Heribert Becker, Edouard Jaguer und Petr Král (Hrsg.): Das surrealistische Gedicht

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Heribert Becker, Edouard Jaguer und Petr Král (Hrsg.): Das surrealistische Gedicht

Becker, Jaguer, Král (Hrsg.)-Das surrealistische Gedicht

HIMMEL UND ERDE I

Im Zenit der schwarzen Nacht
Stand geschrieben
Freiheit
Und diesem Wort folgten
Geschminkte Lippen

Ein rasch hervorgestoßner Fluch
Ohne Heftigkeit

Die Gehsteige wie Ketten
Unerreichbar
Und
Handschellen um die Fäuste

Übersetzung Heribert Becker

 

 

 

Vorbemerkung

„Es fehlt uns also ein neues ,Paradigma‘, eine neue Sicht der Wirklichkeit“, erklärt der zeitgenössische Kulturkritiker Fritjof Capra im Hinblick auf die Probleme, vor welche die moderne technische Zivilisation die Menschheit stellt; „unser Denken, unsere Wahrnehmungsweise und unsere Wertvorstellungen müssen sich grundlegend wandeln.“ Von dieser Einsicht, die heute einer wachsenden Zahl von Menschen plausibel zu werden beginnt, ist vor mehr als sechzig Jahren bereits der Surrealismus ausgegangen. Unter den geistigen Kräften, die das Gesicht des 20. Jahrhunderts mitgeprägt haben, ist er vielleicht diejenige, welche unsere überkommene Sicht der Wirklichkeit, die Gültigkeit unserer Denk- und Wahrnehmungsweisen und die Verbindlichkeit unserer Wertvorstellungen am radikalsten und beharrlichsten in Frage gestellt und bekämpft hat. Weit mehr als eine künstlerische Stilrichtung, auf die ihre zahlreichen Gegner sie nur zu gern reduziert hätten, hat diese zwischen den Ideologien der Zeit in rückhaltlosem Antikonformismus nach neuen Wegen des Denkens suchende „kleine Fraktion unabhängiger Geister“ (André Breton) der spätbürgerlich-rationalistischen Zivilisation in der Gewißheit, „daß das von (ihr) errichtete Gebäude für uns ein Gefängnis, ein blutiges Labyrinth, ein kollektives Schlachthaus geworden ist“ (Octavio Paz), die Forderung nach einer grundlegenden, alle Bereiche des individuellen und gesellschaftlichen Lebens umfassenden Revolution entgegengesetzt. Bewies die in der Geschichte beispiellose Destruktivität, die der „zivilisierte“ Mensch hinter der Fassade des „Fortschritts“ entfesselte – zwei Welt- und eine Reihe weiterer Kriege, die systematische, massenhafte Vernichtung von Menschen, totalitäre Schreckensregime, Versklavung und Ausbeutung ganzer Kontinente, zunehmende Zerstörung des menschlichen Lebensraums usw. −, nicht mit aller Deutlichkeit, daß seine Zivilisation zutiefst menschenverachtend und lebensfeindlich, eine Kultur des Todes war? Für die Surrealisten wohnt diese alles durchdringende Destruktivität bereits dem Prinzip selber inne, auf das die moderne westliche Zivilisation sich gründet: der auf die Funktionen des bewußten, empirisch-positivistischen Denkens reduzierten Vernunft, die, zur alleingültigen Denk- und Erfahrensweise hypertrophiert, den Menschen psychisch und geistig zerstückelt und seiner selbst entfremdet, weil sie ihn eines großen Teils seiner Sensibilität, seiner Fähigkeiten und Kräfte beraubt. So ist diese Vernunft, einst ein Mittel der Befreiung, durch das der westliche Mensch sich aus der Abhängigkeit von einer ihm übergeordneten, „göttlichen“ Macht gelöst hat, zum Instrument einer neuen Knechtschaft geworden, die sich mehr und mehr als noch verhängnisvoller erweist als die der Ideologie, an deren Stelle sich das rationalistische Paradigma gesetzt hat. Einst ein Mittel der Erhellung der Welt, ist sie in ihrem Ausschließlichkeitsanspruch zum Instrument der Verdunklung des Wirklichen geworden, das den verstümmelten Menschen auch der ihn umgebenden Welt entfremdet, die ihrerseits nur als Fragment erfahrbar wird. „Die Vernunft“, so pointierte Francis Picabia die Einseitigkeit des rationalistischen Wirklichkeitsverständnisses, „ist ein Licht, das mich die Dinge sehen läßt, wie sie nicht sind.“
Angesichts des fundamental entfremdenden, repressiven und zerstörerischen Charakters der auf die „enge ,Vernunft‘“ (Breton) gegründeten herrschenden Ideologien verstand sich der Surrealismus als „ein Mittel zur totalen Befreiung des Geistes“, als „Schrei des Geistes, der zu sich selber zurückkehrt“ (Antonin Artaud), als Vorkämpfer einer wirklichen, unverdunkelten Vernunft“ (Breton), die der Ganzheit des Menschen, der Gesamtheit seiner Fähigkeiten, Kräfte und Bedürfnisse Rechnung zu tragen sucht und die ideologischen Schleier lüftet, die seinen Blick auf die Wirklichkeit trüben. Sie beinhaltet all das, was der bürgerlich-positivistische Rationalismus geleugnet, verdrängt und tabuisiert hat; in ihr versöhnen sich die von diesem Menschen- und Weltverständnis konstruierten Gegensätze zwischen Bewußtsein und Unbewußtem, Rationalität und Irrationalität, real und irreal, Denken und Fühlen, Logik und Traum usw. – und nicht zuletzt der zwischen Leben und Kunst. In der Eroberung einer solchen Vernunft sah der Surrealismus seine zentrale Aufgabe – eine Aufgabe, deren Lösung sich dem allgemeinen Bewußtsein erst heute als Unternehmen von vitaler Notwendigkeit darzustellen beginnt. Kein Weg führt sicherer zu diesem Ziel als der des poetischen Denkens. Die Poesie, für den Surrealismus, ganz im Gegensatz zur bürgerlichen Denkweise, nicht ein von den übrigen menschlichen Aktivitäten abgespaltetes, ästhetisch-unverbindliches „Spiel“, sondern der Inbegriff jeder Art grenzüberschreitender, auf die Ganzheit von Mensch und Wirklichkeit gerichteter Geistestätigkeit, ist das Urprinzip einer permanenten Revolte gegen alle entfremdenden Ordnungen. „Die Poesie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt“ (Novalis).
Es wird eines Tages vielleicht als ein nicht unwesentliches Indiz für die Dürftigkeit des zeitgenössischen deutschen Geisteslebens gewertet werden, daß der revolutionäre Appell des Surrealismus in Deutschland jahrzehntelang fast ungehört geblieben ist. Denn nicht nur in den Jahren des arischen Berserkertums wurde die Bewegung verfemt, sie ist, in bemerkenswerter Kontinuität, auch nach 1945 sowohl im östlichen als auch im „freien“ westlichen deutschen Teilstaat auf z.T. hysterische Ablehnung gestoßen. Während ihr Gedankengut jenseits der Demarkationslinie, die im übrigen nur zwei verschiedene Formen ein und desselben versteinerten Denkens voneinander trennt, bis heute tabu geblieben ist, sind diesseits jener Grenze immerhin verschiedene Anstrengungen unternommen worden, ihre Prinzipien zu verbreiten. So wurde bereits in den ersten Nachkriegsjahren versucht, auf die Bedeutung der Surrealisten als radikale Kritiker der herrschenden Denkstrukturen aufmerksam zu machen, ein Versuch, den der in allen Bereichen wirkende postnazistisch-restaurative Zeitgeist jedoch rasch zunichtemachte. Erst im Gefolge der gegen diese Verhältnisse aufbegehrenden studentischen Protestbewegung in der zweiten Hälfte der 60er Jahre fanden surrealistische Vorstellungen, wenn auch nur vorübergehend, eine gewisse Verbreitung, so daß beispielsweise 1968, mit der einer „Kulturnation“ würdigen Verspätung von 44 bzw. 39 Jahren nach Erscheinen der Originale, zwei so epochemachende Texte wie die Manifeste des Surrealismus in deutscher Übersetzung erscheinen konnten. In den letzten Jahren scheint, anknüpfend an die gegenwärtig immer häufiger und offener sich artikulierenden Zweifel an der Verbindlichkeit der rationalistischen Konstruktionen, eine erneute, intensivere Beschäftigung mit surrealistischem und surrealismusnahem Denken eingesetzt zu haben, deren Höhepunkt vielleicht noch nicht erreicht ist. Es wird sich zeigen, ob diese Entwicklung das Ende der verbissenen Poesiefeindlichkeit, d.h. des starren Festhaltens an den rationalistischen Normen, im westdeutschen Geistesleben signalisiert.
Diese Poesiefeindlichkeit hat, in Form eines zum fast unangreifbaren Dogmas erhobenen positivistischen Realismus, von Beginn an auch im belletristischen Bereich Wurzel geschlagen, wo bislang fast ausschließlich der „nützlichen und unnützen Literatur“ (Max Hölzer) das Wort geredet wurde – einer Literatur poesieloser Kopfgeburten, die sich gegenüber den herrschenden Denkstrukturen bis in deren Pragmatismus hinein essentiell affirmativ verhält, wie „kritisch“ sie sich auch gebärden mag.
Was Wunder, daß ein frommer Katholik als einer der – übrigens selbst in totalitären Staaten geduldeten – „Stars“ der in Westdeutschland produzierten Literatur gefeiert wird! Keine Literatur eines größeren westlichen Landes, stellte Gerd Henniger kürzlich fest, sei so sehr „in positivistischer Nabelschau befangen“ wie diejenige Westdeutschlands, nirgendwo sei „das metaphysische Defizit“ größer: „eine Vision vom Menschen, die seinen rationalen und sozialen Rollenzwang überschreitet, vermittelt die deutsche Literatur der letzten dreißig Jahre kaum“. In Anbetracht dieser Situation versteht sich die hier vorgelegte Textsammlung weniger als Dokumentation der dichterischen Äußerungen einer als Kollektiv – nicht von ihren Inhalten und ihrer Geisteshaltung her – heute mehr oder weniger historisch gewordenen Protestbewegung, sondern in erster Linie als Beitrag zu den bislang allzu spärlichen Versuchen, die im Lande der Novalis und Hölderlin seit langem erloschene Flamme des poetischen Denkens neu zu entfachen. Dieses Buch möchte seinen Lesern die Erfahrung vermitteln helfen, daß wir alle mehr sind als das bißchen Rest-Mensch, auf das die rationalistisch-spätbürgerliche Entfremdungskultur uns zu reduzieren trachtet. Zur Realisierung einer solchen Ambition dürfte kaum ein Mittel geeigneter sein als die Dichtung des Surrealismus, der auch und vor allem im Umgang mit der Sprache exemplarisch das befreiende Prinzip der Poesie zur Geltung bringt. So ist jedes oder doch fast jedes – Gedicht der nachstehenden Sammlung, ungeachtet der Vielfalt der individuellen Ausdrucksweisen, die sie vereinigt, das Zeugnis einer mehr oder weniger radikalen Überschreitung der uns aufgezwungenen Erfahrungsgrenzen und zugleich eine leidenschaftliche Aufforderung an den Leser, Jenseits der Mauern des herrschenden Bewußtseins selber schöpferisch „das Weite (zu) suchen“ (Breton), wo allein der zerrissene Mensch wieder seiner Ganzheit zu begegnen und der Wirklichkeit in ihrer ungeteilten Fülle gegenüberzutreten vermag.

Heribert Becker, Vorwort

Poesie oder natürliches Wort

Zur Erinnerung an Jehan Mayoux,
Dichter und Mensch

Der Begriff Poesie kann auf zweierlei Weise verstanden werden: als Bezeichnung für eine literarische Gattung (Synonym für Lyrik) und als Eigenschaft des Lebens. Die Surrealisten, die in der Nachfolge der Romantiker und Hegels in der Poesie den gemeinsamen Nenner für jede Art von schöpferischem Abenteuer jenseits der verschiedenen künstlerischen Ausdrucksbereiche sahen (zahlreiche Surrealisten waren und sind übrigens zugleich Dichter, Maler, Objektkünstler, Collagisten usw.), wollten sie zu einem zentralen Lebenselement machen. Schon Rimbaud hatte gesagt, die Poesie müsse, statt „dem Handeln den Takt zu schlagen“, diesem vorausgehen. Bei den Surrealisten wird die Sehnsucht nach einem Anderswo, die jeder dichterischen Äußerung zugrundeliegt, wirklich zu einer Waffe, die nicht mehr nur Instrument bloßer Träumerei, sondern der Eroberung des „wahren Lebens“ ist. Weit davon entfernt, die Poesie als Ästhetikum – als die Schönheit eines sich selbst genügenden Artefakts – anzusehen, begreifen sie sie als dasjenige, worin Kunst und schöpferisches Denken auf das Reale übergreifen, um an dessen Verwandlungen teilzunehmen. Während der herkömmliche Künstler von vornherein davon ausgeht, daß eine unvermeidliche Diskrepanz zwischen der ihn umgebenden Welt und jenem Verlangen besteht, das ihn zum Sprechen treibt, weigert sich der Dichter im surrealistischen Verständnis dieses Wortes, eine solche Kluft anzuerkennen; wenn er spricht, so tut er dies gerade, um die Kluft aufzuheben, um die Mauern jener Luxusgefängnisse – Bibliotheken, Museen – zu sprengen, in welche die Kunst sich bislang hat einsperren lassen.
Insofern definiert sich die surrealistische Poesie zunächst einmal als ein umfassendes Durchbrechen von Grenzen: denjenigen zwischen Kunst und Leben ebenso wie denen zwischen verschiedenen künstlerischen Ausdrucksbereichen. Angesichts dieser Tatsache ist es strenggenommen recht paradox, daß die hier vorgelegte Anthologie ausschließlich dem surrealistischen Gedicht gewidmet ist; die Poesie ist für die Surrealisten gleichermaßen eine Angelegenheit von Texten und Bildern wie von Handlungen und Situationen des konkreten Lebens. Dennoch ist die vorstehende Gedichtsammlung nicht nur aufgrund äußerlicher Zwänge in dieser Form zustandegekommen. Denn selbst für die Surrealisten ist die Kunst trotz allem noch ein privilegierter Bezirk, in dem ihre Begierden und Absichten sich am besten verkörpern können. So besitzt auch das Gedicht bei ihnen noch die Eigenschaften eines Kondensats, in dem auf exemplarische Weise all das zusammengedrängt wird, was sie unter Poesie verstehen, wenn diese auch weit mehr ist als nur eine literarische Gattung.

Von ihrem ersten Auftreten an ergreifen die Surrealisten das Wort, um es einer ungewöhnlichen Forderung zu unterwerfen: Die Diskrepanz zwischen Leben und Poesie ist für sie nur als Quelle einer Spannung annehmbar, die zur Überwindung dieser Diskrepanz führen soll. Das ist sicher eine eher herausfordernde als überlegte Haltung, und die Absicht, sich der „gängigen“ Logik der Dinge zu widersetzen, mutet recht utopisch an. Der Surrealismus ist jedoch mehr; seine Originalität und seine Größe bestehen darin, daß er diese Absicht zumindest zur Zeit der Entstehung der Bewegung – dialektisch mit einem ebenso sicheren wie seltenen Gefühl für das Authentische und Natürliche, insbesondere in den Mechanismen des Denkens selbst, zu verbinden wußte. Wenn auch die Ziele, die er der Poesie gesetzt hat, letztlich wohl unrealisierbar sind, so hat diese doch durch ihn zu realen Wegen – Wegen ins Reale – gefunden; realeren jedenfalls als manche anderen.
Der utopische Geist des Surrealismus ist in seinem konkreten Leben nicht von jener „poetischen Evidenz” zu trennen, von der Eluard sprach und in der die von ihrem Sockel heruntergeholte Kunst zu den wahren Neigungen der menschlichen Natur zurückkehrt. Als Nachfolger Rimbauds und Apollinaires bringen die Surrealisten die Vorstellung von der Poesie als einer Kunst, „Kleinodien“ anzufertigen, als Goldschmiedehandwerk der Sprache, bei dem die Meisterschaft des Dichters an seinem artistischen Raffinement gemessen wird, endgültig in Mißkredit. (Das grenzt die surrealistische Bewegung übrigens nicht nur von der akademischen Kunst, sondern auch von den manieristischen Absonderlichkeiten der Dichter und Maler des „Phantastischen“ ab.) Hier wie auch anderswo verweigern sie sich dem traditionellen Kult der Arbeit, den sie als eine tödliche Entfremdung ablehnen; im Gegensatz zu jeder Ideologie des Könnens und des sich selbst genügenden Fleißes bedienen sie sich des Schreibens und der bildenden Kunst voller Skepsis nur als „eines der jämmerlichsten Wege zum Karrieremachen“ (Erstes Manifest des Surrealismus); sie bedienen sich ihrer, weil sie es immerhin gestatten, mit einem Mindestmaß an Aufwand ein Höchstmaß an Wirkung – im Verstören wie im Faszinieren – zu erzielen.
Mit anderen Worten: Sie setzen die Spontaneität und die Lust, die sie nicht nur als starke schöpferische Kraft, sondern im Grunde als die einzige Quelle wahrer Werte ansehen, in ihre alten Rechte ein. Legen wir nicht in der Tat in die Unternehmungen, denen wir uns mit Lust hingeben, die meiste Wahrheit hinein, und vollbringen wir sie nicht am besten? Von daher wird Jacques Rigauts Bonmot „ernst wie die Lust“, das alles andere als ein provozierender Scherz ist, im Munde der Surrealisten zu einer hochmoralischen Maxime. Die Weigerung zu sprechen, „wenn man aufhört zu empfinden“ (André Breton), nur zu sprechen, weil man muß, oder – schlimmer noch – aus bloßer Gewohnheit, hindert sie gleichzeitig daran, ins literarische Geschwätz abzugleiten, bei dem nur ein paar allzu verwöhnte Wunderknaben – ein Aragon, ein Eluard, ein Nezval – letztlich enden, wobei sie freilich jeglichen Kontakt zum Surrealismus verlieren. Wirkt der nur kurz aufzuckende, aber wirkliche Blitz, als der uns die Botschaft eines Jacques Vaché erscheint, der alles in allem nur eine Handvoll Briefe geschrieben hat, nicht nachhaltiger auf uns also so viele emsige und wortreiche „Gesamtausgaben“?
Nicht ein Teilgebiet der Kunst ist die Poesie für die Surrealisten, sondern eine Art Antithese zu ihr. Während die Kunst herkömmlicher Art auf das Meisterwerk abzielt, auf die vollendete Form, die in eben dem Maße, wie sie sich von der realen Erfahrung entfernt, die „Zufälligkeiten des Lebens“ tilgt, indem sie sie in den Rang des Ewigen erhebt, ist das Gedicht im surrealistischen Sinne nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck: Instrument. Freier und spontaner Ausdruck eines Einzelnen – oder besser: des Lebens, das dieser Einzelne in sich trägt – und als solcher zwangsläufig mit verschiedenerlei Unzulänglichkeiten behaftet, schwebt es nicht im Zeitlosen, sondern agiert mitten in der Gegenwart, in der Zeit der realen Schicksale und Verstrickungen, in der konkreten Geschichte der menschlichen Wechselbeziehungen, für die es nicht mehr und nicht weniger ist als ein privilegiertes Ausdrucksmittel. Es ist gleichsam nur eine Spur, die das Leben in seinem Ablauf hinterläßt, ein Ort, an dem eine ganze verborgene Existenz Gestalt annimmt und zur Oberfläche dringt, ohne dabei zu einem Denkmal ihrer selbst zu erstarren.
Zugleich mit den Wörtern und ihren Bedeutungen ist hierbei der Strom, der diese trägt – persönliches Verhalten oder Naturkraft −, und vor allem derjenige, den sie als Widerhall auszulösen vermögen, zu beachten. In letzter Konsequenz ist das Gedicht nur ein Zeugnis für das Vorhandensein dieses Stroms, ein Protokoll, dessen Authentizität genauso viel, wenn nicht mehr zählt als die Schönheit, mit der es formuliert ist. Selbst die „toten Stellen“ im Text sind in dieser Hinsicht nur eine Ausdrucksform neben anderen. Vom surrealistischen Standpunkt aus wird das Gedicht durch sie mitunter noch interessanter, weil sie gewissermaßen der Garant seiner Unverfälschtheit sind. Wenn die Surrealisten – ganz im Gegensatz zu Alain Bosquet – die Gedichte Bretons höher einschätzen als diejenigen Eluards, so ganz einfach deshalb, weil sie weniger brillant sind und sogar noch die Verstörungen sichtbar werden lassen, die der Dichter schreibend hat bewältigen müssen.
Manchmal sind diese „toten Stellen“ sogar etwas, durch das der Dichter sich hindurcharbeiten muß, um die Sprache zu ihrer höchsten Kraft und Bedeutungsfülle zu treiben. Bezeichnenderweise läßt Benjamin Péret gerade innerhalb recht verzwickter, eher merkwürdiger als wirklich inspirierter Verse jene schwindelerregenden Sätze hervorspringen, die, weil sie die ganze Rätselhaftigkeit des Wirklichen in ein paar schlichten Worten wiedergeben, wie eine Art absolutes Gedicht sind:

Schaut nicht den Mond an
Streckt nicht die Zunge heraus
Der Mond ist rund
und eure Zunge ist fern
(„Le Travail anormal“ in Le grand jeu, 1928).

Die eingetretene „Gnade“ – wie die Surrealisten den Zustand höchster dichterischer Inspiriertheit genannt haben – steht hier in einem proportionalen Verhältnis zu der Anstrengung, die sie herbeigeführt hat.

Über ihrem Anti-Ästhetizismus vergessen die Surrealisten natürlich nicht das Spezifische des dichterischen Sprechens. Ihre Kritik an der Kunst steht in Gegensatz zu derjenigen so vieler Pseudo-Revolutionäre, die glauben, die Kunst habe das Feld den Kampfparolen zu überlassen. Für die Surrealisten muß die Kunst nicht abgeschafft, sondern so weiterentwickelt werden, daß sie als Kunst ihr praktisches Interventionsvermögen erhöht. Deshalb öffnet sich bei ihnen das Gedicht, als inneres Wort und eigentliche Sprache des Geheimnisvollen, dem Leben mit allen seinen Eigentümlichkeiten. Doch obwohl ihre Poesie im Unterschied zur Literatur und zur Kunst im herkömmlichen Sinne – denen sie jene fortwährend gegenüberstellen – aufgrund der Eigenart ihrer Funktionsweisen und ihrer Motorik mit realen Geschehnissen austauschbar wird, ist sie doch dunkles Wort, worin das Leben gleichsam einen Umweg macht, bevor es wieder zu sich zurückkehrt.
Es ist sogar, so paradox das erscheinen mag, gerade seine Dunkelheit, die bewirkt, daß ein Gedicht seine Leser bis in ihre Handlungen hinein beeinflußt, indem es sie veranlaßt, ihre gesamte Erfahrung neu zu überdenken: Das Beispiel des „Magnetiseurs“ Lautréamont, der um so unwiderstehlicher ist, je mehr seine Persönlichkeit von Geheimnis umwoben bleibt, ist ein beredtes Zeugnis dafür. In sich unvollständig, nur eine chiffrierte, in eine ins Meer geworfene Flasche verschlossene Botschaft, gewinnt das Sprechen des Dichters für die Surrealisten erst einen Sinn durch das Staunen derer, die es vernehmen und, voller Frage hinsichtlich seiner Rätselhaftigkeit, mehr oder minder in ihr eigenes Schicksal einbeziehen. So kann sich hinter jedem Vers ein ganzer Roman verbergen, ohne daß es notwendig wäre, ihn zu erzählen; es genügt vollauf, daß der Vers ihn wie ein Echo im Leben derer anklingen, läßt, die ihn lesen werden. Kurzum, die Dunkelheit des surrealistischen Gedichts, die untrennbar ist vom konkreten Charakter seiner Sprache, rührt nicht von irgendeinem schwerverständlichen Sprechen her, sondern ist Ausdruck einer nie dagewesenen, zugleich unleugbaren und verwirrenden Tatsache.
Freilich: wenn man das surrealistische Gedicht als eine solche Tatsache empfindet, so deshalb, weil das, was diese Dunkelheit trägt, seinerseits eine Realität ist. Die surrealistische Poesie, so filigran sie auch sein mag, hat immer etwas von einer einfachen Notation. Sie ist keine mit Mühe herausgefeilte, von A bis Z durchdachte Form, sondern selbst bearbeitet – die Spur einer menschlichen Ausdrucksbewegung, die so alltäglich und lebensnah ist wie das Träumen, wie der Wutausbruch oder wie der erotische Rausch. Als unmittelbare Verlängerung des Lebens seines Verfassers ist uns das Gedicht von seiner Dynamik her irgendwie vertraut, selbst wenn es dies seinem Inhalt nach nicht ist. Seine Kraft und seine Bedeutung liegen ebenso wie in der Schaffung einer autonomen „ Welt“ – ja mehr doch – ganz einfach in der Erforschung des wirklichen Funktionierens des Denkens: jener mehr oder weniger verborgenen geistigen Bezirke, in denen das Reflektieren sich in einer ständigen Wechselbeziehung mit dem Fühlen befindet, durch die aber nur um so besser zum Ausdruck gelangt, was wir sind. Die Bedeutung der Gedichte Pérets beruht keineswegs auf ihrer Vollkommenheit oder Reinheit, sondern auf ihrer grandiosen Maßlosigkeit: auf dieser Raserei, die mit der Impulsivität eines wirklichen Zornausbruchs den überwältigten Musen noch lange nach der Lektüre Lawinen von zerbrochenen Ziegeln und trockenem Brot nachwirft.
Zugleich mit dem Ästhetizismus verwirft die surrealistische Poesie in einem bestimmten Sinne auch das Streben nach Originalität. Jene Wechselbeziehung, die sie zwischen den Menschen, zwischen der inspirierten Sprache und dem Leben zu stiften sucht, bleibt weitgehend unberührt von der Bewunderung, die man den Virtuosen zollt; im Gegenteil, sie geht definitionsgemäß über ihre Träger hinaus, selbst wenn diese mehr als andere getan haben, um sie herbeizuführen. Bestimmte surrealistische Gruppen, unter ihnen die jungen Mitglieder des Prager „UDS“ der sechziger Jahre (dem auch ich angehört habe), sind sogar so weit gegangen, bewußt eine Art kollektives Schreiben zu praktizieren, bei dem sie Themen, Requisiten, ja ganze Formulierungen ihrer Gedichte miteinander teilten. Statt, wie im „Literaturbetrieb“ üblich, ein Wettkampf der Füllfederhalter oder Schreibmaschinen zu sein, kann die Poesie zu einer von mehreren Personen gleichzeitig betriebenen Arbeit an neuen, konkret gelebten Mythen werden.
Ein solches Bemühen dürfte um so einleuchtender erscheinen, wenn man daran denkt, daß sich im Zentrum des Surrealismus, in der Poesie wie anderswo, ein seinem Wesen nach überindividueller Schatz befindet: unser Unbewußtes. Das Bestreben, von dem die surrealistische Bewegung hauptsächlich ihren Ausgang genommen hat, besteht ganz einfach darin, diesen Schatz zu erforschen und, falls möglich, die Prinzipien seiner „richtigen Handhabung“ in allen Bereichen zu entdecken. Letztlich will der surrealistische Dichter nur „Stenograph“, nur „bescheidene Registriermaschine“ einer Sprache sein, die allen und niemandem gehört.
Die Methode, in der dieses Vorhaben sich realisiert hat und die eine der Grundlagen des gesamten Surrealismus darstellt, ist bekannt: das automatische Schreiben, passive Aufzeichnung des spontanen Wortes, so wie es – sofern man nur konzentriert genug darauf achtet – in dem Augenblick in uns aufbricht, da wir uns zum Schreiben entschließen. Darin vor allem liegt die „Natürlichkeit“ der surrealistischen Poesie: in der ungesteuerten Spontaneität des automatischen Sprechens, in dem möglichst „offenen“, vorbehaltlosen Lauschen, mit dem der Dichter sich der inneren Stimme zuwendet. Man darf dabei jedoch nicht einem Irrtum verfallen, der gleichwohl von den Surrealisten selber häufig begangen wurde, nämlich anzunehmen, das automatische Schreiben könne auf direktem Wege eine „Botschaft aus der Tiefe“ zum Ausdruck bringen und übermittle uns so irgend eine „Wahrheit“.
Daß sich dies nicht so verhält, liegt nicht, wie bereits Reverdy wußte, allein daran, daß das Bewußtsein zwangsläufig an diesem Schreibvorgang beteiligt ist, eben weil es ein Schreibvorgang, das heißt eine willentliche Transkription der Triebe zum Zwecke ihres Festhaltens ist. Von einer „Botschaft aus der Tiefe“ zu reden, wäre auch und vor allem deshalb problematisch, weil das Niederschreiben eines Gedichts, so automatisch es sein mag, sich nicht in der Funktion des Enthüllens erschöpft. Es gibt keine fertigen, in der Tiefe des Bewußtseins gespeicherten Bedeutungen und Bilder auf der einen Seite und auf der anderen eine vollkommen transparente Schreibweise, die sie nur noch sichtbar zu machen bräuchte; erst der Vorgang der Niederschrift des Gedichts bringt wirklich dessen Bedeutungen und Bilder hervor, indem er nämlich eine Wechselwirkung zwischen der Sprache und den Trieben auslöst, die vor ihm allenfalls als Strebungen in uns vorhanden sind.
Die „Wahrheit“ eines automatischen Textes – das gilt übrigens auch für den Traum – darf also nicht mit der plötzlichen Offenbarung eines bislang nicht bekannten Inhalts und erst recht nicht mit deren bloßer Beschreibung verwechselt werden. Eine Entdeckung ist ein solcher Text sowohl im Sinne von Enthüllung als auch von Erfindung; seine Inhalte sind zugleich Reflex einer lebendigen Erfahrung (eines verborgenen Gedankens) und noch nie vernommene Äußerungen (ein neuer Gedanke), die das Tor zu einer möglichen Erfahrung aufstoßen, die es zu erleben gilt. Was hier zählt, ist nicht so sehr der Gegenstand des Sprechens – die verschiedenen, wie erstarrte Zeichen isoliert betrachteten Bilder oder Formulierungen −, sondern ganz einfach seine Bewegung, jener Strom, der Quelle und Ursprung der Zeichen ist, sie aber auch immer transzendiert.
Der Vorzug des automatischen Schreibens besteht nicht so sehr im Ausdrücken des Unbewußten, sondern darin, daß es der schöpferischen Spontaneität wieder Geltung verschafft. Die surrealistische Poesie als ganze, sei sie nun automatisch oder nicht, sei sie ein Hinabtauchen in die „Tiefe“ der Nacht und des Phantasmas oder lediglich spielerisch-leichte, völlig taghafte „Phantasie“, definiert – und unterscheidet – sich durch die Dynamik, die Lebendigkeit, den abenteuerlichen und nicht formgebundenen Charakter ihres Sprechens. Mehr noch als ein verbaler „Würfelwurf“ auf das leere Blatt Papier ist sie ein Windstoß, der sich plötzlich zwischen Tag und Traum, in der ungewissen Stunde der Dämmerung, erhebt und eine unvermutete Panik in die Handlungen, in die Gehirne, in die vollgeschriebenen Blätter hineinträgt, deren Sinn sie heillos durcheinanderwirbelt; die konventionellen Grenzen zwischen den verschiedenen Geisteshaltungen (Lächerlichkeit und Ernst, Vernunft und Unvernunft, Spontaneität und bewußte Anstrengung) hinwegspülend, durchströmt das Denken in dieser Poesie die Sprache plötzlich wie eine Welle, die es dadurch, daß sie Kurzschlüsse und Zusammenstöße zwischen isolierten, einander fernstehenden Wörtern – jene Bilder, die bei den Surrealisten eine entscheidende Bedeutung gewinnen – herbeiführt, dem Denken ermöglicht, sich als Abenteuer wiederzuentdecken, und die dabei den Wörtern eine gewisse ursprüngliche Reinheit zurückgibt. Die surrealistische Poesie ist, kurz gesagt, Sprache in statu nascendi, die die Dinge und zugleich auch ihre Namen neu erfindet (oder zumindest unser Erleben der Dinge erneuert). Sie teilt uns nicht eine zum Wissen erstarrte Erkenntnis mit – und wäre es dunkel und „okkult“ −, sondern wirkt auf uns durch die Übertragung ihrer Dynamik, die uns anregt, unseren realen Handlungen eine ähnliche, vom gleichen Abenteuergeist beflügelte Bewegung zu verleihen. Die Sprache, die durchaus nicht einfach mit dem Strom des Unbewußten verschmilzt, findet dabei zugleich eine Einheit wieder, in der Bewußtes und Unbewußtes, Reales und Imaginäres, Begriffliches und Sinnliches unaufhörlich einander durchdringen und ineinander übergehen. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß die Surrealisten dank der automatischen Erfahrung auch das diskursive Denken neu belebt haben, indem sie sogar die Theorie auf eine zugleich begriffliche und lyrische Weise handhabten.

Man darf das „befreite Wort“ auch nicht als eine bloß sprachliche Angelegenheit betrachten. Um vitale Handlung zu werden, führt seine Dynamik früher oder später, über den geschriebenen Text hinaus, auch zu einem neuen Umgang mit der gesprochenen Sprache, der verbalen, in einer konkreten Zeit und in einem konkreten Raum gelebten Wechselbeziehung zwischen Individuen. Freilich haben die diversen surrealistischen Gruppen in dieser Hinsicht lediglich einige Beispiele geliefert und sich im übrigen mit der Andeutung begnügt, wie ein solcher Umgang aussehen könnte. (Das gilt auch für die längst zur Legende verklärten drei Tage, an denen ein paar Freunde Bretons, ganz zu Beginn der surrealistischen Unternehmungen, zu Fuß durch Frankreich streiften und dabei – was für ein Experiment! – unaufhörlich redeten.) Immerhin darf man sich von diesen wenigen Beispielen her eine „Kunst des Dialogs“ vorstellen, die wie eine verbale Form der Jazzimprovisation zu handhaben wäre und bei der das Denken, aufs engste mit den Bewegungen der Körper – mit dem Gestus – und mit der lebendigen Erfahrung verknüpft, sowohl Instrument als auch Gegenstand einer kollektiven Wiedererfindung würde. Nicht stubenhockender Literat und Wortekauer sei der Dichter im surrealistischen Sinne, sagte kürzlich eine Dichterin, sondern Gehender: ein Spaziergänger, für den das Schöpferische ein Weg ist, für den die Reise durch die Sprache eins ist mit einem echten Vorwärtskommen auf den Straßen, in einer existentiellen Suche nach der Wirklichkeit. Warum sollte das „Subjekt“ einer solchen Suche nicht eine Gruppe sein, eine Vereinigung einzelner Egos, von denen jedes sowohl zur Entdeckung der Welt (und seiner selbst) als auch zur Entdeckung aller anderen vordringt?
Das surrealistische Sprechen wäre dabei sicherlich mehr denn je Wort ohne Autor, nur verschmolzen mit der anonymen Schwingung des Lebens. Aber es wäre so nur noch mehr es selber in seinem natürlichen Widerstand nicht nur gegen alle Arten von Verboten, sondern auch gegen jedes erstarrte Wertesystem. Als Produkt geistiger Freiheit nur gelenkt von Impulsen, zielt es unweigerlich darauf ab, um des Entdeckens willen zunächst einmal alle Moral hinter sich zu lassen. Selbst die Regel des „aszendierenden Zeichens“, so wie Breton sie dargelegt hat, läßt sich meines Erachtens schwerlich auf dieses Sprechen anwenden, wenn es nicht sich selbst entfremdet werden soll. Wie Breton zu verlangen, daß seine Verwandlungen zum „Sublimen“ aufsteigen, heißt vergessen, daß das Sublime hier eben nur am Umfang der Entdeckungen gemessen werden kann, um was für enthüllte Realitäten – Rosen oder Kothaufen – es sich dabei auch handeln mag. Um diese verjüngende Erneuerung unseres Sehvermögens, die ihre größte Stärke ist, dauerhaft zu machen, widersetzt sich die Poesie zwangsläufig dein veredelten Wort, das für die hohen und edlen Werte und gegen die unreinen, niedrigen votiert; Maßstab ihrer Vitalität ist vielmehr gerade ihre Fähigkeit, immer wieder zur Wurzel, in jene „niederen“ Bezirke hinabzusteigen, in denen die Moral, das Denken, die Schönheit, noch nicht kodifiziert und eingeordnet, unablässig der unmittelbaren Erfahrung entspringen, die Fähigkeit, die bestehenden Hierarchien und Klassifizierungen im Namen dieser Erfahrung hinwegzufegen.

Man sieht also: Wenn die surrealistische Poesie in erster Linie die Realität als Geheimnis wiederherstellt, so ist dieses Geheimnis selber doch eine Art Transparenz. Es ist nicht irgendeine verborgene Botschaft, die das Gedicht in kodierter Form vortrüge und die von seinem Leser entschlüsselt werden müßte. Hervorgegangen aus einer einfachen Entfaltung der Dinge in der Sprache, aus der Bewegung eines Wortes, das nicht eifersüchtig seine Geheimnisse hütet, sondern im Gegenteil zu jener verschwenderischen Fülle zurückkehrt, die es seinem Wesen nach auszeichnet, ist es nichts anderes als jenes „Urrätsel“, das unmittelbar an der Oberfläche der Dinge liegt: weniger in irgendeiner verborgenen Bedeutung als in der einfachen Tatsache, daß diese Dinge überhaupt existieren. Es ist im Grunde nichts als jenes „Geheimnis eines offenen Hauses“, von dem Jehan Mayoux spricht. Unter diesem Blickwinkel kann man auch die von Breton in bezug auf den Symbolismus getroffene Unterscheidung zwischen „Geheimnis“ (mystère) und „Wunderbarem“ (merveilleux), zwischen einem ganz „literarischen“, künstlich erzeugten und demjenigen Lyrismus sehen, der spontan von einer in dynamischer Bewegung befindlichen Sprache freigesetzt wird.
Die surrealistische Poesie will zunächst einmal nichts anderes als eine solche Sprache sein, die auf der Suche nach sich selber frei umherschweift. Die Zwänge einer festen Form – Reime, Metrum usw. – ebenso ablehnend wie die Beschränkung durch eine vorher festgelegte Thematik, erfindet sie sich ihr Sujet erst im Fortgang des Schreibens. Was man auf diese Weise nach Beendigung der Niederschrift erhält, ist zwar auch ein spontaner Niederschlag des Denkens dessen, der die Feder geführt hat, ein Niederschlag, über den sich der Verfasser bei der anschließenden Lektüre meist als erster wundert (ohne sich übrigens seiner Inhalte erschöpfender bewußt zu werden als irgendein anderer); aber es ist auch und vor allem die Spur einer abenteuerreichen Wanderung, bei der sich das Denken in eben dem Maße verjüngt und erneuert, wie es sich ausdrückt, und die weniger aufgrund ihrer Resultate (ihrer „Konklusionen“) als durch sich selber Bedeutung besitzt. Insofern ist die folgende Selbst-Charakterisierung des Surrealismus als Ganzem auch die beste Definition seiner Poesie:

Weder Schule noch Clique, weit mehr als eine Attitüde, ist der Surrealismus in der aggressivsten und umfassendsten Bedeutung des Wortes ein Abenteuer. Abenteuer des Menschen und des Wirklichen, die voneinander in ein und dieselbe Bewegung hineingeschleudert werden.

Auch das Lesen des Gedichts ist auf diese Weise zumindest idealiter – etwas ganz anderes als ein bloßes Entziffern gegebener Inhalte; es wird seinerseits in hohem Maße Erfindung, Hervorbringung unbekannter und neuer Inhalte, für welche die Bilder des Gedichts nun selber nur noch der Ausgangspunkt sind. Tatsächlich ist die „Deutung“ (das Lesen oder Betrachten) eines Werks für die Surrealisten genauso wichtig wie seine Hervorbringung.
Je aufmerksamer unsere Lektüre ist, desto näher kommt sie natürlich dem Denken des Dichters. Um diesem jedoch wirklich ebenbürtig zu werden, muß sie so aktiv sein, daß sie es zugleich transzendiert, was freilich nicht bedeutet, daß ihre Beziehung zum Gedicht willkürlich, daß sie nur eine Projektion der Subjektivität des Lesers in die des Dichters sein soll. Ganz im Gegenteil: Je persönlicher die Lektüre ist, je stärker der Leser seine eigene Subjektivität in die Begegnung mit dem Text einbringt, desto besser vermag er – aber auf eine aktive Weise – den Weg des Verfassers nachzugehen.
Gleichzeitig ist die Bedeutung, die das Gedicht durch den Leser gewinnt, nur um so konkreter. Sie wird sicherlich keine nur mitgeteilte, sondern eine suggerierte und inspirierte Bedeutung sein; sie wird das Ergebnis einer notwendigerweise selektiven Begegnung zwischen zwei Individuen sein und nicht ohne Beteiligung jener sonderbaren Gottheit zustandekommen, die die Surrealisten „objektiven Zufall“ genannt haben. So willkürlich das surrealistische Gedicht sich auch darstellen mag, es ist nicht das Gegenteil von Wahrheit; nur statt diese Wahrheit lediglich auszudrücken und zu illustrieren, bringt es sie selber hervor. „Jeder Wahrheit habe ich ihren Brunnen gegeben“, schreiben André Breton und Jean Schuster in ihrer in der surrealistischen Zeitschrift Brief veröffentlichten Art poétique. Wenn die Wirklichkeit nicht durch das Gedicht ausgedrückt wird, so verfängt es sich doch in seinen Worten wie in den Maschen eines Netzes.
Auf recht geheimnisvolle, aber unbestreitbare Weise streben nämlich selbst die phantastischsten Bilder des Gedichts – vorausgesetzt, daß dieses wirklich inspiriert ist – mit aller Macht danach, „real zu werden“: einen Widerhall oder eine Bestätigung in einem konkreten Erlebnis zu finden. Es ist, als müßte sich die Wirklichkeit selber, wenn wir erst einmal einen bestimmten Grad von Dynamik erreicht haben, uns entgegen bewegen. Ebenso wie unser Wort, wenn es befreit ist, die „Bedeutung“ frei von einem Wort zum anderen zirkulieren läßt (und uns so in gewisser Weise die Totalität der Sprache aufschließt), scheint es zu einer ähnlichen Zirkulation auch zwischen diesem Wort und der Welt – anderen sprechenden Subjekten, den Dingen selber – zu kommen, einer Welt, die offener denn je ist, sich im befreiten Wort wiederzuerkennen: Statt nur Teilnehmer am Realen zu sein, werden wir gewissermaßen zu seinen Mit-Urhebern, sei es auch nur für die Dauer eines Augenblicks der „Gnade“.
Der Fall der „Nuit du tournesol“, den Breton in L’Amour fou beschrieben hat, ist in dieser Hinsicht sicher eines der verwirrendsten Beispiele: Zehn Jahre nach seiner Niederschrift erweist sich das Gedicht „Tournesol“ (Sonnenblume), das Breton selber weder sonderlich interessant noch gelungen findet, als die in allen Einzelheiten zutreffende Präfiguration eines nächtlichen Spaziergangs, der auf Jahre hinaus über das Gefühls- und Privatleben des Dichters entscheidet. Die Begegnung findet in diesem Fall zwischen dem Verfasser und sich selber statt; aber sie kann sich natürlich auch, vielleicht nur von einigen vereinzelten Versen ausgehend, zwischen seinem Text und einer dritten Person ereignen. Roger Caillois, der sich gegen die Willkür der dichterischen Bilder, so wie die Surrealisten sie verstanden, ausgesprochen hat, fehlte es in diesem Punkt an dialektischem Denkvermögen.
Diese Bilder, die durchaus nicht ohne Bezug zum Realen sind, können nicht völlig willkürlich sein, erst recht nicht für jedermann gleichzeitig. Man darf annehmen, daß selbst den ausgefallensten von ihnen ein bestimmtes Erleben, mag es auch sehr subjektiv – oder rein sprachlich – sein, zugrundeliegt. Schon dieses Erleben kann bei einem bestimmten Menschen, der eine ähnliche Erfahrung gemacht hat, ein Echo auslösen. Findet man unter den willkürlichsten Bildern nicht immer ein paar, die treffender und persönlicher zu uns sprechen als andere? Die Surrealisten haben sich beiläufig gerade deshalb von Dada gelöst, weil sie sich dieses Phänomens bewußt wurden; weil sie mitten in dem dichterischen Nonsens, den sie als Dadaisten praktizierten, entdeckten, daß sich in bestimmten „willkürlichen“ Bildern durchaus etwas Sinnfälliges – eine Bedeutung – ausdrückte.
Um uns auf die genannte Weise anzusprechen, braucht das Gedicht in Wirklichkeit nicht einmal zum Echo eines dem unseren ähnlichen Erlebens zu werden; willkürlich beginnend, lädt es sich dank jener Offenheit für Bedeutung, die ihm von Natur aus eigen ist, vielleicht erst am Ende mit Sinn auf. Unser Erleben findet dann im Gedicht zumindest einen Reflex, der uns freilich bereits dadurch, daß er uns sein Bild widerspiegelt, auch dazu drängt, es zu wiederholen. Die Hervorhebung der Offenheit des Gedichts auf das reale Erleben des Lesers hin, seiner Fähigkeit, zum Spiegel von dessen Verlangen zu werden, ist sicherlich das, wodurch die Surrealisten, weit über die antikünstlerischen Provokationen im Stile Dadas hinaus, das Gedicht unter völliger Vernachlässigung seiner bloß ästhetischen Wirkungsweise auf das engste mit der konkreten Erfahrung verknüpft haben.
Häufig wird, vor allem von Seiten der Anhänger der surrealistischen Bewegung selber, auf den erotischen Grundcharakter des surrealistischen Gedichts – oder Gemäldes – hingewiesen. In der Tat kann man sagen, daß der Surrealismus im gleichen Maße, wie er die Wörter von ihrem ausschließlich rationalen und pragmatischen Gebrauch befreit und der Pflicht enthebt, in herkömmlicher Weise eine „brauchbare“ Aussage abzuliefern, die Poesie wieder zur Erotik als ihrer Lebensquelle zurückführt. Freilich darf man diese Feststellung nicht allzu eng verstehen. Sie bedeutet keineswegs, wie man vielleicht annehmen könnte, daß Erotik und Liebe die surrealistische Poesie thematisch beherrschen oder daß in ihr gar an die Stelle der literarischen Metaphorik lediglich einige Freudsche Symbole treten. Weit mehr als nur eine Huldigung an die Erotik, ist die surrealistische Poesie ein fortwährendes Erotisieren der uns umgebenden Dinge und Phänomene – sogar noch des Todes −, deren konkrete Magie sie auf diese Weise in all ihrer Vielfalt und Fülle leidenschaftlich zelebriert.
Mit anderen Worten: Das Erotische der surrealistischen Poesie liegt in der Dynamik ihrer Bilder selbst – ebenso wie in deren chaotischer Üppigkeit −, ohne daß dadurch der Mannigfaltigkeit dieser Bilder Grenzen gesetzt würden. Eher trifft das genaue Gegenteil zu: Die Erotik erfüllt das surrealistische Gedicht bis hinein in seine Lust an der Verwandlung, diese Triebkraft, welche die Bilder mitunter gleich in ganzen Kaskaden freisetzt. Man kann auch sagen, daß die Erotik für die Surrealisten eine Art von latentem Eros in allen Dingen ist (und ihre Poesie nicht ein Ausdrücken aller Dinge in erotischen Symbolen); sie ist nur ein zentraler Aspekt ihres allgemeinen Denkens, das in ihr zugleich seine Urquelle und die Triebfeder findet, die allein ihm all seine Resonanz verleiht. „Vom Kirchturm fällt / Der Teppich der Nacht“: Dieser Satz Nezvals ist nicht weniger erotisch, nicht weniger eine Manifestation des von den Surrealisten so leidenschaftlich und radikal vertretenen Lustprinzips als jene andere, bekanntere Gedichtzeile, die uns unmittelbar den „Magnesiumblitz“ eines nackten Frauenbeins vor Augen stellt.
Darüber hinaus erwarteten die Surrealisten von den Worten des Dichters, daß sie wieder die Kraft und Wirksamkeit jenes Sprechens erreichen, das Mythen hervorbringt; daß sie dazu beitragen, uns sogar unser gegenwärtiges Leben auf quasi märchenhafte Weise erleben zu lassen, und zugleich auch wieder eine entscheidende Rolle im Gemeinschaftsleben spielen. Freilich muß man sich auch hier wieder vor Mißverständnissen hüten: Jene mythische Wirkungsweise kann die Poesie nur mittels persönlicher Mythen wiederfinden, fernab der totalitären, zwielichtigen Herrschaft der Kollektivmythen. Dort wo diese letztlich stets die blinde Unterwerfung des Menschen unter eine über ihm stehende Macht und – schlimmer noch – ein Erstarren aller Bewegung des Denkens zu einem versteinerten System implizieren, zielt das „befreite Wort“ des Surrealismus genau in die entgegengesetzte Richtung: hin zu einer unablässigen Erneuerung und Verjüngung des Denkens durch seinen individualistischen, leidenschaftlich subjektiven Gebrauch, einer Erneuerung, die auch die revoltierende Haltung des Individuums gegen jede – selbst „revolutionäre“ Form kollektiver Einflußnahme stärkt.
Wenn die surrealistische Poesie sowohl vonseiten ihres Hervorbringers als auch bei ihren Lesern Träger von Mythen sein kann, so nur dadurch, daß sie ihre private Vorstellungskraft aktiviert. Trotz einiger bemerkenswerter Ausnahmen (darunter die Werke René Daumals und Roger Gilbert-Lecomtes, der wichtigsten Dichter der para-surrealistischen Gruppe Le Grand Jeu) steht diese Poesie – will man sie einer psychoanalytischen Schule zuordnen – nicht Jung und seinen „Archetypen“, diesen kollektiven Phantasmen, nahe, sondern ist ganz entschieden Freud und den „anekdotischen“ Abenteuern jedes einzelnen verpflichtet. Das bedeutet übrigens auch, daß das individuelle Ich zwar zugunsten des unbewußten Es in Frage gestellt wird, sich aber trotz gewisser anderslautender Äußerungen der Surrealisten selber nicht in diesem aufzulösen sucht, sondern es vielmehr in eine neue Einheit mit der Sphäre des Bewußtseins, in ein zugleich dialektischeres und umfassenderes Denken einzubringen trachtet.

Die Surrealisten entdecken die Poesie zugleich als Wahrheit und Utopie wieder, als Mittel zu einem tieferen Erfassen des Wirklichen und als Instrument zu seiner Veränderung. Eine entschieden anti-deterministische Haltung zeichnet sie ebenso aus wie ihr Interesse an einer „Botschaft aus der Tiefe“; radikaler als die Romantiker unternehmen sie, wie Marcel Raymond schreibt, den „Versuch, mit der bestehenden Ordnung der Dinge zu brechen und an ihre Stelle andere, dynamische, im Werden befindliche Ordnungen zu setzen, deren ständig sich wandelnde Umrisse im Grunde des Seins selbst wurzeln“. Das Prinzip der Verwandlung ist für sie weit mehr als eine künstlerische Technik; es ist keine ars poetica, sondern die verbale Analogie zum Prinzip der Revolte gegen alle etablierten Ordnungen und als solche imstande, seinerseits zu einer wirklichen Revolte zu inspirieren. Mehr noch: Die Surrealisten treiben den Kult der Verwandlung so weit, daß sie ihren Bildern die Fähigkeit zutrauen, die Welt neu zu erschaffen. Tristan Tzara hat in der Zeit seiner Zugehörigkeit zur surrealistischen Bewegung diese Auffassung mit dem Begriff der „poésie activité de l’esprit“ (Poesie als Aktivität des Geistes), die er einer Poesie entgegenstellt, die lediglich „Ausdrucksmittel“ ist, recht gut definiert. Statt nur eine Form reflektierender Betrachtung zu sein, strebt das Denken in der surrealistischen Poesie danach, eine materiell wirksame Kraft zu werden, die selber neue Realien hervorbringt.
Tzara geht hierin weit über die avantgardistische Auffassung vom innovatorischen Künstler hinaus, der es ablehnt, die Natur zu kopieren, um auf ebenso freie Weise schöpferisch zu sein wie sie. Diese Konzeption, die ein Picasso oder ein Apollinaire vertreten haben, bezieht sich noch auf Werke, die Spiegelungen der Welt sind: bewundernswerte und freie Spiegelungen, die die Welt gewissermaßen wieder in ihrer ganzen Frische erscheinen lassen, aber doch Spiegelungen. Für Tzara und seine surrealistischen Freunde hingegen greift der schöpferische Mensch – der Dichter – wirklich in die Ordnung der Dinge ein. Was zur Zeit des Dadaismus, der sich darauf versteifte, jeder realen Tatsache eine positive Bedeutung abzusprechen, noch bloße Verweigerung war, ist sozusagen zu einem breitangelegten Konstruktionsvorhaben geworden. Die unmittelbare Realität negierend, versuchen die Surrealisten, in ihrer Poesie die hinter dieser Außenhaut verborgene „surréalité“ zu entfalten, in der die Welt durchlässiger und offener für das Verlangen ist. Der alte Konflikt zwischen dem Realen und dem Idealen, zwischen den beengenden Grenzen des Möglichen und der Aussicht auf ihre Überschreitung, dem von jedem Verlangen gesuchten Unmöglichen, wird im Surrealismus in der Hoffnung auf die Spitze getrieben, eine Lösung für ihn zu finden.
Die dieser Lösung adäquate Poesie gestattet es jetzt schon, die Widersprüche der Welt zu überwinden, indem sie sie zu einer ganz neuen Wirklichkeit verschmilzt, die sich wie eine „dritte Lösung“ zu ihnen verhält. Das Prinzip des dichterischen Bildes, das ausgehend von zwei bekannten, mehr oder minder disparaten Begriffen – wie Apollinaires „soleil cou coupé“ (Sonne abgeschnittener Hals), die weder nur Sonne noch abgeschnittener Hals ist, sondern etwas von beiden zugleich hat – ein neues Seiendes hervorbringt, wird dabei in den Rang eines geistigen Prinzips und einer Lebenshaltung erhoben. Es wird, bis hinein in konkrete Lebenssituationen, zur Negation aller konventionellen Lösungen zugunsten einer ganz neuen Einstellung, die sich zu jenen Lösungen verhält wie das dichterische Bild zu seinen Bestandteilen.
So wie das Bild das Erleben des Dichters dadurch auf das Unbekannte hinlenkt, daß es bereits existierende Gegebenheiten zu einer neuen Empfindung verschweißt – bei Apollinaire etwa zu einem überraschenden Ineinander von Freude (Sonne) und Entsetzen (Enthauptung) −, strebt jene dritte Haltung danach, unterschiedliche geistige Haltungen miteinander zu versöhnen (so wie sie Bewußtsein und Unbewußtes verknüpft); die geistigen Konflikte verschwinden in ihr vor der Intensität und Konkretheit des Empfindens, die durch dessen Neuheit nur noch verstärkt werden.
Wie man sieht, führt in dieser Konzeption ein direkter Weg von der Poesie zum Programm gesellschaftlicher Umwälzung. Die Poesie ist für die Surrealisten etwas, das zwangsläufig danach strebt, „Revolution zu werden“. Letztere ist dabei für sie nur eine äußerste, auf die gesamte Gesellschaft übertragene Anwendung des Prinzips der Verwandlung – was auch den rasch in einen offenen Konflikt umschlagenden Widerspruch zum Pragmatismus der realen Revolutionen erklärt, in den die surrealistische Bewegung zwangsläufig geraten mußte.
Wenn alle Poésie in gewisser Weise Wort des Verlangens ist, so nimmt diejenige der Surrealisten darüber hinaus das Verlangen beim Wort. Weit mehr als eine bloße Träumerei, ist die Imagination des Dichters für sie eine magische (aber auch aggressive) Kraft, die den Traum ins Leben integrieren und ihn dort wirksam – wirklich – machen möchte. Ihre Rolle beschränkt sich nicht darauf, über das Geheimnis des Wirklichen zu reden, es nur zu erzählen. Bis in jene Leere hinein, die unablässig an den Dingen der Welt zu nagen scheint und die sie wie abwesend von sich selber macht, wird im surrealistischen Gedicht das Geheimnis vor uns hingestellt, um entfaltet und praktiziert zu werden in Handlungen und Haltungen, die es in ihre Prämissen einschließen. Ist die Quelle dieses Geheimnisses, statt in irgendwelchen dunklen Ursprüngen, in tiefen Wahrheiten zu liegen, die es an die Oberfläche zu holen gilt, nicht einfach das menschliche Dasein selbst und jenes fortwährende emsige Treiben, das der Mensch der Natur hinzufügt? In ein „tätiges“ Geheimnis verwandelt, vorangetrieben von den Reaktionen, die es hervorruft, gewinnt das intimste Verlangen eines Einzelnen hier die Bedeutung einer kollektiven Hoffnung. Aus der bloßen Projektion eines Empfindens und Denkens, aus einem Reflex dessen, was in einem persönlichen Spiegel enthalten ist, wird es zur Vorwegnahme einer anderen, potentiellen Welt, zu deren Schaffung der Leser ebenso beiträgt wie der Dichter.
Diese Perspektive hat auch eine „Radikalisierung“ des dichterischen Bildes zur Folge. Über die Apollinairesche Umschmelzung von bekannten in neue Empfindungen hinaus sucht das Bild sich so vollständig wie möglich von seinen Ursprüngen abzulösen – in die es auf jeden Fall nicht mehr zurückverwandelt werden kann −, um im Idealfall nur noch aufgrund der Folgen von Bedeutung zu sein, deren Ausgangspunkt es ist. Es ist gleichsam so, als explodiere hier plötzlich, in den Dingen vor uns, das ganze Anderswo. Für die Surrealisten ist es letztlich belanglos, ob das Bild aus einer Verdrängung ins Unbewußte entsteht; in seinen Wirkungen, die allein für sie von Interesse sind (ganz im Unterschied zu den Psychoanalytikern), verschwindet die Verdrängung zugunsten dieser Entdeckung – dieses Hinausgehens über das Faktische −, die das Bild zum Vehikel einer Befreiung macht. Wir haben bereits gesehen, daß die poetischen Bilder es dem Dichter ermöglichen, sich als anderer zu entdecken, sein eigenes Erleben neu zu erfinden; insofern ist das Gedicht tatsächlich der Autor seines Verfassers.
Es sorgt dafür, daß das subjektive Empfinden buchstäblich nach außen getrieben wird, um sich in der Welt des Faktischen geltend zu machen. Wie für Breton die surrealistische Malerei, so bewirkt auch die Poesie, „daß sich im Umkreis subjektiver Elemente Wahrnehmungen mit objektiver Tendenz formieren. Diese Wahrnehmungen haben (…) einen umwälzenden, revolutionären Charakter, sofern sie nämlich in der äußeren Realität unüberhörbar nach etwas rufen, das ihnen antworten soll. Es ist abzusehen, daß dieses Etwas (…) sein wird.“ Der Dichter ist nicht einfach ein Neuschöpfer des Wirklichen auf der Ebene von Gefühlen und Gedanken; er geht weiter, indem er mit seinen Bildern so etwas wie Pläne vorlegt, nach denen man neue Städte errichten, neue Dinge herstellen, ja sogar neue Verhaltensformen einführen könnte. Ein früher Text von Yves Bonnefoy aus der Zeit, als er sich zum Surrealismus bekannte, enthält eine ganze Liste ausgefallener Handlungen, die allesamt Beispiele für diesen Willen zur Wandlung sind. Er trägt den bezeichnenden Titel „Toute une vie“ (Ein ganzes Leben):

Beim Geräusch der Laken erwachen, in seinen Schädel springen, sich mit Zeichenkohle waschen, sich mit einer Katze abtrocknen, sich mit einer Maus die Zähne putzen, sich mit einem Sack Kartoffeln kämen, / In einen Dampfhammer schlüpfen, sich einen Teller überstreifen, eine Stockrose aufsetzen, sich mit einem Autobus schneuzen, / In eine Mauer laufen, sich an der Butter stoßen, eine Aspirintablette versäumen, einen Berg vergessen, sich im Ei vertun, / In einem Finger arbeiten, in einem Auge wohnen, mit seinem Gehirn schreiben, Blutegel abtippen, Adler addieren, kochen, / Mit einem Kornfeld eine Zigarette anzünden, auf einem Blitzableiter ein Omelett servieren, seine Suppe mit einem Bett auslöffeln, das Fleisch konjugieren, den Fußboden trinken, einen Heizkörper verdauen, / Korridore bändigen, Monokel erschrecken, eine Wanduhr entlarven, mit einem Stich Butter einen Ochsen abstechen, kichern, / Ein Stück Seife umgraben, Ameisen weben, Elefanten sieben, einen Spiegel pflügen, mit einer Orange einen Baumstamm zersägen, aus Hunden Spitzen klöppeln, / Schwammschüsse abfeuern, sein Gewehr mit Apfeltaschen laden, in einem Goldbarren baden, in einer Briefmarke schwimmen, mit Ozeanen jonglieren, Nadeln einatmen, / Sich mit einem Kreisel leuchten, Mozart auf einem Beefsteak interpretieren, sich mit einem Messer wärmen, im Bauch spazierengehen, regnen, / Mit einem Torpedo Walzer tanzen, ein Schaufenster umarmen, einen Nußknacker streicheln, mit einem Ministerrat zu Bett gehen, träumen, / In seinen Korb zurückkriechen, eine Schnecke hinaufsteigen, die Kuhherden verlassen, sich auf ein Erschießungskommando setzen, gähnen, / Mit einer Ölsardine die Seiten eines Buchs aufschneiden, ein Auge aufziehen, einen Bären läuten lassen, aus seiner Pferdebahn steigen, schlafen, / Schlafen.

Zwanzig Jahre später spricht der Tscheche Pavel Řezníček auf genauso natürliche Weise davon, „auf den Körnern zu pfeifen“, „die Schlinge zu heizen und die Faust zu walzen“ oder gar „den Spiegel zu pflücken“. In ähnlicher Weise schilderten einst André Breton und Philippe Soupault in Les Champs magnétiques die „Versuchung, ein neues Getränk zu bestellen: zum Beispiel einen Abbruch mit Platane“.

Natürlich darf man derartige Äußerungen nicht wörtlich verstehen; sie sind keine technischen Anweisungen, sondern suggerieren nur etwas. Wenn sie auf uns wirken, so nicht auf direktem Wege, sondern durch die Veränderungen, die sie in unserem Empfinden und von dort aus dann auch in unseren Handlungen herbeiführen. Es ist unmöglich zu sagen, was in der Welt des faktischen aus dem Walzen der Faust oder dem Pflücken des Spiegels wirklich werden wird. Fest steht immerhin, daß beides mit Hinterlist darauf abzielt, selbst auf unsere eingefahrensten Handlungen abzufärben, um sie zu „verkehren“.
Die moderne Poesie, die bis zum Surrealismus in gewisser Weise nur ein ständiges Verbreitern des Risses gewesen ist, den die westliche Kultur zwischen der Welt und dem Wort hat klaffen lassen, erlebt dank den Surrealisten einen radikalen Perspektivenwechsel: Die Distanz der Wörter zu den Dingen, diese Eigentümlichkeit der Sprache des Gedichts, durch die es die Realität „verrät“, wird gerade zu seinem Mittel, in diese Realität einzugreifen. Es ist die Autonomie des dichterischen Textes selbst, die nun, bis zu einem bestimmten Grad getrieben, zu einer Lebensfunktion wird. Je größer die „Entfremdung“ des Wortes von der faktischen Realität ist, glauben sogar einige Surrealisten, desto mehr Aussichten hat dieses Wort, ganz neue reale Fakten hervorzubringen.
Sicher ist, daß jeder inspirierte Dichter uns die Welt größer macht, weil er unser eigenes Denken um neue Verbindungen zwischen Wörtern und Dingen und dadurch auch um neue Möglichkeiten, sie zu begreifen – ja sie zu erleben – bereichert. Aber selbst dort, wo der Dichter diese Fähigkeit sehr weit entwickelt hat, kann sein Wort nur dem Verlangen allein Gestalt verleihen; die Freiheit unserer Wörter gibt uns nicht automatisch auch die Mittel an die Hand, ihnen adäquat zu leben. Der Begriff der surrealistischen „Alchemie des Wortes“ bleibt in dieser Hinsicht widersprüchlich: Wenn sie auch mit dem abendländischen Idealismus zu brechen, aus dem Gefängnis des unsere gesamte Kultur beherrschenden „reinen Geistes“ auszubrechen sucht, um Wörter durch Taten zu ersetzen, so erwartet sie das Heil doch zuvörderst noch von den Wörtern. Immerhin ist deren „magische“ Kraft vor den Surrealisten noch nie so konsequent untersucht und erprobt worden.
Wenn das befreite Wort auch keine radikal neue Welt hervorzubringen vermag, so kann es uns diese doch wenigstens aufschließen, weil es uns erlaubt, in ihm eine „nicht-etablierte Ordnung der Dinge“ (Pierre Peuchmaurd) zu entdecken. Als Keim oder offenbarendes Zeichen eines unbekannten, völlig neuen Universums betrachtet, ist die dichterische Verwandlung zwar nur ein schönes Trugbild, doch im Grunde verbirgt sie eine zu äußersten Konsequenzen getriebene Metapher – und gerade deren Absonderlichkeit hat nur das Ziel, uns die Welt, so wie sie wirklich ist, dadurch besser sichtbar zu machen, daß sie sie in einem neuen Licht erscheinen läßt. „Meine Frau mit den Initialenfüßen / Mit den Schlüsselbundfüßen“, „Meine Frau mit dem Geschlecht aus Algen und alten Bonbons“: Statt irgendeine neue Frau zu erfinden, intensivieren diese Bilder Bretons nur die Vorstellung von derjenigen – und das Verlangen nach ihr −, die wir schon lieben. Im Unterschied zur einfachen Metapher, zur bloßen Ausschmückung des gemeinsamen Liebeserlebnisses durch das Wort, bereichern sie dieses Erlebnis um ein Geheimnis, das es möglich macht, es auch praktisch nachzuvollziehen.
Dasselbe gilt für den Einfluß der Verwandlung auf unser Erleben insgesamt. Sie führt uns nicht in eine Parallelwelt, sondern erweitert die Grenzen dieser Welt, da sie uns durch ihre scheinbare Absurdität auf „Gesetze“ und Beziehungen hinweist, von denen wir nichts wußten, die aber von nun an in der gegenwärtigen Realität latent vorhanden sind. Die opake Undurchsichtigkeit, die das Wort des Dichters seinem eigenen Denken verleiht, ist nicht Verdunkelung, sondern im Gegenteil Bereicherung und Entfaltung dieses Denkens und als solche geeignet, seine verborgensten Möglichkeiten zu enthüllen.

Die Welt des Faktischen ist keineswegs nur eine Leinwand, auf welche die befreiende Wucht der Sprache sich nur zu projizieren braucht; sie stellt dieser Wucht – das heißt der Befreiung, für welche die Poesie das Beispiel liefert – vielmehr zahlreiche, mehr oder minder schwer zu überwindende Hindernisse entgegen. Deshalb bewirkt die Poesie ein neues Erleben nicht so sehr als direkte Anregerin zu ganz neuen, begeisterten und begeisternden Handlungen, sondern durch ihre kritische Hervorhebung der Grenzen der Gegenwart. So dringt das Wort des Dichters nicht durch eine lyrische Zuspitzung jenes Unmöglichen, das der Absolutismus des Verlangens anstrebt, in das Faktische ein, sondern dadurch, daß es eine Spannung erzeugt – und eine Diskrepanz zwischen der bestehenden Welt und ihren verborgenen Möglichkeiten aufdeckt; zwischen der Alltagsrealität und jenen „latenten Beziehungen“, die es in ihr so großartig zu entdecken versteht. Weder absolute Erneuerung des Seienden noch dessen bloße Negation, ist die dichterische Verwandlung in bezug auf das Reale eine aktive Kritik: seine Infragestellung und seine bereichernde Erschließung zugleich.
Daß sie ganz neue Aspekte dieses Realen enthüllt, liegt übrigens auch daran, daß sie sagt, was man nicht sagen darf: all das in ihm, was zu enthüllen nicht ratsam ist, wenn man nicht – psychologisch oder gesellschaftlich – die Konventionen der etablierten Ordnung verletzen will. Wort von unten, in unablässiger Wechselbeziehung mit den triebhaften Quellen und sich so jedem kalten, zu Gemeinplätzen, Dogmen und anderen toten Buchstaben erstarrten Sprechen widersetzend, ist sie in ebenso hohem Maße konkret wie anti-offiziell. So wie sich Empfindung und Bild in ihr fortwährend den Abstraktionen des ideologischen Denkens entgegenstellen, greift sie systematisch die Tabus der Moral an und wertet all das auf, was unser überkommenes Denken als unaussprechlich brandmarkt.
Denn wie groß auch seine Freiheit sein mag, das dichterische Wort ist unausweichlich in das Netz der Konflikte eingebunden, die den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft ausmachen; schon aufgrund der Tatsache, daß die Surrealisten sich in ihren Gedichten vom Traum, vom erotischen Phantasma oder vom Gemurmel des Unbewußten inspirieren lassen, geben sie ihrem Sprechen eine präzise Richtung, nämlich diejenige der Aufhebung der Zensur, die das westliche Denken über jene Phänomene verhängt. Bereits im Prozeß des dichterischen Sprechens – ihm inhärent – tritt wie in unseren Träumen ein „gelenktes“ Denken zum Phantasma und zur spontanen Entdeckung hinzu, um deren Wirksamkeit in bezug auf jenen aktuellen Kontext zu präzisieren. Hinter der Entfaltung seiner Bilder ist jedes Gedicht auch ein Geflecht von Stellungnahmen. Maßstab der Potenz des dichterischen Bildes ist daher ebenso seine Freiheit wie sein „Durchschlagen“ auf das konkrete Erleben, sind die Entsprechungen und Echos, die es in der Vorstellung finden kann, die wir uns von der Welt machen.
Daher rührt übrigens die Falschheit der (recht verbreiteten) Auffassung, im surrealistischen Gedicht mit seiner Lust an der Verwandlung lösten sich die Phänomene in ein einziges, in ständiger Wandlung begriffenes Ganzes auf. Das ist bestenfalls eine zu weitgefaßte Definition, die die Wirkungsweise des Gedichts in irgendein vages Absolutum verlegt; denn in Wirklichkeit realisiert jede Verwandlung den Zusammenprall eines konkreten Phänomens mit einem anderen konkret als eine zwar „offene“, aber präzise Kritik am Denken der Zeit: Apollinaires Sonnenuntergang enthüllt eine nie erlebte Grausamkeit (der Erste Weltkrieg ist nicht fern), der Geschmack nach alten Bonbons bei Breton umgibt das Geschlecht der Frau mit einer „perversen“ Aura, von der die erotischen Konventionen der damaligen Zeit nichts wußten. Dieses Eingebundensein in den Kontext seiner Zeit gibt dem Gedicht aber auch eine gewisse Vergänglichkeit. Es ist keineswegs ewiges, unverrückbares Wort, sondern entwickelt sich und ändert, mindestens mit jeder neuen Lesergeneration, seine Bedeutung. Der kritische Gehalt eines Gedichts aus den dreißiger Jahren: dürfte mithin heute kaum derselbe sein wie zu der Zeit, da es geschrieben wurde und in der so viele inzwischen längst niedergerissene Gebäude noch standen.
Die Sprengkraft dieses Gehalts ist sicher nicht bei allen Autoren gleich groß. Während sie bei den einen nur ein Nebeneffekt ihres Lyrismus ist, tritt sie bei anderen um so ungestümer hervor, um den Traum von einer „besseren Welt“ vollständig in die sarkastischen Ausbrüche des schwarzen Humors aufgehen zu lassen. Das geschah nach dem Zweiten Weltkrieg namentlich bei den Prager Surrealisten, die in der Situation, in der sie sich befanden, die „kritischen Funktionen“ des Gedichts zur Grundlage ihrer Poetik sowohl in ihren theoretischen Auffassungen als auch in ihrer dichterischen Praxis machten. Diese Wahl lag freilich nahe, da die Tschechen im Surrealismus ohnehin schon immer dessen konkrete Seite vertreten hatten: eine Poesie, die auch aus greifbaren Dingen besteht und ihrer Freiheit nie einen fundamentalen Sinn für das lebendige Erleben geopfert hat. Der französische Nachkriegs-Surrealismus – der eines Legrand oder Schuster etwa, bis hin zu dem von „Dissidenten“ wie Rodanski oder Tarnaud – trifft sich zwar mit demjenigen der Prager in dem erneuerten Interesse, das er im Gedicht dessen bewußter (diskursiver) Komponente entgegenbringt, aber die Perspektive, in der es zu dieser Veränderung kommt, ist eine andere: Hier geht es nicht darum, den Lyrismus an die lebendige Erfahrung zu binden, sondern darum, ihn auch auf das diskursive Denken auszudehnen. Während die Bilder der Tschechen realistischer – zugleich skeptischer und alltäglicher – sind, werden die der Franzosen zerebraler und abstrakter.
Humor und Kritik sind gleichwohl grundlegende Eigenschaften der surrealistischen Poesie insgesamt; natürliche Folgen derselben befreienden Dynamik wie ihr Lyrismus, verschmelzen sie mit diesem zu einer einzigen affirmativen Verweigerung. Denn letztlich will der Surrealismus uns sogar noch die Widersprüche der Gegenwart als „Wunderbares“ erleben lassen. Der schwarze Humor, der diese Gegenwart an den Pranger stellt, ist zugleich auch schon ihre Überwindung. Darin unterscheidet er sich übrigens von anderen Formen des modernen Humors oder der modernen „Zeitkritik“: Da er der Imagination entspringt, ist er niemals nur eine Diagnose der gegenwärtigen „Übel“, sondern zugleich auch eine Bereicherung der Art und Weise, wie diese gesehen werden: ihre Verwandlung im Licht eines noch nie gesehenen Bildes. Die Bilder sind ein Abriß der Realität, bringen uns aber gleichzeitig, ausgehend von deren Gegebenheiten, zum Träumen. Die kritischen Funktionen des Gedichts sind also von seinen magischen Funktionen nicht zu trennen. Statt nur die individuelle Umsetzung einer allgemeinen Idee zu sein, hängt die „gesellschaftliche Aussage“ des Gedichts vom Grad einer Innerlichkeit ab: „ich erzählte ihm von meinen Jazz-Halluzinationen / und zog einen düsteren Zaun um einen Idioten / (…) / ich strich den fleischfarbenen Zaun mit fleischfarbener Farbe“ (Stanislav Dvorský, „Altweibersommer“).
Sicher genügt eine Kleinigkeit, damit der „signifikante Nonsens“ des Gedichts zu reinem Nonsens wird, damit seine Irrationalität (seine Absurdität) nicht länger bereichert, sondern steril wird. Hin- und hergerissen zwischen dem allgegenwärtigen Murmeln des Lebens und dem Schweigen, schwebt das Wort in eben dem Maße, wie es frei wird, nur über einer Leere, von der es jeden Augenblick verschlungen werden kann. Die Fallen, die der Dichter dem „objektiven Zufall“ stellt, sind letztlich nur unsichere Bojen in einem Ozean von Abwesenheit. Doch gerade von daher gewinnt die Erleuchtung ihr ganzes Gewicht: weil sie uns nur als eine Chance, als ein Funke von Bedeutung entgegentreten kann, der stets von neuem dem Nichts und dem Chaos entrissen wird. Ein und dasselbe Schwindelgefühl verbindet in dieser Hinsicht den fernen Mond Pérets mit den Durchsichtigkeiten, die Paul Eluard erfunden hat:

Die großen Tiere sterben
Und die kleinen verschwinden.
Unsichtbare Tiere
Zwischen Erde und Mensch

(„Image“ in Exemples, 1921).

Man erkennt heute recht gut, in welchen Punkten die surrealistische Poetik ihrerseits der reinen Ideologie oder zumindest einer irrealen Träumerei verfallt. Ideologische Vereinfachungen alternieren im Surrealismus noch zwangsläufig mit seiner Neigung zum Konkreten, was freilich auch bedeutet, daß in ihm „realistischere“ Tendenzen neben einem naiven Utopismus existieren: Dalí neben Eluard, Bellmer neben Valentine Hugo, die Tschechen – oder die Belgier – neben den Franzosen. Aber auch seine Vorstellungen von der Poesie geben zu einigen Vorbehalten Anlaß.
Zunächst einmal entspricht die von der surrealistischen Bewegung geäußerte Indifferenz gegenüber jeder formalen Bemühung und gegenüber der Eigenart der jeweiligen Ausdrucksmittel nicht wirklich ihren eigenen Eroberungen. Das formale Problem, so nebensächlich es scheinen mag, existiert und wenn die Surrealisten das Gedicht auch zu recht vor allem nach seiner Freiheit beurteilt haben, so haben doch auch sie für dieses Problem Lösungen in Vorschlag gebracht. Trotz ihrer Universalität als Lebenselement realisiert sich die Poesie jedesmal konkret mit Hilfe spezifischer Mittel: daher auch, in dem hier vorgelegten Buch, die besondere Berücksichtigung des Gedichts als eine der Formen, in denen der surrealistische Beitrag am augenfälligsten ist. Weil sie den dichterischen Ausdruck allein unter dem Aspekt der Imagination und der Spontaneität betrachteten, haben die Surrealisten ihn sogar meistens auf eine einzige mögliche Formel reduziert: die des unbewußten Fließens oder zumindest seines „Modells“ – und des Bildes, so wie es von Lautréamont und Reverdy als Zusammenprall zweier disparater Realitäten definiert wurde.
Bei einigen Dichtern geht das befreite Wort indes über diesen Rahmen hinaus und verbindet sich spontan mit anderen Formen des Sprechens: So verquicken etwa Juan Breá, Joyce Mansour, Vítězslav Nezval – nicht zu vergessen André Breton selber mit einigen seiner Gedichte – ein Sprechen traumartigen Charakters gern mit einer mehr „taghaften“ Grübelei, oder zwischen die einzelnen Bilder schieben sich ganze Blöcke realer Alltagserfahrung. In ähnlicher Weise taucht das individuelle Ich, dieses handelnde und reflektierende Subjekt, das theoretisch zugunsten des „Wahns“ hinter den blinden Manifestationen des allgemeinen Verlangens verschwinden soll, bei diesem oder jenem Autor wieder auf. Wenngleich Zeugnisse für den Reichtum des Surrealismus, sind dies doch eigentlich Ausnahmen von seinen eigenen Regeln. Außerhalb von ihnen werden das Bild und die „wahnhafte“ Verwandlung bei der außerordentlichen Wertschätzung, die ihnen entgegengebracht wird, die surrealistische Poesie schließlich belasten wie Grenzen, die die gefährliche Neigung besitzen, sie in einem nur noch dekorativen Verbalismus erstarren zu lassen. Sie laufen Gefahr, aus Mitteln der Entdeckung und Erkundung des Wunderbaren zu einem Hindernis für jedes wirkliche Abenteuer zu werden. Die Bewegung des Denkens würde dann wieder dem bloßen „Wortjuwel“ Platz machen. Die Abneigung der Freiheit gegen alles Formale hängt bei den Surrealisten mit einer anderen utopischen Vorstellung zusammen: der eines auf mehr oder minder direkte Weise in Lebenswerte und Phänomene des Realen umsetzbaren dichterischen Sprechens. Wenn auch notwendig und fruchtbar wegen der neuen Initiativen, die sie bewirkt hat, enthält diese Vorstellung doch einen guten Teil Illusion. In dieser Hinsicht hebt sich der Surrealismus gar nicht so radikal von der „gewöhnlichen“ Kunst ab, wie er dies selber gern gewollt hätte, und das nicht nur, weil die „äußere“ Welt den inneren Forderungen der Dichter bis auf weiteres immer noch mit brutaler Feindseligkeit gegenübersteht. Die Illusion liegt wohl bereits in der Idee einer totalen Verwandlung der Poesie (des Denkens), die „Ausdrucksmittel“ ist, in eine „poésie activité de l’esprit“; genau wie jeder andere ist auch der surrealistische Dichter stets teilweise dazu verdammt, lediglich vergebliche Wünsche in die Welt hineinzuprojizieren.
Von der anderen Seite her betrachtet, ist die der „gewöhnlichen“ Kunst eigene Ausdrucksweise durchaus bereits eine Verwandlung der Welt; allein dadurch, daß sie zur Sprache gebracht werden, erfahren ein Gefühl oder ein Gedanke rückwirkend sogleich neue Veränderungen. Liebt man in dem Augenblick, da man seine Liebe auszusprechen wagt, nicht anders? Aber selbst wenn die Kunst und die Poesie uns immer nur von einem Anderswo, von einem unabänderlich nicht erreichbaren und abwesenden Alternativleben sprächen, so traumartigen Charakters gern mit einer mehr „taghaften“ Grübelei, oder zwischen die einzelnen Bilder schieben sich ganze Blöcke realer Alltagserfahrung. In ähnlicher Weise taucht das individuelle Ich, dieses handelnde und reflektierende Subjekt, das theoretisch zugunsten des „Wahns“ hinter den blinden Manifestationen des allgemeinen Verlangens verschwinden soll, bei diesem oder jenem Autor wieder auf. Wenngleich Zeugnisse für den Reichtum des Surrealismus, sind dies doch eigentlich Ausnahmen von seinen eigenen Regeln. Außerhalb von ihnen werden das Bild und die „wahnhafte“ Verwandlung bei der außerordentlichen Wertschätzung, die ihnen entgegengebracht wird, die surrealistische Poesie schließlich belasten wie Grenzen, die die gefährliche Neigung besitzen, sie in einem nur noch dekorativen Verbalismus erstarren zu lassen. Sie laufen Gefahr, aus Mitteln der Entdeckung und Erkundung des Wunderbaren zu einem Hindernis für jedes wirkliche Abenteuer zu werden. Die Bewegung des Denkens würde dann wieder dem bloßen „Wortjuwel“ Platz machen. Die Abneigung der Freiheit gegen alles Formale hängt bei den Surrealisten mit einer anderen utopischen Vorstellung zusammen: der eines auf mehr oder minder direkte Weise in Lebenswerte und Phänomene des Realen umsetzbaren dichterischen Sprechens. Wenn auch notwendig und fruchtbar wegen der neuen Initiativen, die sie bewirkt hat, enthält diese Vorstellung doch einen guten Teil Illusion. In dieser Hinsicht hebt sich der Surrealismus gar nicht so radikal von der „gewöhnlichen“ Kunst ab, wie er dies selber gern gewollt hätte, und das nicht nur, weil die „äußere“ Welt den inneren Forderungen der Dichter bis auf weiteres immer noch mit brutaler Feindseligkeit gegenübersteht. Die Illusion liegt wohl bereits in der Idee einer totalen Verwandlung der Poesie (des Denkens), die „Ausdrucksmittel“ ist, in eine „poésie activité de l’esprit“; genau wie jeder andere ist auch der surrealistische Dichter stets teilweise dazu verdammt, lediglich vergebliche Wünsche in die Welt hineinzuprojizieren.
Von der anderen Seite her betrachtet, ist die der „gewöhnlichen“ Kunst eigene Ausdrucksweise durchaus bereits eine Verwandlung der Welt; allein dadurch, daß sie zur Sprache gebracht werden, erfahren ein Gefühl oder ein Gedanke rückwirkend sogleich neue Veränderungen. Liebt man in dem Augenblick, da man seine Liebe auszusprechen wagt, nicht anders? Aber selbst wenn die Kunst und die Poesie uns immer nur von einem Anderswo, von einem unabänderlich nicht erreichbaren und abwesenden Alternativleben sprächen, so stünden sie deshalb nicht notwendigerweise außerhalb des Realen. Läge ihre tiefste Lebensfunktion nicht vielmehr darin, uns dieses Anderswo als einen essentiellen Ort zu enthüllen, um es uns zu ermöglichen, durch seine Einbeziehung in unser Bewußtsein die Totalität des Lebens zu umfassen?
Die Geschichte der Poesie endet nicht mit dem Surrealismus. Dieser war nicht, wie er es voller Inbrunst anstrebte, eine entscheidende und endgültige Revolution, die das Tor zum allein „authentischen“ Wort aufgestoßen hätte. Ohne die ganze Poesie zu sein, hat er es dieser jedoch immerhin ermöglicht, durch die Aufdeckung bestimmter grundlegender Prinzipien mehr denn je sie selber zu sein. Dank dem Surrealismus erfährt sich die Poesie wie nie zuvor als geistiges Abenteuer, als Bewegung des Denkens, als freies Wort. Das genügt, damit die Aussichten auf eine Begegnung zwischen Dichter und Welt seit seiner Intervention beträchtlich gestiegen sind. Deswegen kann sich nichts von dem, was nach dieser Bewegung kommt, über ihre Lektion hinwegsetzen.

Petr Král, Nachwort

 

Es ist eines der schönsten Bücher,

das – jenseits der Privatdrucke und Preziosen kleiner Pressen – in Deutschland nach dem Krieg gemacht wurde: der wollüstig rote, mit schimmerndem Komtesse-Leinen überzogene Zauberwürfel Das surrealistische Gedicht, erstmals aufgetaucht im Gefolge der großen Surrealismus-Ausstellung des Museums Bochum 1978. Jetzt ist diese grandiose, laut Verlagstrompete „umfangreichste Sammlung surrealistischer Poesie, die je erschienen ist“, wieder da. Noch einmal haben die drei Herausgeber das Album um 200 Autoren erweitert (die mit Texten, Bio- und Bibliografie vorgestellt werden), auf nunmehr 1888 Seiten: Surrealistische Poesie aus allen Teilen der Welt, denn die befreite Fantasie kennt viele Sprachen, aber keine Grenzen.

Benedikt Erenz, Die Zeit, 13.9.2001
(Rezension zu einer erweiterten Neuausgabe)

Das Ohrfeigen einer Leiche –

Geschmacklosigkeit oder surrealistische Erweiterung

des Bewußtseins

Alles muß getan werden, alle Mittel sind recht, um die Ideale Familie, Vaterland, Religion zu zerschlagen.
Aus dem „Zweiten Manifest des Surrealismus“ von 1930

Die lyrische Revolte, die sich bereits in den Werken der Romantiker sowie bei Nerval, bei Gautier, bei Baudelaire und natürlich auch bei Walt Whitman vorbereitet hat, erreichte ihren ersten Höhepunkt in den – gleichermaßen gegen die Schöpfung wie gegen die Sozietät gerichteten – Provokationen Rimbauds und Lautréamonts. Diese neue Dichtung, die der Veränderung des Weltbildes Rechnung trug, die mit Tabus und Lügen aufräumte, die das Empfinden vertiefte, die das poetische Vokabular erneuerte und die verdrängte Inhalte ans Licht der Erkenntnis brachte, war das, was Majakowski und Burljuk 1912 „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“ genannt haben.
Das Dilemma der modernen Dichter bestand von Anfang an darin, daß sie zwar das Leben von dem Druck ontologischer und gesellschaftlicher Mißstände zu entlasten versuchten, daß sie aber, obwohl es ihnen um die Wiederherstellung von Ursprünglichkeit ging, gezwungen waren, die Sprache in einer Weise zu handhaben, die entscheidend anders war als jene begriffliche und zum Abstrahieren neigende Rede, in der die allgemeine Kommunikation betrieben wurde. Die Dichter, weil sie die Existenz in ihrer Totalität erfassen wollten, konnten sich nicht mit einem diskursiven Benennen begnügen. Ihnen war es, wie Louis Aragon 1926 in Pariser Landleben formulierte, vor allem darum zu tun, die eigenen „Wahnvorstellungen wie ein schönes Pferd“ zu hätscheln und sich jenem Nützlichkeitsdenken zu entziehen, das weltweit um sich griff und das – zusammen mit dem Mythos und dem Irrationalen – auch alle Schönheit zu vernichten drohte. Aragon, der Rimbauds Vorsatz, „durch die Entregelung aller Sinne beim Unbekannten anzukommen“, fortzusetzen trachtete, empfand sich, im Gegensatz zu dem Verfasser von „Erleuchtungen“ und „Eine Saison in der Hölle“, kaum noch als metaphysischen Rebellen. Seine Position war vielmehr die eines Mannes, dessen Lebensauffassung tief in der Philosophie verankert war und der sich dem „Laster des regellosen und leidenschaftlichen Gebrauchs des Rauschgiftes Metapher“ wie ein mit sich selber experimentierender Intellektueller hingab, welcher sich völlig darüber im klaren war, daß die Großstadt Paris, die er zur Geburtsstätte flüchtiger Mythen und zum Wohnsitz einer werdenden neuen Gottheit deklarierte, letztlich nicht etwas so Elementares war wie die ländliche Natur, mit deren primärer Vitalität seine Erfindungskraft rivalisierte:

Werde ich mir lange das Gefühl für das täglich Wunderbare bewahren? Ich sehe wie jeder Mensch es verliert, der im Leben auf einer immer besser gepflasterten Straße dahinschreitet, mit wachsendem Wohlstand weltgewandter wird…  

Das Bestreben der Surrealisten lief darauf hinaus, die impulsiven Kräfte, die ständig durch Erziehung und Kultur unterdrückt wurden, erneut zu evozieren und zu stärken. Doch krankte diese Bemühung, der Natur – vor allem der psychischen Natur – zu ihrem Recht zu verhelfen, nicht unerheblich daran, daß ihr rationale Absichten zugrunde lagen, daß sie also selber nur wenig von jener Spontaneität besaß, die ihr erklärtes Ziel war. Die Surrealisten, diese Antichristen und Antibürger aus ekelgeborener Überzeugung, waren fast ausschließlich mit dem Niederreißen lebensfeindlicher Ordnungsbarrieren beschäftigt. Sie waren bemerkenswert lediglich im Negieren, vital bloß im Haß und kreativ einzig in der Anwendung des schwarzen Humors, dieses Erbes von Lewis Carroll, Alfred Jarry und den Dadaisten.
Gerade den Literaten unter den Surrealisten mangelte es an konstruktiven Fähigkeiten. Ihre Phantasie entfesselte wenig Utopisches. Und infolge ihrer geschichtsfeindlichen Einstellung lag ihnen auch nichts daran, bewährte Gefühls- und Denkmuster zu übernehmen und zu modifizieren, wie das mit Erfolg die Spanier taten – in Anknüpfung an orale Überlieferungen sowie an die Leistungen des siglo-de-oro-Poeten Góngora, der, um sich von dem gesellschaftlichen und literarischen Intrigenspiel seiner Epoche unabhängig zu machen, in seinen Soledades ein Exil geschaffen hatte: eine poetische Welt, die, wie sensitives in ihr auch zuging, keinesfalls ein Ort elitärer Absonderung war, sondern das Refugium eines Enttäuschten, der dem einfachen Volk wenigstens in den Bildern eines naturhaften Mythos nahe sein wollte. Góngora, im Gegensatz zu Rimbaud und den Surrealisten, hat die absolute Metapher nicht als Waffe verwendet, er hat sie als eine Art Baustein zur Errichtung einer imaginären Welt benutzt. Und auch seine späten Nachfolger, die Creacionisten Huidobro und Diego sowie die Illusionisten Alberti und Lorca, polemisierten – zumindest bis in die zweite Hälfte der zwanziger Jahre – weniger gegen die Wirklichkeit, als daß sie ihr neue Provinzen von komplementärer Beschaffenheit annektierten. Man denke hier nur an Lorca, der die bürgerlichen Lebens- und Sexualnormen nicht (in der Art der Surrealisten oder auch seines Freundes Pablo Neruda während der Phase von Aufenthalt auf Erden) direkt anprangerte, sondern durch phantasievolle Gegenentwürfe überspielte, einfach dadurch, daß er seine Anima projizierte und die Vision seines Selbst in Kindern, aber auch in Mädchen und Frauen sichtbar machte, in menschlichen Figuren, in denen durchweg das noch Gültige einer ländlich-demokratischen Tradition zum Ausdruck kam, weswegen sie um vieles überzeugender waren als die personalen Schemen Bretons und seiner Freunde.
Der Surrealismus, der an keine intakte Tradition anknüpfen konnte, sondern nur dramatisierendes Postulat war und blieb, besaß wenig Möglichkeiten, schöpferische Phantasieinhalte in die fade und entnervende Wirklichkeit einzublenden. Allein Paul Eluard, der besessene Troubadour, brachte es fertig, den surrealistischen Geist aus dem Umkreis bloßer Programmatik zu lösen und einen Kosmos subtiler Innovationen zu schaffen, in denen der Utopie ein konkreter Platz zugewiesen wurde.
Eluard, im Unterschied zu Breton und auch zu Aragon, war aus gestauter Affektivität schöpferisch. Es gab bei ihm etwas, was Heinrich Eglin (ich folge hier der Darstellung Wolfgang Raibles) als „Kandaules-Komplex“ bezeichnet hat: eine Neigung, sich der Geliebten dadurch als etwas Begehrenswertem zu versichern, daß er seine Liebe öffentlich machte, daß er also einen Exhibitionismus seiner intimsten Empfindungen, ein Zurschaustellen der angebeteten Gefährtin betrieb. Eluards Bekenntnis „Immer bedurfte ich eines einzigen Wesens um zu leben / Und alle andern zu lobpreisen…“ bekommt unter solchen Umständen einen Sinn, der weg von einer bloßen Deutung ins Gesellschaftlich-Offene führt. Die Gesamtheit der Menschen – eine Dimension, die Eluard übrigens erst spät entdeckt hat – war ihm nicht so sehr (oder zumindest nicht ausschließlich, nicht in erster Linie) eine politisch-soziale Größe von vorrangigem Anspruch und verbindlichem Bezugscharakter als ein Spiegel, in dem das Ich eine Identität gewann, die es, solange es sich solipsistisch-surrealistisch verhielt, nicht besitzen konnte. Eluard war kreativ und produktiv aus widersprüchlichen Impulsen, weswegen er auch 1926 in seinem Band Die Dessous eines Lebens oder die Menschenpyramide die bekenntnishaften, freilich nicht beachteten Worte aussprechen konnte:

Die Notwendigkeit zu sprechen und der Wunsch, nicht verstanden zu werden. Mein Leben hing an einem Faden.

Paul Eluard, der sich den Frauen gegenüber (seiner Gala, die er an Dalí verlor, und seiner Nush, die von Picasso verführt wurde!) wie ein moderner Kandaules verhielt, war im Grunde seines Wesens weich, fast mädchenhaft. Sein Zuneigung war von schwesterlicher Zärtlichkeit, und der tiefste und ergiebigste Quell, aus dem seine Dichtung gespeist wurde, war – ähnlich wie bei Apollinaire – ein romantisches Gefühl, das sich erheblich von den spröden Empfindungen Soupaults, Perse’, Bretons und Aragons unterschied:

Im Schatten der Bäume
Wie zur Zeit der Wunder

Inmitten der Männer
Wie die schönste Frau

Ohne Klagen, ohne Scham
Verließ ich die Welt.

– Was haben Sie gesehen?

– Eine junge Frau, groß und schön,
In schwarzem, tief ausgeschnittenem Kleid.

Eluard ist in der neueren französischen Poesie die reinste Verkörperung der Anima, so wie René Char („Auf jeden Zusammenbruch der Beweise antwortet der Dichter mit einer Salve Zukunft.“) mit seinem zupackenden optimistischen Pathos die Inkarnation des Animus darstellt.
Der Surrealismus – jedenfalls soweit Breton, sein eigentlicher Inspirator und wichtigster Theoretiker, Einfluß auf ihn genommen hat – war eigentlich nur eine Leerformel, ein bloßer Rahmen, durch den das Nichts starrte, weswegen sich eine zunehmende Ratlosigkeit einstellte, die sich in Wut umwandelte und als militanter Aktionismus zu artikulieren versuchte, um schließlich – aus empfindlicher Profilneurose – fast alle Vorläufer und Anreger zu diffamieren und die nutzlos gewordene Freiheit an die Kommunistische Partei abzutreten, mit dem Resultat, daß auch dieser Anlauf zu einer Sinngebung scheiterte.
Die Surrealisten, so unterschiedlich sie als Einzelpersönlichkeiten waren, reflektierten als Gruppe im wesentlichen die persönlichen Absichten und die inneren Schwierigkeiten André Bretons, der weniger ein Schöpfer als ein Synthetiker war, weniger ein Künstler als ein (selbsternannter) Volkskommissar für Einbildungskraft und experimentelle Sprachbehandlung. Bretons Verdienst besteht nicht so sehr darin, neuartige Thesen aufgestellt zu haben. Vielmehr faßte er die Erkenntnisse vorangegangener Einzelgänger wie de Sade, Poe, Baudelaire, Rimbaud, Lautréamont, Jarry, Apollinaire und Reverdy zu einer Synopsis zusammen, um sie mit gewissen Postulaten Marinettis, mit Vachés anarchischen Anregungen und Freuds Theorien vom Unbewußten zu kombinieren und zu einem Dogma zu kompilieren, das programmatisch zwar das Nonplusultra menschlicher Freiheit war, das de facto aber den einzelnen Gruppenmitgliedern jeweils nur so viel Spielraum zur Entfaltung ließ, wie der Chefideologe gerade gestattete. Breton, der Valéry ursprünglich sehr zugetan gewesen ist und der zeitlebens ein – überlagertes – Sympathieverhältnis zu dem gefühlskalten Zerebralisten aus Sète aufrechterhielt, besaß seinerseits etwas von der herzlosen wissenschaftlichen Neugier eines Monsieur Teste. Man braucht hier nur an den brutalen Recherchierstil zu denken, mit dem er Nadja, seine psychologisch vorgeschädigte Freundin, in ein surrealistisches Labortier verwandelte. Oder man vergegenwärtige sich, wie er einen anderen labilen Charakter, Robert Desnos, dazu verwandte, Tagtraum-Medium zu sein und durch rigoros hervorgelockte seelische Absonderungen gewisse Zusammenhänge zwischen Hypnose, ja Spiritismus sowie der Methode des automatischen Schreibens darzulegen. Der entscheidende Fehler, der Breton unterlief, bestand darin, daß er annahm, jene Inhalte, die im Trancezustand oder bei der ecriture automatique unmittelbar zutage traten, seien überwiegend seelische Materialien aus den Schichten des Unbewußten. Breton machte sich nur zögernd und unzureichend klar, daß die einzelnen Funde sehr ungleicher Herkunft und Qualität sein mußten. Er hielt das am leichtesten Abrufbare für das Authentischste, und auf diese Weise gab er vieles als tiefenpsychologisches Sediment aus, was in Wahrheit nur Assoziationsspreu war oder aber dialektische Umkehrung, also Produkt des Verstandes und nicht lebendige Beute der Intuition:

In diesem Sommer sind die Rosen blau; der Wald ist aus Glas. (Sentenz aus der Schlußpassage des „Ersten Manifestes des Surrealismus“ von 1924.)

Der Surrealismus war, alles in allem, vielleicht weniger eine autonome Bewegung als eine durch Bretons temperamentvollen Ehrgeiz zusammengebrachte Gruppe von Künstlern, von denen die stärkeren gewiß auch ohne ihn ihren Weg gemacht hätten, während die schwächeren vielleicht weniger Gefährdungen ausgesetzt gewesen wären, zumal Bretons Dogmatismus keinerlei Rücksicht auf die individuellen Bedürfnisse, die spezifischen kathartischen Notwendigkeiten, nahm, sondern diktierte, kritisierte, mit dem Bann belegte.
Breton, der selber das Primat Tzaras nicht hatte ertragen können, weswegen er es zu einer Spaltung der dadaistischen Kräfte kommen ließ, war seinerseits als Anführer der neugegründeten Surrealistenvereinigung sogleich von unerbittlicher Strenge. Er gab der Bewegung, in der, dem Programm nach, das gesellschaftlich Unterdrückte und das psychisch Unbewußte zum Ausdruck kommen sollten, selber den Charakter einer festgefügten sozialen Ordnung mit politisch-normativen Zügen. Breton, statt den Individualitäten zur Emanzipation zu verhelfen, versuchte sie. auf die jeweilige Linie seines subjektiven Denkens zu bringen. Und so führten seine eigene künstlerische Sterilität, seine Unfähigkeit, allein zu Erkenntnissen zu kommen, sowie sein Neid und seine Herrschsucht zu einer nie mehr endenden Kette von Polemiken, Verunglimpfungen, Repliken und Ausschlüssen.
Sogar für nachgiebige Naturen wie Robert Desnos ergab sich mit der Zeit die Notwendigkeit, Breton den Gehorsam aufzukündigen, während eigenwillige Persönlichkeiten wie der von seinen Instinkten geleitete Artaud oder der selbstbewußte Soupault schon früher aus dem Abhängigkeitsverhältnis heraustraten. Bretons unfruchtbarer Despotismus, der sich schließlich in einem – verbalen – Aktionismus Luft machte („Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen“), fand seinen hartnäckigsten und trickreichsten Widersacher in Dalí, der mit ihm lange in glänzendem Florettstil kämpfte, bevor auch er schließlich die Gruppe verließ, um hämisch in seinem Tagebuch zu verkünden:

Breton: Ach so viel Unversöhnlichkeit wegen eines so kleinen Scheiterns.

Dalí, der mit seiner Theorie von der kritischen Paranoia eine dynamischere Interpretationsmethode besaß, als es die Technik des automatischen Diktats und auch das Verfahren der trouvaille waren, weigerte sich in so ziemlich allen Punkten, die vorgegebenen Meinungen zu übernehmen, und wenn man heute, am Ende seiner Laufbahn, dennoch von seinem Versagen sprechen muß, dann nicht, weil er Bretons künstlerischen Imperativen und politischen Launen nicht gefolgt ist, sondern weil er sich schließlich aus Opportunismus zum Clown jener Gesellschaft gemacht hat, die ihn einstmals so tief traumatisierte, daß er sich in Bildern von monströser Gewalttätigkeit Luft machen mußte. Dalí, anders als sein früher Weggenosse Bunũel, ist im Verlauf seiner impulsiven Selbstdarstellung nicht gereift. Er hat sein Schaffen nicht als eine Tat begriffen, die er zwar als einzelner unternahm, dies aber in moralischer Repräsentanz für alle Menschen, die sich in ähnlicher Lage befinden und die nur nicht über adäquate Ausdrucksmöglichkeiten verfügen.
Dalí war Bretons vitalster und profiliertester Kontrahent. Von ihm gingen Anregungen aus, die in so anarchischer Komplexität auch bei dem jungen Aragon nicht zu finden gewesen waren, denn mochte der Verfasser des Pariser Landlebens auch ausgerufen haben „Neue Mythen entstehen auf Schritt und Tritt“, letzten Endes erfüllte sich seine Ankündigung nicht: die moderne Großstadt gab nur noch Anlaß zu einer metaphorischen Verwirrung der Logik, nicht aber mehr zu wirklichen Illuminationen, zu regenerierendem Traum. Aragon, auch er, war ein Intellektualist und Nihilist, der, wollte er nicht den Weg eines Crevel in den Selbstmord gehen, sich einfach zum Marxismus vorantasten mußte, damit er vergessen konnte, was sich ihm am Ende seiner Pariser Phantasmagorie an Erkenntnis aufgedrängt hatte:

Es ist zu spät für Sie, meine Herren, denn die Menschen haben ihre Erdentage beendet. Treibt den Gedanken der Zerstörung der Menschen bis an seine äußerste Grenze, und überschreitet sie.

Das Pariser Landleben Aragons war nur eine Fiktion, kein emotional oder gar faktisch einlösbares Versprechen. Sein Bauer war ein – nicht einmal maskierter – Philosoph: ein durch die Erkenntnisse der Wissenschaften verunsicherter Katholik, dem nicht mehr ein „credo, quia absurdum est“ gelang, der aber aus gewissen Erinnerungsresten, die die geheimnisvollen Kulte und Weihen der Kirche in ihm hinterlassen hatten, eine ständige Beunruhigung erfuhr, welche er in metaphorische Sprache umsetzte.
Aragon, obwohl sinnlicher als Breton, wurde doch an einer wirklich schöpferischen Freisetzung seiner psychischen Inhalte genauso durch diskursives Denken gehindert wie dieser. Der Satz „Ich bin das Spielzeug meiner Sinne und des Zufalls“ blieb letztlich auch nur Absichtserklärung, und aus jenem vakanten Raum, der quasi eine Zone objektloser Religiosität war, erfolgten immer neue Bedrohungen, die mit ästhetischen Mitteln nicht abzuwehren gingen, weswegen sich auch bei Aragon frühzeitig ein Gefühl grenzenlosen Hasses breitmachte, das darauf lauerte, sich jedes beliebigen Objektes zu bemächtigen und das am rachsüchtigsten tobte, als Anatole France gestorben war und die Surrealisten einander an hysterischen Diffamierungen geradezu überboten. Aragon war derjenige, der damals, 1924, alle anderen Stimmen überschrie:

Haben Sie schon einmal eine Leiche geohrfeigt? – In Frankreich löst sich, wie man so sagt, auch das Widerwärtigste noch am Ende in Wohlgefallen auf. Da könnte doch auch der in Rauch aufgehen, der endlich zur größten Freude aller Hinterbliebenen krepiert ist! Nur wenig bleibt von einem Menschen übrig, doch bei diesem, da ärgert man sich schon, wenn man bloß daran denkt, daß er überhaupt gelebt hat. Oft schon hätte ich gewünscht, einen Gummi zu haben, mit dem man die ganze Schmierigkeit der Menschen wegradieren könnte.

Der Tod von Anatole France war nur der Anlaß, eine Verzweiflung zu artikulieren, die, wenn sie eigentlich auch auf exemplarische Weise objektlos war, doch mit ihrer ganzen negativen Gläubigkeit permanent darauf wartete, abgerufen zu werden.
Die Surrealisten als die radikalsten und skandalösesten aller Dadaisten, die es bald nicht mehr fertigbrachten, über die eigene Misere zu lachen und Relativierendes zu sagen wie „Die wahren Dadas sind gegen Dada“, tauschten im Verlauf der dogmatischen Verkrustung nicht nur die Gabe des schwarzen Humors gegen die Fragwürdigkeit der automatischen Schreibweise ein; sie gerieten, wegen ihres angstbestimmten Kausalitätsbedürfnisses, auch in zunehmende Abhängigkeit von jenem begrifflichen Denken, von dem sie sich eigentlich befreien wollten.
Es kam zu einer immer progressiveren Denaturierung, zu einem Paroxysmus der Affekte. Und bald sprang die Revolte auch auf Spanien über, wo sie sich solcher Temperamente bemächtigte, die – wie Alberti, Buñuel und Dalí – ebenfalls Glaubenskrisen durchmachten, was sie dazu disponierte, unbarmherzig die Überlieferung zu attackieren und das Repertoire einer urbanen Kultur gegen jene Werte einzusetzen, die, weil man keinen Zugang mehr zu ihnen fand, auf das grausamste erniedrigt wurden.
So schrieben, wie Buñuel 1965 in einem Interview wissen ließ, er und Dalí in den zwanziger Jahren aus Cadaqués an Juan Ramón Jiménez einen Brief, in dem sie ihn wegen seiner Prosadichtung Platero und ich verspotteten, mit dem Ergebnis, daß Jiménez vor Gram krank wurde und daß seine Freunde sich künftig weigerten, den Gruß der beiden Provokateure zu erwidern. „Wir haben es gelesen“, schrieben Dalí und Buñuel, „Ihr minderwertiges Platero und ich. Es ist der Ausdruck des absoluten Gegenteils von dem, was wir der Poesie schuldig zu sein meinen. Weil wir Tiere lieben, wie sie sind, erscheint uns Ihre Vermenschlichung des Platero als etwas Scheußliches.“ Die bukolische Stimmung, die ländliche Elegie waren etwas, was die jungen Künstler nicht mehr zu tolerieren bereit waren. Deshalb griffen sie den Verfasser der poetisch-sentimentalen Suite ebenso erbarmungslos an, wie Aragon den toten France angegriffen hatte. Und der Eselskadaver aus ihrem gemeinsamen Film Der andalusische Hund war (was immer er sonst noch darstellte) gewiß auch eine Diffamierung jenes Eselchen, das der Dichter aus dem dörflichen Moguer zum Gefährten seiner Neurasthenie gemacht hatte. „Man sieht“, heißt es im Drehbuch von Der andalusische Hund,

nach und nach ein Stück Korkplatte, dann eine Melone, zwei Klosterschüler und schließlich zwei prächtige Konzertflügel. In den Klavieren liegen die Kadaver von Eseln, deren Füße, Schwänze, Rücken und Exkremente über den Rand der Klaviere hinausragen. Als einer der Flügel vor dem Objektiv erscheint, sieht man einen großen Eselskopf auf der Klaviatur. Mit verzweifelter Anstrengung zieht der Mann die Last hinter sich her, während er auf das Mädchen zustrebt. Dabei stößt er Stühle, Tische, eine Stehlampe usw. um. Die Rücken der Esel bleiben überall hängen. Die Lampe an der Decke wird auf diesem Weg durch einen Knochen angestoßen und schwingt bis zum Ende der Szene hin und her.

Hans-Jürgen Heise, aus: Hans-Jürgen Heise: Das Profil unter der Maske, Claassen Verlag, 1974

Traum und Zeit 

– Rumänische Poesie surrealistisch gemustert. –

Wie die ganze mörderische Wucht des stalinistischen Repressionsapparats die zarten Triebe der sogenannten zweiten rumänischen Avantgarde (sie hatten im kurzen Intermezzo zwischen den Diktaturen 1944–47 gerade mal zu spriessen begonnen) in den eisengrauen fünfziger Jahren letzten Endes nicht abtöten konnte, so waren auch in der schwärzesten Ceauşescu-Zeit, als nach aussen hin selbst noch der letzte Schimmer künstlerischen Lebens erstorben schien, auf einer tieferen, sekundären Ebene des Geschehens die Uhren nicht wirklich stehengeblieben.
Die Aufeinanderfolge der literarischen Generationen (ein Zuordnungsbegriff übrigens, der in Osteuropa nicht nur den Rumänen sehr lieb ist), zeigt Elemente der Kontinuität und Diskontinuität wie eh und je. Die jüngste, sogenannte „neunziger“ Generation ( das sind also die Autoren, die in den neunziger Jahren die Szene betreten bzw. die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt haben) knüpft heute anscheinend ganz normal an die vorhergehende „achtziger“ an, obwohl deren öffentliche Präsenz im letzten Ceauşescu-Jahrzehnt in der Tat drastisch eingeschränkt gewesen war.
Zur Zeit ist im übrigen kreuz und quer durch die Generationen eine beachtliche Vielfalt poetologischer Muster virulent – Zeugnis lustvoller Beziehungspflege über alte Hindernisse und Grenzen hinweg. Einige relativ deutliche Konstanten und beschreibbare Akzentverschiebungen lassen sich aber dennoch ausmachen, so dass ins Unübersichtliche der literarischen Bewegung eine Linie hineinkommt, das aktuelle Phänomen ein gewisses literaturhistorisches Profil erlangt. Eine dieser erhellenden Bezugsgrössen ist zweifellos das jeweils spezifische Verhältnis zur Avantgarde. 

Vom Surrealismus…
Die erste avantgardistische „Welle“ nämlich, in den zwanziger Jahren, bedeutete für die rumänische Literatur eine Herausforderung sondergleichen: Da wurde ein entscheidender Schritt in eine andere Zeitrechnung versucht, und zwar gegen die nationale Tradition, gegen deren (späte) Deutung etwa durch Mihai Eminescu, den romantischen Genius im Zeitalter Rimbauds; vom Rand her, von den Opfern und Leidtragenden, den „Geprellten“ der rumänischen Geschichte entfaltete sich ein radikal neuer Tatendrang: „Ich bezichtige Sie und Ihre historischen Umstände (…) der Schuld an allen meinen Mängeln, meinem Mangel an Intelligenz, an Bildung, an geistiger Erlebnisfähigkeit, an Genialität“, zürnte der junge Eugène Ionesco alias Eugen Ionescu in seinem rumänischen Pamphlet-Buch mit dem so knappen wie deutlichen Titel Nu (Nein), das 1934 in Bukarest erschien.
Tristan Tzara, 1916 Mitbegründer des Dada im Zürcher Cabaret Voltaire, kam aus eben dieser frustrierenden Randzone und stiess später zu den Surrealisten um den erfindungsreichen André Breton. Nicht zufällig hat gerade der Surrealismus in der rumänischen literarischen Moderne tiefe Spuren hinterlassen, es gibt wohl keine „Generation“, die nicht zumindest an ihren Rändern surrealistisch infiziert gewesen wäre; sehr oft jedoch sind seine Gestaltungsprinzipien Grundlage des Poesieverständnisses überhaupt. Waltete da laut Eluard doch nichts weniger als die unmittelbare „poetische Evidenz“. Darüber hinaus aber bot er die Chance einer universellen Kommunikation über die engen Grenzen der Nationalsprachen und -literaturen hinweg: die Chance zur Überwindung der Provinz in den champs magnétiques der Poesie.
Welche Impulse der surrealistischen Bewegung von den Späteren im einzelnen jeweils aufgenommen und weiterentwickelt wurden, ist allerdings recht unterschiedlich. Hier nur zwei Stichworte, die scheinbar in entgegengesetzte Richtungen weisen: Traum und Traumlogik auf der einen, Aufbrechen der sprachlichen Klischees und Konventionen um der grösseren Welthaltigkeit und Wahrheitsnähe willen auf der anderen Seite; während das eine auf den geistigen Innenraum zu zielen schien, gab sich das andere mit revolutionärem Gestus auf die gesellschaftliche Aussenwelt gerichtet. Die Geschichte hielt aber nicht selten paradoxe Verkehrungen der Wirkmuster bereit. 

… über die sechziger Jahre…
Das Traumhafte zum Urgrund des Poetischen machen wollte beispielsweise in den rumänischen sechziger Jahren eine Gruppe von Autoren, die sich als Oneiriker bezeichneten. Damit grenzten sie sich von den Surrealisten (sofern diese ihren frühen Grundsätzen aus der „Traumphase“ abgeschworen hatten) fast ebenso entschieden ab wie von den staatstragenden „sozialistisch-realistischen“ Positionen. Letzteres war sicherlich ein wesentlicher Grund dafür, dass der Staat diesen Künstlern gegenüber wenig Verständnis zeigte und manch einen von ihnen mittels seiner damals gerade subtiler werdenden Repressionsmethoden aus dem Land hinausekelte.
Dabei wurden die sechziger Jahre allgemein als ausgesprochen „gute“, für die Literatur günstige Jahre empfunden, man spricht davon heute noch gern als von der Zeit, als die Poesie „wieder in ihre Rechte eingesetzt wurde“ bzw. ihre Autonomie zurückgewann; erstmals wieder seit der kommunistischen Machtergreifung war es möglich, sich ungestraft freizuhalten vom Zwang zu ideologisch-propagandistischen Dienstleistungen (also statt der Lobgesänge auf die Partei beispielsweise reine Naturlyrik zu schreiben). Doch galt dies nicht ganz uneingeschränkt und, wie bereits angedeutet, auch nicht für alle gleichermassen. Immerhin: poesia rediviva – und zwar von Staates Gnaden und mit Hilfe einer ungestüm literaturhungrigen und -begabten Nachwuchsriege, der „sechziger“ Generation, die es sich nur zu gern gefallen liess, dass man ihr die ideologische Zwangsjacke ersparte.
Die echten Verweigerer sind anderswo zu suchen als in dieser vom historischen Zufall begünstigten Autorengruppe; die Oneiriker etwa gehörten dazu, und von den Surrealisten namentlich Gellu Naum, wohingegen einige seiner früheren Weggefährten sich schamlos prostituierten. (Die Künstler der Avantgarde in Rumänien hatten ebenso wie in anderen Ländern die verwirrende Situation zu bewältigen, dass die kommunistische Machtübernahme einerseits in gewisser Hinsicht zwar wie der „Ernstfall“ ihrer eigenen Revolutionsphantasien aussah, andererseits ihren Interessen keineswegs entgegenkam; unter dem Druck der Verhältnisse entschieden sich manche von ihnen gegen ihr Gewissen bzw. ordneten ihre subjektiven Vorstellungen dem Gefolgschaftsgeist unter und boten sich als „Aufbauhelfer“ an.) 

… zur rumänischen Postmoderne
Bemerkenswert strukturierte sich das literarische Leben später, als die neue Macht viele Autoren korrumpiert und überdies die Gesellschaft mit bezahlten Zuträgern durchsetzt hatte, immer noch sehr stark nach einem Ehrenkodex, der den literarischen Rang und das moralische Profil eines Autors aneinander koppelte: Die Achtung der Literatengemeinschaft hing weniger vom Kunstcharakter seiner Werke als davon ab, ob er sich durch seine Schriftstellerexistenz von der Staatsmacht Schikanen oder aber Vorteile einhandelte. Je mehr Schikanen, desto mehr Respekt, lautete eine grobe Faustregel, die in bestimmten vertrackten Fällen natürlich so direkt nicht griff. Jedenfalls wurde die Herausbildung nicht nur der offiziellen, sondern auch der inoffiziellen Hierarchie der Wertschätzung von der Zensur gesteuert, ebenso wie gewisse gruppendynamische Vorgänge: Wer sich mit wem an einen Tisch setzte und wer mit wem nicht, auch das hatten die hochkarätigen Manipulatoren meist durchaus in der Hand.
Ebenso wichtig wie die konkreten Verhältnisse innerhalb der aktuellen Szene war der Stand der literarischen Information. Die „Liberalisierung“ in den sechziger Jahren hatte den Horizont tatsächlich geöffnet, Bücher und Literaturzeitschriften (auch aus dem „kapitalistischen Ausland“) zu importieren war in der Regel kein Problem mehr, auch wurde enorm viel internationale Literatur übersetzt und aus den Archiven der eigenen Literaturgeschichte immer wieder mal ein neuer bedeutender Name rehabilitiert und reaktualisiert, nachdem der Klassenkampf ihn zuvor hatte verschwinden lassen.
Wenn das sechste Jahrzehnt im Rückblick insgesamt als eine recht hoffnungsfrohe Zeit erscheint, von deren Substanz auch die frühen Siebziger noch zehrten, so bietet die darauffolgende Periode bis zum Untergang des Regimes ein düsteres Kontrastbild dazu; zunehmende Isolation nach aussen hin, diktatorische Verhärtung nach innen und (auch kulturelle) Verelendung bestimmten dieses Bild. Sehr schnell nahm der Alltag deutlich surreale, ja alptraumhafte Züge an. Darauf reagierte die Poesie zwar unterschiedlich, einer der wichtigsten Reflexe der allgemeinen Entwicklung dürfte aber darin zu erkennen sein, dass die „achtziger“ Generation sich programmatisch der unmittelbaren Wirklichkeit zuwandte, also gleichsam herunterstieg vom hohen Ross der modern gestylten „Literarizität“; wenn die Gedichtform aufgebrochen wurde, um sie dem Zufälligen und Banalen des Lebensstroms zugänglich zu machen, wenn damit auch die Alltagssprache ästhetisches Gewicht erlangte, ging es dabei sichtlich um mehr als um rein technische Neuerungen: ein wahrer Paradigmenwechsel stand an, heute spricht man locker und selbstbewusst von der rumänischen Postmoderne. 

Kaleidoskop von Persönlichkeiten
Zwischendrin jedoch, in stiller Gleichzeitigkeit und unterschwelliger Korrespondenz, wirken die alten Muster fort, die sensible Rezeption der unterschiedlichen poetologischen Experimente befördert die Sache der Poesie. Je grösser die aktuelle Autorität eines bestimmten Gestaltungsprinzips, um so dringender macht sich in der Regel das Bedürfnis nach der eigenen persönlichen Alternative dazu bemerkbar, gerade bei den ernstzunehmenden Autoren.
Am erratischen Block eines Werkes, wie Gellu Naum es in Jahrzehnten geschaffen hat, entzündet sich immer wieder die kreative Phantasie der Jungen, auch Mircea Ivănescu ist ein hochgeschätzter Lehrmeister ohne Schule, weil er sich selbst über die Jahre treu geblieben ist und die „poetische Evidenz“ stets zu intensiver Geltung brachte. Die Lyrik, die Nora Iuga und ihr Mann George Almosnino schreiben, machte sie in den Jahren der realistischen Dominanz zu Geheimtips für literarische Goldgräber, sie hatten wenig publiziert und sich auch sonst nie in den Vordergrund gedrängt – für Aufsehen sorgte auch in diesem Falle vor allem die Zensur, als sie Nora Iugas „Küchentagebuch“ in absurd rüder Weise zerpflückte.
Virgil Mazilescu und Marius Robescu, die beide relativ jung gestorben sind, waren eigenständige Lyriker, irgendwie zwischen den Generationen ( die „siebziger“ Generation, zu der sie ihrer Biographie nach zusammen mit Grete Tartler gehörten, war weniger in sich geschlossen als jene davor und danach), ohne einen speziellen Bezug auch zum Surrealismus, daher zeigen gerade ihre Texte recht gut, wie selbstverständlich das surrealistische Erbe in der rumänischen Lyrik fortgewirkt hat. Mazilescu folgte beim Schreiben dem Diktat einer mysteriösen „inneren Stimme“, einem Es, das für ihn dichtete, Robescu wiederum legte grössten Wert darauf, das Denken in der Literatur nicht zu kurz kommen zu lassen. Auch Grete Tartler widerlegt durch ihre Gedichte das in Rumänien gern kolportierte Diktum, echtes Künstlertum werde durch Intelligenz und Wissen verdorben. Sie hat die Tradition der Moderne gründlich assimiliert, und ausserdem noch Exkursionen in die arabisch-orientalische Kulturwelt unternommen.
Dass die nachdrängenden Autoren in den späten siebziger und in den achtziger Jahren ihre Poetik möglichst unmittelbar auf die Alltagsrealität statt auf eine andere Poetik zu beziehen trachteten, lässt sich als typische Reaktion eben auf die Bildungsbefangenheit des literarischen Establishments (nicht zu verwechseln mit den „Staatsdichtern“) beschreiben, wie es sich aus allen vorhergehenden Generationen rekrutiert hatte; doch ist die starke „achtziger“ Generation allein durch ihre Vorliebe für die rauhen Lebenstatsachen, für die trivialen Scheusslichkeiten der Welt nicht zureichend charakterisiert. Ihr mittlerweile wohl bekanntester Autor, Mircea Cărtărescu, den die Arbeit mit mikroskopisch genauen Realitätsausschnitten, die er wie Zitate einsetzte, sehr wohl erkennen liess, wie gefährlich die endlos relativierende Brechung und Spiegelung des einen im andern für die Substanz der Poesie sein kann, nutzte dennoch über Jahre hinweg meisterlich souverän das postmoderne Spiel mit der Intertextualität, um der Trostlosigkeit der gespiegelten Welt zu entgehen. Es entspricht sicherlich der Dialektik der literarischen Bewegung, dass Cărtărescu nach dem Wegfall des Drucks, der die Kunst als einzige Alternative zum nichtlebbaren Leben erscheinen liess, den Glamour hochkarätiger Literarizität im Gedicht nicht mehr erträgt und sich auf die Suche nach neuen adäquaten Ausdrucksmöglichkeiten begeben hat, zunächst, indem er sich der Prosa zuwandte.
Vielleicht führt der Weg der rumänischen Poesie gegenwärtig in Richtung analytischer Sachlichkeit, wie etwa „Traumzeit“ eines anderen „Achtzigers“, Călin Vlasie, suggeriert.

Gerhardt Csejka, drehpunkt, Heft 89, August 1994

 

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