Jannis Ritsos: Poesiealbum 195

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jannis Ritsos: Poesiealbum 195

Ritsos/Ritsos-Poesiealbum 195

UNGEFÄHR

Ungleiche Dinge nimmt er in seine Hände – einen
aaaaaStein,
einen abgebrochenen Ziegel, zwei abgebrannte
aaaaaStreichhölzer,
den verrosteten Nagel in der Wand ihm gegenüber,
das Blatt, das hereinwehte durchs Fenster, die
aaaaaTropfen,
die herabfallen aus den begossenen Blumentöpfen, den Strohhalm, jenen,
den gestern der Wind in deine Haare brachte, – er nimmt sie
und dort in seinem Garten erbaut er ungefähr einen Baum.
In diesem „ungefähr“ sitzt die Dichtung. Siehst du sie?

1964/65
Übertragen von Asteris Kutulas

 

 

 

Ich wußte zunächst nicht von ihm,

daß er der größte lebende Dichter dieser unserer Zeit ist; ich schwöre, daß ich es nicht wußte. Ich habe es nach und nach erfahren, von einem Gedicht zum anderen, ich würde sagen, von einem Geheimnis zum anderen, denn ein jedes Mal war es der Schock einer Enthüllung, den ich verspürte. Die Enthüllung eines Menschen und eines Landes, die Tiefen eines Menschen und die Tiefen eines Landes.

Louis Aragon, Geleitwort im Heft

Wovon zeugen diese Gedichte?

Unter anderem von Hunger, aber auch von Frühling; auch von Unterwerfung, vom Verstummen der Hoffnung, dann wieder von Liebe; von Toten „einsam mitten im Sonnenschein“ … Es sind nicht Zeugenaussagen eines Einzelnen, sondern eines Volkes in einer Landschaft, die antikisch ist, aber götterlos.

Max Frisch, Geleitwort im Heft

Jannis Ritsos

Die Gedichte von Jannis Ritsos haben die Kraft von Beschwörungen. Doch brauchen sie nicht geheimnisvoll Dunkles: sie sind aus Licht und Sonne, aus Zärtlichkeit, Trauer und Hoffnung, aus kühnen Gedanken; sie steigen auf aus einer Landschaft, die hart wie das Schweigen ist. Seine Sprache, reich an Sinnzusammenhängen und farbigen Bildern, erhellt die Spuren menschlichen Schöpfertums, beleuchtet die Wurzeln der Welt.

Verlag Neues Leben, Ankündigung in Poesiealbum 194

 

Schweigen bleibt immer kniefällig

– Der Dichter Jannis Ritsos: 75 Jahre griechischer Geschichte. –

Einer hielt die Ohren sich zu und wurde zerfetzt.
Einer stopfte Wachs in die Ohren, ließ sich fesseln und fiel in Wahnsinn.
Einer sang mit Leier und Schlagzeug mit Worten und singt.
F.C. Delius:
„Belagerung von Monemvasia (Für Jannis Ritsos)“

Monemvasia, das ist das antike Akra Minoa, eine kleine Felsenhalbinsel am südöstlichen Peloponnes, wo die Lakonen zu Hause waren; abwechselnd im Besitz der Lakedämonier und der Athener, dann von den Franken okkupiert, die als Kreuzritter ins Land kamen, von den Venezianern überfallen, die es zur Festung ausbauten, von den Türken eingenommen und schließlich von den Griechen wieder zurückerobert, die auf und aus den antiken Ruinen, den alten Mauern und Befestigungswällen über dem Meer ihre Häuser errichteten und sich für ein Leben einrichteten auf engstem Raum mit den natürlichen Elementen, aber auch mit sich selbst und der eigenen Geschichte. Ein Ort, in dem das, was Griechenland durch die Jahrhunderte ausmacht, kulminiert und beinahe sinnlich greifbar wird: die nüchtern strenge Archaik von Land und Meer, die geduckten Häuser, die sich gegen den Fels schmiegen, dazwischen die engen Gäßchen, die Kapellchen mit ihren Glocken, die steinalten Festungsmauern mit ihren Kanonen aus türkischer oder gar venezianischer Zeit, verwittert und durchtränkt von immer derselben Salzluft.

Abgeknickte Weinranken, Steine, Dornensträucher und ein Krug…
Kleines Fischerhaus neben der Straße. Im Fenster ein gerankter Vorhang aus Baumwolle…
Hinter dem Stall schimmert ein Stück Meer, von tiefem Blau…
Unsere Häuser sind auf anderen gebaut und die wiederum auf anderen…

Ein Ort des traumhaften déjà-vu, des Wiedererkennens aus tausendundeinem Vers des Griechen Jannis Ritsos, der hier geboren wurde, leicht zu finden, wenn man seine Gedichte liest. Ein Ort übrigens auch, dessen Topographie nicht einer gewissen Symbolik im Zusammenhang mit diesem Dichter und seinem Griechenland entbehrt. Wer dort hinkommt, sieht zunächst nur ein steiles, kahles Bergmassiv, nichts weiter, kein Anzeichen von Leben oder gar einer Stadt. Um nach Monemvasia zu gelangen, muß man erst durch das alte Festungstor, über den Berg oder um ihn herum; erst dann entfaltet sich dem Auge rege menschliche Aktivität in engen Gäßchen hinter den hohen Wällen zwischen Berg und offenem Meer; in diesem letzten Jahrzehnt freilich mehr und mehr eines pseudo-epikureischen Tourismus, der seine Plastikwelt, ob im Rucksack oder Reisekoffer, mit sich rumschleppt und verbreitet.

Ähnlich verhält es sich auch mit Jannis Ritsos, dessen Name in vielfacher Hinsicht Synonym für „L’autre Gréce“ wurde. Man hat sich erst mühsam über jahrzehntelange Durststrecken des (Ver-)Schweigens und durch die pseudo-literarischen Ablagerungen eines professionellen, philhellenischen Ägäis-Tourismus zu kämpfen, ehe man – jedenfalls bei uns – auf seine Dichtung und seine exemplarische Existenz stößt. Diese begreift man dann allerdings sehr rasch als Kulmination oder Kondensat jenes anderen Griechenland. Seine Biographie ist ein Stück griechischer Historie unseres Jahrhunderts, seine Poesie wäre ohne einen solchen Hintergrund nicht vorstellbar. Das Elternhaus auf dem Fundament der alten Festungsmauern, direkt über dem ehemaligen Stadttor von Monemvasia, dient heute zu Ausstellung und bescheidenem Verkauf von seinen Werken. Hier wurde Jannis Ritsos am 1. Mai 1909 geboren.

AUSWEISPAPIERE

Vermutliches Datum meiner Geburt: 903 vor J. C., ebenso gut
903 nach J. C. Ich habe studiert die Geschichte
der Vergangenheit und der Zukunft
an der zeitgenössischen Schule des Kampfes. Mein Beruf:
reden ohne zu enden – was sonst?
Man nannte mich „den Sammler“. Tatsache ist,
daß ich so manche Straußenfeder aufbewahrte von den Hüten des Mädchens unten.
Knöpfe von Militärmänteln, einen Helm, zwei abgetretene Sandalen,
nicht mitgezählt zwei Schachteln Streichhölzer und die Tabakdose
des Illustren Blinden. Von seiten der Behörde verordnete man mir in den letzten Jahren
mein offizielles, höchst unwahrscheinliches Geburtsdatum: 1909.
Ich hab mich damit abgefunden und halte mich daran.
Schließlich, im Jahre 3909, habe ich mich auf eine Bank gesetzt,
um eine Zigarette zu rauchen. Und wieder
kamen die Schmeichler gelaufen, sich mir zu Füßen zu werfen,
mir glitzernde Ringe an die Finger zu stecken. Sie zweifelten,
diese Ignoranten, keineswegs daran, daß ich sie selbst gemacht habe
aus den Hülsen jener Kugeln,
die sie in den Bergen abgeschossen hatten.
Gerade deshalb, wegen ihrer monströsen Ignoranz,
hab ich sie großzügig entschädigt
mit echten Edelsteinen und doppelten Schmeicheleien. Darüber hinaus
nur eine Gewißheit: mein Geburtsort, AKRA MINOA.
(Monemvasia, 1978 dtsch. v. Armin Kerker)

Es ist die Zeit, da in Griechenland eine einschneidende soziale Umwandlung von der Monarchie zur „königlichen Demokratie“ einsetzt. Der traditionelle Landbesitzer-Feudalismus wird zu Grabe getragen; mit ihm die, die den Wandel zum „Kapitalismus“ nicht nachvollziehen, wie zum Beispiel Ritsos’ Familie. Er erlebt in kurzer Folge die totale Verarmung, den sozialen Abstieg auf die Nullstufe seiner Familie und den dadurch verursachten Tod des Bruders und der Mutter, dem die zunehmende geistige Umnachtung seiner geliebten Schwester Lula folgt. Eine Zeugenschaft, die ihn entscheidend geprägt und sicherlich auch seinen künftigen poetologischen Standort mit bestimmt hat. Die ersten Gedichte schreibt er mit acht (!) Jahren. „Das Lied meiner Schwester“, Lula gewidmet, begründet später ersten Ruhm als Dichter.
1921 verläßt Ritsos Monemvasia und besucht das Gymnasium in Gythion auf dem Festland. Ein Jahr später kommt es in Griechenland zur sogenannten „kleinasiatischen Katastrophe“, einer letztlich bis heute nicht überwundenen Massen-Zwangsaussiedlung von rund 1,2 Millionen kleinasiatischer, anatolischer Siedler griechisch-orthodoxer Herkunft aus der Türkei. Sie bringen ihre eigene Kultur, aber auch eigene politische Vorstellungen mit. Aus den Derivaten des ersten entwickelt sich die heutige, touristenfreundliche Bouzouki-Musik. Das zweite läßt eine schwerwiegende Klassenauseinandersetzung entstehen, die Griechenland für lange, lange Zeit in zwei unversöhnliche Lager spaltet. Beides wird von den Zeitgenossen unterschätzt. Während die einen für ihresgleichen in den Kneipen der Hafenstädte ihre „Rebetika“ singen, tanzen die anderen zu importierten Tango-Klängen, und Hellas stolpert auf den Weg in den Faschismus.

*

… Aus den Fingern
meiner rechten Hand zieht eine schmale Spur Blut
durchs Notizbuch.
Ich halte den Atem an.
Weit weg entfernt sich das Rasseln des Panzers.
(Jürgen Theobaldy
„Vor der Pension (für Jannis Ritsos)“)

Die Kettengeräusche sich entfernender und sich wieder nähernder Panzer haben Leben und Werk des Dichters Jannis Ritsos als ständige Drohung im Hintergrund begleitet. 1925 fahren sie zum ersten Mal auf und setzen der griechischen Republik ein abruptes Ende. Die Diktatur des Generals Pangalos ist angesagt. Ritsos geht nach Athen. Ein Jahr später gibt es einen erneuten Staatstreich des Republikaners Venizelos. Ritsos erkrankt an Tuberkulose und muß in eine Lungenheilanstalt. Tbc, die Krankheit der Armen und Hungerleider, an der auch die Mutter und der Bruder starben, haftet ihm sein ganzes Leben lang an. Die Klinikaufenthalte, zu denen er gezwungen ist, haben nichts von der betuchten Zauberberg-Atmosphäre des Thomas Mann, rufen aber gleichwohl eine Art „Settembrini-Naphta-Syndrom“ bei ihm hervor: sie bringen ihn zum politischen Denken und zur Literatur. Bis dahin hatte Ritsos als Sekretär bei der Nationalbank und beim griechischen Anwaltsverein gearbeitet. Nun beginnt er gezielt zu schreiben. Die Arbeit an den beiden Gedichtbänden Traktor und Pyramiden, die 1934/35 erscheinen, wird aufgenommen. Ritsos verdingt sich als Regisseur, Schauspieler, Rezitator und Choreograph beim griechischen Arbeiterverein in Athen.
1935 erzwingt die Armee die Wiedereinführung der Monarchie, die 1936 in der Errichtung der faschistischen Diktatur des Generals Metaxas mündet. Im selben Jahr wird ein Streik der Tabakarbeiter in Thessaloniki blutig niedergeschossen. Ritsos verdichtet die Vorgänge in seinem berühmt gewordenen Epitaphios-Zyklus, der ihn für die griechischen Staatsorgane als „gefährlichen Kommunisten“ abstempelt. Zehntausend Exemplare werden gedruckt und sofort verboten. Zwei Jahrzehnte später sind diese Verse in der Vertonung von Mikis Theodorakis weltbekannt, nach gut einem weiteren Dezennium werden sie per Dekret der Obristen „als politisch subversiv“ für Griechenland erneut verboten. Der Literaturbetrieb jedoch, der sich im Falle des 1933 verstorbenen Alexandriners Kavafis gerade gründlich blamiert hatte, nimmt den jungen Dichter Ritsos lobend zur Kenntnis. Die führende Literaturzeitschrift Nea Grammata druckt seine Gedichte. 1937 erscheint sein Zyklos „Das Lied meiner Schwester“ der ihn auf einen Schlag in Griechenland berühmt macht. Ritsos selbst ist zu der Zeit wieder in der Lungenheilanstalt und kehrt erst 1938 nach Athen zurück; wenig später stirbt der Vater. 1940 kommt es zum Krieg mit Italien, 1941 fällt Hitlers Armee in Griechenland ein.

Die Viertel der Welt
Wieder verläuft ein tiefer, folgenschwerer Riß durch zwei Lager in Griechenland – Widerstand und Kollaboration. Ritsos kämpft auf der Seite des demokratischen Nationalen Widerstandes, auch im anschließenden Bürgerkrieg, der nach dem Abzug der besiegten deutschen Nazitruppen und der Wachablösung britischer durch amerikanische „Befreier“ mit der Machtübernahme der anderen Seite endet. Eine – damals noch beispiellose – Jagd auf „Rote“, Sozialisten, Demokraten, antifaschistische Schriftsteller, Musiker, Intellektuelle, organisierte Arbeiter und Angehörige der jetzt verbotenen Nationalen Resistance kommt in Gang. Mit Hilfe amerikanischer Gelder und einschlägiger griechischer Gesetze werden auf den Inseln Makronissos, Jaros, Leros, Limnos und Aji Strati sogenannte „Umerziehungslager“ für Bürger errichtet, die im Verdacht „antinationaler Umtriebe“ stehen. Dreißigtausend griechische Demokraten sind auf diese ägäischen Strafinseln interniert.
Jannis Ritsos wird 1948 als einer der Ersten verhaftet und zunächst nach Limnos deportiert, später nach Makronissos und Aji Strati verfrachtet, wo er bis 1952 in Haft bleibt. Vier Jahre von Insel zu Insel, von Straflager zu Straflager: „die Viertel der Welt“, wie er später einen Gedichtzyklus aus dieser Zeit nennt.

Bitter waren unsere Tage, sehr bitter
der Schatten einer Zypresse maß die ganze Welt
Meter für Meter
Jeder trug auf seinen Schultern an den Verstorbenen
ständig trugen wir den Tod auf unseren Schultern.

Ritsos überlebt schreibend. Er verstummt nicht und macht sich damit erneut suspekt und strafbar. Sein Vergehen ist seine Poesie, und seine Poesie ist der keinesfalls aufs Jenseits gerichtete Traum von einem menschlicheren Dasein. Ein sehr einfacher, alltäglicher Traum von Brot und Leben. Neben den VIERTELN DER WELT (1978 von Mikis Theodorakis vertont) schreibt er die MAKRONISSIOTIKA, STEINZEIT, TAGEBÜCHER DER VERBANNUNG und die erst durch die Theodorakis-Vertonung weltweit bekannt gewordene ROMIOSSINI (,Griechentum‘).

Diese Landschaft ist hart wie das Schweigen
preßt ihre glühenden Steine in den Schoß
preßt ans Licht ihre verwaisten Ölbaume und Weinstöcke
preßt die Zähne aufeinander. Wasser gibt es nicht. Nur Licht
Der Weg verliert sich in dem Licht und der Schatten der Umzäunung ist aus Eisen.

Das ägäische Licht? Die Heiterkeit der weißen Inseln? Das Sonnenmaß der mediterranen Dichtung? Bei Jannis Ritsos werden solche Vorstellungen ihrer Folklore entkleidet und auf eine substantielle Härte, eine nicht klagende, sondern anklagende Topographie des menschlichen Leides reduziert, die jenseits allen Zaubers der griechischen Landschaft liegt. „Ach ja, wir sprachen einmal von einer Agäis-Poesie, ja, ja…“ Die Romiossini gehört zum Ersten, was 1967 von der Athener Junta ,für das ganze Land verboten wird, wie wenig später sein gesamtes Werk, selbst die 1957 mit dem griechischen Staatspreis ausgezeichnete Mondscheinsonate, die Aragon zum ersten Mal auf den griechischen Dichter aufmerksam machte. Ritsos hat inzwischen unentwegt geschrieben, unterbrochen nur von einigen Reisen in die Sowjetunion, nach Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Kuba, in die DDR und die Tschechoslowakei, die er jedoch wie die regelmäßig erforderlichen Sanatorienaufenthalte, etwa in der tschechischen Klinik Ostrawa, ebenfalls literarisch verarbeitete.
Die Zeugenaussagen, 1 & 2, eines seiner Hauptwerke, und drei Bände gesammelter Gedichte waren erschienen. Nun wird er, nach dem Militärputsch von 1967, wiederum verhaftet, gefoltert, eingesperrt. Wie unendlich stupide müssen die politischen Machthaber jedweder Couleur in Ost und West, Nord und Süd sein, anzunehmen – und sie tun es ja tatsächlich immer noch –, sie könnten sich der gefährlichen Zeugnisse ihrer Dichter (und nicht nur der) durch Verbannung, Einkerkerung, Verbot und Ausbürgerung entledigen. Kein Gedicht hat je Putschisten, Invasoren, Belagerer und Diktatoren aufhalten oder stürzen können. Aber umgekehrt hat auch noch nie eine Sechste Flotte, ein Panzerverband, ein Luftangriff oder eine Hafenverminung zur Unterstützung der Kretins der Macht diese vor einem Gedicht geschützt. Natürlich haben sie es damals auch in Griechenland versucht. Jannis Ritsos wird zunächst nach Jaros, dann nach Leros deportiert, später auf Samos unter Hausarrest gestellt. Und natürlich reagiert er mit der einzigen Waffe, die ihm zur Verfügung steht: der Poesie, die noch immer alle Despoten überlebt hat und die in diesem Falle von der Realität so weit entfernt ist, weil sie so nahe liegt wie das beinahe greifbare Licht oder die Wellenbewegung des Meeres vor den Barackenfenstern der griechischen Insellager.

Kann sein, wir kriegen sogar eine neue Beziehung zur Natur
wenn wir durch den Stacheldraht ein Stückchen Meer betrachten, die Steine, ein paar Kräuter
oder die Wolken beim Sonnenuntergang, tiefhängend, violett, ergreifend…

1974, vor zehn Jahren, inzwischen fünfundsechzig, kommt er frei. Seine poetische Hypothek ist die gleiche geblieben, die er 1946 in einem mittlerweile vielzitierten Gedicht exemplarisch formuliert hat:

Der Sinn des Einfachen
Ich verberge mich hinter einfachen Dingen, damit ihr mich findet,
wenn ihr mich nicht findet, werdet ihr die Dinge finden.
Ihr werdet das berühren, was meine Hand berührte,
der Abdruck unserer Hände wird sich vermischen.
Der Augustmond funkelt in der Küche
wie ein Aluminiumkochtopf (weil ich es euch sage, ist es so),
erhellt das leere Haus und des Hauses kniefälliges Schweigen.
Schweigen bleibt immer kniefällig.
Jedes Wort ist Aufbruch
zur Begegnung, oft genug vereitelt.
Nur dann ist das Wort wahr, wenn es besteht auf der Begegnung.
(„Parenthesen“ (dtsch. v. Armin Kerker))

*

1981 habe ich ihn in Athen besucht, in einem schlichten Viertel, wenige Stationen vom Omonia-Platz entfernt. Die Etagenwohnung fast unmittelbar neben der Inner-Athener ,Metro‘ gelegen, unten im Eckhaus der Krämer, gegenüber ein Milchladen. Irgendwo in seinen Gedichten meint man, diese Disposition eines Viertels, einer Straße, genau dieses Hauses gelesen zu haben. Das entspannt weniger, als es beklommen macht. Ich schelle. Er selbst öffnet die Tür, in der Badehose; seine Frau, die Ärztin Psalitsa Georgiadi, säubert mit dem Staubsauger die Wohnung. Er bittet mich, soeben aus Samos kommend und auch in der Badehose Grandseigneur, hinein:

Ah oui, entrez, comment allez vous?… Mais vous parlez grec!… Elate messa, kathisste parakalo…!

Wir sprechen in seinem kleinen, über und über mit Erstausgaben, Übersetzungen, bemalten und beschrifteten Steinen und Wurzeln (ein gemeinsamer Bild/Text-Band mit Tsarouchis war gerade in der Vorbereitung) vollgestopften Arbeitszimmer über das Dilemma der griechischen Literatur im allgemeinen und die Katastrophe ihrer Vermittlung bei deutschen Übersetzungen im besonderen. Ich erwähne den 1979 in der FR erschienenen vorzüglichen Aufsatz von Eva Hesse über das ,Lakonische‘ und den ,Sinn des Einfachen‘ in seinem Werk, der sich dabei auf das zwar wohltuend eigenwillig, aber auch fast von A-Z falsch übersetzte gleichnamige Gedicht beruft. Da wurde ,Ihr‘ zu ,du‘, in die erste Zeile geriet ein verfälschendes ,nicht‘ (,damit du mich nicht findest‘), aus ,Aufbruch‘ (,exodos‘) wurde ,Eingang‘ (,isodos‘), ,vereitelt‘ hieß auf einmal ,aufgeschoben‘, und dergleichen mehr. Er lächelt nur, dann zieht er sich an, wir gehen in die streng geheim gehaltene zweite Wohnung gegenüber und er liest mir aus der Einführung in die Zeugenaussagen vor.
1983 finde ich in seinem zuletzt erschienenen Gedichtband Erotika einen Vers, der den Bogen über all dies, vom Monemvasia bis heute, schlägt.

Was wir nicht sagten
bewahrt vielleicht noch
unsere Gesten
unser Tun
wie das Tun von Dritten
die anderen ließen auf sich warten…

Armin Kerker, die horen, Heft 134, 2. Quartal 1984

 

Yannis Ritsos nicht zu vergessen

1
Einmal sprachen wir miteinander,
Symmetrie von Schnurrbärten und Gedanken,
durch einen einzigen Mund: Privateigentum
dolmetschenden Schattens, vom Schicksal
der Schatten ereilt: zu verschwinden.

Einmal miteinander in einer Stadt
namens Berlin, der Vergessen geschieht,
reißend und haltlos, sprachen wir
deutsch und griechisch und radegebrochen,
und unser Sprechen zog

das rotierende Magnetband uns von den Lippen,
bis sich Knäule von Gesprochenem bildeten:
fort, ich weiß nicht wohin, lange schon,
denn der Tartaros
ist kein hellenisches Vorrecht.

2
Einmal sprachen wir miteinander
hoffnungsgebläht,
wovon Narren immer sprechen:
der wachsenden Macht der Vernunft; sprachen
nichtsahnend, indes
unter seinen Sohlen etwas zunahm, anstieg und,
unsichtbar für blinde Gesprächspartner,
die Knöchel eisern umschlang.

3
Einmal sprachen wir miteinander
Anno Domini Eintausendneunhundertzwoundsechzig,
damals in jenem Jahrhundert, überstrahlt
vom täglichen Selbstruhm und alltäglichen Bränden
zerschossener Ortschaften,
zurückgelehnt in zerschlissene Polstersessel
auf der feilen Krümmung des Planeten:
mit Wörtern über Worte.

Einmal sprachen wir miteinander,
ehe er endgültig an den Felsen von Jaros
geschmiedet ward, ausgeliefert
den Adlern, patriotischen Galgenvögeln,
gewiß einen Funken Hoffnung nährend, daß
auch diesmal Herakles auftritt und ihn losmacht −
erleuchtet von einem Funken Furcht, daß
der vielseitige Kraftprotz diesmal
im Dienst der herrschenden Kerberosmeute wirke
und würge.

4
Ohne davon zu reden, daß die Kunst
rasch verfliegt, wo die Freiheit erstickt,
denn die eine ist nichts als der Atem
der anderen,
sprachen wir miteinander
einmal.

Günter Kunert

 

 

Asteris Kutulas: Begegnungen mit Ritsos

Asteris Kutulas: Interviews mit Jannis Ritsos & Mikis Theodorakis

Asteris Kutulas: Jannis Ritsos & Mikis Theodorakis

Asteris Kutulas: Jannis Ritsos – Die Maske und der Kommunismus

Asteris Kutulas: Interview mit Elli Alexiou über Jannis Ritsos

Ein Dialog zwischen Asteris Kutulas und Peter Wawerzinek über die fabelhafte Welt des Jannis Ritsos

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
Interview
50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

 Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope + Facebook +
Interview

 

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Jürgen Werner: Gedichte als Waffen und Lobpreisung der Liebe
Neues Deutschland, 2.5.1984

Erasmus Schöfer: In allen Adern der Erde
die horen, Heft 134, 2. Quartal 1984

Asteris Kutulas / Uwe Goessler: Weg eines Dichters
Neue Deutsche Literatur, Heft 4, April 1984

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Gerd Prokot: Jannis Ritsos – Künstler, Kommunist und Freund der DDR
Neues Deutschland, 27.5.1989

Gisela Steineckert: Gruß an Genossen Ritsos
Neues Deutschland, 27.5.1989

Armin Kerker: „Hast du dein Brot gegessen, konntest du sprechen?…“
die horen, Heft 153, 1. Quartal 1989

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLfGIMDb +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Jannis Ritsos: Neue Zeit

 

Jannis Ritsos: Epitaphios. Ein Dokumentarfilm über die Entstehung, Teil 1/2.

 

Jannis Ritsos: Epitaphios. Ein Dokumentarfilm über die Entstehung, Teil 2/2.

 

Jannis Ritsos: Epitaphios in der Version von Grigoris Bithikotsis  und Keti Thimi.

 

Jannis Ritsos liest, Mikis Theodorakis dirigiert und Maria Farantourie singt aus dem Epitaphios.

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