Manfred Jähnichen (Hrsg.): Das Lied öffnet die Berge

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Manfred Jähnichen (Hrsg.): Das Lied öffnet die Berge

Jähnichen (Hrsg.)-Das Lied öffnet die Berge

GEDICHT ZU MEINEM 27. GEBURTSTAG

Ich brauche keine Worte mehr, ich brauche Zeit;
Zeit ist es, daß die Sonne sagt, wie spät es ist,
Zeit ist es, daß der Mund verstummt und eine Blume
aaaaaschreit;
Kann denn klar dichten, wer schlecht lebt und trist!

Ich glaubte an Gewitter und an Traum,
War in zwei Mädchen verliebt in einer Nacht,
Indes der Süd- und Nordwind in dem gleichen Baum
Herangereift und mit den Zähnen kracht.

Träumend verschlief ich alle Feiertage!
Und Donner sang gezähmt im Fensterglas.
Sagte ich nicht, daß man das Feuer an die rechte Stelle trage,
doch der Kuß hat in der Hölle seinen Platz.

Auch das Brot wird geschult unter der Erde;
Ich wollte, daß man mich für das Böse schlagen ließ;
Und doch, um der Geschichte Gnade willen werde
Ich kotzend kommen einst ins Paradies.

Als meine Freunde gab ich Schurken aus,
Verliebt in alles Schädliche und in Poeten.
Bis meine Knie von Sternen wundgezaust,
Werd ich zu frommen Wassern beten.

Branko Miljković
Übersetzung Reinhard Lauer

 

 

 

Vorbemerkung des Herausgebers

Dieses Buch will zum Dialog zwischen Deutschen und Serben beitragen. Nach Jahren des Mißtrauens und politischer Vorurteile will es zum gegenseitigen Verstehen Brücken bauen. Die serbische Poesie, die in der Zusammenschau des 20. Jahrhunderts an charakteristischen Beispielen präsentiert wird, ist dafür besonders geeignet: sie ist in ihrem Wesen humanistisch, völkerverbindend.
Daß dieses Buch Realität wurde, danke ich vielen. Zunächst und vor allem den Nachdichtern mit ihrem Talent und Engagement. Aber auch Prof. Dr. Nikola Strajnić, Novi Sad, der mir bei der Auswahl der Texte half und die Medaillons verfaßte, Herrn PD Dr. Holger Siegel, Bonn, mit dem ich oft die Texte diskutierte und der die Kurzbiographien übersetzte und redigierte, und besonders Frau Sabine Lefèvre, Berlin, die mir mit ihrer schon sprichwörtlichen Geduld die Texte mehrmals geschrieben und verbessert hat. Und dann danke ich auch Herrn Vladan Subić, der einen großen Teil der notwendigen Interlinearübersetzungen übernommen hat.
Dem Gollenstein Verlag Blieskastel mit Herrn Alfred Diwersy und Frau Brigitte Gode danke ich für die erneute verlegerische Bereitschaft, auch dieses Buch in ihr Programm aufzunehmen, dieses Mal in der Kooperation mit dem Svetovi Verlag in Novi Sad. Und schließlich danke ich Herrn Dr. Miloje Milićević und Herrn Klaus E. Zetzsche, die dieses Projekt finanziell gefördert haben. Es ist so ein echtes Gemeinschaftswerk von Deutschen und Serben geworden und wird hoffentlich das bewirken, was es will: ein Baustein zu sein beim Zusammenwachsen Europas einem friedlichen Jahrhundert.

Manfred Jähnichen, Juli 2003, Vorwort

Vorwort

„Das Lied öffnet die Berge“ ist eine der Metaphern in diesem Band, die für die serbische Dichtkunst des 20. Jahrhunderts als Synonym gelten kann. Niedergeschrieben hat sie in der Anlehnung an die Antike der in den Kulturen und Zivilisationen der Welt bewanderte große serbische Dichter Miodrag Pavlović (Jahrgang 1928) in seinem Gedicht „Entlang des Rheinufers“, das er 1971 veröffentlicht hat.
Dieser geographische Bezug ist für die vorliegende Anthologie, die vornehmlich interessierten deutschen oder auch deutschsprachigen Lesern zugedacht ist, ein Grund mehr, gerade diesen Vers – wenn auch in einer anderen grammatikalischen Form als im Original – zum Titel zu wählen: er unterstreicht den Anspruch und den Rang, den die Poesie auch im 20. Jahrhundert in der serbischen Kultur hat und weist zugleich auf jene die eigenen Grenzen übergreifende universelle Haltung hin, die viele der in dieser Anthologie vorgestellten serbischen Dichter des 20. Jahrhunderts auszeichnet. Insofern steht er für jene doppelte Zeugnisschaft, die die serbische Dichtkunst des 20. Jahrhunderts bekundet: für die nationale Kultur und ihre Werte ebenso wie für die Existenz des Menschen überhaupt und seine Würde und in diesem gewalttätigen Jahrhundert besonders.
Von den formvollendeten Gedichten der Moderne zu Beginn des Jahrhunderts bis zu den engagierten oder ironisch-distanzierten Texten der 90er Jahre und damit einer politisch zugespitzten Zeit ist das als eine erregende Geschichte in der Anthologie verfolgbar. Die 82 Dichter, die aus dem großen Reservoir der serbischen Poesie des 20. Jahrhunderts ausgewählt wurden, verdeutlichen dies mit ihren 260 Texten in der Entwicklungsperipetie von der Moderne bis zur Postmoderne, die wie die meisten europäischen Literaturen auch die serbische im 20. Jahrhundert kennzeichnet.
In den drei großen Epochen, in denen wir die serbische Literaturentwicklung des 20. Jahrhunderts gewöhnt sind zu präsentieren – in den knappen zwei Jahrzehnten zu Beginn des Jahrhunderts mit der Agonie des I. Weltkrieges, in der widerspruchsvollen Zwischenkriegszeit im königlichen Jugoslawien und dann in den Jahren des II. Weltkrieges mit der anschließenden langen Zeit des Tito-Jugoslawien  als weltpolitisch bedeutendem Faktor in der Bewegung der nichtpaktgebundenen Staaten und seinem blutigen Auseinanderfallen in den 90er Jahren – waren es immer wieder gerade Dichter, die die kulturpolitischen Zäsuren markierten: Jovan Dučić und Milan Rakić in der Moderne, die Expressionisten „Sumatristen“ Miloš Crnjanski oder Stanislav Vinaver zu Beginn der 20er Jahre und dann später, seit Mitte der 20er Jahre die Surrealisten Milan Dedinac oder Aleksandar Vučo und hinüberwirkend und entscheidend auch für den Aufbruch Anfang der 50er Jahre Dušan Matić, Marko Ristić oder Oskar Davičo. Diese wiederum bewirkten gemeinsam mit den damals jungen Dichtern Miodrag Pavlović, Vasko Popa oder Stevan Raičković in den frühen 50er Jahren den entscheidenden Neubeginn für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Gleichklang zum Entwicklungsrhythmus Europas und manchmal auch – wie im Zenitismus, der Balkanverklärung und der Konzeption einer Gesundung Europas durch „das barbarische Genie des Balkans“ in den 20er Jahren, im bewußten Widerspruch dazu – schufen sie eine Dichtung des nationalen und universellen Bewußtseins, die zweifelsohne zu den bemerkenswerten europäischen kulturellen Leistungen gehört.
Der selbstverständliche Bezug zur eigenen Geschichte und Kultur, deren verheißungsvolle Entwicklung in einem starken mittelalterlichen Staat in der Ausrichtung auf das orthodoxe Byzanz durch die jahrhundertelange osmanische Unterdrückung gewaltsam verhindert wurde und erst – um mit Leopold von Ranke zu sprechen – seit der „serbischen Revolution“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder politische Realität wurde, werden dabei ebenso impulsgebend wie die vielschichtigen Beziehungen zu den anderen europäischen Kulturen: zur französischen, deutschen oder russischen vornehmlich, aber auch zu der der Nachbarvölker resp. der Völker, die die längste Zeit des 20. Jahrhunderts mit den Serben im gemeinsamen Staat lebten. Ersteres half bei aller Kritik gegenüber den Erscheinungsformen des öffentlichen Lebens und der politischen Realität jenes gesunde, ja robuste Selbstbewußtsein auszuprägen, das diese Dichtkunst kennzeichnet, das zweite trug dazu bei, die Distanz zu finden, jene universelle Sicht, die kritische Positionen und den notwendigen Fortschritt beschleunigt. Die Utopien und Hoffnungen auf eine Besserung des Zustandes der Welt, sich auswirkend auf das eigene Siedlungsgebiet wie Veränderungen Europas oder übergreifend auf die Kontinente, werden damit nicht eingegrenzt, im Gegenteil; sie bleiben vor allem in den Etappen des Neubeginns entscheidend – ob im Symbolismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder im avantgardistischen Aufbruch nach dem I. Weltkrieg, vor allem aber nach den opferreichen Kämpfen im II. Weltkrieg sowie dem Bruch Titos mit Stalin und dem dogmatischen Sozialismus. Das alles stärkte die Hoffnung auf eine endlich gerechte Weltordnung, die auch den sozial Benachteiligten, den Armen und Hungernden ihren legitimen Anspruch auf ein glückliches Leben ermöglichen sollte.
An solchen Schnittpunkten der nationalen Geschichte, aber auch in den Jahrzehnten danach mit den häufigen wechselvollen politischen und kulturellen Veränderungen ist so der Dichter zumeist Kritiker und Utopist zugleich. Er artikuliert die neuartigen Entwicklungen oft im zeitlichen Vorgriff und gestaltet gleichermaßen die ewigen Themen der Poesie, die Liebe vor allem, aber auch Geburt und Tod, Sterben und Trauer, Sehnsucht und Verzweiflung, die Ängste und die Einsamkeit.
Das geschieht selbstredend nach den ästhetischen Prinzipien, die in den jeweiligen Stilformationen dominieren und nach dem Gestaltungswillen des einzelnen Dichters, wobei eine sprachlich anspruchsvolle Form für die meisten in dieser Anthologie präsentierten Texte charakteristisch ist. Dies aber erfordert auch ein hohes Maß an Kreativität und Disziplin zugleich bei der Wiedergabe der Gedichte eben als Sprachkunstwerke und nicht als bloße kommunikative Texte. Die Nachdichter, in der Mehrzahl selbst Dichter oder anderweits ausgewiesene Meister der Feder, waren durchweg darum bemüht; die Übertragungen sind so in der Regel Nachdichtungen, die im Goetheschen Sinne die poetische Qualität des Originals in gemäßer Weise in deutscher Sprache ebenbürtig wiedergeben wollen.
Das gilt paradigmatisch schon für die Poesie der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die vornehmlich im Zeichen der Schönheit und Harmonie der künstlerischen Gestaltung stand. Wie in anderen europäischen Kulturen wurde auch im serbischen Kontext die Dichtkunst die eigentliche Gattung dieser Stilformation; in ihr vor allem wird der Paradigmenwechsel von der realistischen Stilkunst und ihren parnassistischen Stimmungsbildern zu Bildern von symbolhafter Dichte deutlich, in der das menschliche Dasein zwischen Geburt und Sterben, Liebe und Tod mit oft weher Resignation gestaltet ist.
Die reiche Tradition der serbischen Poesie des 19. Jahrhunderts, die sich – wie bei vielen Völkern Europas – auf der Romantik und ihrem Stilwillen nach dem Vorbild der Volkspoesie begründet und das 19. Jahrhundert dominiert, wird damit nach dem kurzen Intermezzo des Parnassismus von der weit umfassenderen Zäsur der Moderne unterbrochen. Allerdings demonstriert Laza Kostić (1841–1910), der letzte große Barde der serbischen Romantik mit seinem Gedicht „Santa Maria della Salute“, das er ein Jahr vor seinem Tod gleichsam als Vermächtnis veröffentlichte, daß es eine tiefere typologische Nähe zwischen Romantik und Symbolik gibt: in der Betonung der schöpferischen Intuition und der Gestaltung des geheimnisvollen Schönen in der Macht und Übermacht einer zumeist tragischen Liebe, aber auch im Begreifen der allgegenwärtigen Präsenz des Todes und einer verklärenden Mystifizierung in der Wiederbegegnung im Jenseits. In mächtigen Metaphern und kühnen Bildern und einer Sprache voller Pathos und Wohlklang ist das gestaltet.
Das Gedicht „Santa Maria della Salute“ ist so das Angebinde des 19. an das 20. Jahrhundert und an die Moderne, die zu Beginn des Jahrhunderts, 1901, mit Jovan Dučić’ „Gedichten“ energisch eingeleitet wurde und bis in die Jahre des I. Weltkrieges dauerte, mit beachtlicher Wirkung bis in unsere Gegenwart. Hier ist Lyrik in vollendeter Eleganz gestaltet und dokumentiert so das Ideal jener erhabenen Schönheit. Jovan Dučić (1872–1943) aus dem herzegowinischen Trebinje, der während seines Studiums in Genf auch die französische Kultur schätzen gelernt hatte, prägte in ihrem Inspirationsfeld sein außergewöhnliches poetisches Talent aus. Mit seinen klangvollen Versen, die er in poetischen Zyklen bis zu seinem Tod 1943 im amerikanischen Exil schrieb, verkörperte er die Prinzipien der Moderne gleichsam in reiner Form. Seine Weisen von Liebe, Gott und dem Tod sind in einer ähnlich magischen Sprache geschrieben wie es bei uns in der deutschen Kultur Rilke vermochte, weihevoll, bekenntnishaft, scheinbar Unsagbares imstande zu sagen. Angesichts der Vergänglichkeit allen Seins beschwören sie die idealisierte Schönheit des Lebens umso eindringlicher:

Du, mein Augen-Blick, du meines Wortes Glänzen
im Geraun, mein Irr’n du,
die den Schritt bemisst
: Wahrheit bist du nur in deiner Sehnsucht Grenzen,
Schönheit nur, soweit du auch Geheimnis bist

dichtete Dučić im „Gesang an die Frau“ und wusste:

Wir schaffen selber alles, was wir lieben.

Der Belgrader Milan Rakić (1876–1938) ist ihm ähnlich in der Symbolkraft der Bilder und der Magie des Wortes. Wie Dučić tauch er im Kraftfeld der französischen Kultur gereift, die er während seines Jura-Studiums in Paris kennengelernt hat. Auch seine Gedichte sind monologische Stimmungsbilder, doch erfüllt von gebändigter Leidenschaft und scheuer Melancholie – Gleichnisse des menschlichen Fühlens und Handelns in der Geschichte des serbischen Volkes und seiner Gegenwart gleichermaßen. Jefimija, das Gedicht über die Zarenwitwe, die ihr Leid in das Leichentuch stickt und so ihre Demut vor dem unbegreifbaren Willen Gottes bekundet, scheint mir dafür charakteristisch:

Die Völker vergehen und Reiche zerfallen
und sterben in unermesslichem Leide,
sie, ewig allein, stickt golden auf Seide
der vornehmen Seele unsagbare Qualen.

Dučić und Rakić prägen den Stilwillen der Moderne in ihrer gleichsam klassischen Form aus: als eine monologische Lyrik, die von jener gesteigerten poetischen Sensibilität bestimmt wird, die die Dichtung Europas zu Beginn des Jahrhunderts prägte. Sie tragen entscheidend dazu bei, daß nun auch die serbische Dichtkunst im übereinstimmenden Entwicklungstempo zu Europa steht.
Die Zeit, in der das geschieht, ist freilich wenig geeignet, ein solches Ideal der Harmonie und Schönheit zu befördern; dazu ist sie zu widersprüchlich, zu gärend, drängen die sozialen und politischen Fragen nach Lösung. Die Armut und der Hunger in vielen südslawischen Regionen zwingen zur Auswanderung nach Übersee, die politische Zukunft der südslawischen Völker ist ungewiß, umstritten. In den blutigen Balkankriegen von 1912 und 1913 wie danach im I. Weltkrieg, der gerade auch die serbischen Siedlungsgebiete heimsuchte, entluden sich die Spannungen und Interessenkonflikte mit verheerender Härte. Die Dichter jener Zeit werden vehement auf diese Realität gestoßen, die dem Kunstideal der Harmonie so wenig entsprach. Ihre Gedichte weisen dies aus; deren Aussage ist zumeist düster, ernst, tragisch.
Einer der Dichter, der diese sozialen und nationalen Fragen in seinem Werk eindrucksvoll gestaltete, ist Aleksa Šantić (1868–1924), der angesehene Heine-Übersetzer aus dem herzegowinischen Mostar; auf dem Berliner Frieden 1878 war die Herzegowina wie Bosnien der Habsburg-Monarchie zugesprochen worden und gehörte ihr bis 1918 an. Es sind solche Gedichte wie „Abend am Školj“, die die bittere Not des Volkes in der eher traditionellen Weise der Volksdichtung wiedergeben:

… Die Glocke schluchzt
voll Schmerz,
den Fels ein Klang durchweht,
im Seufzen langer Trauer
steht
des armen Volks Gebet.
Skelette knien
aschgrau
vor Gottes Angesicht…

Eine Reihe von bemerkenswerten Dichtern versuchte diese harte Realität im modernen Stilwillen zu gestalten; die Tragik für die serbische Kultur ist, daß gerade einige der begabtesten Dichter jung sterben oder während des I. Weltkrieges ihr Leben verloren: Vladislav Petković-Dis, 1917 37jährig, als ein deutsches U-Boot das italienische Schiff versenkte, das ihn aus Frankreich zurückbringen sollte; Velimir Rajić als 36jähriger 1915 an den Folgen seiner heimtückischen Krankheit; Milutin Bojic 1917 25jährig als Kriegsflüchtling im griechischen Saloniki.
Vladislav Petković-Dis (1880–1917) findet für den schreienden Widerspruch zwischen einer idealisierten Welt und der Realität die schärfsten Worte. Er spricht vom „Modergeruch der Verkommenheit“, der sich in der Welt ausbreitet, in der „die Büttel zu Magnaten avancieren“ und „Würden und Ehren“ verteilen. Seine Verse sind Aufschreie gegen diese Ungerechtigkeit, diszipliniert zwar in ihrer dichterischen Form, aber voller innerer Empörung. In seiner Zeit – 1911 als die Gedichte seiner Sammlung Ertrunkene Seelen erschienen – wurden sie allerdings selbst von einem solchen Kenner der serbischen Kultur wie dem einflußreichen Literaturprofessor Jovan Skerlić als „Pseudomodernismus“ abgetan. Die Nachgeborenen indessen haben ihre Sprengkraft begriffen: als Vorwegnahme jenes „Inferno“, in das die Kriege mit ihren Grausamkeiten die Menschen stürzen sollte, als die „bedrohende Finsternis“, die – wie Petković-Dis schrieb – „unsere Tage niederdrückt.“
Velimir Rajić’ (1879–1915) Gedichte von 1908 sind verwandte poetische Signale gegen die Ungerechtigkeit des Lebens; nur sind sie aus dem Gefühl der Ohnmacht geschrieben, in das ihn seine schwere Krankheit, eine unheilbare Epilepsie, einschnürte. Er weiß, „bald schon wird der Tod am Gefängnis meines Lebens“ klopfen und „die Eisenketten… wird er lösen und die Seele retten vor der ewigen Gefangenschaft.“ Das sind Verse der Verzweiflung angesichts des schweren Schicksals, das er zu tragen hatte.
Milutin Bojić (1892–1917) artikuliert in seinen frühen Versen die jugendliche Unruhe, die ihn erfaßt hat, um so entschiedener die Schönheit des Lebens dagegenzustellen:

Höre, die Wonne ist in dir, die Blume duftet durch dich…

Später, in den blutigen Kriegsjahren, werden seine Gedichte zu patriotischen Bekenntnissen, die die heroischen Kämpfe der Serben gegen die österreichische und deutsche Übermacht begleiten; vor allem sein Gedicht „Das blaue Grab“ wird zu einer hymnischen Panychide auf die Toten des Krieges, hier die Matrosen:

… und dieses Grab im Meer, wo unbestattet mahnt
ein Epos voller Pein…, die Wiege wird es sein,
die künftige Zeiten ahnt.

Wie seine gleichaltrigen deutschen expressionistischen Dichter beschwört Bojić den Blutzoll als Tribut für eine bessere Zukunft. Es ist das jene Hoffnung, die gerade auch die Serben und Kroaten, Slowenen und Montenegriner in den 1918 neugeschaffenen gemeinsamen Staat einbrachten, die aber in solcher Einmütigkeit nur von kurzer Dauer sein sollte.
Für die Jungen, die nach 1918 in die serbische Literatur und Öffentlichkeit eintraten und damit dem neuen Staat des „Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen“ angehörten, der mit der monarchistischen Diktatur 1929 zum „Königreich Jugoslawien“ umbenannt wurde, sind die Grauen des Krieges auf den Schlachtfeldern von Galizien und Serbien und Albanien die erschütternden Traumata ihrer Reifejahre. Wie viele Gleichaltrige in anderen europäischen Staaten, die im Krieg durch ähnliche Schrecken gehen mußten, versuchten sie das Erlebte niederzuschreiben: als Aufschrei oder Protest, als Desillusion oder Verzweiflung, vor allem aber als Appell an die Nachgeborenen, den Wert des Lebens zu schätzen. Milos Crnjanski (1893–1977), einer der Wortführer dieser Jungen und einer der großen Meister der serbischen Sprache, spricht in seiner aufschlußreichen „Erläuterung zu Sumatra“, 1920, von „der Masse derer, die inmitten der Leichen unter Giftgasen beinahe „hypermoderne“ Sensationen hatten.“ Dušan Vasiljevs (1900–1924) Gedicht (1920) „Ein Mensch singt nach dem Kriege“, eine Art Kultgesang seiner Generation, beschreibt das Ausgebranntsein dieser jungen Menschen: „Gestapft bin ich bis zu den Knien in Blut / und habe keine Tränen mehr“, um am Ende fast flehend zu bitten:

Ach gebt mir nur ein wenig Licht und etwas hellen Morgentau.

Eine solche Position des unmittelbar Betroffenseins und damit das direkte Engagement für eine Veränderung der Welt war mit den künstlerischen Paradigmen der Moderne schwer darstellbar. Wie in anderen Kulturen, etwa bei den deutschen Expressionisten von Franz Werfel bis Johannes R. Becher oder Ernst Toller, wurde der künstlerische Umbruch zur Avantgarde auch bei den jungen serbischen Dichtern entscheidend. Crnjanski charakterisiert ihn so:

Wir haben mit der Tradition gebrochen, und wir werfen uns kopfüber in die Zukunft.

Das aber hieß: in der Hektik jener Aufbruchphase, die im Zeichen der Bewegung und der Dynamik stand, eine neue Kunst und Lebensform zu ergründen und zu verkünden. In seinem „Manifest“ 1920 hat Stanislav Vinaver (1891–1955) den Expressionismus als jene befreiende Tat gepriesen, die „revolutionär ist und die Energie… auf die Schönheit des Seins“ richtet: „Die neue Welt muß sich bewegen, muß sich verändern, muß leben, werden und dauern…“, verkündet er hier und führt an, daß Crnjanski dafür den Begriff des „Sumatrismus“ verwende – so benannt nach seinem Gedicht „Sumatra“, das als Chiffre für jene poetische Vision steht, die eine Welt der Kreativität und der schöpferischen Unruhe in ihrer universellen Einheit will. Die dominierende serbische Ausprägung für den Expressionismus ist damit bezeichnet, die im wichtigen „Sumatra“-Gedicht von Crnjanski so klingt:

Jetzt sind wir sorglos, leicht, voll Zärtlichkeit
und denken, wie still, wie tief verschneit
die Gipfel des Urals doch sind

Erwachend nachts lächeln wir liebevoll
zum Mond hinauf, der seinen Bogen spannt,
und so liebkosen wir der fernen Berge
eisige Gipfel zärtlich mit der Hand.

Im großen „Straž ilovo“-Poem, das Crnjanski 1921 im toskanischen Fiesole voller Sehnsucht nach der Heimat und im Erinnern an die ferne Liebe schrieb, hat er in solcher lyrischen Expressivität und betörenden Musikalität ein Meisterwerk der serbischen Sprache geschaffen. Da spannt der jugendliche Held seinen Silberbogen, um „das neue Meer des Morgens“ zu erstreiten, für sich, aber auch für alle anderen, die nach den Grauen des Krieges die Angst vor dem Vergehen in sich tragen und desto intensiver die Schönheiten des Lebens erfahren wollen: „Jung noch irr ich umher und lock aus dem Hinterhalt / mit silbernem Bogen der blühenden Kirschbäume Gaben, / doch hinter den Bergen ahn ich die Heimat bald, / dort unter den Pappeln / werd ich das Lachen begraben“, variiert er die Ambivalenz der Gefühle. Solche Poesie des spontanen bekennenden Ausdrucks ist gemeint, wenn Crnjanski herausfordernd verkündet:

Wir haben die Sprache von den banalen Fesseln befreit und hören sie, wie sie uns selbst ihre Geheimnisse entdeckt.

Für die junge serbische Poesie im Zeichen der Avantgarde sind das Kernsätze, die ihre sprachliche und poetologische Spannweite umschreiben. Stanislav Vinaver, der Vorkämpfer des Expressionismus, schreibt so neben seinen wortreichen Visionen fragile hauchzarte Verse, die die Natur in ihrer Stimmungsfülle einzufangen versuchen:

Mit des Liedes Klagesingen
die Betörte wie im Bild,
ahnt sie der Äonen Schwingen
wunderbar von Glanz umhüllt.

Bergwärts winken Feuersäume
von der Sonne Abendmahl
Auferstehung goldner Träume,
Uhr erglänzt im Wüstenstrahl.

Aus einem solchen Stilwillen des Neubeginns und Aufbruchs erwächst eine Reihe der Œuvres jener 20er Jahre; zu den originellsten und in der Wirkung auf die serbische Kultur weitreichendsten, seitdem sie seit den 60er Jahren ihre verdiente Anerkennung finden, gehören zweifelsohne die von Momčilo Nastasijević (1894–1938) und von Rastko Petrović (1898–1949), die kaum unterschiedlicher sein können.
Momčilo Nastasijević ist, wie Vinaver formulierte, „ein Heiliger der serbischen Sprache“; präzise und konzentriert gestaltet er sie. Jedes Wort ist auf seine semantische Dichte geprüft und jede Metapher auf ihre bildhafte Intensität – und doch bleibt seine Dichtung geheimnisvoll, auf das Mysterium des Seins fixiert. Er will den Menschen in seinem gegebenen Lebensraum und seiner allgemeinen Existenz zugleich einfangen, die von den Bedingungen der Natur und der Tradition eingegrenzt werden. Seine Poesie ist so archaisch und modern zugleich, eine Faszination des Gestaltens:

Die Gluthitze verdunkelt am Abend die Form,
die Augen, irrn sie umher,
lenke zum Saum
oder zwinge zur Demut.

Ein riesiger Engel posaunt
gewaltig über den Dächern.

Rastko Petrović hingegen schreibt wie in fieberhafter Extase seine Verse nieder: eine Kaskade von Eindrücken und Erleben, von Assoziationen und Visionen, von Träumen und Albträumen, von Ahnungen und „Offenbarungen“ (Offenbarung heißt auch seine bedeutende Gedichtsammlung von 1922). Es ist eine Springflut von Stimmungen und Bildern, die er nebeneinander und aufeinander türmt. Wie sein großes Vorbild Guillaume Apollinaire stellt er so, der Kunst des Kubismus gleich, die unterschiedlichen Bereiche in eine überraschende Simultanität. Es ist eine Vision des Lebens, die er präsentiert und die selbst bis in die pränatale Existenz des Ungeborenen im Mutterleib blendet und das Biologische mit dem Unterbewußtsein verbindet, das der Surrealismus entdecken half. Alles wird Teil dieser Vision:

Ich quäle mich und keuche, phantasiere Schreckgebilde,
und alle träumten wir,
Wie wir den Raum eroberten mit Maßlosigkeit
Wir zähmten die Erniedrigung… und töteten und töteten
Von ihm nur weiß ich, er träumte seinen Traum im Mutterleib
So eng gedrängt als träume er vom Raum
Und von den Tiefen; von den Schreckensmaßen
Des Erbebens…

Im Kraftfeld solcher Anstrengungen – in diesem Falle freilich auf das deutsche Beispiel fixiert – sind auch die dadaistischen Experimente des Dragan Aleksić (1901–1958) in den 20er Jahren zu sehen, der selbst auch Gedichte in deutscher Sprache verfaßt hat. Für ihn war der Dadaismus, wie er 1921 bekannte, der „Schrei nach Jugend“. Demzufolge dichtete er: „Frische Frau wie Heu / an den Akkumulatoren: / stillgestanden, zitternde Bruderschar, / Ihr neun Reaktoren“ und verkündet:

Möge die Sprache in die Luft fliegen und der große DADA bleiben.

Rade Drainac (1899–1943) wiederum, Bohem und Revolutionär, „mit dem Banditenherz eines Dichters“, stimmt seine Verse im Protest gegen die Realität zwischen Zärtlichkeit und nihilistischer Verachtung, ein ewig Suchender, der sein großes Herz verschenken möchte und doch stets weiß:

Mein Hunger ist grenzenlos und die Hände sind immer leer.

Schier überbordend sind seine Metaphern, in denen er sein Schicksal und das der Schiffbrüchigen der Welt besingt.
Während diese und andere Dichter sich im Gleichklang mit Europa sehen, setzten die Brüder Micić auf die Erneuerung Europas durch den Balkan und sein „Barbarengenie“, wie es der ältere der Brüder, Ljubomir Micić (1895–1971) formulierte. Er nannte dies den „Zenitismus“, den er in seinem „Manifest“ von 1921 „als die höchste Inkarnation der Allexistenz“ bezeichnete. Die Hymne: „Die Erde ist für den Bruder-Menschen“ da, hat sie im Wollen, nicht im Weg den deutschen Expressionisten nahe sein lassen. Ihre Gedichte mit ihren absoluten Metaphern bestätigen dies: „Mein neues Lied ist ein wütender Blitz der Mutter der Sonne / Weltumspannender Erdreif ist der brennende Äquator…“, schrieb Ljubomir Micić, und der unter dem Pseudonym Branko Ve Poljanski publizierende jüngere Bruder Branislav (1898-1947) artikulierte:

Mit einem Schwamm putzen wir Sterne, Sonnen und Monde
Schwimmen auf den Wellen der Wolken
Und gießen Pech in das Feuer…

Das ist hyperbolisch formuliert, kosmischer Ausdruck des ungestümen Neubeginns.
Die sogenannte zweite Avantgarde, als die sich der Surrealismus in den 20er Jahren konstituierte und bis zur Mitte der 30er Jahre dominierte, um in der Nachkriegsrealität seit den 50er Jahren eine neue Bedeutung zu erhalten, setzte dieses Bestreben fort, die Welt in ihrer Bewegung und vielschichtigen Verflechtung zu erfassen. Sie akzentuierte die offene Struktur der Texte, die besonders das Prinzip der Simultanität und der Assoziation und des Traumhaft-Fiktionalen und Unterbewußten betonte. Das exponierte sie bis hin zur Ironie und Parodie, die selbst solche Heiligen wie Kyrill und Method nicht aussparte.
Solcher poetologischen Anstrengung entsprach die politische: als eine antidiktatorische Bewegung in der jugoslawischen Realität der 30er Jahre, als eine antifaschistische in der Zeit der faschistischen Zerstückelung Jugoslawiens 1941–1945 und des Kampfes dagegen. Der serbische Surrealismus wird so neben dem französischen Surrealismus poetisch und politisch eine der bemerkenswertesten avantgardistischen Bewegung Europas in jener Zeit.
Seit Mitte der 20er Jahre formierte sie sich im serbischen Kontext. Die beiden ungleichen Freunde Riste Ratković (1903–1954) und Moni de Buli (1904–1968), eigentlich Solomon de Buli, sind ihre nicht selten unterschätzten Vorläufer: Ratković mit seinen unterschiedlichen Texten, in denen er eine ethische Legitimation der Avantgarde suchte und gleichzeitig seine poetischen Texte ironisch pointierte, Moni de Buli als virtuoser Sprachakrobat, der – wie Holger Siegel betonte – „mit souverän-unbekümmerter Leichtigkeit über die Wirklichkeit hinwegschrieb.“ Ratković bekannte: „Mein Opa der Mörder der Chinese Korničlov / ich Jesus Chaplin ein lächerlicher Junge / ein kranker Sproß / rebellischer Geist eines Dandys…“, Moni de Buli formulierte 1924: „Ozean / Endlos nächtliche Scheibe / Im Nebel meiner Seele. / Wo ist der goldene Halbmond, wo sind die Boote die Mandolinen?“, um sich selbst die Antwort zu geben:

Nichts als diese schweren Wassermassen…

Ihnen folgte dann jene entscheidende Erklärung von 1930 „Wer sind die dreizehn Surrealisten?“ in der sich die Belgrader Gruppe vorstellte, die wir gewöhnlich als die serbischen Surrealisten wahrnehmen: Milan Dedinac, Aleksandar Vučo, Dušan Matić, Marko Ristić, Oskar Davićo sind zweifelsohne die bekanntesten, die auch als Dichter bedeutend wurden. Sie sehen sich nicht als literarische Schule, sondern erklären 1932:

Der Surrealismus ist von der Dichtung ausgegangen… Von einer dichterischen Haltung weitete er sich zu einer ideellen Bewegung aus. Er ist Revolte, Revolte des ganzen Menschen gegen das bestehende Denken, gegen die Welt, die ihn umgibt.

Begleitet werden dergleichen Erklärungen von den poetischen Texten, die diese Männer, allesamt im Kraftfeld der französischen Kultur gewachsen, die sie teilweise schon als evakuierte Schüler während des I. Weltkriegs kennengelernt hatten, seit der zweiten Hälfte der 20er Jahre schreiben. Milan Dedinac (1902–1966) publizierte 1926 seinen Debütband „Öffentlicher Vogel“ als einen der ersten Texte dieser Belgrader Gruppierung: „Nirgendwohin sich begeben! / Nirgendwohin streben! Warten! / Niemand schlage an deine Tür; Haus, verfluchtes! / Weder ein Kiesel auf dem Weg in der Dämmerung / noch ein Wind berührte das Blatt – in den Abgrund / würde er stürzen. / So wache ich auf“, beginnt dieser klassische Text des serbischen Surrealismus, der vom Offensein des Dichters für das Neue, Unentdeckte kündet.
Aleksandar Vučo (1897–1985) wird solches gestalterisches Wollen bis zur Ironie und Paradoxie steigern, wenn er die hochgeschätzten Slavenapostel Kyrill und Method in seinem gleichnamigen Poem thematisiert und seinen Text der Destruktion und der fragmentarischen Erfahrung in der Bildfülle der Metaphern assoziationsreich überhöht:

Kyrill und Method
Die feierlich und fromm starrenden Väter
staken unter der blutigen Aureole der heiligen Dornennägel
Teils Solisten und teils Zwillingschor
Auf den langen behaarten Beinen der reinen Nacht
Den gottlosen Berg hinauf…

Dušan Matić (1898–1980) und Marko Ristić (1902–1984), die zu entscheidenden Persönlichkeiten der serbischen Kultur und ihrer Öffnung auch gerade nach dem II. Weltkrieg wurden, schreiben entscheidende konzeptionelle Texte dieser Avantgarde; ihre Poesie mag dazu eher begleitend erscheinen, sie ist aber wie bei großen Persönlichkeiten stets auch von immenser ideeller und ästhetischer Sprengkraft, bei Ristić etwa, wenn er schreibt:

Er sah im ungetrübten Spiegel der stillen Seen
Den Tag seiner Geburt, versunken in den Lichtern des Träumens
Wo er fragt am Rande der ewigen Wasserfälle…
Wie sein Lichtschein durchbrochen hat dieses Netz des Todes…

Das hat er 1928 formuliert.
Bei Matić wird später im Gedicht „Belgrad, Oktober 1941“ dieses philosophische Nachdenken jene politische Dimension erhalten, der den serbischen Surrealismus als Bewegung der dynamischen Aktivität auszeichnet:

… Dieser Herbst wie wir ihn bisher nicht hatten
blau wie der Rauch und vergänglich wie das Leben;
dieser Herbst ist wie ein Grabstein so schwer, der endgültige Herbst
über der Welt, die wir waren und nicht waren, wir sind lebendiges Beben…

Es ist das jene antifaschistische und patriotische Haltung und des Handelns, für die hier Marie beispielhaft steht und die für den serbischen Kontext in den Jahren des bewaffneten Widerstandes entscheidend bleibt. Der Surrealist Oskar Davičo hat dies in seinem „Serbien-Poem“ bezeugt:

Wer dich, Serbien, kennt, der kennt den Schmerz von der Wurzel
und hört stets ein Bluten – ein Bluten
Gleich dem Rauschen, nächtens eines traurigen Sturmwinds
in Pappeln…

Desanka Maksimović (1898–1993), die in den 20er und 30er Jahren in ihrer Poesie die Tradition des symbolhaften Gestaltens und der demokratischen Literatur weitergetragen hatte und der soziale Literatur in vielem nahestand, wird solche Haltung zu eindringlichen Texten formen, die Gedichte der Zeit und der Dauer gleichermaßen sind ob ihrer patriotischen und universellen Aussage:

Serbien ist ein großes Geheimnis:
Der Tag weiß nicht, was die Nacht ihm braut,
noch weiß die Nacht, was der Morgen bringt…
Die Feinde dürfen in diesem Lande
nicht einmal der Hasenfährte trauen
Hufspuren enden im Hinterhalt…

In den Jahren des Krieges, der gerade im Zentrum Jugoslawiens mit bedingungsloser Härte geführt wurde, schloß sich eine Reihe der Dichter dem Widerstandskampf an und schrieb Werke von dauerhafter Wirkung; eines der wichtigsten Poeme war Skender Kulenović’ Epos „Klagelied der Mutter Stojanka“. Es wurde zum ergreifenden Lied für die vielen Opfer und das Leid der Mütter und setzte so die im Kozara-Gebiet noch lebendige Tradition der epischen Volkspoesie fort:

Jooj, der Kozara entsprossen drei Tannenbäume rank!
Stojanka hat geboren drei Partisanen schlank!
Jooj, wo seid ihr?
Srdjan, Mrdjan, Mladjen
jooj wo seid ihr?
Drei erste Eliasflinken
drei letzte Muttertränen:
Küssen will euch die Mutter im Tode…

Eine solche Poetik, die das Heroische im Kampf und im Leid betont und sich an der Darstellungsweise der Volkspoesie orientiert, bleibt in der unmittelbaren Nachkriegszeit dominant; sie entspricht den Forderungen nach einer volksnahen realistischen Gestaltung, wie sie auch in der damals als vorbildhaft deklarierten sowjetischen Literatur postuliert wurde. So, glaubte man, könne man die gesellschaftlichen Veränderungen und die neue soziale Realität gestalten. Bis zum Bruch Titos mit Stalin galt das als Postulat für die neue Kunst allgemein und die Literatur besonders.
Daß damit der Mensch als Subjekt, als einzigartiges Individuum verlorenging, konnte erst nach dieser entscheidenden politischen Zäsur artikuliert werden. Die seit Ende der 40er Jahre besonders auch in der Dichtkunst sichtbare Hinwendung zu den kleinen Freuden des Lebens im eher traditionellen Typus der intimen Lyrik spiegelt das. Da wird eine freudvoll erinnerte Kindheit lebendig, die der Krieg zerstört hat, wird die Natur als beglückende Begegnung besungen, werden die Werte von Liebe und Freundschaft erfahren und artikuliert, wie es Stevan Raičković’ (1928) Debütband Kindheit von 1950 zeigt. Im Duktus Branko Radičević nahe, dem großen serbischen Romantiker, werden Natur und Liebe entdeckt. Später, seit den 60er Jahren, wird sich daraus jene „Poesie der Stille“ konstituieren, die in der serbischen Poesie des 20. Jahrhunderts eine wichtige Konstante bleibt: die Natur als das große Paradigma des Lebens, in der der Mensch Beglückung und Bescheidung, Kraft und Zuversicht findet: „Dieses Lied droht nicht mit scharfen Zähnen, / in ihm ist alle Stille, bloßes Schweigen: / Allmählich sich, am letzten Rande wähnen, / sich über jenen kalten tiefen Strudel neigen“, wird da Raičković dichten und die Natur als die große Bewahrerin des Lebens auch gegenüber dem Tod preisen.
In den frühen 50er Jahren mit der Chance eines Neubeginns bedurfte es jedoch eines umfassenderen Ansatzes, der prinzipiell und durchgreifend war und auch die Zwischenkriegsavantgarde wie die Impulse der Weltliteratur einbezog. Besonders in dem heute bereits legendären Streit der beiden Belgrader Literaturzeitschriften Savremenik und Delo wurde die Polemik darum geführt als Streit zwischen den „Realisten“ und den „Modernisten“, wobei für Realisten wohl besser von Traditionalisten zu sprechen wäre.
Wie so häufig im serbischen Kontext – mit entsprechender Ausstrahlung auf den jugoslawischen – wurde dieser Streit robust geführt, mit einer Vehemenz, die balkanisch war. Dušan Matić und Marko Ristić, die großen Persönlichkeiten der Zwischenkriegsavantgarde, und Oskar Davičo, der ehemalige Partisan und Surrealist, waren es vor allem, die mit ihren Polemiken und Essays das freie schöpferische Denken und die Imagination als die Voraussetzungen für die neue künftige Literatur erstritten. Dabei knüpften sie an ihr eigenes poetisches Schaffen an, wie etwa Dušan Matić in der schon zitierten Erinnerung an den Herbst 1941:

… Dieser Herbst hat keinen Mund, trunken vom Wein und von Reben;
dieser Herbst hat einen Mund voll Blut, Dorne und Fluch in den Kehlen,
dieser Herbst hat Hände voll Blei, die Hände von Totengräbern, aus Schwertern die Seele…

Das war keine nostalgische Rückbesinnung auf die avantgardistischen Prinzipien der Zwischenkriegszeit mit ihrer Textautomatisierung oder Fragmentierung der Wirklichkeit. Es war vielmehr das wache Erinnern an den Krieg und seine Opfer, um in der Dichtung als – um mit Dušan Matić zu sprechen – „letzter Wahrheit der Sprache“ eine würdige Gestaltung zu finden.
Hieran konnten die jungen Poeten anknüpfen, die jene Zeit der sich verändernden politischen und kulturellen Bedingungen nutzten. Die 87 Gedichte von Miodrag Pavlović (1928), die 1952 erschienen, kündeten diesen Neubeginn an: kühne Verse, in denen die Wirklichkeit illusionslos angegangen wurde:

… Im Schädel gehen
der in der Sonne glänzt
die Straßen auf und ab spazieren
Ohrfeigen austeilen
jeder Lüge das Schaufenster einschlagen
jeder Wahrheit die Haare ausreißen…

Es ist das jene Poesie, die für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend wird: als Synthese von Gefühl und Verstand, die den traditionellen Lyriktyp durch eine neue synkretistische Poesie ersetzte, in der gerade auch die epischen und dramatischen Elemente eine neue Gewichtung erhielten und so den Diskurs und den symbolhaften und philosophischen Charakter der Aussage potenzierten.
Pavlović selbst, der Weltenbummler und Kenner der Kulturen der Welt, der die mythologischen und geschichtlichen Vorgänge ebenso prüft wie die komplizierten Abläufe in der menschlichen Psyche, wird so sein ungewöhnliches Dichterwerk als eine konzentrierte intellektuelle Poesie schaffen, die eine Synthese unserer Epoche ist: skeptisch gegenüber den Lebensformen unserer Zeit und getragen von jenem hohen ethischen Imperativ, der ihn leitet, ein „unversöhnbarer“ Dichter, wie ihn Peter Handke einmal bezeichnet hat, mit einem Anspruch, der das Ethos einer menschlichen Gemeinschaft verteidigt und umso entschiedener alles Erstarrte, Überholte demystifiziert und auf das Grundsätzliche im menschlichen Dasein aus ist:

Das Jüngste Gericht ist nicht nur das Ende der Welt

das Jüngste Gericht ist Stelldichein in einem neuen Äon
wenn jeder tut was er einmal herabgerufen hat

So sieht denn der Gerechte versklavt aus
versklavt von seinem guten Werk
in einem Licht
das blendet über jedes optische Maß hinaus…

Die andere literarische Stimme, die die serbische Poesie seit den frühen 50er Jahren bis zu seinem Tod entscheidend formt, Vasko Popa (1921–1991), der 1953 mit seiner Sammlung Rinde debütierte. Er wählt den Weg der ironischen Distanz. Auf der phantastisch-irrationalen Poetik der Volkspoesie und ihrer oft surrealen Bildwelt baut er seine Dichtung auf, scheinbar naiv, stets aber mit einem wachen kritischen Verstand. Die subtextuale Aussage, die Bildillusion, der ironische sprachliche Gestus geben seiner Poesie eine vieldimensionale Aussage, die sich aber immer wieder in einem trifft: in der Polemik gegen die Destruktion der Werte, die in den zerstörerischen Gewalten im Menschen und in der Wirklichkeit angelegt sind. Er will die Integrität des Menschen und seiner Würde behaupten. Er greift dabei häufig mythologische Elemente oder geschichtliche Begebenheiten seines Volkes auf und vertieft sein Anliegen auch in der historischen Dimension:

Einem von uns stieg das Herz empor
Stieg auf zum Feuerkreis des Himmels

Brach auf zur Sonnenbahn wo Unkraut
Überwuchert ganz aus Eisen

Wir warteten vergebens daß er wiederkehre

Seither trägt nun von uns jeder
Sein Herz an einer schweren Kette
An eine treue Rippe angeschmiedet…

Seit Mitte der 50er Jahre wird dieses poetische Terrain entscheidend erweitert durch Dichter, die oft nur wenige Jahre jünger sind: Ivan V. Lalić (1931–1996), Jovan Hristić (1933–2002), Branko Miljković (1934–1961) und Borislav Radović (1935) sind zweifelsohne die bedeutendsten dieser Generation, die zielgerichtet mit ihrem Werk und Wirken die erneute Öffnung nach Europa verwirklichten. Ihre gemeinsame Nennung rechtfertigt sich allein durch ihr übereinstimmendes Streben nach einer Ästhetisierung der Poesie und damit der Sprache; ansonsten ist jeder von ihnen von Anfang an eine ausgeprägte Dichterpersönlichkeit, die das künstlerische Wollen auf ihre Weise realisiert.
Am extremsten ist sicher der visionäre Branko Miljković, der – so glaubt man – im Freitod endete. Er ist der Sänger, der die magische Kraft des Wortes beschwört. Sprache ist ihm Leben. Die Dichter sind ihm die Propheten der „Geheimnisse…“, „lange bevor sie ihren Völkern verkündet sein werden.“ Das ist eine moderne Apotheose des Dichter-Sehers, der mit der Macht des Wortes begnadet ist und seine Bürde trägt; denn, wie er es formuliert:

Wenn ein Lied entsteht, sündigen Worte.

Miljković ahnt aber auch den nahen Tod; er ist allgegenwärtig in seinem Dichterwerk, das in seiner neosymbolistischen Prägung die expressiven Möglichkeiten der modernen serbischen Dichtersprache ausschreitet: „Ich brauche keine Worte mehr, / ich brauche Zeit; // Zeit ist es, daß die Sonne sagt, wie spät es ist // Zeit ist es, daß der Mund verstummt und eine Biene schreit“, dichtet er in seinem „Gedicht zu meinem 27. Geburtstag“ – paradox, wenn man bedenkt, daß er 14 Tage später aus dem Leben scheidet.
Ivan V. Lalić thematisiert sein Dichtwerk der Ästhetisierung der Welt um die Knotenpunkte der klassischen Kulturen des Mittelmeeres und um Byzanz, die ihm Anlaß sind, über Leben und Tod, über Vergänglichkeit und Ewigkeit zu meditieren. Als Dichter einer außergewöhnlichen visuellen Imagination und philosophischen Tiefe sucht er dieses ästhetische Wollen in Bildern von suggestiver Nachhaltigkeit zu gestalten: „Ich schwebe auf Schlaflosigkeit, die leichter als Luft, / Spreche Namen aus, / Verteidige eine Welt, / die ich nicht erschaffen habe. / Ich rechtfertige mich, also bin ich“, schließt sein Gedicht „Kalemegdan“ über die alte türkische Festung über Belgrad und akzentuiert seine Philosophie des aktiven Handelns.
Borislav Radović steht Lalić in seinem ästhetischen Bemühen nahe; nur wird bei ihm letztlich immer deutlich, die Dinge hinter den Dingen zu entdecken, im großen Gleichnis die Fragen der Existenz des Menschen zu artikulieren. Im ästhetischen Text vermag so Radović jene Wahrheiten zu formulieren, die den Seinsverlust unserer Zeit begleiten, wie das Hölderlin gewidmete Gedicht „Der Turm über dem Neckar“ paradigmatisch ausweist:

Die Wasser verdunkelten sich, wurden träge,
Stück für Stück fortspülend das urbane Sediment
Aber hier kann doch ein alter Glanz aufs Neue erstarken;
Winterlich der Stand des Gewässers, wenn es nach Troja abfließt…

Solcher Erhabenheit der Utopie steht die platte Wirklichkeit entgegen, die da lautet:

Und im Hintergrund steht gleich der Turm: „Wegen Renovierung geschlossen.“

Bei Jovan Hristić schließlich, der diesen Dichtern des ästhetischen Bewußtseins zugerechnet wird, ist es die klassische Antike, von der aus er seine Gegenwart prüft und ihre Entfremdung, ihre Einsamkeit, ihre Angst vor dem Tod diagnostiert. Sein Urteil ist apodiktisch, wie er es in dem programmatischen Gedicht „An Phaedros“ ausgesprochen hat:

Auch das sollst du noch wissen, mein lieber Phaedros,
wir lebten in sehr verzweifelten Zeiten: aus der Tragödie
Machten wir eine Komödie, aus der Komödie eine Tragödie:
Und das Eigentliche: Der Ernst, das Maß, die weise Erhabenheit…
ist uns immer entgangen.

Mit solchen Gedichten ist Hristić von seinem Wollen her eher den Dichtern nahe, die zumeist Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre debütierten und ohne die ästhetischen Fragen zu vernachlässigen, wiederum die schlüssige Aussage für ihre Gegenwart suchten. Sie schreiben gegen die Traumata des Krieges und der Gewalt an, artikulieren die Ängste, die die Menschen im universellen und damit auch im jugoslawischen Kontext bedrücken. Es ist – um mit Vita Marković zu sprechen – „die Sprache der Unruhe“, in der sie das Geschehen zu Sinnbildern der menschlichen Existenz in ihrer Bedrohung formen. „Verwandelt haben sich Jacken in Soldatenmäntel“, beginnt Ljubomir Simović (1935) sein Gedicht „Belagerung der Stadt Užice“ als ein Gleichnis der modernen Zivilisation, um fortzufahren:

Die Schule wurde zur Kaserne,
der Glockenturm zum Maschinengewehrnest,
die Druckerei zum Pferdestall,
das Lichtspielhaus zum Militärmagazin.

Er zeichnet so ein düsteres Bild unserer Zeit, die immer eine Zeit „zwischen den Kriegen“ ist. Er zeichnet dies in Visionen und Apokalypsen, die in ihrer Eindringlichkeit stets universell gerichtet sind.
Bei Vito Marković (1935) wird die „Nacht der Asche“ zu diesem Symbol einer ständigen Bedrohung und der Paradoxie der modernen Welt, die er oft in Bildern der Volkspoesie präsentiert, um sie aber gleichzeitig wieder zu verfremden.

In der Nacht der Asche
des Dunklen
und der Stille
Verbindet sich der Tau mit der Blüte
Unter der Blüte
Schläft eine Schlange zusammengerollt.

Und Branislav Petrović (1937–2003) kreiert in seiner Poesie das Gleichnis vom „Fegefeuer“, das die erbärmliche Wirklichkeit heimsuchen wird und dem er trotzig mit schwarzem Humor entgegenhält:

Ärgere dich nicht über den Richter und das lächerliche Urteil
Du bist das Feuer auf dem Anger das die Kinder schüren
Und um Gottes Willen du hast eine schöne Frau geküßt

Und nun
kannst du falls nötig
Auch ohne die eigene
Haut sein.

Und er postuliert obendrein:

Wo Verstand ist, werden Raum und Zeit überleben.

Von solcher Ironie werden auch die Gedichte und Poeme des anarchischen Ungehorsams von Matija Bečković (1939) bestimmt: rebellische, aufrührerische Texte, die an der Geschichte seiner Heimat Montenegro und der stolzen Unnachgiebigkeit seiner Bewohner selbst im Liebesgedicht die heldische Verachtung für alles Schwächliche betonen. Die Hyperbolik wird aber rasch zu einer eindrucksvollen Parabel der Welt, wenn er das ewige Töten in den sinnlosen Kriegen anklagt:

Ein Totschläger stürzte sich auf mich
Verzerrt
Mit hochrotem Kopf, nicht bei Sinnen

So muß auch ich
Ausgesehen haben.

Da hab ich geschossen
Wie in einen Spiegel.

In dieser Situation meldete sich auch Desanka Maksimović nachhaltig zurück und legte mit ihrem Gedichtband Ich bitte um Erbarmen von 1963 leidenschaftliches Plädoyer für Gerechtigkeit und Toleranz in der Welt vor. Die historische Stilisierung, das Gesetzbuch des Zaren Dušan von 1354 zur „lyrischen Diskussion“ über die Fragen der Gegenwart zu wählen, gibt dem Band eine besonders nachhaltige Wirkung: „Ich bitte um Erbarmen / für die Arglosen, / die stets nur mit Staunen begreifen, für die ewig Unreifen, für die Utopisten“, fordert die Dichterin das Recht auf die Würde jedes Menschen ein. Bis zu ihrem Tod 1994 als fast Hundertjährige wird sie hinfort diese Diskussion weiterführen, sich selbst ermahnend, nicht müde zu werden, denn, wie sie in ihrem „Lyrischen Stammbaum“ bekannte:

… Und ich glaubte so den Tod vor Augen,
es ist Zeit, daß ich die Hände falte…
doch mich mied
der Schlaf, mich trieb der Dichterdämon;
aufgeweckt vom Ruf der Welt. –
Und so ward ein neues Lied.

„Und so ward ein neues Lied“, diesen Vers der energischen alten Dame der serbischen Poesie, kann man gleichermaßen für die Dichter rekurrieren, die Ende der 60er und in den 70er Jahren debütierten: es war das wiederum eine Generation der wachen Vernunft und der kritischen Haltung. Die Studentenrevolte von 1968 in Belgrad, die sich wie andere ähnliche Bewegungen in Europa gegen verkrustete Denk- und Lebensformen und kleinbürgerliche Normen und Prinzipien der Herrschenden richtete, hatte dieses kritische Bewußtsein der im Krieg und kurz danach Geborenen geschärft. Engagiert wie sie waren, forderten sie im persönlichen und gesellschaftlichen Leben und in der Kunst Gerechtigkeit und Wahrheit, Toleranz, Freiheit und Demokratie und wollten den drohenden Stillstand der Entwicklung durch Bewegung und Veränderung aufbrechen.
Seismografisch genau loteten diese jungen Dichter die Situation des Menschen in den ausgehenden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aus. Seine Ängste und Hoffnungen, seine Niederlagen und Utopie artikulierten sie in einer Dichtkunst, die man als das wache Gewissen der Zeit bezeichnen kann. Sie artikulieren dies in Bilder von eindringlicher Dichte und einer Gestaltungsweise, die von neosymbolistischen bis zu postmodernen Verfahren reiche und so die Vielseitigkeit und Vielsaitigkeit der serbischen Poesie erneut bestätigen.
Milovan Danojlić etwa singt in seinen „Psalmen der Ureinwohner“ in deutlicher neoromantischer Stilisierung und hoher Sprachkultur:

Am Ende, nach langem, erschöpfendem Weinen,
ist jeder erleichtert, fremd sich selbst, ohne Halt.
Der Abend: kupferwarm zur Glocke geballt.
Und der Mensch geht einsam zwischen den Schritten, den Seinen.

Dragan Kolundžija (1938) dichtet in vieldeutiger Symbolik, die von der Magie der Liebe und des Todes geprägt wird:

Ohne dich, Erde,
Verlör ich mich in Düsternis
Gleich dunkelreifer Honigfrucht
Fäulnistod.

Slobodan Rakitić spricht im „Erzengel von Prizren“ 1985 gleichsam in düsterer Vorahnung des kommenden Jahrzehnts seine Befürchtungen aus:

… Ein schwarzer Büffel schlummert
neben dem Fluß unter dem imaginären Kirchturm.
Ich nahm eine Handvoll Erde als letzten Bissen.
Wärt ihr doch besser verborgen geblieben dort unten
Was ich jetzt sehe, gibt ein völlig anderes Bild.
Ich erschien unerwartet auf meinem Grab in der Fremde.

Gojko Djogo (1940) setzt dem seine kraftvollen Metaphern vom „schwarzen Schaf“ entgegen und verkündet trotzig:

Ob du es lockst oder nicht
Es wird dir kein Salz von der Hand lecken

Ihm ist ein Blindenführer lieber
Als ein hellseherischer Leithammel.

Und Adam Puslojić variiert vom surrealen Sprachexperiment zur sarkastischen Ironie der Parabel vom Hund, der seine Unfreiheit mit Stolz apostrophiert:

Ich laufe
Das Stadtleben wird mir immer leichter
Es ist gesund, reich an Knochen…
Ich laufe.
Die Kette wird mir immer kürzer.
Ich schlage schon tausend Jahre nicht an.

Diese Dichter signalisieren paradigmatisch die Stärke und die Weite einer Poesie, die sich nicht auf die subjektive Befindlichkeit zurückzieht, sondern mit der Deutung der Zeit auch die Deutung der Existenz des Menschen will. Das gibt solcher Poesie gesellschaftliche und kulturelle Reputation. Bei aller Tendierung zu postmodernen Gestaltungsweisen und einer zunehmenden Urbanisierung der Dichtersprache gilt dies auch für die starke Generation der nach dem II. Weltkrieg geborenen und im Tito-Jugoslawien herangewachsenen Dichter, die seit den ausgehenden 70er Jahren in die weltoffene Atmosphäre des Belgrader Kulturlebens eintreten und es bis zur Gegenwart entscheidend mitbestimmen.
Es ist das wiederum eine selbstbewußte Generation, gebildet, sich in den Kulturen der Welt auskennend, engagiert, wenn es sein muß, subversiv, aber auch betroffen und zornig über die Entwicklung im Lande und der Welt, hinter Skepsis und Ironie ihre Verwundungen verbergend. Rajko Petrov Nogo (1945) formuliert dies im trotzigen Beharren auf der Utopie, wenn er fragt:

Wer ist der eine, der sagen kann,
ohne daß man über ihn lacht…: Los wir stürmen die Geschichte an.

Andere haben solche Utopien längst aufgegeben und artikulieren ihre Enttäuschung über die Realität, in der sich die tradierten Werte immer mehr verschleißen und einem wachsenden Nationalismus weichen, von der Position des mündigen Staatsbürgers aus; ihre subversive Haltung gegenüber der Staatsmacht ist direkt, offen. Duško Novaković’ (1948) Verse über die Militärhunde, „die erbarmungslos selektiert wurden“ und nun „in Reih und Glied stehen wie frisch gezählte Rekruten“ und die, „sobald sie die Betroffenheit des Opfers wittern“, nicht mehr zurückzuhalten sind, denn „sie dienen dem Volke“, sind ein beeindruckendes Beispiel dafür. Wie etwa Novica Tadic’ (1949) „Lied“, das beginnt: „Der Dickwanst und Schmerbauch haben ein reines / Gewissen. Der Denunziant und der Kuppler murmeln wie ein Gebirgsbach…“ und das endet: „… Aus den Steinbrüchen mit den Gefangenen dringt das Lied aller Lieder“, benennen sie Mechanismen jedweder Diktatur.
Dieser Direktheit stehen die Gedichte zur Seite, die ihre Kritik, ihr Engagement über eine poetische Verallgemeinerung resp. Überhöhung ausdrücken. Jovan Zivlak (1947) etwa diagnostiziert die ihn umgebende Wirklichkeit, indem er sie seziert und die einzelnen Segmente dann in neue Zusammenhänge stellt und so die Realität in ihren gesellschaftlichen und zivilisatorischen Widersprüchen entlarvt als eine leere Welt ohne Gott:

die umstände meiner geburt
sind eine lange geschichte

o weisheit
alles schien schon aufgeschrieben
als träte ich in vorgekautes leben.

Raša Livada (1948) nutzt seinen prosahaften Diskurs, mit dem er die unterschiedlichsten Bereiche des Lebens und der Welt mit vorgekehrter Souveränität diskutiert, um dann doch zu gestehen:

… dort hinten
im Magazin
gibt es noch eine Glocke, geborsten, ohne Klöppel,
ohne Glockenturm:
Ich lege die Stirn auf ihre Schulter
wie auf die Schulter des Bruders.

Und Dragan Jovanović Danilov (1960) überhöht solche Diagnosen seiner Zeitgenossen und der älteren Dichter zu jenem Bild, das für die Poesie jener 80er und 90er Jahre gleichsam als große Metapher stehen kann:

Ich bin aus dem Schweigen einer unbekannten Summe
Die Dämonen die ich träumte
spiegeln sich in meinen Augen
Ein Täubchen bin ich aus Steinkohle
aufgewacht aus der eigenen Schlaflosigkeit
und ich überbringe eine Nachricht
für das Wesen der Dämmerung…

Übergeleitet ist damit zugleich auf die Poesie der 90er Jahre und die vorläufig jüngsten Dichter, die in der Atmosphäre des geschürten nationalen Hasses und der Kriege debütierten. Am Ausgang des Jahrhunderts bekunden sie, daß sie die humanistische Mission der serbischen Dichtkunst weiterzutragen willens und fähig sind. Exemplarisch dafür steht Ana Ristović (1972), eine der beachtenswertesten Stimmen dieser Generation, die mit ihrer poetischen Sensibilität die Atmosphäre dieser Zeit auf originäre Weise wiedergibt:

Einst im Traum von der Pest, das Erwachen öffnete
seine Augen,
die zwei Gräber,
die von fremden Gliedern die ganze Nacht verlassen wurden,
ganz langsam, als passierten sie nicht den Rand,
sondern eine Entfernung von tausend Meilen.

Es ist das Bewußtsein von der Abgründigkeit jedes gelebten Augenblicks, das sich hier widerspiegelt.
In einer anderen Schreibsituation sind bei aller Nähe und Verbundenheit zur Heimat jene Dichter, die ihre Zuflucht im Exil suchen oder schon vorher der serbischen Diaspora gelebt haben. Stevan Tontić (1946) bekundet dies in bezug auf Deutschland exemplarisch: als bosnischer Serbe, der die Belagerung Sarajevos erleben mußte, findet er für ein Jahrzehnt Heimstatt in Berlin; von hier aus schreibt er auch seine schrecklichen Erfahrungen nieder und vermag sie zu einer großen Apokalypse des Geschehens und der trotzdem keimenden Hoffnung auf Menschlichkeit und Menschenwürde zu überhöhen, die über die Grenzen der Völker und Religionen hinausgreift:

Manchmal geschahs: auch mir erschien Christus
aus Blut und Flammen bedrückt und barfuß…

Im düsteren Orkus vom Leuchtstrahl erhellt,
Botschaft des Lichts – Christ in der Welt.

Christkreuz und Halbmond, atmend verbunden
verlieren die Angst in stockenden Stunden…

Die Ausrichtung der Anthologie auf deutsche Leser rechtfertigt es, auch auf jene Poesie zu verweisen, die in der serbischen Diaspora in Deutschland geschrieben wurde. Es sind im wesentlichen drei poetische Modelle, die an jeweils einem Beispiel angedeutet werden und die stellvertretend für diese Poesie stehen. Zum einen sind es Gedichte des Erinnerns an die Heimat und der Evoziierung historischer Ereignisse in ihrem Symbolwert für die Gegenwart, wie sie Savo Vučić (1946) von Berlin aus schreibt, wo er schon seit den 80er Jahren wirkt. Zum anderen sind es Texte der intellektuellen Brechung und Verdichtung, wie sie Snežana Minić (1958), in Hamburg lebend, gestaltet, die die existentielle Vereinsamung des Menschen reflektieren und das Ringen dagegen „im Park des Daseins“. Zum dritten sind es Gedichte der Flucht und der Heimatsuche, wie sie Dragoslav Dedović (l963), letztendlich in Köln angekommen, niedergeschrieben hat.
Diese Poesie bekundet eine wichtige Tatsache, die gerade auch für die deutsch-serbischen Beziehungen von Bedeutung ist: allen Anfeindungen zum Trotz, die in den 90er Jahren aus politischen Gründen häufig von der deutschen Politik und Presse gegen die Serben vorgetragen wurden, bleiben Deutschland und die deutsche Kultur auch in dieser Zeit ein Ort der Zuflucht für Serben und ihre Kultur.
Das, was Miodrag Pavlović in der Erinnerung an seine deutsche Liebe 1971 im Gedicht „Entlang des Rheinufers“ geschrieben hat: „Im Klang ist alles nahe, der Herbst, / Früchte zuhauf, gleißend der Fluß, / der Himmel wird fallen, gedunkeltes Obst, / alles soll sich nähren, / die Frucht umarmt die Frucht, / die Frau den Mann, umgeben von klarer Sicht“, das ist so im neuen Jahrhundert anders wirkend: als die Hoffnung und das Gebot auf ein endgültiges Verstehen zwischen den Menschen unterschiedlicher Völker und Kulturen, ein Verstehen, das gerade die Poesie durch ihre humanisierende Mission zu befördern vermag. Goethe hat es einst unter anderen Bedingungen auch in bezug auf die Serben vorgelebt. Die Texte der Anthologie sollen es für unsere Zeit sein, die eine Zeit des Verstehens auch zwischen Deutschen und Serben in einem zusammenwachsenden Europa sein möge.

Manfred Jähnichen, Juli 2003, Vorwort

 

Die 260 Gedichte

von 82 serbischen Dichtern, die hier in der Zusammenschau des 20. Jahrhunderts präsentiert werden, spiegeln die wechselvolle und erregende Geschichte eines stolzen Volkes wieder. Die lyrischen Zeugnisse sind Beispiele für eine Kultur, die dem Entwicklungsrhythmus Europas von der Moderne bis zur Postmoderne folgte und bemerkenswerte künstlerische Leistungen hervorbrachte. Das Ringen um die Würde des Menschen und eine gerechtere Welt steht dabei thematisch im Vordergrund und wird vielfältig ästhetisch variiert.
In Deutschland bekannte Dichter wie Miloš Crnjanski oder Desanka Maksimović, Oskar Davićo oder Vasko Popa, Miodrag Pavlović oder Stevan Tontić begegnen uns hier wie auch viele bisher in Deutschland unbekannte Lyriker.
An möglichst adäquaten deutschen Übertragungen ist zu erfahren, dass die Autoren in doppelter Zeugnisschaft stehen: für die Werte der serbischen Kultur und ihre Vielseitigkeit im Kanon der europäischen Literaturen.

Gollenstein Verlag und Svetovi Verlag, Klappentext, 2004

 

Der Himmel im Auge

– Serbische Gedichte des 20. Jahrhunderts. –

Nein, er war kein Dichter, er ging über Leichen, war ein Massenmörder, ein Imperator und Usurpator, einer, der sich selbst für Serbien hielt, der diesem Land einen dunklen Klang gab aus dem Tritonus: Kommunismus, Nationalismus und Massenmord.
Das ist nicht Serbien. Aber das ist auch Serbien. Er, der skrupellose Organisator der Kriege im Namen Großserbiens, ein Emporkömmling aus dem Provinzstädtchen Požarevac, der, wie Millionen seiner Landsleute, den serbischen Mythos an einer verlorenen Schlacht festmachte: an der Schlacht gegen die Osmanen im Jahre 1389 auf dem Amselfeld in Serbiens Südprovinz Kosovo. Der Kosovo – eine Metapher für das Serbische? Was ist Serbien? Es litt stets unter Abhängigkeiten und wollte sich unentwegt emanzipieren.
Bis zum Berliner Kongress im Jahre 1878 war Serbien trotz innerer Selbstständigkeit tributpflichtig gegenüber den Türken und hatte sich zur Wehr zu setzen gegen die Ansprüche von Russland und Österreich. 1832 nannte sich Fürst Milan König, er steuerte großserbische Bestrebungen (Narodna Odbrana), welche die Vereinigung mit den in Österreich-Ungarn lebenden Südslawen bringen sollten. Mit König Peter I., auch Petar Karađorđevic genannt, kam im Jahre 1903 ein russlandfreundlicher Herrscher auf den Thron. Der Konflikt mit Österreich-Ungarn verschärfte sich mit der Einverleibung Bosniens und der Herzegowina ins Habsburger Reich im Jahre 1908. Die Rivalität gegenüber Österreich-Ungarn äußerte sich in der Ermordung des habsburgischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo und führte zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Nach 1918 gelang mit dem Untergang der Doppelmonarchie die Vereinigung aller Südslawen im „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“, im Zweiten Weltkrieg gewann Tito nach dem Zusammenbruch Italiens 1943 die Oberhand und errichtete nach dessen Ende eine sozialistische Diktatur, die trotz ideologischer Nähe zur Sowjetunion seit den 1950er Jahren eine große Unabhängigkeit und Eigenständigkeit innerhalb des Ostblocks erreichte. Das sog. Wendejahr 1990 atomisierte die kommunistischen Machtgefüge und ließ ethnisch-kulturelle Konflikte auch in Jugoslawien aufbrechen, was schließlich seinen Zerfall herbeiführte. Aus Jugoslawien wurde Restjugoslawien. Der Krieg Serbiens gegen Bosnien-Herzegowina im Jahre 1992 führte nach drei Jahren zum Friedensabkommen von Dayton. Als im Jahre 1998 jugoslawische und serbische Sicherheitskräfte eine Offensive gegen die bewaffneten, albanischen Freiheitskämpfer im Kosovo starteten und Hunderttausende dabei ums Leben kamen, griff die NATO 1999 mit massiven Luftangriffen ein und beendete das Vertreiben, Morden und die „ethnischen Säuberungen“. Der in Den Haag gestorbene letzte Diktator Serbiens stellte sich noch im Oktober 2000 zur Wahl, er unterlag jedoch gegen Vojislav Koštunica, erkannte diese Wahl allerdings nicht an und musste dann am 06. Oktober 2000 doch aufgeben. Die Überstellung des Serbenführers Slobodan Milošević am 28. Juni 2001 an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag war allerdings nicht das Ende von diesem Serbien…
Das 20. Jahrhundert hat dieses südslawische Volk herausgefordert und in den Augen vieler stigmatisiert. Gibt es nicht noch ein anderes Serbien, eines der Kunst, der Kultur, der Musik und vor allem der Literatur? Natürlich: Literatur ist immer auch Ausdruck des Selbstbehauptungswillens eines Volkes in seinen historischen Entfaltungsräumen.
Was ist serbische Literatur? Welches sind die Besonderheiten des serbischen Idioms, das sich abgrenzt gegenüber der Kunstsprache Serbokroatisch, die aus ideologischen Gründen, aus Gründen des Zusammenhalts dieses Vielvölkergebildes Jugoslawien geschaffen, ja angeordnet wurde? Wie wurde im 20. Jahrhundert am Zusammenfluss von Donau, Save, Theiß und Morawa gedichtet, wie an der Drina und im gebirgigen Südosten?
Der profilierte Slawist und Literaturwissenschaftler Manfred Jähnichen hat 2004 in Zusammenarbeit mit Nikola Strajnic (Novi Sad) die voluminöse Anthologie Das Lied öffnet die Berge herausgegeben, das – wie er sagt – „nach Jahren des Misstrauens und politischer Vorurteile“ zum „gegenseitigen Verstehen Brücken bauen“ will. Die serbische Poesie sei besonders geeignet dafür, weil „in ihrem Wesen humanistisch, völkerverbindend“. Er stellt 82 Dichter des 20. Jahrhunderts vor – mit insgesamt 260 Texten. 36 deutsche Nachdichter, die zum Teil auf Interlinearübersetzungen zurückgriffen, z.T. unmittelbar aus dem Serbischen übertrugen, schufen ein Kaleidoskop von Gedichten. Dabei lässt sich nicht ohne weiteres entschlüsseln, was das genuin serbische Idiom lyrischen Sprechens ist. Bemerkenswert ist auch – wie in früheren Bänden, die er herausgegeben hat –, dass sich wichtige Lyriker aus der DDR als Nachdichter präsentieren, so Uwe Grüning, Adolf Endler, Bernd Jentzsch, Uwe Kolbe, Reiner Kunze oder Brigitte Struzyk. Und auch er selbst, der Herausgeber und seine nuanciert übersetzende Ehefrau Waltraud Jähnichen, bringen sich philologisch wie poetisch gekonnt als Vermittler ein. Hier zeigen sich die Nachwirkungen der DDR-Philologie, die darauf Wert legte, dass aus den ehemaligen sozialistischen Bruderländern Verse ins Deutsche geholt wurden, um ,Bruderländisches‘ heraufzubeschwören oder zu erfinden, getreu der Maxime, dass es eine einheitliche osteuropäische „sozialistische Literatur“ geben müsse.
Die Autoren sind vorrangig chronologisch angeordnet, für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde dabei allerdings auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppierung berücksichtigt. Und Serbien entpuppt sich dabei als ein Sprachland authentischer Poesie. Auch in den deutschen Übertragungen erkennt man, wie sich das Serbische von der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – noch getränkt von der Volksdichtung – allmählich emanzipiert im Kontext der europäischen Lyrik. Aleksa Šantić (1868–1924), ein bedeutender Heine-Übersetzer aus Mastar, berührt mit seiner expressiven Dichtung:

Im Seufzen langer Trauer
Steht
des armen Volks Gebet.

Skelette knien
Aschgrau
vor Gottes Angesicht
[…]

Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg und auch die Zeitspanne zwischen 1914 und 1918 gehen ein in die Verse von Vladislav Petković Dis (1880–1917), Velimir Rajić (1878–1915), Milutin Bojić (1882–1917), Miloš Crnjanski (1883–1977) oder von Dušan Vasiljev (1900–1924) – alles Autoren, die wie die deutschen und französischen Dichter das Grauen der unerbittlichen Schlachten des Ersten Weltkrieges spiegeln und so einmünden in den Generationengesang von Ausgebranntsein und Hoffnungslosigkeit. Von Kriegsbegeisterung, serbischem Pathos und Nationalismus keine Spur! Der Expressionismus war in der Tat eine gesamteuropäische Bewegung, die ihren Ausdruck auch im Manifest fand, das Stanislav Vinaver (1891–1955) im Jahre 1920 dieser Stilrichtung widmete und sich dem revolutionären Geist und der „Schönheit des Seins“ anvertraute. Sumatra, das war die Chiffre für jene poetische Vision, die Crnjanski in seinem gleichnamigen Gedicht gestaltete:

Jetzt sind wir arglos, leicht, voll Zärtlichkeit
und denken, wie still, wie tief verschneit
die Gipfel des Urals doch sind
[…]
Erwachend nachts lächeln wir liebevoll
zum Mond hinauf, der seinen Bogen spannt
und so liebkosen wir der fernen Berge
eisige Gipfel zärtlich mit der Hand.

Crnjanski ist für die poetische Sprachwerdung Serbiens ebenso von Bedeutung wie für seine Generation und für die Poeten, die nach ihm kamen. Man wollte sich von den Fesseln der Alltagsbanalität befreien und die Geheimnisse in sich selbst und hinter den Fassaden des Greif- und Sichtbaren entdecken. Momčilo Nastasijevič (1894–1938) beispielsweise will eine archaische Poesie, die sich auf die Sprache besinnt und zugleich modern in die Welt hinausgreift. Nicht wenige serbische Poeten verfügen und verfügten über Kompetenzen auch in anderen Sprachen – und dies mit Gewinn auch für das Dichten in der Muttersprache. So dichtete Dragan Aleksić (1901–1958) auch in deutscher Sprache. Und holt den Gestus des Dadaismus aus den 1920er Jahren in sein eigenes Œuvre:

Möge die Sprache in die Luft fliegen und der große DADA bleiben.

Mein Opa der Mörder der Chinese Kornidov
ich Jesus Chaplin ein lächerlicher Junge
ein kranker Spross / rebellischer Geist eines Dandys

Das sind Verse des serbischen Surrealismus, der sich an den französischen anlehnt, jedoch sein Anliegen in einer revolutionären, revoltierenden Weise artikuliert:

Der Surrealismus ist von der Dichtung ausgegangen, von einer dichterischen Haltung weitet er sich zu einer ideellen Bewegung aus. Er ist Revolte, Revolte des ganzen Menschen gegen das bestehende Denken, gegen die Welt, die ihn umgibt.

So formulierten die 13 Surrealisten im Jahre 1932, unter ihnen Dušan Matić, Marco Ristić und Oskar Davičo. Doch es klingt auch weich, im Ton der Klage und Selbstvergewisserung, wenn Davičo schreibt:

Wer dich, Serbien kennt, der kennt den Schmerz von der Wurzel
und hört stets ein Bluten – ein Bluten
gleich dem Rauschen, nächtens, eines traurigen Sturmwinds
in Pappeln, den silbrigen Ruten.

Nach dem zweiten Weltkrieg waren Verse voll klagenden Tons und serbischer Beschwörungsformeln nicht selten. Das hat auch mit der länderübergreifenden sozialistischen Kunstideologie zu tun, die erst dann in der serbischen Literatur spürbar zu Ende ging, als es zum Bruch zwischen den beiden Diktatoren – Stalin und Tito – kam und poetische Subjektivität wie existentieller Befund des Dichtens in den Vordergrund rückten. Kristallisationspunkt für das neue Schreiben der serbischen Poeten waren die 87 Gedichte des 1928 geborenen Miodrag Pavlović aus dem Jahre 1952. Wie im Deutschland dieser Jahre ist diese Poesie getränkt von Metaphern, voller Synästhesien und skeptischer Lebensgefühle, zugleich aber auch spielerisch. Pavlović folgte die wohl bedeutendste lyrische Stimme der serbischen Literatur, nämlich Vasko Popa (1921–1991), der 1953 mit dem Band Rinde die literarische Bühne betrat – vorerst mit lakonischen, oft epigrammatisch verdichteten Versen. Die Lyrik Popas, der zunächst auf Rumänisch dichtete, dann aber ins Serbische wechselte, weil er in dieser Sprache seinen größeren dichterischen Resonanzraum fand, diese Lyrik, die in der Anthologie von Jähnichen ein wenig zu kurz gekommen ist, wurde in Deutschland breit rezipiert und insbesondere von Karl Dedecius kongenial ins Deutsche übersetzt. Erinnert sei an den 1969 erschienenen Band Nebelhimmel, der einen Querschnitt aus Popas lyrischem Werk bietet. Dass diese von Dedecius ins Deutsche geholten Verse nicht Eingang in Jähnichens Anthologie gefunden hatten, überrascht und ist vielleicht mit den Nachwirkungen der DDR-Slawistik zu erklären. Popa geht von der Alltagssprache aus, doch durchwirkt er seinen lyrischen Diskurs mit Surrealismen. Als Romanist und langjähriger Lektor im Noiit Verlag verfügte er über einen breiten Fundus an Wortmaterialien und bringt verschollene Volkslieder, Sprüche, Rätsel, Zauberformeln und Sprachspiele so in einen surrealistischen Kontext, dass daraus ein unkonventioneller und moderner Duktus entsteht. Er erkennt den „Himmel im Auge“.
Popa und Pavlović sind indes nicht die einzigen Autoren, die uns Deutschen etwas zu sagen haben, die einladen, uns mit Serbien als wichtige europäische Kultur- und Literaturlandschaft zu befassen. Die in den vierziger bis siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts geborenen Ana Ristović, Snežana Minić oder Miloš Komadina sind Dichterinnen und Dichter von Rang. Eine andere in Deutschland wahrgenommene Stimme gehört dem Bosnier Stevan Tontic (geb. 1947), der mit den im Weilerswister Verlag Landpresse erschienenen Büchern Handschrift aus Sarajewo und Im Auftrag des Windes davon Zeugnis ablegt, wie sehr Krieg und Exil Konstanten lyrischen Sprechens serbischer Poeten geblieben sind.

Matthias Buth, aus Matthias Buth: Seid umschlungen. Feuilletons zu Kultur und Zeitgeschichte, Vorwerk 8, 2017

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

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