. Die Polizei bewacht Mitte der siebziger Jahre alle und alles, besonders nach der Gründung der Charta 77 – und doch gab es unendlich viele sogenannte Samisdat-Unternehmen. Im Ausland entstanden Emigrantenverlage: niedrige Auflagen, bescheidene Aufmachung – die Kontinuität wurde aber nicht gänzlich unterbrochen…
Die achtziger Jahre stehen unter dem Zeichen des Zerbröckelns. Nach zehnjährigem Schweigen durften, wenn auch zögernd, Gedichte von Mikulášek, Holub, Skácel erscheinen. Auch der Prosaiker Hrabal darf wieder gedruckt werden, wenn auch oft mit beträchtlichen Streichungen. Im Ausland setzen sich besonders die Dramatiker Václav Havel und Milan Uhde durch. Die Schikanen „zu Hause“ dauern allerdings an: der monströse Polizeiapparat muß seine Unersetzlichkeit beweisen.
Man kann vereinfacht von drei Strömungen sprechen:

1. Die offizielle und offiziöse Literatur – das, was die großen Verlage herausbringen. Viel mittelmäßiges Gewerbe und Schund, aber zunehmend auch Qualität. Und lichte Ausnahmen! (Oft schwierig durchgesetzt und dann als Irrtum bezeichnet…)

2. Die Emigrantenliteratur und das, was ins Ausland geschmuggelt wurde. Oft sind das Bücher, die zuerst im Samisdat in der Tschechoslowakei erschienen waren.

3. Die Dissidenten- oder die sogenannte Samisdat-Literatur – handschriftlich oder auf der Schreibmaschine in wenigen Exemplaren vervielfältigt sowie auf verschiedenen, allerdings streng bewachten Maschinen (à la Reprint, Xerox etc.). Hie und da wurde etwas, meist Bibliophiles, mit Graphik, auch „normal gedruckt“. Bekanntschaften, Geld, Zufälle spielten eine große Rolle. Man suchte – und fand! – Möglichkeiten, Texte in kleineren Orten unterzubringen, z.B. als Gesellenstücke der Druckerlehrlinge. Diese Leidenschaft, stets etwas herauszugeben, gehört, glaube ich, zu den positivsten tschechischen Eigenschaften. Die enorme Produktion dieser Art wird nun – und das ist schwierig – gesammelt, auf Ausstellungen präsentiert und wissenschaftlich registriert.

Die Situation nach dem 17. November 1989 ist unübersichtlich, maximal chaotisch. Private Verlage überfluten den Markt. Alte große Verlage, die vom Staat finanziell unterstützt wurden, haben unter den neuen Verhältnissen kein Geld und zerfallen langsam. Das Chaos wird dadurch vergrößert, daß jetzt fast vier Schriftstellergenerationen parallel auftreten. Die alte, ältere und mittlere Generation (die Zuhausegebliebenen und die Emigranten) kehren zurück, debütieren zum zweiten Mal, die Jüngeren und Allerjüngsten (Zwanzigjährigen) wollen sich selbstverständlich auch durchsetzen…
Ein Extra-Kapitel müßte die Rolle der Lieder und ihrer Sänger in den letzten zwanzig Jahren analysieren. Es ist zu betonen daß in Böhmen eine immerfort feste Tradition der Lieder existiert, von Liedern, die das Niveau einer druckreifen Dichtung haben. Immer noch leben – fast schon als Volkslieder – die Songs des clownesken Paares Voskovec und Werich, immer noch werden die Songs des Jiří Suchý und Jiří Šlitr aus den fünfziger und sechziger Jahren gesungen. Nach der Sowjetokkupation 1968 entstanden Protestsongs und wurden massenweise – obzwar heimlich – verbreitet: sogenannte Autorenlieder, ernste, oft ein wenig pathetische Minikompositionen; aber neben ihnen auch witzige Texte, lyrisch humorvoll, die Sprache spielerisch meisternd. Die Sänger waren die ersten, die auf den Meetings schon im November und Dezember 1989 auftraten – vor Hunderttausenden. Nun erscheinen Schallplatten, Kassetten und Bücher, in denen die gesungenen Texte als Poesie präsentiert werden. Zu nennen sind hier Vodňanský, Burian, Dědeček, Nohavica. Dazu kommen die aus der Emigration Zurückgekehrten, z.B. Kryl, Hutka.
Die Dichter des sogenannten Undergrounds können wir als eine Splittergruppe der einheimischen dissidentischen Samisdat-Literatur betrachten. Diese Dichter schreiben in einem naivistischen Stil, mit einem Anklang an Gassenhauer, an die Porno-Literatur, an Bänkellieder, an primitive Spaßmacher und an einen einzigen „Klassiker“: an František Gellner, der zur anarchistischen Generation der Jahrhundertwende gehört. (Als Vorläufer könnte auch R.T. Field gelten.) Sie beherrschen Töne des beißenden Sarkasmus, ja des schwarzen Humors. Die Literaturkritiker haben dieses Prinzip meist noch nicht begriffen, sie wissen nicht, „ob das eigentlich zur Kunst gehört“. Sie stehen vor der Notwendigkeit, eine neue Kategorie – sagen wir: die des raffinierten Naivismus – zu errichten. Namen? Krchovský, Egon Bondy, Stankovič, Olič, Vodsed’álek…
Warum, wieso ist aber die lyrische Reaktion auf die Revolution 1989/1990 ärmlich? Ich versuche zu antworten.

1. Viele Dichter haben die unvergeßlichen Meetings des November/Dezember 1989 miterlebt, standen auf den Theaterbühnen, aber auch auf Stadt- oder Dorfplätzen vor Hunderten und Tausenden Zuhörern und sprachen. Und hatten keine freie Minute für eine stille, konzentrierte Versarbeit.

2. Viele begannen publizistisch zu arbeiten, schrieben und schreiben Feuilletons, ja Leitartikel, sprachen und sprechen in Rundfunk und Fernsehen.

3. Offen ist die Frage, ob die mit dem Umsturz konfrontierte Lyrik nicht „als Kategorie“ verstummte. Das Ende politischer Lyrik? Dies hört man von etlichen Seiten. Denn „politische Lyrik“ war der Terminus technicus für sozusagen linksstehende Gedichte. Nach diesem Bankrott aber…? Ist sie überhaupt noch möglich? Immer häufiger entstehen auch Gedichte, die keine Beziehung zum Zeitgeschehen haben und doch politisch wirken…

4. In den ersten Revolutionswochen entstanden unendlich viele plakative Texte aller Art – Prag, Brünn, alle tschechischen Städte waren dicht beklebt –, und nicht nur mit kurzen witzigen oder pathetischen Losungen, sondern auch mit Gedichten der Klassiker (Shakespeare, Brecht, Halas…) und mit anonymen, also studentischen, meist „scharf gereimten“ dichterischen Texten. Das war die neuerstandene authentische Kreativität des Volkes. Die tschechische Sprache besitzt sieben Fälle; die anonymen Dichter der Novemberplakate benutzten mit erstaunlicher Invention diese Möglichkeiten der tschechischen Deklination. Und der Fragen, welche das Substantivum hervorrufen: wer, was? wessen? wem? wen? mit wem, womit?…Die sozusagen professionellen Dichter standen vor diesen Plakaten in stummem Neid.

5. Ich variiere schon Gesagtes: Nach zwanzig, dreißig, ja vierzig Jahren kehren drei, ja fast vier Generationen in die tschechische Literatur zurück oder betreten sie zum ersten Mal. Plötzlich, mit einem Schlage. In dieser völlig unübersichtlichen Situation dominieren begreiflicherweise Autoren, die jahrelang, jahrzehntelang nicht publizieren durften. Generationen, Stile, Richtungen und Arten, Vergangenheit, Zukunft – alles klärt sich. Langsam, viel langsamer als das revolutionäre Geschehen.

Ungeduldig sind wir alle, unzufrieden mit der Explosion der negativen Eigenschaften, der Streit- und Gewinnsucht, der blinden Kleinlichkeiten. Aber der Blick in die Geschichte auch in die Geschichte der Poesie! – erlaubt vieles zu begreifen und nicht der Lethargie zu verfallen.

Ludvik Kundera, diese Einleitung zum 4. Teil gründet sich auf einen Vortrag, den Ludvík Kundera am 2.6.1991 in Münster gehalten hat.

 

Einblick in poetische Gewebe

Zweibändige Ausgaben sind in Reclams Universal-Bibliothek eine Seltenheit. Angeboten wird hier eine Sammlung Tschechischer Lyrik aus 11 Jahrhunderten in zwei Bänden, die durch ihren Umfang sich der ständigen Aufmerksamkeit empfiehlt. Die Anthologie ist zu loben, da trotz der notwendigen Auswahl keine lyrische Linie verkümmert, kern Lyriker zu kurz kommt. Der überaus kundige, kompetente Ludvik Kundera hat den dreiteiligen Lyrikkranz fest geflochten. Da jeder Teil von einem bündigen Beitrag des Herausgebers begleitet wird, ist auch der Uneingeweihte schnell mit der Entstehungsgeschichte der Lyrik, das heißt ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund vertraut.
Ohne den Leser zu bevormunden, helfen die Beiträge, den nationalen Ursprung, die nationalen Besonderheiten, die internationale Resonanz der tschechischen Lyrik besser zu verstehen. Um die Sammlung der Musealität zu entziehen, hat der Herausgeber den Übersetzern Interlinearübertragungen von ausgezeichneter Qualität geliefert. Sie erleichterten es den namhaften deutschsprachigen Nach-Dichtern des 20. Jahrhunderts, die Klangfarbe der Poesien längst vergangener Perioden zu erhalten und der Gegenwart zu nähern.
Anfänge, Fortsetzungen, Höhepunkte der tschechischen Dichtungen sollen hier nicht hervorgehoben werden. Die ersten schriftlich überlieferten anonymen, christlichen oder weltlichen Verse stehen in ihrer Gültigkeit den folgenden in nichts nach, die von den großen tschechischen Dichtern verfaßt wurden und zunehmend die Substanz der Anthologie bestimmen.
Unter vielen bedeutenden Namen seien hier nur drei weibliche hervorgehoben: Irma Geisslova, Simonetta Buonaccini, Marie Pujmanová.
Zu loben ist der Aufbau der Anthologie. Der erste Band endet mit dem 19. Jahrhundert, der zweite, stärkere, ist dem 20. Jahrhundert vorbehalten. Man stellt fest, wie treu die Tschechen in ihrer Beziehung zur Natur sind und wie beständig in der Bewahrung eines vielfach variierten liedhaften Tones in der Lyrik. Zu loben ist auch die Ausstattung der Bände mit 62 Abbildungen: Handschriften, Titelblättern, Umschlägen, Illustrationen. Leider wird der Eindruck durch schlechten Druck arg gemildert. Das ist zu bedauern, da die grafischen Beigaben im engen Bezug zu den Versen stehen. Die Mängel in der Ausstattung mindern die polygraphische Qualität der Anthologie. Im Anhang enthält der Band bibliographische Notizen und eine vollständige Aufstellung deutscher Anthologien tschechischer Poesie. Der Wert der Anthologie Die Sonnenuhr ist von bleibender Art. Das begreift, wer die Bände besitzt.

Bernd Heimberger, Neue Zeit, 11.5.1987 (bezieht sich auf die 1. Auflage)

 

 

Fakten und Vermutungen zum HerausgeberIMDb +
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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Ludvík Kundera

 

Ludvík Kundera – Fragment eines Gesprächs 2007 zur Ausstellung Dada East.

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