Horst Meller und Klaus Reichert (Hrsg.): Englische Dichtung

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Horst Meller und Klaus Reichert (Hrsg.): Englische Dichtung

Meller & Reichert (Hrsg.)-Englische Dichtung

DIESE LETZTE QUAL

Diese letzte Qual Verdammter fanden die Väter:
„Sie kannten Glück das sie nie krönte später.“
aaaDies, sag ich – doch auf Erden – ist der Fall
aaaIn Himmel oder Hölle, überall.

Der Mensch, der Seele Magd, kann schnüffelnd stehn
Und deren Glück durchs Schlüsselloch besehn:
aaaEr weiß (selbst sicher), ohne Schlüssel, doch:
aaaNie wird die Tür aufgehn, nie zu das Loch.

„Was konzipierbar ist, wird möglich sein“,
Dies, träumend nicht von dir, sagt Wittgenstein.
aaaDoch merke: wer sich lang damit befaßt
aaaDürfte vergessen, wo dies gar nicht paßt.

Auf Knoten, die aus Dornen Kronen machen,
Kochen des Narren Töpfe bald mit Krachen;
aaaUnd niemand, wacht er noch so klug und lang,
aaaVerwandelt sie durch Starren in Gesang.

Dornwerk verbrennt zu Asche, so wie wir;
Ergiebig, einsetzbar für Bratgeschirr;
aaaUnd wer ins Feuer springt aus Pfannen
aaaSollte dies brave Paradox bestaunen.

Die großen Träume, die zum Leben laden,
Sind Projektionen auf den Höllenschwaden.
aaaDies, will ich sagen, ist real:
aaaEin Dia-Bild-Original.

Von Hand kann man sie einfallsreich bemalen
Oder im Kaufhaus maßgerecht bezahlen.
aaaSchwelgend in ihren buntgescheckten Schatten
aaaLaßt uns vergessen woher wir sie hatten.

Gib vor was Anstand taktvoll postuliert,
Tu als sei Status nur so konzipiert,
aaaUnd bau ein Wohngehäus aus Form,
aaaPhantomen Heimstatt, traut und warm.

Imaginiere mit mir, wunderbar,
(Vieldeutig wie was je ein Gott bringt dar)
aaaWas ganz unmöglich da sein will,
aaaLern aus Verzweiflung einen Stil.

William Empson

 

 

 

Nachwort

Unter den vielfaltigen Stimmen, mit denen die literarische Moderne eingesetzt hat, wird heute am nachhaltigsten die französische herausgehört: der neue Erfahrungsraum der Großstadt mit ihrer Anonymität und Geschwindigkeit, ihrer lockenden Reizüberflutung und Verlorenheit, den Räuschen, Träumen, auch enthemmten Obsessionen bei Baudelaire; die die Grenzen des Verstehens sprengenden, die Kräfte des Unbewußten freisetzenden, phantastisch-irren Bildergewitter bei Rimbaud und Lautréamont; der Rückzug aus der Abbildlichkeit, die Autonomie und Selbstbezuglichkeit der lyrischen Textur bei Mallarmé. Diesem ,Modernisierungsschub‘ in Frankreich hat kein anderes Land Vergleichbares an die Seite zu stellen, wenn wir bedenken, welche Folgen diese Anfänge für die Entwicklung der Lyrik nicht nur in Europa hatten. Für die englische Lyrik lassen sich jedenfalls, von heute aus gesehen, annähernd ähnliche Impulse nicht nachweisen. (Neuengland freilich besitzt in den Natur und Technik, Individuum und Masse verschmelzenden freien Rhythmen Walt Whitmans und in der dunklen Präzision und metaphorischen Gewaltsamkeit Emily Dickinsons zwei dichterische Stimmen von zukunftweisender Sprachkraft – und Amerika wird später der poetischen ,Modernisierung‘ des Mutterlandes entscheidende Impulse geben.)
In Frankreich und in England hatten sich neben der ,offiziellen‘, konsensfähigen Literatur und Kunst Strömungen herausgebildet, für die die von Gautier 1843 ausgegebene Parole l’art pour l’art ein Kürzel ist, das heißt eine Kunst, die in keinem politischen oder sozialen Verwertungszusammenhang nützlich sein will, sondern die allein für sich, für ihre ,Reinheit‘, den Eigensinn und die Eigenmächtigkeit ihrer Form, zu stehen beansprucht (und damit, im Widerstand gegen die entstehende Massenkultur, etwa in Gestalt des Feuilletonromans, selber eminent politisch ist).
Solche Strömungen waren nicht notwendig ,modern‘ im Sinne eines Fortschritts der Kunst als der Erweiterung ihrer Möglichkeiten, sondern sie knüpften oft, zumal in England, an Formentwicklungen an, die durch die Herausbildung klassischer, dann klassizistischer, dann akademisch erstarrter Kanons unterbunden oder unterbrochen worden waren. Beispielhaft ist hier, schon in der Namengebung, die Malerschule der Prae-Raphaelite Brotherhood, der auch Doppelbegabungen wie der Maler-Dichter Dante Gabriel Rossetti angehörten – ein Dichter, dessen Ingenium sich am Spender seines Vornamens entzündete, den er auch übersetzte. Und es ist bezeichnend für die zunächst eher rückwärtsgewandte Orientierung der englischen Modernisten, daß Walter Pater, der Wortführer dessen, was in den achtziger Jahren Aesthetic Movement hieß, in seinem epochalen, weit über die Grenzen Englands hinaus bekannt gewordenen Buch Studies in the History of the Renaissance (1873) gerade in der Malerei und Dichtung einer eben erst wiederentdeckten Epoche den Vorbildcharakter für die eigene Moderne herausarbeitete: im Namen der Schönheit und dessen, was er wohl als erster in England „art for arts sake“ nannte. Schönheitskult und Kunstreligion, in einer wieder zu entdeckenden Tradition fundiert und von Pater als Programm vorgetragen, haben in England – im imperialen, respektablen, viktorianischen England – ihre großen Foren gefunden: in Swinburne besonders, in Wilde, Dowson, dem jungen Yeats.
Darin ist kein englischer Sonderweg zu sehen, sondern eine europäische Bewegung, der Symbolismus. So groß die Unterschiede zwischen, sagen wir, Mallarmé und Swinburne auch erscheinen die Zeitgenossen selber sahen vor allem das Gemeinsame, Verbindende (und Mallarmé hat Swinburne 1875 sogar besucht): Formstrenge, Artistik, ein Schreiben in Andeutungen, Suggestionen, Evokationen, für die nicht das Sujet zählt, sondern eher das Unfaßbare, Unaussprechliche, das es umgibt und das in einer Gewandrüsche, einem Fächer, einer Emotionskurve sichtbar und hörbar werden mag. Dabei ist es dann fast gleichgültig, woher die Sujets genommen sind – ob aus der Mythologie, der Antike, der Bibel, der Renaissance –, sofern sie sich nur dem modernen Verwertungszusammenhang, das heißt jeder Spielart einer ,Gebrauchslyrik‘, verweigern.
In Deutschland arbeitete Stefan George nach ähnlichen Prämissen an einer Erneuerung der Dichtung im europäischen Maßstab – gegen die gängige Goldschnittlyrik à la Geibel und gegen den Naturalismus. In seinen Blättern für die Kunst stellte er seit den neunziger Jahren in eigenen Übersetzungen „werke der wichtigsten geister“ vor, „denen man das wiedererwachen der dichtung in Europa verdankt“. Als er 1905 die Sammlung seiner Übertragungen unter dem Titel Zeitgenössische Dichter in zwei Bänden vorlegte, begann bezeichnenderweise Band 1 mit den Engländern – Rossetti, Swinburne, Dowson. Erst der 2. Band brachte die Franzosen – Verlaine, Mallarmé, Rimbaud (seinen Baudelaire – Die Blumen des Bösen. Umdichtungen – hatte er allerdings schon 1901 veröffentlicht). Um die Jahrhundertwende war die Strahlkraft der Engländer auf die Kreise der deutschsprachigen Poesie, die man vage mit dem Jugendstil assoziiert, überwältigend. Das bezeugt am besten der junge Hugo von Hofmannsthal, der als Zwanzigjähriger einen Essay „Über moderne englische Malerei“ – von Rossetti bis Burne-Jones – veröffentlichte, in dem er Paters berühmte Beschreibung der Mona Lisa als ein Credo des Neuen in der Kunst in eigener Übersetzung zitierte. (Dieses Stück Pater-Hofmannsthalscher Prosa, im Grunde ein Prosagedicht, ist unserer Sammlung, wie schon das Original dem Yeats’schen Oxford Book of Modern Verse von 1936, gleichsam als Motto vorangestellt.) Bereits ein Jahr zuvor, 1893, hatte Hofmannsthal Swinburne einen eigenen Essay gewidmet, in dem von „wilder Schönheit“ die Rede ist, „von keiner heiligen Scham gebändigt“, von „dem prunkenden und glühenden Reichtum seiner Rhetorik, dem rollenden Triumph der strömenden Bilder, deren Duft seltsam und unvergeßlich, deren Musik tief aufregend und deren Glanz fremd und traumhaft ist“. So treffend diese Charakteristik Swinburnes ist, sie könnte genausogut für die eigenen Gedichte und lyrischen Dramen, die in jenen Jahren entstanden, gelten.
Noch ein dritter Dichter hat sich in eigenwilligen sprachmächtigen Übersetzungen um eine Einbürgerung spätviktorianischer Lyrik bemüht, auch er ein konservativer Revolutionär: Rudolf Borchardt. Seine Aufmerksamkeit galt ebenfalls vor allem Swinburne und dann Robert Browning, dessen Unbekanntgebliebensein er den Deutschen zornig vorhielt:

Browning, das Allergrößte was England dichterisch seit Shakespeare hervorgebracht hat, Meredith, mit ihm zusammen einen Zwillingskörper von zugleich erhabenster und subtilster Poesie bildend, wie nie ein Volk außer auf klassisch gewordenen Höhen ihn hervorgebracht hat, völlig unbekannt, geschweige übersetzt…

Diese Sätze stehen im 1926 geschriebenen Nachwortentwurf zur nie erschienenen 2. Auflage von Borchardts Swinburne deutsch. Aber schon als die erste Auflage erschien (1919), war die Zeit des erlesenen Ästhetentums, der zarten Empfindung, des Schönheitsrauschs unwiderruflich vorbei, und die Stimme verhallte ungehört.
Aber die Stahlgewitter des Ersten Weltkriegs kamen nicht aus heiterem Himmel; sie hatten ihren Schatten längst vorausgeworfen. Hellsichtig hatte Hofmannsthal in seinem Swinburne-Essay dem hohen Kunstkult hinter Gobelins das ,wahre Leben‘ gegenübergestellt:

In Wirklichkeit aber rollt draußen das rasselnde, gellende, brutale und formlose Leben. An den Scheiben trommelt ein harter Wind, der mit Staub, Rauch und unharmonischem Lärm erfüllt ist, dem aufregenden Geschrei vieler Menschen, die am Leben leiden.

An Stimmen dieser Wirklichkeit hat es in England nicht gefehlt, obwohl sie vereinzelt blieben und sich nicht zu Schulen gruppierten: James Thomson ist zu nennen, der Dichter einer allegorisch überhöhten, aber Baudelaire nicht unähnlichen Großstadterfahrung; Francis Thompson mit seinen fast dostojewskihaften Bilderfluten, die aus einem gottlos gewordenen Himmel mit irrationaler Gewalt hereinbrechen. Direkt sozialkritisch, in der Wortwahl unpoetisch, sogar vulgär, Tendenzen der politischen Lyrik der 30er Jahre vorwegnehmend, sind John Davidson und W.H. Davies. Aber wie gesagt, das sind vereinzelte Stimmen.
Zwei große, in ihren Methoden der Neuerung freilich grundverschiedene Dichter verbinden auf ihre Art das viktorianische Zeitalter mit der Moderne. Der kühnste aller poetischen Neuerer seiner Zeit, ein Sprach-, Laut- und Rhythmusexperimentator, wie es in der neueren englischen Lyrik keinen zweiten gibt, war Gerard Manley Hopkins. Seine Gedichte, der äußeren Form nach meist dem Sonettschema folgend, sind auf ihre Art so dunkel wie die Mallarmés, den er vermutlich nicht kannte. Er entwickelte einen eigenen, oft gegenmetrischen, oft von Zeile zu Zeile wechselnden Rhythmus, wodurch jede einzelne Silbe als gewissermaßen aufgeladener Energieträger wichtig wurde, eine Absicht, die er auch durch ungewöhnliche Silbentrennungen erreichte. Die Sujets, meist aus der Natur, lassen sich unter den auch syntaktisch komplizierten Strukturen oft nur schwer entschlüsseln. Hier ist ein Sprachbewußtsein am Werk, das es mit der Arbeit am Material der experimentellen Dichtung des 20. Jahrhunderts aufnehmen kann. Dabei ist Hopkins keineswegs ein Anhänger der l’art pour l’art-Bewegung. Worum es ihm, dem Jesuitenpater, vielleicht ging, war, die dem Schein nach vor Augen liegende Schöpfung wieder als Geheimnis zu sehen und mit den von ihm immer neu entwickelten Mitteln – so kompliziert wie die Mathematik Newtons – wieder zu verschlüsseln. Man mag sich fragen, ob die englische Lyrik eine andere Richtung genommen hätte, wenn seine Gedichte zu seinen Lebzeiten (er starb 1889) erschienen wären. Er hat sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nie veröffentlicht, teils aus Scheu vor seinen Oberen, teils weil Zeitschriftenherausgeber sie wegen ihrer Dunkelheit ablehnten. Sie erschienen erst 1918, und erzielten in der Nachkriegszeit eine späte, aber umso tiefere Wirkung.
Ganz anders liegt der Fall bei dem zweiten großen Einzelgänger der neuen englischen Poesie, bei Thomas Hardy. Er schrieb sein Leben lang Lyrik, begann sie aber erst um die Jahrhundertwende zu veröffentlichen, als er das Romanschreiben aufgab, und verfaßte dann die restlichen 30 Jahre seines Lebens nur noch Gedichte, insgesamt rund tausend an der Zahl. Da er in den Sammlungen stets Texte aus allen Lebensphasen mischte, merkt man erstaunt, daß es in seiner Lyrik keine Entwicklung gegeben zu haben scheint: der Ton der Jugend- und Altersgedichte ist kaum verschieden, außer daß er im Alter vielleicht noch düsterer wird. Hardys Lyrik steht quer zu allem, was in der viktorianischen, der edwardianischen, der georgianischen Lyrik geschrieben wurde: keine großen Emotionen, kein Schönheitskult, keine rauschende Rhetorik, kein Symbolismus, bei aller klassischen (autodidaktisch erworbenen, geliebten) Bildung keine Götter und Helden. Er hat den Blick des Bauern, der um seine Ernte besorgt ist, für den Himmel, nicht den des Romantikers; er hat den Blick des Steinmetzen und Kirchenbaumeisters, der er war, für den Stein, und ob er paßt oder nicht. (Das heißt, es wird nicht nach dem Metrum komponiert, sondern danach, ob ein Wort ,sitzt‘) Hardys Lyrik ist provinziell, in dem Sinne wie seine großen Romane provinziell sind. Er richtet den Blick auf das Kleine und Kleinste in der Natur und in den menschlichen Beziehungen, und gibt es wieder, wie er es sieht, registrierend, nicht interpretierend. Dabei ist er kein Naturdichter, wie man es von dem großen Landschaftsschilderer vermuten könnte. Er schaut ebenso wach in die politische Welt, die ihn umgibt, schreibt auch Gedichte zum Ersten Weltkrieg oder zum Untergang der Titanic, aber unaufgeregt, illusionslos, desengagiert, weil die Katastrophen im Grunde nur Bestätigungen seines früh erworbenen tragischen Weltverständnisses sind. Wenn man ein solches Weltbild einmal hat, bleibt Raum für Spiel, Ironie und einen etwas raunzigen Humor, der in der Haltung manchmal an den späten Fontane erinnert. Die scheinbare Mühelosigkeit dieser Verse täuscht über ihr handwerkliches Kalkül. Anders als Hopkins blieb Hardy zu seiner Zeit deshalb wirkungslos, weil er von keiner Richtung vereinnahmt werden konnte. Aber sein Einfluß auf die Dichter diesseits und jenseits des Atlantiks ist im Wachsen, seit sie sich von den Schulen und Ideologen verabschiedet haben. Dylan Thomas hat gesagt, Yeats sei der größte Dichter, aber er liebe Hardy.
Auf dem Kontinent bildeten sich nach dem Symbolismus, an dem England einen so entscheidenden Anteil hatte, im Vorfeld und Bannkreis des Weltkriegs einzelne Gruppen, die alles bisherige Dichten (Malen, Komponieren, Philosophieren) in Frage stellten und einen radikalen Neuanfang forderten: der Futurismus in Italien und Rußland, der Expressionismus in Deutschland, der Dadaismus in der Schweiz und in Deutschland, und später der Surrealismus in Frankreich. Der angelsächsische Raum hat auf den ersten Blick nur einen bescheidenen Anteil an diesen kunstkämpferischen Ismen. Aber der erste Blick trügt.
In London begann am Vorabend des großen Krieges der soeben aus den USA eingetroffene junge Ezra Pound (vgl. Bd. 4, S. 152ff. dieser Anthologie) seine selbstgewählte historische Mission, die englischsprachige Literatur – und dazu sich selbst – zu modernisieren, indem er künstlerische Impulse der Umbruchszeit aufnahm und bahnbrechende Talente, darunter Joyce und Eliot, forderte. Die von ihm ins Leben gerufenen kurzlebigen, aber folgenreichen Bewegungen des Imagismus und Vortizismus verstanden sich als Programm zur Härtung, Verdichtung und Dynamisierung des poetischen Ausdrucks gegenüber der vorherrschenden spätromantischen Idyllik der Georgian Poets. Der Vortizismus (aus lat. vortex: Strudel) strebt darüber hinaus, wie der von ihm geschmähte und imitierte Futurismus, eine enge Verbindung von Dichtung und bildender Kunst an. Die Radikalität, manifestreiche Durchschlagskraft und optische Präsenz als Bürgerschreck ihrer kontinentalen Vorbilder erreichten diese angloamerikanischen Gruppierungen nicht. Doch als zeitweilige Allianzen einander inspirierender Individuen waren sie bedeutsam, wie nicht zuletzt die Episode zeigt, in der Pound in den Jahren 1913/14 als ,Sekretär‘ von Yeats dessen modernistischen Stilwandel nachhaltig beeinflußte. Die menschlichen und ideologischen Verheerungen der Kriegszeit bewirkten, zusammen mit der unheilbaren englischen Neigung zur gentility (die A. Alvarez noch ein halbes Jahrhundert später als chronische Krankheit der britischen Kultur bezeichnen sollte), daß Pound schließlich seinen Versuch einer englischen Renaissance der Künste aus dem Geist der Moderne für gescheitert erklärte und sein Tätigkeitsfeld 1921 nach Paris verlegte. Sein Zyklus Hugh Selwyn Mauberley (Bd. 4, S. 168ff.) ist die satirisch-elegische Bilanz dieses Scheiterns.
Während Pound in London Gleichgesinnte um sich scharte, klassisches Epigramm, No-Spiel und chinesische Bildgedichte als Mittel zur Erneuerung der englischen Poesie entdeckte und Eliots frühe Lyrik zum Druck beförderte, taten – unberührt von aller Experimentierfreude der Avantgarde – die trench poets oder Dichter der Schützengräben (Wilfred Owen, Siegfried Sassoon, Isaac Rosenberg, Robert Graves – letzterer ein Großneffe des deutschen Historikers von Ranke) auf rein empirischer Basis einen entscheidenden Schritt zur endgültigen Ablösung des mittlerweile blutleeren spätviktorianischen Lyrikstils. Die gemeinsame Teilnahme am organisierten europäischen Massenmord in der Doppelrolle als Täter und Opfer, und der Drang, das Grauen der Front unbeschönigt auszudrücken, um damit den Papierwall chauvinistischer Propaganda (mit dem sich die Heimat vor der Realität des Krieges abzuschirmen suchte, und an dem angesehene Autoren wie Kipling und Wells eifrig mitgebaut hatten) zu durchstoßen, schafft bei den besten dieser Dichter einen expressiven Gruppenstil, der keiner Manifeste und keines Vereinslebens bedarf. Dissonante Reime, brutale Diktion, harte Syntax und schockierende Bilder verbinden sich etwa bei Owen mit einer apokalyptisch gefärbten Tradition der visionären Romantik. Yeats hat diesen Dichter bekanntlich aus seinem Oxford Book of Modern Verse mit der Begründung ausgeschlossen, seine Lyrik sei nichts als „Blut, Dreck und abgelutschte Zuckerstangen“ („all blood, dirt and sucked sugar stick“). Doch eine Perspektive, die im Ersten Weltkrieg die europäische Schlüsselkatastrophe des Jahrhunderts erkennt, hat dieser Schockdichtung inzwischen Gerechtigkeit widerfahren lassen. (Der deutsche Expressionismus geht in seiner apokalyptischen Radikalität freilich noch weiter als die trench poets. Zum Vergleich darf man an so unterschiedliche Dichter wie August Stramm und Georg Trakl erinnern, deren poetische Reaktion auf das Entsetzen des Krieges die Ordnung der Sprache selbst in Frage stellte, oder Bildwelten erfand, die den Surrealismus vorwegnahmen.)
Weniger der Weltkrieg als die verschiedenen Phasen des irischen Freiheits- und Bürgerkrieges markieren bei William Butler Yeats einem zeitlebens wandlungsfähigen Dichter, dessen Entwicklung von vielen Übergängen und einigen Verwerfungen geprägt ist, den Einbruch harter politischer Realität in den ästhetischen Raum. Yeats begann im Umkreis der Symbolisten, brachte in deren Preziosentum aber einen Schatz ganz eigener Art ein: die keltische Mythenwelt. Das bedeutete nicht einfach die Entdeckung neuer Sujets, neuer Bilder und Tonfarben, sondern stand im Zusammenhang mit der sogenannten irischen Renaissance in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts, war also auch politisch motiviert im Sinne der Selbstbehauptung einer eigenständigen Kultur gegenüber der englischen. Yeats war zu Beginn des neuen Jahrhunderts dann auch maßgeblich an der Gründung eines irischen Nationaltheaters beteiligt. Er ist der seltene Fall eines Dichters, der zunehmend politisch aufmerksam wird, sogar die Tagespolitik poetisch gestaltet, sich darüber jedoch nie zum Doktrinär oder Pamphletisten wandelt, sondern in jeder Zeile Dichter bleibt. So ist das große Gedenkgedicht über den blutig niedergeschlagenen irischen Osteraufstand 1916 mit der dreimal wiederholte Zeile „A terrible beauty is born“ eine poetische Absage an den Ästhetizismus des fin-de-siècle und findet gleichzeitig eine neue Form des Totengedächtnisses: statt Verklärung nur noch Nennung der Namen (‑ „… our part / To murmur name upon name“), Yeats’ politische Wachheit und Aktivität (er stellte sich dem irischen Freistaat als Senator zur Verfügung) hat ihn nicht daran gehindert, seinen viktorianischen Glaubensverlust zu kompensieren, indem er eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit suchte. Als die Frau, die er 1917 heiratete, sich in der Hochzeitsnacht als Medium entpuppte, nahm er jahrelang teil an einer okkulten Geistwelt, die er zu einem theosophischen System ausbaute. Aber was wie eine private Marotte aussieht, läßt sich in den europäischen Kontext stellen: auch Kandinsky und Schönberg, um nur diese zu nennen, waren in jenen Jahren vom Okkultismus fasziniert und leiteten zum Teil aus ihm ihre Erfindungen neuer Kompositionstechniken ab. Andere Wirklichkeiten – das konnte auch bedeuten, im Schutt der Geschichte nach verlorengegangenen Traditionen zu graben. Der Freund und – eine Zeitlang – Weggefährte Ezra Pound versuchte eine Erneuerung der Poesie (die ja immer auch Kulturkritik heißt) zunächst aus dem Geist (und den Techniken) der Dichter um Dante, der Provençalen, danach der Römer, der Angelsachsen, der Chinesen. Für Yeats lag die verschüttete Möglichkeit im Byzanz der Ostkirche, die aber nur noch Erinnerung sein konnte, weil der nach seiner Privatmythologie mit Byzanz anhebende Zyklus in der Gegenwart unwiderruflich zu Ende ging. Was jetzt kam, mit der apokalyptisch verheißenen zweiten Wiederkunft (des Messias, den Yeats aber nicht nennt), konnte nur noch die Zerstörung sein:

Mere anarchy is loosed upon the world.

Die Zeile aus dem 1919 entstandenen Gedicht „The Second Coming“ bringt Theologie, geschichtliche Aktualität (Irland, Weltkrieg, Rußland) und Geschichtsprophetie auf eine Formel. So dicht konnte Yeats schreiben. Und er verband in seinem Werk, einem Triumph stetiger Selbsterneuerung, das Öffentliche mit dem Privaten, das Private mit dem Öffentlichen wie kein zweiter in der Lyrik der englischen Moderne, ausgenommen vielleicht Auden.
Als zweite überragende Gestalt, und als Antipode von Yeats, gilt in der englischen Dichtungsgeschichte der ersten Jahrhunderthälfte T.S. Eliot, ein Amerikaner, den sein Landsmann und poetischer ,Geburtshelfer‘ Ezra Pound dazu bewog, sich in London niederzulassen, und der sich nach seinen großen succès de scandale weit gründlicher anglisieren sollte als sein nomadischer Freund. Unsere Anthologie sucht seinen amphibischen Status innerhalb der amerikanischen und englischen Dichtung der Moderne dadurch zu akzentuieren, daß sie seine Texte auf zwei verschiedene Bände aufteilt. Eliot begann als radikaler Anti-Illusionist, Anti-Romantiker, Anti-Symbolist; Gefühle und Stimmungen werden, wenn überhaupt, in ironisch-satirischer Brechung oder unter dem klinischen Blick eines Diagnostikers vorgeführt. Eliot hat als einer der ersten, wohl unter dem Einfluß Pounds, Zitat und Montage in die Lyrik eingeführt. Die Gedichte sind ,gemacht‘, sind zusammengestückelt aus Fragmenten der indo-europäischen Kulturen, deren Zusammenhang oder deren Besonderheit verlorengegangen ist. Sterilität und Banalität, modische Sinnkrise und halbgare Heilsversprechungen als Signaturen der Moderne nach dem Ersten Weltkrieg sind in dem vielstimmigen Langgedicht The Waste Land (1922) zusammenmontiert, das wie kein zweiter poetischer Text in englischer Sprache die Lyrik der ersten Jahrhunderthälfte mitprägte (seiner partiellen Aufnahme in diese Anthologie stand das ausdrückliche Verbot eines Teilabdrucks durch den Autor entgegen). Bereits 1927 hat Ernst Robert Curtius das Gedicht ins Deutsche übersetzt, ohne daß es allerdings von einer breiten Leserschaft angenommen worden wäre. Eliot ist der Typus des ,gelehrten Dichters‘, der den inspirierten Dichter früherer Generationen ablöste, damit aber an eine Tradition wieder anknüpfte, die etwa mit Milton abbricht und bis in die Antike zurückreicht. Er, der sich selbst als Klassizisten bezeichnete, entwickelte auch als Kritiker eine gewichtige Stimme. So rehabilitierte er die abgewerteten (oder unbekannt gewordenen) Metaphysical Poets und entdeckte in ihren komplizierten, geistreichen, oft aus spielerischen Wortkombinationen und metaphorischen Gewagtheiten bestehenden Gedichten Vorformen des modernen poetischen Kalküls. Als Kritiker und Zeitschriftenherausgeber (The Criterion) entdeckte er Lyriker der nächsten Generation (Auden, Stephen Spender, George Barker). Eine Überwindung der durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Desillusionierung und Sinnkrise trat ein, als er in den 20er Jahren zur anglikanischen Hochkirche konvertierte. Ohne die frühen technischen Errungenschaften aufzugeben, führt er den Gedichten dadurch formal neues Material zu: Liturgie und Litanei, Responsorium und Antiphon. Alle Formenvielfalt Eliots kommt zusammen in dem großen, nach musikalischen Wiederholungsstrukturen gebauten Zyklus der Four Quartets (1936–1942): „time past and time present“ ist das verbindende Thema, und Eliot unternimmt es, Jahreszeiten und Elemente, amerikanische und englische Landschaft, religiöse Inspiration in Mittelalter und früher Neuzeit, die eigenen Wurzeln in der jahrhundertealten englischen Vergangenheit und den Bombenkrieg im London seiner Tage („blitz“) in polyphoner Simultaneität zu vereinen.
Man sollte in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß Eliots formale Kühnheiten aus den zwanziger Jahren eine Parallele in den großen Entwürfen des Bewußtseinsromans seiner Freundin Virginia Woolf hatten und daß im gleichen Jahr 1922 The Waste Land erschien und der Ulysses des von seinem Freund Pound geförderten James Joyce. In den politisch und wirtschaftlich kritischen dreißiger Jahren erlahmte allmählich der experimentelle Furor, wenn wir von Finnegans Wake absehen, das freilich ein Grenzfall zwischen Roman, Prosagedicht und Musik ist. Relativ unbeachtet als Lyriker blieb in jenen Jahren ein Dichter von hoher Originalität, dessen Stil dem Eliots radikal entgegengesetzt ist: D.H. Lawrence. Mit den bisher skizzierten Modernismen hat er nichts zu tun, fügt ihnen aber eine ganz eigene, unüberhörbare Stimme hinzu. Lawrence ist keineswegs das naive Naturkind oder der Erotomane, in welchen Rollen er gern gesehen wird, wenn man an seine skandalumwitterten Romane denkt. Er ist ein außerordentlich belesener Autor, aber er macht nicht Literatur aus Literatur. Auch er versteht sich als Radikalkritiker der zeitgenössischen Zivilisation, wie Eliot, wie Yeats; aber er kritisiert sie nicht nur, sondern er steigt aus ihr aus und sucht nach neuen Lebensformen in den Landschaften Italiens oder in Neumexiko, weit weg von den Metropolen. Nach allem Kalkül in der modernen Lyrik ist bei ihm auf einmal wieder die Stimme der Leidenschaft und des Rauschs zu hören, in langen, ausschwingenden Zeilen, die durch kurze, wie gehechelt wirkende, kontrapunktiert werden. Dabei ist er, Hardy vergleichbar, ein scharfer Beobachter der Natur oder menschlicher Beziehungen, wie sie sich in kleinsten Gesten und Gebärden äußern mögen. Doch sucht auch er, wie Yeats, eine Wirklichkeit hinter den Erscheinungen und findet sie – nicht in einer Geistwelt, sondern – im ewigen Leben des Mythos. Durch seine Gedichte laufen Götter und Göttinnen, Nymphen und Faune. Nur kommen sie nicht aus Büchern, sondern sie sind da: in den Bäumen und Sträuchern Siziliens oder im bayrischen Enzian, den er zu einer Totenblume mythisiert.
Die jungen Lyriker der dreißiger Jahre sahen sich freilich anderem verpflichtet als der Natur, der Literatur, der Liebe oder dem Formexperiment. Auden, MacNeice, Spender, auch der Schotte MacDiarmid, schrieben das, was später ,engagierte Literatur‘ hieß. Sie wollten politisch wirken angesichts von Weltwirtschaftskrise, Faschismus, Nazismus und spanischem Bürgerkrieg, und setzten, wenigstens eine Zeitlang, auf den Kommunismus. Daß dabei auch ästhetisch überzeugende Gedichte entstanden, zeigt, daß sie ihre zum Teil beträchtliche poetische Begabung nicht verleugnen konnten. Besonders W.H. Auden ist hier hervorzuheben, sicher einer der sprachmächtigsten Lyriker des 20. Jahrhunderts. Auden hat sich fast aller poetischen Formen bedient und sie zu neuer Strahlkraft gebracht. Er beherrschte das politische Gedicht, ohne je dogmatisch platt zu werden, ebenso wie die Elegie, für die er eine zeitgemäße Form fand. Er überraschte immer wieder neu, denn nie war vorherzusehen, welche Wendung sein Dichten nehmen würde. Obwohl schon früh von einem Auden-Ton die Rede war, standen ihm höchst vielfaltige Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung. Privates steht neben historischem Kommentar, glasklare Ferne neben übergroßer Nähe, Banales neben Erhabenem. Darin ist er bei uns Gottfried Benn vergleichbar. Auden hatte ein untrügliches Gespür für Atmosphärisches, für Stimmungen historischer Lagen, für den ,Geist‘ eines Zeitalters. Sein einstmals berühmtester Text – eine Mischung aus viergestaltig monologisierendem Poem, Drama und kommentierenden Zwischenberichten – erfaßt die Stimmung im letzten Kriegswinter in einer New Yorker Bar, Verlorenheit, Trostlosigkeit, flüchtige Räusche: The Age of Anxiety (1948). Das Poem wurde als Therapeutikum gegen den altersfrommen grand old man angelsächsischer Dichtung, T.S. Eliot, empfunden: es war das Gedicht zum Zweiten Weltkrieg, so wie The Waste Land das zum Ersten gewesen war. Es erschien als Das Zeitalter der Angst im papierknappen Winter 1950/51 auf deutsch. Benn schrieb das Vorwort: Audens Gedicht könnte den Deutschen helfen, sich nichts vorzumachen, die Lage zu erkennen und zu „bestehn“, anstatt sich ins Antik-Humanistische oder Christlich-Abendländische zu flüchten:

Auden ist hierzu ein Weg, er wird nicht nur den Blick in eine andere Richtung führen, sondern er wird auch diesen Blick mit einer neuen Schönheit füllen – allerdings einer Schönheit, die immer im Kampf liegt mit dem Tod und der Trauer, ja mit dem Verfall und der Zerstörung, aber dieser Kampf um die Schönheit wird im Augenblick das einzige sein, das, um mit Auden zu schließen, uns geblieben ist, „das Schöpfertum in Schmerz und Stille und noch einmal vor der Selbstzerstörung zu bewahren“.

Der Einfluß Audens war im mittleren Drittel des Jahrhunderts der bestimmende in England; ihm gegenüber verblaßten Eliot und Yeats, und Lawrence und Hardy waren noch nicht entdeckt. Trotzdem meldete sich in den vierziger Jahren eine andere Stimme zu Wort die wie Blitz und Donner aus heiterem Himmel kam und alles zeitdiagnostische, kluge, formstrenge, approbierte Dichten mit einem Schlag in Frage stellte: Dylan Thomas. Mit ihm erklang noch einmal eine ganz neue, nie gehörte Stimme, die sich abhob vom politisierten Konzert der Kriegs- und Nachkriegsjahre: die ,reine‘ Stimme der Dichtung. Unerhörte Bilderfindungen, komplexe Rhythmen und Lautfolgen, syntaktisch fremde Wort- und Satzkaskaden erzeugten akustische und visuelle Räume, die jeden Rahmen bisherigen Dichtens sprengten und die doch aus der alten Schöpfungsmaterie der Dichter geformt waren: Kindheit und Sehnsucht, Liebe und Tod. Es überrascht nicht, daß er in seinem kurzen Leben auf Vortragsreisen und -räuschen gerade in Amerika Triumphe feierte. Denn dort war in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren eine Dichtung im Entstehen, die sich unwiderruflich von den Traditionen der englischen gelöst hatte: die Dichter im Umkreis des Black Mountain College, die New York Poets und die Poeten der Beat Generation, deren gemeinsames Vorbild William Carlos Williams war, nicht Auden, nicht der europäisierte Eliot.
Eher ein Außenseiter, dem eine späte, aber nachhaltige Wirkung zuteil wurde, ist der Poundschüler Basil Bunting. Sein großes autobiographisches Gedicht „Briggflatts“ erschien 1966, doch seine Wirkung begann sich erst ein Jahrzehnt später zu entfalten, bezeichnenderweise angeregt durch die amerikanischen Dichter Robert Creeley und Allen Ginsberg. Für Bunting war die Landschaft, Geschichte und Sprache Nordhumbriens bestimmend; hier stammte er her, hierher kehrte er nach langen Jahren in Persien zurück. Die englische Lyrik, fand er, war bestimmt von den „Südlern“, den Angelsachsen. Ihnen stellte er sein nördliches Idiom entgegen, in dem viele Spuren der von Skandinavien geprägten Geschichte zu finden sind. Buntings Lyrik ist äußerst dunkel. Das hängt mit seinem poetischen Verfahren zusammen, für das die verschlungenen, sich verzweigenden Linien der Initialen im Evangeliar des Klosters Lindisfarne ebenso Vorbild waren wie die Eigenarten der Skaldendichtung (das Stabreimen, die Kenningar) oder der persischen Dichtung eines Firdusi. Diese Lyrik ist schwer zu entziffern, aber sie wird sofort lebendig, wenn man sie hört, auch wenn man sie nicht immer im lexikalischen Sinn versteht:

Sie handelt von Klängen, langen und kurzen Klängen, schweren und leichten Betonungen, den Tonverhältnissen der Vokale, den Beziehungen der Konsonanten untereinander, die wie Klangfarben in der Musik sind. (Bunting)

Was so entstand, sind allerdings nicht Lautgedichte – es sind Klanggebilde, durch die der Atem einer vergangenen Zeit und Kultur weht, wie er nur als gesprochenes Wort in einer bestimmten Landschaft fortlebte.
Ein anderer Lyriker der älteren Generation, der erst nach dem Krieg zur Geltung kam, obwohl seine bekanntesten Gedichte viel früher geschrieben waren, ist William Empson, der bedeutende Literaturkritiker der Vieldeutigkeit. Auch seine Texte sind extrem komplex; aber anders als die Gedichte Buntings, die in archaische Nebel zurückreichen, lassen sie sich präzis entschlüsseln. Empson ist sicher der zerebralste der englischen Dichter der Moderne. Er schreibt eine ,Gedankenlyrik‘, die intellektuell auf der Höhe der Zeit steht und poetisch auf die großen Herausforderungen durch die Physik, die Mathematik und das Ende der Metaphysik Antwort gibt. Er weiß, wovon er redet, denn er hat die Wissenschaften studiert, denen er das Feld der Erkenntnis nicht überlassen will. Seine Gedichte sind so schwierig – metrisch, syntaktisch, metaphorisch, gedanklich – wie die neuen Wissenschaften auch, aber durch ihre vielfältigen Verstrebungen mit der Tradition – in Mythos und Religion, Poesie und Wissenschaftsgeschichte – versuchen sie (ein letztes Mal?), die Komplexität der vita humana und inhumana, auch in ihrer Geschichtlichkeit, ins Wort zu bannen. Empsons Einfluß auf die englische Lyrik war beträchtlich. Besonders die antiromantische, rationalistische Gruppe The Movement, die in den fünfziger Jahren bekanntzuwerden begann (Larkin, Enright, Thom Gunn u.a.), bezog sich gern auf ihn. Diese Lyriker sind nüchtern, manchmal ironisch und witzig und wenden sich mit Vorliebe Alltagsgegenständen zu. Ein wichtiger Antrieb zum Schreiben ist die Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte, insbesondere auch der deutschen; die Thematik zieht sich seit den fünfziger Jahren bis heute durch die englische Lyrik, von D.J. Enright über Michael Hamburger und Geoffrey Hill bis zu James Fenton. Ein Sonderfall ist Michael Hamburger, der mit neun Jahren aus Berlin nach England emigrieren mußte und der als Lyriker, obwohl er nur englisch schreibt, gewissermaßen zwischen zwei Sprachen steht. Er hat die Dichter des ,hohen Stils‘ (Hölderlin, Celan) übersetzt und rettet sich, wie diese, in die Sprache als einen Hohlraum jenseits der tagtäglichen Barbarisierung des Sprachlichen. Seine hohe Sprachbewußtheit, auch die stete Reflexion des poetischen Mediums, verbindet ihn mit Charles Tomlinson. Das Werk beider Lyriker hat darüber hinaus im genauen Hinsehen, Hinhören auf die Natur einen fast hardyhaften gemeinsamen Grund.
Gegenüber dem, was sich nach Kriegsende in den USA an neuen, oft eruptiven Strömungen in der Dichtung zu formieren begann, wirkt die englische ,Szene‘, besonders im Umkreis des Movement, eigentümlich gedämpft und insular in ihrem ironischen Understatement und ihrer gepflegten Trauer über den Gang der Dinge im englischen Wohlfahrtsstaat, für die Philip Larkin repräsentativ und stilprägend war. Deshalb stellt A. Alvarez 1962 in seiner einflußreichen Anthologie The New Poetry seinen Landsleuten die ,konfessionellen‘ amerikanischen Lyriker Lowell, Berryman, Plath und Sexton als Vorbilder voran und fordert in seinem beredten Vorwort das Ende des gentility principle. Eine Reihe von wert- und bildmächtigen Autoren seiner Sammlung, darunter der schwierige, anspielungsreiche, europäisch orientierte poeta doctus Geoffrey Hill oder der höchst ungewöhnliche ,Naturdichter‘ auf den Spuren von D.H. Lawrence, Ted Hughes, zeigen verheißungsvolle neue Wege. Bei Hughes, dessen Thematik naturhafter Gewalt auf ihre Weise Hitler, Stalin und die Atombombe reflektiert, ist es letztlich das hinter der Natur Liegende, was ihn interessiert: das Heidnisch-Dämonische und die Bedrohung durch archaische Tiere, die sich gegen den Menschen, den Menschen-Gott, und ihre brüchigen Sinnsysteme erheben. Hughes sieht den Dichter als Schamanen, der Zugang zu verschütteten Quellen des Wissens hat und ein animistisches Licht der Natur zu entzünden versteht. Heidnische, genauer gesagt keltische Quellen finden sich auch bei dem nordirischen Lyriker Seamus Heaney, und auch er schreibt auf seine Weise Naturgedichte, schreibt über irische Moore und Äcker. Aber die Landschaften, die er gestaltet, sind keine Idyllen (und sei es durch die Zivilisation bedrohte), es sind geschichtlich gewordene Räume, und das heißt in Irland, daß sich durch jede Furche die Blutspur der Eroberer zieht, von den Zeiten der Wikinger an bis heute. Heaney hat einerseits (wie Hardy) den unromantischen Blick des Bauern für die Stimmigkeit und Brauchbarkeit des einzelnen benannten Gegenstands, andererseits (wie Yeats) den ebenso scharfen Blick für seine historisch belastete, tragische Valenz. Beide werden nun aber nicht in einen ,symbolischen‘ Zusammenhang gesetzt: das eine ist das andere, das andere das eine, in der Gleichzeitigkeit dessen, was sich ausschließen könnte, würde es nicht von der Politik im Norden tagtäglich vergegenwärtigt.
Je näher eine anthologistische Gedichtauswahl der Gegenwart kommt, desto diffuser muß das Bild, desto ungerechter die Auswahl werden. Die Fülle an poetischen Talenten, sei es in der sogenannten Belfast Group, in den Texten der sprachlich und ständisch unangepaßten Dichter aus dem Arbeitermilieu des Nordens, oder der witzig und selbstbewußt auftretenden women poets, (wie sie die repräsentative Sammlung Contemporary British Poetry von B. Morrison und A. Motion 1982 und die neueren Anthologien von S. Armitage und S. O’Brien zeigen) läßt sich nur in bescheidener und problematischer Auswahl andeuten. Gleichzeitig sorgt das zu Ende gehende Jahrhundert bei einigen der großen Figuren für abschließende Akzente; so wenn Hughes vor seinem Tod im Vermächtnis seiner Birthday Letters die mythisch-tragische angloamerikanische poetic love affair mit Sylvia Plath in eindrucksvolle dichterische Form bringt, oder wenn der überragende Status von Seamus Heaney durch den Nobelpreis anerkannt wird. Das Bild, das der vorliegende Band dieser Anthologie von der englischen Dichtung des späteren 19. und 20. Jahrhunderts entwirft, zeigt sie im Prozeß einer ständigen Selbstvergewisserung und Selbsterneuerung aus dem reichen Fundus der einheimischen Tradition und in der vitalen Auseinandersetzung mit den Umwälzungen eines in vieler Hinsicht katastrophalen Jahrhunderts. (Der Dialog mit der kontinentaleuropäischen Dichtung ist dabei in der nach-modernistischen Ära, die keine mit Yeats oder Eliot vergleichbare Dichtergestalt hervorgebracht hat, deutlich schwächer ausgeprägt, obgleich die Übersetzungstätigkeit der Dichter selbst zunimmt.) Im ganzen gesehen wird deutlich, daß entscheidende Modernisierungsschübe aus den – englisch gesehen – Randbereichen kommen: aus den USA, aus Irland, und in geringerem Maße aus Schottland (MacDiarmid), Wales (Dylan Thomas) und ,Nordhumbrien‘ (Bunting). Mit der auf höchst knappe Weise irisch-beredten, Jahrhunderte einer Randkultur des Empire zum Klingen bringenden Stimme Heaneys könnte unser Band, der mit den Spätviktorianern begann, enden. Wir haben ihr, außer derjenigen Brodskys (die die Polarität des Kalten Krieges poetisch negiert), aber noch eine andere hinzugefügt: auch Derek Walcott, aus der Karibik, singt mit dem Selbstbewußtsein eines Volkes, das nach Jahrhunderten seine Stimme fand. Walcott kann ein Beispiel dafür sein, daß es vielleicht bald nicht mehr möglich ist, von englischer Lyrik im Rahmen einer Nationalliteratur zu sprechen.

Horst Meller und Klaus Reichert, Nachwort

 

 

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