Beatrice Faßbender und Ulrich Schreiber (Hrsg.): An den Toren einer unbekannten Stadt

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Beatrice Faßbender und Ulrich Schreiber (Hrsg.): An den Toren einer unbekannten Stadt

Faßbender & Schreiber-An den Toren einer unbekannten Stadt

RAUM

Sein Geist war grenzenlos als er
Ausflog, er war ein Schweigen wie angegossen
Auf Luft und Wasser mannigfaltig
Gestoßen aus dem Schoß einer Arche

Licht-Atem, webende Flügel beim Wirken
Des Unermeßlichen, von der Kuppe des Betens
Trennten sich Hände, um die Versprechen
Des ersten, ungestörten Es Werde einzulösen

Er fliegt und macht die Strohhalm-Probe auf die Sintflut
Durchwatet den verhang’nen Meeresarm des Zorns
Kurier aus dem Schlummer und First des auserwählten
Treibguts, einer von all den Zugrundegegangnen

Durch Glühwürmchen-Gewebe trieb er
Einen sachten Keil ins Splintholz des Himmels
So sicher wie der Pilger zum Ursprung gelangt
Brachte den weißen Schatten auf dem Webstuhl unter

Seine Fülle war ein weißes Zelt auf
Kobalt-Sänden, und er, Focksegler –
Damit die Flut-Perioden nicht vergessen werden –
Pflückt der Karawane eine Dattel. Der Stein
Der Herzstein Quelle wahrer Fata Morganen
Öffnet sich auf eine glühende Oase im Osten

Beim Fliegen flügellos, Weihrauch-Boot mit
Eingelegten Hoffnungs-Strömen, ein Nebel-Beben
Das an ein körperloses Luftlied rührt
Ein ovales Kleid aus verblassendem Mondlicht
Eine Pause leuchtend von Schweigen, hingezogen
Zu Geisterfingern auf dem bezauberten Webstuhl

Zwischen der äußeren Reise und dem Blick
Zurück auf den Glanz von Oberflächen bevor sie
Leer waren sah er – neu aufgekommene
Staub-Spannen, den Raum abzumessen!

Ist es ein Wunder, daß er nicht zurück will?
Er sucht seine Ruhe auf Seitenwinden –
Die leeren in eine einzige einsetzende Flut
Ewige Sintflut des Entwurfs eines Worts!

Wole Soyinka
(Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt)

 

 

 

Die Dimension des Gedichts

Bei der Begegnung mit einer reichen und interessanten Gedichtanthologie wie beispielsweise der des ersten internationalen literaturfestivals berlin Die Welt über dem Wasserspiegel herausgegeben von Ulrich Schreiber im Jahr 2001, ertappt man sich gelegentlich bei der Frage nach dem Was und Warum der Poesie. Manchem mögen diese Fragen allzu naiv erscheinen. Aber was ist falsch an naiven Fragen? Naive Fragen, etwa die, warum es Elektronen gibt oder warum es überhaupt eher etwas gibt als nichts, sind doch die kurzweiligsten Fragen.
Was ist ein Gedicht?
Ich erinnere mich an eine Diskussion im studentischen Literaturclub in Uppsala um 1959 herum, als die jugendlich enthusiastische Versammlung diese Frage erörterte und zu einer Antwort kam, die uns alle in ihrer formalen Einfachheit ansprach: Ein Gedicht hat einen unregelmäßigen rechten Rand, während der rechte Rand der gedruckten Prosa regelmäßig ist. Ach, wir vergaßen ja die Prosagedichte! Was ist denn ein Prosagedicht? Ein Gedicht, könnte man vielleicht antworten, das die Prosa zu seiner Versform erwählt hat. Das zeigt etwas Interessantes, nämlich, daß ein Gedicht sich in fast jeder beliebigen sprachlichen Form offenbaren kann und trotzdem ein Gedicht bleibt.
Was ist ein Gedicht? Ein verbales Kunstwerk, bestehend aus einer Anordnung von Wörtern, das mehr oder weniger mit syntaktischen und verbalen Erwartungen übereinstimmen kann. Das klingt zwar wie eine gute Definition, doch bringt es uns wirklich nicht sehr weit. Auf die gleiche Art könnte man ja sagen, daß ein malerisches Kunstwerk aus Farbpigmenten besteht, in einer Ordnung, die mehr oder weniger mit verschiedenen visuellen und stilistischen Konventionen übereinstimmt. Eine solche Definition drückt ganz gut aus, was ein Rubens, ein Seurat und ein Jackson Pollack gemeinsam haben, klärt aber nicht den Unterschied gegenüber dem Muster einer Tapete oder eines Bettüberwurfs.
„Wörter“ beziehungsweise „Farbpigmente“ sagt etwas über die Kontaktfläche des Gedichts beziehungsweise Gemäldes mit der Außenwelt, über die Art, wie sie mit anderen kommunizieren, sagt aber nichts über die Eigenart des Gedichts oder des visuellen Kunstwerks.
Ein Gedicht wird im gleichen Sinn aus Wörtern gemacht wie ein Gemälde aus Farbpigmenten gemacht wird, aber was mit diesen Wörtern gemacht wird – das ist etwas anderes.
Gedichte erwecken oft den lustigen Eindruck, schwer ihren Ort in der Wirklichkeit zu finden. Wenn man mit „Wirklichkeit“ drei räumliche Dimensionen und eine Zeitdimension meint, ist das nicht besonders merkwürdig. Aber Gedichte besitzen ja soviel mehr Dimensionen. Wir wählen ein Beispiel. William Bronks „Living Instead“:

Nothing much can we do about it so we live
the way old bones and fossils lived, the way
long-buried cities lived: we live instead
– just as if and even believing that here
and finally now, ours could be the real world.

Dieses Gedicht hat eine phonetische Dimension; es kann laut gelesen werden, und seine Vokallaute verleihen ihm Farbe und Leben. Es hat eine syntaktische Dimension, die gerade in seinem Fall ganz nah an normaler englischer Prosa liegt. Diese syntaktische Dimension kann in verschiedenen Gedichten sehr verschieden aussehen. Man kann sich sehr weit von der standardisierten Syntax entfernen, die den verschiedenen Schriftsprachen eignet, wie der große Gunnar Björling.

Några dagar går                    Tage vergehn
Det är ej länge sedan             Lang noch nicht her
Och nu vilar                             Und ruht
Under sten och sten               Unter Stein und Stein
Och ännu dörren slår           Schlägt noch die Tür
För storm och vinden           Im Sturm und Wind
Några dagar går                  Tage vergehn
Det är ej länge sedan           Lang noch nicht her
Och nu vilar.                          Und ruht

Es wäre natürlich ein Irrtum zu glauben, daß es einem Gedicht an Syntax fehlt, nur weil seine Syntax nicht mit der kanonisierten übereinstimmt. Wenn wir einen Poeten wie Björling etwas eingehender lesen, werden wir finden, daß er im höchsten Grad seine eigene Syntax entwickelt, eine Syntax, in der die leeren Stellen, die Leerzeilen und die Zwischenräume zwischen den nur tropfenweise fallenden Wörtern ebenso wichtige Bausteine werden wie die Wörter, die auf dem Papier zu lesen sind.
Jedes Gedicht besitzt eine phonetische Dimension, haben wir gesagt.
Aber diese phonetische Dimension, die bei einigen Poeten eher diskret ist und bei anderen, beispielsweise bei Goethe in „über allen Gipfeln“ oder in Joseph Brodskys Poesie, sehr dominierend werden kann, ist nicht dasselbe wie die rhythmische Dimension.
Was seit der klassischen Antike über den Rhythmus in der Poesie geschrieben wurde, füllt meterlange Regale, über Jamben, Trochäen und Anapäste. Wer sich für das Thema interessiert, mag es bemerkenswert finden, daß in unseren Tagen keine totale Einigkeit darüber herrscht, wie die Feinstrukturen des Versmaßes zu analysieren sind.
Welche kommt als nächste? Die Bedeutungsdimension des Gedichts, die semantische. Doch das ist nicht eine, es sind viele Dimensionen, denn eine Bedeutung kann in einer anderen enthalten sein. Das ist eine recht primitive Art, über Metaphern zu sprechen. Das Interessanteste an Metaphern schien mir immer zu sein, daß sie gut oder schlecht sein können. Wir haben eine zumindest intuitive Idee über den Unterschied zwischen Wahrheit und Unwahrheit. Aber woran erkennen wir, ob eine Metapher gut ist? Es ist ja völlig klar, daß der Erfolg einer guten Metapher nicht etwas ist, das man durch Meinungsumfragen entscheiden kann. Sie ist genauso objektiv wie jede beliebige empirische Wahrheit. Wenn beispielsweise Tomas Tranströmer schreibt:

Uppvaknandet är ett fallskärmshopp från drömmen
Das Erwachen ist ein Fallschirmsprung aus dem Traum

hat dieser Satz eine Art überzeugende Anschaulichkeit, die mir ebenso solide erscheint wie

Eisen schmilzt zwischen 800 und 1200 Grad

Was es zeigt ist, daß in der Prosodie ebenso wie in der Sprachphilosophie noch viel zu tun bleibt.

*

Wo befindet sich das Gedicht? Auf der aufgeschlagenen Seite 52 in der ersten Berliner Anthologie Die Welt über dem Wasserspiegel wo ich es fand? In dem Raum, in dem es jemand liest?
Was für eine dumme Frage! Ein Gegenstand, der mehr Dimensionen hat als Stühle und Tische kann sich natürlich nicht an einer bestimmten Stelle befinden, ebenso wenig wie Brahms 1. Sinfonie in der Partitur steckt oder wie ein großer Vogel im Orchester brütet. Ein Gedicht kann keinen Ort im Raum haben. Hat es einen Ort in der Zeit? Die Frage wird metaphysisch und reizvoll wenn man sich fragt, ob es da war, ehe es geschrieben wurde.
William Bronks „Living Instead“ sieht in Gerhard Falkners Übersetzung so aus:

Da kann man nicht viel machen also leben
wir eben wie alte Knochen oder Fossilien, leben wie
längst versunkene Städte: wir leben anstatt
– tun so als ob und glauben auch noch, daß hier
und ausgerechnet jetzt unsere die wahre Welt wäre.

Diese hervorragende Übersetzung ist natürlich nur eine von vielen möglichen. Ins Deutsche. Dann gibt es ja noch all die möglichen oder in einigen Fällen realisierten Übersetzungen in all die anderen Sprachen, z.B. das schwedische Gedicht, das anfängt:

Inte är det mycket att göra åt det, så vi lever…

Ist das Gedicht auch in seinen Übersetzungen? Oder in anderen Gegenständen? Oder verhält es sich zum Original ungefähr wie die kleinsten Teilchen in der Physik? Vielleicht ist das Gedicht eine Wahrscheinlichkeitswelle, ein System von Möglichkeiten in konzentrischen Kreisen, das sich dort verwirklicht, wo der Dichter ist?
Und wozu haben wir das alles?
Was für eine dumme Frage!

Lars Gustafsson, August 2002
(Aus dem Schwedischen von Verena Reichel.
Das Gedicht von Gunnar Björling wurde von Klaus-Jürgen Liedtke übersetzt.)

 

Mit der zweiten Berliner Anthologie

erweitert sich das Mosaik der Weltliteratur, wird noch facettenreicher und farbenprächtiger. Beigetragen haben auch in diesem Jahr Gäste des internationalen literaturfestivals berlin: 33 Autorinnen und Autoren aus Australien und Neuseeland, Europa, Asien, Afrika, Nord- und Südamerike. Jeder von ihnen wählte drei Gedichte aus, die Berlin mal ganz offen, meist jedoch als heimlichen Adressaten erkennen lassen. In diesen 99 Gedichten stehen die großen Gestalten der Weltliteratur neben hierzulande nahezu unbekannten Autoren. Gedichte aus dem 8. Jahrhundert neben bislang unveröffentlichten, ja eigens für dieses Buch geschriebenen Werken.

Alexander Verlag, Klappentext, 2002

 

Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin + Kalliope
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