Die Sonnenuhr

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Die Sonnenuhr

Die Sonnenuhr

SKALA

Fünkchen in lichtstillen linnenen Lilien
schmelzender Helle gesellter Grelle Schmelz
Lollo Lollo
ahn aber smaragden atmen flammender Farben Harfe
unterm Dunkel Purpurflut

schreitet weideweit

Konstantin Biebl
Übersetzung Roland Erb

 

 

 

Vorbemerkung

Unsere Anthologie Die Sonnenuhr umfaßt etwa tausend Jahre tschechischer Dichtung von den ersten Schriftdenkmälern über die mittelalterliche Blütezeit und die Vielfalt des Barock in steigender Fülle bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Insbesondere in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten hat die tschechische Lyrik einen beeindruckenden und stets sich erneuernden Beitrag zur Weltliteratur geleistet: Sie reflektierte die Strömungen der Zeit, hat aber nicht selten auch neue Ideen, Methoden, Formen und Nuancen eingebracht. Dies wird im europäischen Zusammenhang oftmals mehr geahnt als sichtbar dokumentiert: Die verhältnismäßig schwierige Sprache einer kleinen Nation erschwert den Zugang zum spezifischen Kern dieser Dichtung, verstellt die Sicht auf entdeckerische Eigenwilligkeiten und erlaubt oft nur flüchtige Information anstatt äquivalenter Abbilder.
Die Ziele dieser Anthologie sind nicht rein literaturgeschichtlich, maßgebend sind die Frische und poetische Aktualität der Verse, ihre heutige Lesbarkeit. Diesem Standpunkt wurden etliche Perioden und Namen besonders der älteren Zeit, die nur einige Kenner ansprechen können, geopfert. Die entstandenen „Lücken“ werden durch einen kurzen Kommentar in den Einleitungen zu den drei Teilen der Anthologie überbrückt. Andererseits sind aber auch Tendenzen und Arten vertreten, die oftmals dein Auge der Anthologisten entgehen. Das geschieht aus zwei Gründen: entweder weil solche Erscheinungen in der deutschen Literatur keine oder nur vage Parallelen haben (Poetismus, betont imaginative Töne, lyrische Prosa) oder aber weil die deutsche Analogie eindeutig ist (expressive, ja expressionistische Anklänge, Heine-Erinnerungen, Bänkellieder). Erwähnt sei, daß als Poesie heute manchmal auch das klingt, was in früherer Zeit andere Funktionen erfüllte (Titelseiten der Comenius-Bücher, Anleitungsreimereien alter Dorfchronisten, Protestsongs der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts).
Die Gedichte des 10. bis 18. Jahrhunderts reihen sich in unserer Anthologie mehr oder weniger chronologisch nach den kulturgeschichtlichen Epochen aneinander. Aus dem 19. Jahrhundert – an dessen Beginn die überragende Gestalt K.H. Máchas steht – werden die wichtigsten Persönlichkeiten in einzelnen „Porträts“ vorgestellt. Die tschechische Verssatire wurde absichtlich ausgeklammert, erstens wegen des betont lyrischen Grundgestus dieser Anthologie, zweitens weil diese „Gebrauchsgattung“ allzuviel Kommentar benötigt. Diese Regel bestätigt eine Ausnahme, die Satire des Havliček Borovský, in der sich die zeitkritischen und lyrischen Werte großartig ergänzen und multiplizieren. Ab 1900 ändert sich die Art der Präsentation: Die tschechische Poesie wird im Kontrapunkt der Zeit, innerhalb der „Magnetfelder“ ihrer Entwicklungstendenzen betrachtet. Den Grundriß des dritten Teiles der Anthologie bilden also die geschichtlichen Knotenpunkte: Der Zusammenhang der tschechischen Poesie mit dem Zeitgeschehen ist im 20. Jahrhundert „direkt proportional“. Zwischen diesen Brennpunkten bleibt genügend Raum für „Intermezzos“: Liebeslyrik, Naturlyrik, Experimente. Am Ende der mit der Jahrhundertmitte abschließenden Anthologie stehen Gedichte der großen Gestalten der tschechischen Dichtung des 20. Jahrhunderts. Das Schaffen der jüngeren und jüngsten Generation zu charakterisieren, ist zukünftigen, speziellen Anthologien vorbehalten. Einen ersten Einblick in die tschechische Lyrik der Gegenwart gibt der von Manfred Jähnichen herausgegebene Band Gesang der Liebe zum Leben (Artia, Praha 1983). Es werden in der DDR weitere Sammelbände dieser Art folgen.
Die Übertragungen ins Deutsche erleichterten seit den Zeiten der nationalen Wiedergeburt den Eintritt der tschechischen Poesie in den europäischen Kontext. Die Arbeit der „Deutschböhmen“ Joseph Wenzig und Eduard Albert – sie gaben im 19. Jahrhundert mehrere Anthologien heraus – führten mit einem qualitativen Sprung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts deutsche Dichter und Nachdichter aus Böhmen weiter: Rudolf Fuchs, Otto Pick, Paul Eisner (Die Tschechen. Eine Anthologie aus fünf Jahrhunderten. Piper-Verlag, München 1928), F.C. Weiskopf, Peter Pont, Louis Fürnberg. Ihr Zugang zur tschechischen Poesie war unvermittelt: dichterische und philologische Fähigkeiten überdeckten sich. Letzter Vertreter dieser Tradition war der vielsprachige O.F. Babler.
An der Schwelle der sechziger Jahre entstehen erste Übertragungen tschechischer Poesie, welche jüngere deutsche Dichter auf Grund von Interlinearübersetzungen schaffen. Dieses Vorgehen wird immer öfter in vielen Ländern Europas praktiziert und führt zu guten Ergebnissen, sofern drei Bedingungen erfüllt sind: daß erstens wirkliche Dichter am Werk sind, zweitens eine ständige philologische Beratung erfolgt und drittens ein gründliches Eindringen in die innere Struktur der Texte und den äußeren Zeit- und Kunstkontext vonstatten geht.
Zu Beginn dieser gegenwärtigen Periode hat Franz Fühmann Großes geleistet. Er war einst auch Anreger dieser Anthologie, in der viele jüngere Nachdichter zu Wort kommen. Dieser Generationswechsel führte methodisch zur Herausbildung einer „neuen Schule“ von Übersetzern. Ihre Prinzipien sind schon bei Fühmann angedeutet und setzen sich parallel auch in der neueren deutschen Poesie durch: Freier wird der rhythmische Grundriß behandelt, die Poetik der verschiedenartigen freien Rhythmen wird nuancierter durchgearbeitet, der sogenannte reine Reim weicht allmählich bisher „unerlaubten“ Zusammenklängen und „unklassischen“ Reimen, Assonanzen, ja Konsonanzen. Nicht jede Vorlage erlaubt automatisch dieses freiere Vorgehen. Aber für die mittelalterliche Dichtung, das Volkslied und die Texte der Moderne sind das oft geeignete Mittel, die viel mehr Assoziationsmöglichkeiten erschließen und so dem Sinn der Originaltexte näherkommen. Mehr Freiheit bedeutet also hier mehr Treue!
Es liegt in der Tradition der tschechischen Kunst, in der – nach Halas – „die Dichter immer gemeinsam mit den Malern zogen“, daß im Unterschied zu strikten deutschen Gepflogenheiten die Buchausgaben tschechischer Poesie, besonders nach 1918 fast immer graphische Arbeiten begleiten: Umschlag, Frontispize, oft mehrere Illustrationen. Proben dieser Buchgraphik in der Sonnenuhr ermöglichen dem Leser einen Einblick in das Gewebe der tschechischen bildenden Künste.

Lucvík Kundera, Sommer 1985, Vorwort zum Band Die Sonnenuhr. Tschechische Lyrik aus 11 Jahrhunderten Teil 1 und 2

 

Mit dem Heranrücken des 20. Jahrhunderts

nähert sich die tschechische Poesie viel deutlicher als im 19. Jahrhundert gewissermaßen der geschichtlichen Entwicklung an, den bedeutenden „Knotenpunkten“ in der Historie von Nation und Staat, den sozial umwälzenden Ereignissen und Wellen. Täuscht da nicht die Perspektive? Verhindert das naheliegende Geschehen nicht den Abstand der Sicht, während die entfernteren Zusammenhänge zerfließen? Anscheinend nicht. Auf dem „Situationsplan“ mit den Leuchtpunkten oder -flächen der geschichtlichen Ereignisse und zeitlichen Wendungen bildet diese Schicht gewissermaßen den ersten Grundriß. Den ersten und deutlichsten. Ergänzt wird er durch den zweiten Grundriß der künstlerischen Bewegungen, der europäischen Strömungen, Richtungen und auch Gruppierungen. Und diese wiederum wachsen über die ausgeprägten Individualitäten hinaus.
Nach den Ereignissen der neunziger Jahre ist die Situation um die Jahrhundertwende nicht als geometrisch reiner Schnittpunkt von Einflüssen und Tendenzen darstellbar, sie bildet vielmehr ein verfitztes Knäuel, einen stachligen Kern, von dem die verschiedensten Impulse ausgehen. Mit dem Abstand der Jahre hält sich dort hartnäckig der „erratische Block“ Petr Bezruč, der leidenschaftliche und eigenwillige Kämpfer gegen nationale und soziale Ungerechtigkeit. Neben ihm steht der Träumer, aber auch Pamphletist Antonín Sova, Seher, aber auch Gestalter intimer Dramen, der die tschechische Abart des Symbolismus verkörpert, neben ihm der philosophische und ekstatische Otokar Březina, der der Poesie buchstäblich das ganze Weltall erschließt, neben ihm Karel Hlaváček, der vor seinem frühen Tod dem tschechischen Fin de siècle Gestalt zu geben vermochte, neben ihm der ironische Josef Svatopluk Machar, der den Geruch des Großstadt-Trottoirs in die allzu erhabene Welt der sogenannten hohen Poesie aufsteigen läßt (seine wertvollsten Gedichte freilich gehören noch ins 19. Jahrhundert)… Diese Tendenzen sind jedoch auf dem quantitativ viel reicheren Hintergrund des tschechischen, sagen wir, Parnassismus zu sehen, der in der Gestalt Vrchlickýs zwar formal manieristisch war, gedanklich jedoch „den Weg der tschechischen Poesie in Landschaften eröffnete, die er selbst nicht zu betreten vermochte“.
Als einzige geschlossene Gruppe wirkt jedoch auch jetzt noch eine Reihe von Dichtern mit unterschiedlichem Temperament und vielseitiger Begabung, die sich mit der destruktiven Losung „Nach uns die Sintflut“ dekorierten, aber zugleich einen gesunden Antimilitarismus vertraten. Die Mehrzahl dieser Autoren wurden später die Klassiker der tschechischen Poesie im 20. Jahrhundert. Ihre Verquickung mit dem tschechischen und europäischen Anarchismus zu Beginn des Jahrhunderts ist eindeutig. Hierher gehören Erscheinungen wie S.K. Neumann, Toman, Šrámek, Gellner, Mahen, Mach, doch auch Dyk, zu dieser Bewegung sind auch Autoren zu rechnen, die später in der Prosa dominierten, insbesondere Hašek und Majerová. Charakteristisch sind einige Titel von Gedichtbänden jener Zeit: Satans Ruhm unter uns, O Elend des Lebens, dennoch lieb ich dich, Blau und rot, Torso des Lebens, Eitelkeiten. In andere Richtung zielen: Ich bin der Apostel des neuen Seins, Die Freuden des Lebens (gewiß ironisch) und Abenteuer des Mutes. Allerdings wurde allen diesen individuellen Revolten das Jahr 1905, das Jahr der ersten revolutionären Erhebung im zaristischen Rußland, sozusagen zu einem Markstein. Einige Dichter verstummten auf Jahre (Březina für immer), und alle verloren den ursprünglichen Elan, als hätten sie angesichts der scheinbaren Ausweglosigkeit für die Gesellschaft und die Zeit, für die Gesellschaft in der Zeit, „Vernunft angenommen“, wenn nicht gar resigniert. Ein Jahrzehnt begann, gefühlsmäßig und vieldeutig gekennzeichnet von der Agonie der alten Monarchie, ein Jahrzehnt, in dem von Ebbe gesprochen werden kann… Auf dem Hintergrund des ständigen Hinundherpendelns zwischen Müdigkeit und Entschlossenheit, Melancholie und Sarkasmus, zwischen Ängsten und Hoffnungen findet ein Kampf um die neue Poetik statt, ein mit der weltanschaulichen Kristallisierung verbundener Kampf, was in dieser Etappe ein Schwanken zwischen dem Pol eines ausgesprochenen antimonarchistischen Nationalismus und einer zur sozialen Revolte strebenden Welt bedeutet, einer Revolte, die übrigens in der vorangegangenen wie in dieser Zeit das ständige Leitmotiv der bescheiden, aber hartnäckig sich entwickelnden Poesie und des Liedguts der autodidaktischen Arbeiterautoren ist. Der Kampf der „Ismen“ spielt damals eigentlich nur die zweite Rolle: Wir finden Anklänge des Impressionismus. (Mahen), des sogenannten Naturismus, der die Liebe, die Arbeit, das gesunde Alltagsleben und die Natur bejaht (Neumann), des sogenannten Sensualismus, der im Leben und in der Dichtung einseitig sinnliche Genüsse betont (Šrámek), und der sogenannten Zivilisationspoesie (wiederum Neumann), in der sich der Fortschrittsglaube des sich entfaltenden technischen Zeitalters äußert.
Wenn mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges bei vielen Dichtern in den beteiligten Ländern kreischend militaristische und zuweilen sogar von Inhumanität durchdrungene Töne laut werden, so gilt das nicht für die tschechische Lyrik dieser Zeit. Das hängt mit der andersartigen Situation der Tschechen zusammen, die im österreichischen Vielvölkerstaat vor allen Dingen gegen die Monarchie eingestellt waren und für die der Krieg, insbesondere gegen Rußland, von Anfang an nicht ihr Krieg war. Per Widerstand gegen die Sinnlosigkeit des Massenmordens kam demzufolge in den Versen der tschechischen Dichter, die an mehrere Fronten des Krieges verschlagen wurden, von Anbeginn mit erschütternder aufwühlender Kraft zum Ausdruck, vergleichbar denen, die zu jener Zeit Georg Trakl oder Johannes R. Becher schrieben. Inmitten des Blutvergießens begann sich die Hoffnung abzuzeichnen und dann die Gewißheit, daß die Niederlage Österreichs und Deutschlands unbedingt zum Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie und zur Selbständigkeit der tschechischen Länder und vielleicht auch der Slowakei führen müsse. So entstand eine Poesie, wie es sie bei den meisten Nationen dieser Zeit nicht gab, eine Poesie, von wirklichen Dichtern geschrieben, deren Lauterkeit allgemeine Wirksamkeit erlangte.
Der Widerstand gegen Österreich brachte so manchen tschechischen Dichter ins Gefängnis, wenn nicht gar in die Gefahrenbereiche höchster Strafen: In Machars und Dyks Poesie schwangen unter dieser Bedrohung Töne mit, in denen die historische Hoffnung die subjektiven, selbst die äußersten Befürchtungen überwand. Man darf die Tatsache nicht verschweigen, daß die ausgesprochen„nationale Zielsetzung der tschechischen Kriegspoesie zwischen 1914 und 1918 die Züge des Internationalismus nicht überdeckte. Einige Dichter der mittleren Generation arbeiteten eng mit dem politisch linken und seit Kriegsausbruch gegen den Krieg wirkenden Flügel der damaligen expressionistischen Bewegung zusammen, die insbesondere von der Zeitschrift Die Aktion, geleitet von, Franz Pfemfert und begleitet von einer Buchedition, repräsentiert wurde. In dieser Reihe erscheint dann mitten im Krieg – im Oktober 1916! – die Anthologie Jüngste tschechische Lyrik, in der wir unter anderem folgende Namen lesen: Bezruč, Březina, Dyk, Fischer, Hlaváček, Křička, Machar, Neumann, Sova, Šrámek, Theer, Toman, Weiner…
Man kann sicherlich nicht behaupten, daß alle diese Autoren eine Poesie mit expressionistischen Zügen schrieben, die Berührung mit dieser kraftvollen Bewegung kennzeichnet ihr Werk aber zweifellos, allein die Kriegskulisse – und mehr als die „Kulisse“! – veranlaßte motivisch wie formal ein expressionistisches Gepräge. Den Herausgebern ging es aber nicht um die Präsentation irgendeines tschechischen Ausläufers des Expressionismus, sie betrachten die Anthologie vielmehr als „einen politischen, völkerverbindenden Akt“, und das „in einem Augenblick, wo Sprechen und Schreiben fast immer nur geschieht, um zu trennen…“. Noch während des Zusammenbruchs des österreichischen Vielvölkerstaates veröffentlicht die in Brünn erscheinende, expressionistisch geprägte Zeitschrift Der Mensch nebeneinander die Arbeiten deutscher und tschechischer Dichter.
Ein in seiner Breite und Durchschlagskraft einmaliges Ereignis (einmalig in der Geschichte der Nationen überhaupt!) ist das Manifest der tschechischen Schriftsteller aus der Mitte des letzten Kriegsjahres: Es trägt die Unterschrift von 222 Schriftstellern aller Generationen und fordert ganz unverhüllt das Recht des tschechischen Volkes auf Selbstbestimmung. Der 28. Oktober 1918 ist dann der Tag, an dem durch Ausrufung der Republik ein selbständiger tschechoslowakischer Staat entsteht. Diesem geschichtlichen Meilenstein gingen ein Generalstreik und eine große Demonstration voraus, auf der Transparente mit der Forderung nach einem sozialistischen tschechischen Staat gezeigt wurden. Es entstand zwar ein bürgerlich-demokratischer Staat, doch allein die Tatsache, daß die Losung eines sozialistischen Staates aufgestellt worden war, ist symptomatisch: Trotz der „Frontgrenzen“ lag das Beispiel der Oktoberrevolution „in der Luft“.
Die Nichterfüllung der Hoffnungen auf eine sozialistische Staatsordnung führte in den tschechischen Ländern wie in Deutschland und anderswo zu einer sehr starken Bewegung, die man global als proletarische Kunst bezeichnet: Politische Katastrophen und unverwirklichte Träume bedeuten noch nicht die Niederlagen der entstehenden Kunstwerke. Im Gegenteil – sie können sie stimulieren. Und so übersteigt diese die zeitlich bedingte und die sozialistische Perspektive nicht außer acht lassende tschechische Poesie die anderen Tendenzen dieser kurzen, doch von Vergangenheit und Zukunft geradezu geladenen Periode. Dort ist der Kern der Vorwärtsbewegung, dort konzentrieren sich die besten Kräfte, dort entsteht eine Poesie, die Anziehungskraft besitzt. Fast jeder der künftigen Dichter durchlief diese Etappe. Diese Zeit und diese Bewegung haben ihren jung verstorbenen Initiator in der Gestalt des Dichters Jiří Wolker. Sein Werk, das früh das Echo der Masse erfuhr, ein gesellschaftlich aufrührerisches und erneuerndes und dabei jungenhaft offenes und spontanes Werk, bewies auch in formaler Hinsicht seine Neuheit, seine emotionale Lebenskraft und die Fähigkeit, in so mancher Polemik alternativ aufgenommen zu werden.
Die proletarische Poesie als ein Produkt des Traumas gescheiterter Hoffnungen auf einen revolutionären Sprung von der Monarchie zum Sozialismus mußte mit fortschreitender Zeit eine andere konkrete Gestalt annehmen. Das bedeutet kein Zurückweichen und kein Räumen der Positionen – die revolutionäre Basis blieb auch bei den weiteren avantgardistischen Etappen, beim Poetismus, beim Surrealismus, unerschütterlich –, die Zeit der sogenannten politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung nahm zwar der Poesie die ursprüngliche Schärfe – „die Zeit zerriß den Vorhang“! –, rief aber neue Bewegungen ins Leben.
Wir haben die Existenz der „Ismen“ in den Nachkriegs- und Zwischenkriegsjahren genannt, und es ist festzustellen, daß die tschechische Poesie infolge ihrer geschichtlichen Entwicklung den „Dadaismus“ fast übersprungen hat, der in anderen Literaturen, besonders in Deutschland und Frankreich, die Rolle eines Reinigungsbades konsequenten Durchdenkens spielte. Bedřich Václavek, der zusammen mit František Halas nicht nur die Äußerungen der bekannten Dada-Zentralen, sondern auch die Arbeiten weniger bekannter Autoren (z.B. die von Walter Serner) mit Interesse verfolgte, hat dies sehr genau formuliert:

Um eines können wir das Deutschland der Nachkriegszeit beneiden, um den Dadaismus. Uns fehlte nach dem Kriege eine tüchtige Dosis Dada. Wir sind sogleich zur Revolution für den Menschen übergegangen, wir waren ethisch, pädagogisch und wollen jetzt konstruktiv sein, aber Auflösung und wirkliche Reinigung hat es nicht gegeben. – Darum schnappen wir heute nach einem bißchen Dada hier und dort…

Der Poetismus nahm zwar „gewissermaßen nebenbei“ einige Elemente der Dada-Bewegung auf, sein Wesen war jedoch anders: kein „schöpferischer Nihilismus“ mit seinem „Skeptizismus und Relativismus, aber auch mit Zweifeln an der Möglichkeit irgendeines Sinnes und irgendeiner Wahrheit“, sondern ein spontaner Optimismus des oft zitierten „modernen Menschen“, ein Optimismus, der trotz der Kataklysmen im eigenen Land und bei den Nachbarn mit einem festen sozialen Glauben erfüllt ist. Vladislav Vančura formulierte dieses Programm mit zwei heute bereits legendären Sätzen:

Neu, neu, neu ist der Stern des Kommunismus. Die gemeinschaftliche Arbeit bringt einen neuen Stil hervor, und es gibt keine Modernität außer dieser.

Das galt für die proletarische Poesie wie für den Poetismus; der Poetismus erwuchs unter dem gemeinsamen Dach der avantgardistischen Künstlervereinigung Devětsil aus der proletarischen Dichtung, und der Motor ist die unmittelbare Verknüpfung der politischen mit der künstlerischen Avantgarde.
Der Poetismus ist die spezifisch tschechische avantgardistische Richtung des 20. Jahrhunderts – so wie der Futurismus russisch und italienisch ist, der Expressionismus deutsch, der Surrealismus französisch, der Ultimismus spanisch. Die Bewegung des Poetismus ist nur in den tschechischen Geschichtszusammenhängen restlos verständlich, von denen bereits die Rede war, und trotz der programmatischen Verachtung der Traditionen war sie mit den tschechischen Quellen verbunden, zum Beispiel mit dem tschechischen Volkslied und seiner „Spielfreude“, seinem Witz und seinem Zauber, aber auch mit der Haltung und den Methoden Jaroslav Hašeks und anderer. Karel Teige, der Haupttheoretiker dieser Richtung, definierte sie folgendermaßen:

Die Kunst des Poetismus ist leger, spielerisch, phantasievoll, mutwillig, unheroisch und der Liebe zugewandt. Ihr fehlt jede Romantik. Sie entstand in einer Atmosphäre heiterer Geselligkeit, in einer Welt, die lacht, wenn auch ihre Augen weinen. Das humorvolle Temperament überwiegt, auf Pessimismus wurde aufrichtig verzichtet.

Šaldas Charakteristik des poetistischen Verses als „leicht und dicht zugleich“ gilt für die gesamte überschäumende und vielfältige Aktivität dieser Gruppe, von deren Poetik eine ganze Reihe von Dichtern erster Größe durchdrungen wurde: Nezval, Seifert, Biebl, Halas, Závada, aber auch Hora, Mikulášek, Holan oder der slowakische Dichter Novomeský. Die Bedeutung des Poetismus geht jedoch weit über den Bereich der Poesie hinaus: In ihm keimen die Anfänge der Prosaiker Vančura, Schulz und Konrad, aus ihm gingen bekannte Maler, Theaterleute, Musiker, Wissenschaftler und Architekten hervor. Unter den Kritikern waren es nicht nur Teige und Václavek, die sich zum Poetismus bekannten, sondern auch der junge Julius Fučík, unter den älteren Autoren waren ihm offenkundig Šalda und Mahen zugeneigt.
Der Poetismus kulminiert und endet „offiziell“ um das Jahr 1928. Doch das Bewußtsein seiner Einmaligkeit bleibt im Denken der Teilnehmer dieser Bewegung erhalten: Nezval zum Beispiel entwirft noch 1930 ein sogenanntes drittes Manifest des Poetismus (erst lange nach seinem Tode veröffentlicht). Das geschieht nicht aus Nostalgie nach den Jahren jugendlichen Übermuts, sondern aus dem Wunsch nach tieferer Verankerung in einer Zeit, die allzu chaotisch zu werden begann. Das Echo des „Schwarzen Freitags“ an der New-Yorker Börse 1929 wurde sicherlich nicht so schnell in Mitteleuropa vernommen, doch die Seismographen der Dichter registrierten ihn und kündigten ihn an. Empfindliche Auswirkungen hatten jedoch die Gefahren, die in der Tschechoslowakei besonders von dem Faschismus im Nachbarland drohten. So oder so: Die jugendliche Unbekümmertheit des Poetismus, seine ausgelassene Fröhlichkeit beginnt zu schwinden. Schatten fallen auf die Gedichte, in denen Scheinwerfer, „allen Schönheiten dieser Welt“ zugewandt, bisher in voller Helligkeit erstrahlten. Noch ehe die Massen der Arbeitslosen durch die Straßen zogen, noch ehe die ersten Schüsse auf Demonstranten abgefeuert wurden, erklangen in den Versen der tschechischen Dichter Töne der Trauer, der Wehmut, des Leides und des Todes. Man glaubte damals und später, sich nur unter Vorbehalt dieser eigenartigen und einzigartigen Periode der tschechischen Dichtung nähern zu können. Es fehlte auch nicht an heftigen Gegnern, die sie pauschal verurteilten. Aber heute wissen wir, daß die Gesänge einer scheinbar subjektiven Trauer eigentlich ein sehr objektives Signal waren. František Halas sprach es im Namen seiner Gefährten aus:

Der Tod ist kein Programm, nur der Horizont der Frösche ist auf dem Friedhof zu Ende. Die Dichtung über den Tod ist keine Verneinung des Lebens, sondern ein Stachel der die Liebe zum Leben steigert… Die lebenspendende Angst vor dem Vergehen ist der Kitt des ewigen Rebellentums, das sich niemals mit der Zerstörung allein zufriedengibt.

Töne, die, an irgendeine „neue Sachlichkeit“ erinnern können, sind nicht vorhanden. Eher spielen spätexpressionistische Anklänge eine, wenn auch nicht maßgebende Rolle: bei Halas, bei Závada, bei Weiner… Der Schlußpunkt hinter dieser Periode ist das Jahr 1933. In unmittelbarer Nachbarschaft der Tschechoslowakei melden Trommeln und Pfeifen und brennende Bücherhaufen akute Gefahr: Konnte bisher noch jemand von einem Idyll sprechen – jetzt war es zerstört. Das bedeutete allerdings nicht, daß die gesamte „nichtengagierte“ Poesie über Nacht antifaschistisch wurde, daß alle Dichter der „Stille und Meditation“ sich sofort in feurige Kämpfer verwandelten. Die Wege der Poesie sind komplizierter. Jeder Dichter ist unaufhörlich mit sich in Streit, verstrickt in den Widerspruch zwischen dem Streben, die Dichtung zum Werkzeug des Kampfes zu machen, und der Verlockung der Einsamkeit, der Kontemplation, der entfesselten Phantasie und anderer Ablenkungen. Aber gerade dieser Widerstreit, diese Zweipoligkeit ist eine Quelle der Spannung und Intensität, ohne die es keine echte Dichtung gibt. Die Tatsache, daß alle Versuche einer Definition der Poesie, ihrer Prinzipien und ihrer Sendung am Ende unvollkommen sind, weil immer noch etwas Undefinierbares bleibt, macht eben das Wesen der Poesie aus, einer Welt, die durch unzählige Fäden mit der äußeren und inneren Wirklichkeit verbunden ist, einer Welt mit eigener Ordnung.
Ein weiterer „Knotenpunkt“ für die tschechische Poesie ist das Jahr 1936. In dieses Jahr fiel der 100. Todestag Karel Hynek Máchas, des Dichters, der am Beginn der neueren tschechischen Dichtung steht. Dieses Jubiläum war für die avantgardistische Generation des Devětsil der erste bewußte Schritt zu den Quellen, ein Anlaß zum Nachdenken über das Wesen der Poesie, über die Beziehungen zwischen Dichtung und Gesellschaft, über die Stellung des Dichters in der Gesellschaft, und es stellte die bewußten Verbindungen zur Tradition der revolutionären Romantik her. Im Jahr 1936 brach jedoch auch der Bürgerkrieg in Spanien aus, jenes große Memento der Zeit vor der Katastrophe. Er war wieder für viele tschechische Dichter ein Anlaß, zu den Quellen zu gehen – zu den Quellen der Entwicklung zwischen den beiden Kriegen – und daraus Schlüsse zu ziehen. Diese beiden Impulse, der von Mácha ausgehende und der die akute Revolutionssituation in Spanien signalisierende, verschmolzen und gaben der tschechischen Lyrik dieser Zeit ein Gepräge, das einzigartig in der Geschichte der Literaturen und kaum in eine andere Sprache übertragbar ist.
Diese spezifisch tschechische Dichtung steht in enger Beziehung zum tschechischen Surrealismus, zu dem der Kern der einstigen Poetisten mit Nezval und Teige an der Spitze übergewechselt war und der weder in dieser noch in späterer Zeit eine Analogie in der deutschen Poesie hat, dessen bessere Vertreter damals in der Emigration alle ihre Kraft für den antifaschistischen Kampf einsetzten. Der Surrealismus regte zur Suche in abgelegenen, bewußt oder unbewußt verschwiegenen Bereichen der Kunst an, zur Sondierung in bislang unentdeckten Schichten des Bewußtseins und Unterbewußtseins, zur Erforschung der Traumwirkung, zum nicht verebbenden Sprachexperiment – und wirkte dadurch systematischer, als es in Böhmen üblich war. Man kann ihm von vornherein kein „eng formales Interesse“ vorwerfen, politisch war er von Anbeginn, und die Politik wurde ihm schließlich zum Verhängnis. Das Gewicht des dichterischen Beitrags des tschechischen Surrealismus liegt allerdings fast nur auf den Schultern eines Mannes, und zwar auf Nezval (Biebl schrieb damals wenig, Štyrský war hauptsächlich Maler); dank der schöpferischen Vehemenz und der unausschöpflichen Invention dieses Dichters eröffnete sich der tschechischen Poesie eine grenzenlose Weite. Zur Zeit seines Höhepunktes (1936/37) findet der tschechische Surrealismus in Europa – außer im allseitig und stetig produktiven französischen Zentrum – hinsichtlich des poetischen Gewichts vielleicht nur im serbischen dichterischen Surrealismus eine Entsprechung. Die Experimentierfreude in der mehr oder weniger surrealistischen Richtung wirkte allerdings auch außerhalb der eigenen Gruppe ansteckend. (der sich wie im Poetismus auch bedeutende Wissenschaftler, Theaterschaffende und bildende Künstler anschlossen), und gerade František Halas zum Beispiel, der nicht ihr Mitglied war, fand später warme Worte für den Surrealismus als „eine der Methoden künstlerischer Erkenntnis“, deren „Bilderstürmerei und Kampflust in die Kunst mit Ergebnissen eingriffen, die sich nicht bestreiten lassen. Soweit an ihm Snobismus, Modehascherei schmarotzen, hat das mit seinem Wesen nichts gemein. Er führte die Kunst in vernachlässigte Bereiche und fand dort Möglichkeiten, die noch längst nicht ausgeschöpft sind.“ Halas sah aber auch, daß sich der Surrealismus „durch seinen Dogmatismus selber bedroht“.
1938, das Jahr des unrühmlichen Münchener Abkommens, und 1939, das erste Jahr der Okkupation, sind düstere Zeiten der tschechischen Geschichte, aber reiche Zeiten der tschechischen Poesie. Alles Persönliche und Unpersönliche ging damals ins Überpersönliche ein. Die Musen schwiegen nicht zwischen den Waffen, und es entstanden Verse und Gedichtbände, die zutiefst ergreifend und von bleibendem Wert sind, „Gedenkbücher des tschechischen Geistes über den Wendekreis der Geschichte hinweg“, wie Josef Hora sagte, Bücher, in denen der zukünftige Leser „alle übermenschliche Anspannung der Gemüter, alle Schwere der Prüfung, aber auch alle moralische Tapferkeit findet, die wir aufbrachten, um Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung von uns fernzuhalten“. Die damals entstandenen Verse aller Dichtergenerationen beweisen in einer erstaunlichen Vielfalt der poetischen Mittel, daß die Tschechoslowakei damals nicht nur in einem Schnittpunkt der Geschichte, sondern auch in einem Schnittpunkt der europäischen Dichtung stand.
In den Jahren der Okkupation war die tschechische Poesie vor eine völlig neue Aufgabe gestellt: Man mußte so schreiben, daß die Leser verstanden und daß zugleich die Wächter, die Zensoren, getäuscht wurden. Es entstand eine „chiffrierte“ Poesie, die aus den Tiefen der Sprache bislang verborgene Bedeutungen hervorholte, eine Poesie, die eine Schwester der berühmten französischen Resistancedichtung ist. Je mehr die tschechische Sprache von den nazistischen Okkupanten unterdrückt und geschmäht wurde, desto mehr Sorge und Invention verwandten die tschechischen Dichter auf die Reinheit ihrer Muttersprache. Und selbst Verse, die scheinbar ganz außerhalb von Zeit und Raum standen, hatten politische Tragweite durch das melodische, aufwühlende, verfeinerte, aber auch harte, rauhe und kühne Tschechisch, das ein Höchstmaß an Kultiviertheit erreichte, Die Wirkung solcher schwer übersetzbarer Verse war aufrüttelnd: Ihre Sprache erinnerte das Volk an die Vergangenheit und lenkte seine Gedanken auf die Perspektiven einer besseren Zukunft.
Nach dem Mai 1945 entfaltet sich die tschechische Dichtung wieder in alle Richtungen. Dithyrambisch und in unvergeßlichen Rhythmen, gefühlvoll und sachlich, liedhaft und „formzerstörend“ wird die Befreiung begrüßt und der Aufbruch zum Wiederaufbau des verwüsteten Landes verkündet, aber zugleich werden „Erbschaften“ und erschütternde Zeugnisse ans Licht gebracht, Worte des Grauens laut. Denn es wird vieles gedruckt, das in den Okkupationsjahren unveröffentlicht bleiben mußte – wegen antinazistischer Tendenzen, aber auch, weil es als „entartet“ nicht zugelassen worden wäre. Dennoch überwog die Freude, ein mitreißender Elan, für den es in der tschechischen Geschichte kaum eine Analogie gibt. Das beinahe überstürzte Tempo dieser Zeit war nicht imstande, die überempfindlichen Seismographen in den Dichtern abzustumpfen, ohne die sie des Namens Dichter unwürdig wären. Im Kontext der europäischen Dichtung wurde sehr bald die Drohung, die für die Menschheit aus der Explosion über Hiroshima erwuchs, erfaßt und sofort auch dichterisch ausgedrückt: bei Halas (der schon 1946 in elf kurzen Versen einprägsamer Imagination seine Vision der Welt „nach dem Platzen der Bombe“ skizzierte), bei Hrubín (1948: das Hiroshima-Moment im Kontrapunkt mit der „schlichten Sehnsucht in uns“, der Sehnsucht zu leben), bei Nezval (der sinnbildlich das alte Motiv der „batavischen Träne“ neu weiterführte) und bei etlichen anderen. Das Gewissen der Menschheit äußert sich hier in verschiedener Form und Art, stets aber wirkungsvoll.
Der sozialistische Umbruch von 1948 löste wirksam schöpferische Kräfte aus, die sich aber auf dem Gebiet der Dichtung zunächst eher als anspruchsvoller Wille, weniger als aufrüttelnde poetische Tat verwirklichten. Diese Periode ermöglichte das Entstehen einer positiven Polarität zwischen der Nezvalschen und Halasschen dichterischen Auffassung: spontaner und vitaler Optimismus gegen „die Größe der Befürchtungen“, die traditionelle und betont orale Poetik (allerdings geschult an Experimenten) gegen eine „rauhe“ Poetik der Knappheit und des „Fragmentarischen“, sprühende Emotionalität gegen das sich auf neuen Wegen durchsetzende Gedankliche.
In den Grundriß der tschechischen Poesie die Wege und Pfade einzuzeichnen, die von diesen und weiteren Persönlichkeiten zu kommenden Dichtergenerationen führen, ist jedoch eine Aufgabe für andere speziellere Anthologien, wie der von Manfred Jähnichen herausgegebene Band Gesang der Liebe zum Leben (Artia, Praha 1983) und die im Aufbau-Verlag vorbereitete Anthologie Tschechische und slowakische Poesie im 20. Jahrhundert. Die Sonnenuhr, die den Charakter einer betont historischen Sammlung hat, schließt mit den großen Dichtern der ersten Jahrhunderthälfte ab.

Die tschechische Poesie hat im Verlauf des Jahrtausends vielfach eine bewundernswerte Vitalität und Reichtum an Invention bewiesen; ihre Vielseitigkeit und Vielsaitigkeit, ihr nie versiegendes Neuerertum, das Risiken nicht scheut, ihr faszinierender Reichtum an Melodien, ihre atemberaubende Imagination, Vielfalt der Formen, ihr Appell an Intellekt und Emotion ergeben echte humanistischeWerte.

Ludvík Kundera, Vorwort

 

Einblick in poetische Gewebe

Zweibändige Ausgaben sind in Reclams Universal-Bibliothek eine Seltenheit. Angeboten wird hier eine Sammlung Tschechischer Lyrik aus 11 Jahrhunderten in zwei Bänden, die durch ihren Umfang sich der ständigen Aufmerksamkeit empfiehlt. Die Anthologie ist zu loben, da trotz der notwendigen Auswahl keine lyrische Linie verkümmert, kern Lyriker zu kurz kommt. Der überaus kundige, kompetente Ludvik Kundera hat den dreiteiligen Lyrikkranz fest geflochten. Da jeder Teil von einem bündigen Beitrag des Herausgebers begleitet wird, ist auch der Uneingeweihte schnell mit der Entstehungsgeschichte der Lyrik, das heißt ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund vertraut.
Ohne den Leser zu bevormunden, helfen die Beiträge, den nationalen Ursprung, die nationalen Besonderheiten, die internationale Resonanz der tschechischen Lyrik besser zu verstehen. Um die Sammlung der Musealität zu entziehen, hat der Herausgeber den Übersetzern Interlinearübertragungen von ausgezeichneter Qualität geliefert. Sie erleichterten es den namhaften deutschsprachigen Nach-Dichtern des 20. Jahrhunderts, die Klangfarbe der Poesien längst vergangener Perioden zu erhalten und der Gegenwart zu nähern.
Anfänge, Fortsetzungen, Höhepunkte der tschechischen Dichtungen sollen hier nicht hervorgehoben werden. Die ersten schriftlich überlieferten anonymen, christlichen oder weltlichen Verse stehen in ihrer Gültigkeit den folgenden in nichts nach, die von den großen tschechischen Dichtern verfaßt wurden und zunehmend die Substanz der Anthologie bestimmen.
Unter vielen bedeutenden Namen seien hier nur drei weibliche hervorgehoben: Irma Geisslova, Simonetta Buonaccini, Marie Pujmanová.
Zu loben ist der Aufbau der Anthologie. Der erste Band endet mit dem 19. Jahrhundert, der zweite, stärkere, ist dem 20. Jahrhundert vorbehalten. Man stellt fest, wie treu die Tschechen in ihrer Beziehung zur Natur sind und wie beständig in der Bewahrung eines vielfach variierten liedhaften Tones in der Lyrik. Zu loben ist auch die Ausstattung der Bände mit 62 Abbildungen: Handschriften, Titelblättern, Umschlägen, Illustrationen. Leider wird der Eindruck durch schlechten Druck arg gemildert. Das ist zu bedauern, da die grafischen Beigaben im engen Bezug zu den Versen stehen. Die Mängel in der Ausstattung mindern die polygraphische Qualität der Anthologie. Im Anhang enthält der Band bibliographische Notizen und eine vollständige Aufstellung deutscher Anthologien tschechischer Poesie. Der Wert der Anthologie Die Sonnenuhr ist von bleibender Art. Das begreift, wer die Bände besitzt.

Bernd Heimberger, Neue Zeit, 11.5.1987

 

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Ludvík Kundera

 

Ludvík Kundera – Fragment eines Gesprächs 2007 zur Ausstellung Dada East.

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