Ahornalle 26 oder Epitaph für Bobrowski

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Ahornalle 26 oder Epitaph für Bobrowski

Ahornalle 26 oder Epitaph für Bobrowski

 

 

 

 

 

 

 

AUS DEN WÄLDERN                                        ANTWORT

Aus den Wäldern                                                Über dem Zaun
aus verharschtem Schnee,                                deine Rede:
Tannadeln im Haar, kam ich,                          Von den Bäumen fällt die Last,
im Ohr den pfeifenden Flügelschlag              der Schnee.
der Wildente, Harzgeruch im Rock,
die Hände gebräunt von Rauch.                     Auch im gestürzten Holunder
a                                                                             das Schwirrlied der Amseln, der
Mein Bruder,                                                       Grille
kenne ich dich an deiner Stimme,                  Gräserstimme
am Hutschatten im Gesicht,                           kerbt Risse ins Mauerwerk,
am Hutschatten im Gesicht,                           Schwalbenflug
an deinem Wort, geschrieen                           steil
oder verschwiegen, wenn der Wind              gegen den Regen, Sternbilder
verhält.                                                                gehn auf dem Himmel,
                                                                          im Reif.
Mein Bruder,
mir gegenüber am Tisch,                                Die mich einscharren
der du dein Brot brichst,                                unter die Wurzeln,
schweigsam die Suppe löffelst,                     hören:
während mir die Ader am Halse schwillt   er redet,
von zuviel noch an Unrecht und Not,         zum Sand,
bleibe ich ruhig, wenn du sagst,                  der ihm den Mund füllt – so wird
morgen, es kommt der Tag,                         reden der Sand, und wird
die Zeit ohne Angst,                                       schreien der Stein, und wird
schon ist der Fallwind im Tal,                     fliegen das Wasser.
von den Bäumen fällt die Last,
der Schnee.

Walter Groß                                                    Johannes Bobrowski

 

DAS FORTGESETZTE GESPRÄCH

Mein Mund, der singt, mein Herz vor Trauern weint.
So böslich seind, so böslich seind mein Mund und Herz vereint.
Daß solches könnt’ sein, hätt’ ich niemals gemeint.

Das ist nun zehn Jahre her, daß wir uns zuletzt gesehen und gesprochen haben. Und unser Gespräch hatte doch gerade erst begonnen, als es durch deinen Tod abgebrochen wurde. Und ich konnte mich nur noch in das von dir verlassene Zimmer setzen, um es zu beschreiben. Und jetzt, da ich mich erinnern will, kommt mir dieses seltsame Lied in den Sinn, das ich vorher nicht kannte und das ich mir natürlich aus deinem Liederbüchlein herausgeschrieben habe, mit diesem zweigeteilten Motiv von Frohsinn und Trauer. Und ich merke, daß ich tue, wovor mich alle guten Deutschlehrer in der Schule gewarnt haben, ich fange alle Sätze mit ,und‘ an: Und damals… Und als du…. Und als wir… Und heute…
Und ich sage, wir lassen es einmal für eine kurze Zeitspanne nicht gelten, daß du fort bist, und wir setzen einfach das Gespräch fort. Und ich weiß, daß nicht nur ich diesen Gedanken habe, sondern daß es vielen deiner Bekannten so geht, solchen, die dir nahestanden, aber auch anderen, die dich nur aus deinen Büchern kennen.
Es ist ein gewisser Zwang dabei, der dadurch entstanden ist, daß uns deine Art zu sprechen nicht aus dem Kopf geht, daß sie, nicht wiederholbar, in deinen Schriften da ist, so daß es gar keiner Mühe bedarf, sie sich herzurufen. Ja, Johannes, wir haben deine Verse im Kopf, deine Prosa, die uns bis in die eigenen Schreibereien nicht losläßt, wir haben deine Stimme nicht nur im Ohr, wir haben sie auf der Zunge. Und das ist wohl das beste, was sich von einem Dichter sagen läßt, daß er auf diese Weise immer anwesend ist, ob das die Betroffenen nun wollen oder nicht. Und mir bleibt gar nichts anderes übrig, als dich so direkt anzusprechen, als ob du antworten könntest, oder sollte ich dich plötzlich mit Sie anreden?
Du hattest gar nichts an dir, was uns hätte aufmerksam machen sollen, wer da eigentlich mit uns umgeht. Keine Pose, geschweige, was man heute Image nennt; und alles Christliche entwaffnend menschlich; Überzeugung, ohne ständig mit dem Finger darauf zu pochen, wie man das doch in jenen Jahren gern hatte, keine Dichterattitüde. Ich sehe dich abwinken, denn über Literatur wurde mehr so en passant gesprochen wie von etwas Alltäglichem, wie essen oder trinken oder lieben, du warst ja nicht prüde, es wurde viel gelacht, und man wußte doch dabei immer, wie ernst es dir mit der Kunst war, aller Mühe wert, und auch das selbstverständlich. Sollten wir uns im nachhinein täuschen? Ich höre eine gewisse Anstrengung in der Stimme, die von dir auf einer dieser Platten erhalten ist, ich spüre, daß ihr der warme Atem fehlt, die Situation dazu, in der das gesprochen wurde. Lese ich das Gedicht nach, fällt diese Anstrengung ab, die Verse wirken mühelos. Und das aus einer Zeit, als solches Sich-frei-Sprechen durchaus nicht an der Tagesordnung war. Verse ohne Satzzeichen, wie ein- und ausatmen. Sprache „mit dem müden Mund“, uns nah, daß Natur in die Zeilen kam, wenn ein Mann, seiner Sache sicher, sich in Raum und Zeit stellt, um zu sagen, was er dann sein Thema nennt, das in zeichenhaften Worten allmählich groß hervortritt:

Sarmatische Zeit
Schattenland Ströme
Wetterzeichen

Drei Chiffren, drei Sinn-Bilder, die einfach aus deinem Leben heraus begründet wurden. Vielleicht verstehen wir erst heute, was das heißt: Sich-hinein-Versetzen in eine Landschaft – wie oft ist es von Dichtern versucht worden –, und du verfügtest wie mit einer Handbewegung plötzlich über einen unermeßlichen Raum, geographisch und historisch bestimmt, unergründlich und unbestimmbar wie das Wetter – dieses Sarmatien, das seitdem bekannt ist, nun genug Stoff für ein paar Germanistengenerationen, die dem nachzugehen versuchen, was dir dazu einfiel, weil es dir als Fundus zur Verfügung stand.
Wir erfuhren erst später, daß du seit der Schulzeit geschrieben hattest, Bände von Gedichten in der Schublade, Fingerübungen, wie sie der Schreibende kennt und im letzten Winkel der Lade verbirgt, weil man sich nur schwer von solchen Anfängen trennen kann, wenn man auch nicht möchte, daß sie gelten. Du hast nichts vorzeitig drucken lassen und hattest somit auch nichts zu bereuen. Von jenen Versen hast du nichts gezeigt, aber wir können uns nun besser erklären, wie uns dieser Dichter dann gleich als ein Vollendeter erschien, von dem man nichts anderes gewohnt war als dieses sichere Sprechen. Die heutige Kenntnis der ungelenken, auch konventionellen Versuche, bis in die Jahre nach dem Kriege, macht es uns leichter, diese späte Reife zu erklären – denn auch in der Kunst geht ja alles mit rechten Dingen zu; und als du schon genau wußtest, daß du etwas bisher Niegehörtes zu sagen hattest, hat man es dir durchaus nicht leicht gemacht. Und du bist uns näher gerückt, weil wir verstehen, was denn nun von Erfahrungen gilt. Nicht nur, was man hübsch nach Biographie und literarischen Einflüssen herausinterpretieren kann; Erfahrung ist auch dieses immer wieder erneute, unausweichliche Ansetzen, Verwerfen, Wiederansetzen, um dem nahezukommen, was man eigentlich sagen will, was ganz zu einem gehört.
Vielleicht ist uns dieser schwierige Zusammenhang von Leben und Kunst erst durch deine Arbeiten wirklich begreifbar geworden?
Das schwerbestimmbare Verhältnis von Nähe und Distanz im Text; Souveränität bei direkter Anwesenheit des Erzählers beispielsweise, dieses freie Verhältnis zu den Gestalten und Figurationen; das gewisse und doch nicht gewissenlos-flotte Umspringen mit Gegenständen, Orten und Leuten, die man herbeiruft, zum Reden bringt und wieder laufen läßt, und er, der Erzähler –

Nun also die Stöcke gehoben und hinein ins Haus –

der Lyriker –

Hör, hier bin ich, ich geh
umher
in der Kälte des Sommers –

der Autor ist immer im Spiel. Und wie er mit den Nationalheiligen unserer Literatur umging, Klopstock, Herder, Hamann, Hölderlin, indem er von ihnen nahm, was er brauchen konnte, ohne sie doch nur respektlos herzunehmen – Begriffe, Haltungen, Pathos und Ethos – wie eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein muß –, es kam ihm wesensverwandt zu. Und wir hätten den wichtigen Satz glatt übersehen. Ist es diese Beweglichkeit, die vor allem durch ihn und seine Sätze in unsere Literatur kam? Ich jedenfalls sehe seitdem überall in den Arbeiten der letzten Jahre seine Spuren. Sie sind mir am liebsten dort, wo man den direkten Einfluß nicht mehr spürt, sondern wenn diese sichere Weise, sich in die Literatur zu stellen, schöne und nicht nur künstliche Form annimmt. Wo sich Schreiber ihrem Leben konfrontieren.
Denn die Frage nach der Beschaffenheit dieser Welt und nach ihrem moralischen Wesen besteht fort, nicht weniger dringlich, und darüber würde man gern mit dir sprechen. Daß du aufgehört hättest, mit uns zu reden, davon kann keine Rede sein. Deine lustigen und bissigen Epigramme sind noch immer nicht für den Leser greifbar und wären doch ein Wörtchen zur literarischen Diskussion. Und deine private Anthologie deutscher Dichtung von Luther bis Christoph Meckel, alle Gedichte in deiner schönen Handschrift in Sütterlin säuberlich aufgeschrieben, sie harrt noch der Entdeckung und hätte sie nötig, weil dort auch den großen Humoristen im deutschen Gedicht endlich ein Platz eingeräumt ist: Kästner, Thümmel und Göcking, die vergessenen Männer im Gefolge, aber im Schatten der Klassik; schließlich Paul Scheerbart, den hier kaum einer kennt, Arp und Haringer, Günter Bruno Fuchs – die verspielten Melancholiker.
Dein Liederbüchlein habe ich immer zur Hand, aber ich kann sie nicht spielen, die Lieder, die du uns gezeigt hast. Doch ich weiß nun, wo ich sie zu suchen habe, die alten litauischen Dainos, die naiven christlichen Weisen aus dem 17. Jahrhundert und früher, und ich verstehe jetzt, wie das Clavichord sie intoniert. Daß unser Mund singt, selbst wenn uns nicht nur danach zumute ist.

Gerhard Wolf, August 1975, vorgelesen auf der Gedenkveranstaltung des Union Verlages für Johannes Bobrowski am 3.9.1975 in der Berliner Stadtbibliothek.

 

 

 

Eine gesellige Runde verschiedener Temperamente

– Schlußwort auf der Gedenkveranstaltung für Johannes Bobrowski am 3.9.1975. –

Acht Schriftsteller haben hier gelesen, überwiegend unveröffentlichte Beiträge, ein Musiker hat gespielt: für Johannes Bobrowski. Was sie ihm verdanken, das danken wir ihnen, und mehr: wie sie es geschrieben, komponiert, vorgetragen haben. Künstlerische Wirksamkeit betrifft nicht nur das Publikum, sondern auch das schöpferische Denken, die Sprache anderer Künstler, auch die gegenseitige Beeinflussung der Kunstgattungen. Bei Bobrowski war es zudem die unmittelbare menschliche Wirksamkeit. Er war nicht das Haupt einer literarischen Gruppe, aber er hatte viele Freunde und Bekannte. Seine Spuren in der Literatur der DDR sind mannigfaltig und verstreut. Und sie haben eine sanfte Anziehungskraft. Man könnte die Wirksamkeit seiner Stilmittel untersuchen und würde sie bei Autoren ganz verschiedener Herkunft und Handschrift entdecken. Und wir wissen, wie er selbst, seine Person, sein Leben andere in den Bann gezogen hat. Das bezeugen die Erinnerungen, die hier erzählt, und andere, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden, auch eine Bemerkung, wie sie Kant im „Impressum“ den David Groth beim Gang über den Friedrichshagener Friedhof machen läßt:

Ein Christenmensch und ein großer Geschichtenerzähler, und so ein lustiger.

Freundschaft, Miteinander, Gespräch trotz weltanschaulicher Unterschiede, wo nötig, energische Auseinandersetzung und Abgrenzung, das war Bobrowskis Maxime. Auf einer Kulturtagung der CDU in Weimar hat er sie dargelegt. Hier findet sich auch die Erklärung, er habe sich als Christ nicht auf das Gespräch mit Christen zu beschränken. Er stelle sich christliche Lebensführung nicht in einer verborgenen Sekte, sondern in der Gesellschaft vor. Damit verbindet er den Hinweis auf die Aufgabe des Schriftstellers in der sozialistischen Gesellschaft und auf seine eigene Arbeit, die nur sehr bedingt ein christliches Etikett vertrage. Das hat allgemeinere Gültigkeit: Auch die Kunst, die von Christen entworfen wird, muß sich „vor Ort“, in unserer Wirklichkeit bewähren. Sie unterliegt den Sachgesetzen, die für die ganze Kunst normativ sind. Christlichkeit ist weder Kriterium für die Thematik noch für den äußeren Stil, erst recht nicht für die Qualität. Sicher ist sie Mittel der Poetisierung, äußert sich in der Welt der substitutiven Zeichen, der Symbole, Topoi und Metaphern. Sicher erscheint sie – zum Beispiel – in dem Ruf des „Mahners“: „Haltet Gottes Gebote“, die Gebote der Menschlichkeit sind, im „Lobet Gott“ des „Wachtelschlags“ oder in dem Ostergedicht. Aber eigentlich ist sie Sache der Lebenshaltung und Lebensführung. Ob und wie weit auch der „poetischen Konfession“, der künstlerischen Arbeit? – das wäre zu ermitteln. Werner Bräunig schildert eine Begegnung mit Bobrowski vor dem BE:

Er hätte da eine Karte, sagt er, aber er wolle nicht hingehen. Nein, sagt er, gegen den Mann hab’ ich nichts, also schon gar nichts. Aber diese Kunstweihe, nicht wahr? Und dann sagt er: Weißt du, ich geh’ da schon lieber gleich in eine richtige Kirche.

Zum Schluß: Diesen Weihecharakter hatte unser Abend nicht! Gerade weil zehn Jahre nach Bobrowskis Tod sein Werk und er selbst in uns fortleben. Man kann unterschiedlicher Meinung in der Auslegung ikonographischer und ikonologischer Bedeutungen sein. Unbestritten ist die Tatsache der Wirksamkeit über solche Markierungen hinweg. Die gesellige Runde verschiedener Temperamente und Auffassungen, einig in dem Ziel, die Welt zu vermenschlichen, in sie fand Bobrowski sich gern ein, und sie liebte er in seinem Haus zu versammeln. Heute abend hat sie sich wiederholt. Sein Publikum, dessen Aufmerksamkeit und Aufgeschlossenheit ihn erfreute und anspornte, hier ist es zugegen. Es ist ganz so, als ob er selbst anwesend wäre.

Hubert Faensen

Nachbemerkung

„Ein paar ,Bobrowskileien‘“ habe er, schreibt Erwin Strittmatter am 24.6.1969 an Siegfried Pitschmann, in dessen Geschichten entdeckt, fügt aber sogleich, gewissermaßen um den Vorwurf zu mildern, hinzu: „Bobrowskis Stil ist natürlich suggestiv“, und weist auf zwei weitere namhafte Autoren hin, die „auch in diese Bobrowski-Kiste gegriffen“ hätten. Abschließend meint Strittmatter dazu:

Mit Kantianern und Bobrowskianern werden wir es in der nächsten Zeit zu tun kriegen. Nur gut, daß die intellektuell basierten Leser bei solchen ,Epigaunereien‘, nach anfänglichem Augenaufleuchten, ein saures Aufstoßen bekommen.

Die bissigen Bemerkungen Erwin Strittmatters sollten, auch als Ergänzung der anderen Zitate, in diesem Buch nicht fehlen. Allerdings muß man sagen, daß sie wohl nur auf stilistische Anleihen und epigonale Nachahmung zielen, aber nicht von den produktiven Anregungen sprechen, die Bobrowski, als Lyriker wie als Erzähler, einer ganzen Reihe von Autoren vermittelt hat. Hinweise darauf sind in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen gegeben worden, so von Volker Ebersbach (in den Weimarer Beiträgen 11/1973) und von Bernd Leistner (in Heft 9/1976 der Weimarer Beitrage sowie in Johannes Bobrowski – Selbstzeugnisse und neue Beiträge über sein Werk, Berlin 1975). Einer der Erzähler, die Leistner im letztgenannten Beitrag erwähnt, Joachim Nowotny, befaßt sich in demselben Band, in dem das Strittmatter-Zitat zu finden ist, in Werner Lierschs Briefsammlung Was zählt, ist die Wahrheit (Halle 1975), ebenfalls mit den beiden Seiten dieser Wirkung. Er spricht da, in einem Brief vom 13.2.1973, von „Leuten, die den guten Bobrowski wie eine Offenbarung, ja Erlösung gelesen haben“. Und seine Briefpartnerin, Lonny Neumann, gibt ihm auf seine Ratschläge und seine leise Warnung eine sehr schöne Antwort. Sie schreibt:

Ich möchte nicht gern einer der vielen Bobrowski-Epigonen werden. Ich mag ihn sehr als jemand, der unverwechselbar aus einer Sprachlandschaft, einer historischen Landschaft hervorgegangen ist. Und ich mag es, wenn beim Erzählen alles zusammenfließt: Vergangenes, Gegenwärtiges, Gedachtes.

Vergangenes, Gegenwärtiges, Gedachtes – die Briefschreiberin meint da Bobrowskis Prosa, aber es sind auch genau die Stichworte, nach denen dieses Johannes Bobrowski gewidmete Buch zusammengestellt wurde: Erinnerung an vergangenes Leben – Gegenwärtigkeit von Werk und Wirkung – Gedanken, die zu Bobrowski hinführen und die von seiner Dichtung, seinen Ansichten und Absichten aus weiterführen. Gedichte und Erzählungen, Erinnerungen und Betrachtungen – zusammengestellt in der Zuversicht, der Leser möchte bei der Lektüre den Eindruck gewinnen, daß dies alles zusammenfließt, sich zu einem lebendigen Bilde Bobrowskis aneinanderfügt.
Dennoch sollte man sich dessen bewußt bleiben, daß eine solche Sammlung literarischer Texte notwendigerweise nur ein etwas einseitiges Bild ergeben kann. Hier kommen fast ausschließlich Schriftsteller und Künstler zu Wort, die über ihre Begegnungen mit Bobrowski, ihre Beziehung zu seiner Dichtung auf sehr persönliche Weise schreiben – das macht sicherlich den besonderen Reiz dieses Buches aus, bedingt aber zugleich, bei aller Vielfalt der Beiträge, die gewisse Einseitigkeit der Sicht. Zweifellos wird der Band vor allem bei den Lesern Interesse finden, die das Werk des Dichters kennen, und man könnte sogar sagen, daß er diese Kenntnis voraussetzt. Aber um sich die Persönlichkeit Johannes Bobrowskis, sein Wirken in seiner Zeit und für unsere Zeit voll zu vergegenwärtigen, sollte man auch wieder seine Selbstzeugnisse lesen, die der Union Verlag in zwei Ausgaben, 1967 und 1975, veröffentlicht hat
„Ich habe vielleicht sehr viele Freunde“, sagt er da an einer Stelle, und: „Angeblich habe ich so ein Talent dazu.“ Die Freunde, oft aber auch unbekannte Leute, unter ihnen so mancher begabte junge Autor, besuchten ihn zu Hause oder im Verlag, andere machten seine Bekanntschaft auf der Leipziger Messe, kamen mit ihm bei Tagungen und Schriftstellerlesungen zusammen. Am wichtigsten war ihm dabei „zuallererst das Gespräch“. Aber er war nicht „für Kontakte um jeden Preis, sondern für nützliche, weil überlegte Gespräche“.
In seiner Rede bei einer Tagung des Präsidiums des Hauptvorstandes der CDU mit Kulturschaffenden 1963 in Weimar hat Johannes Bobrowski, im Blick auf das Gespräch mit seinen Freunden und Bekannten in der Bundesrepublik und Westberlin – von denen einige im vorliegenden Band vertreten sind –, erklärt, er habe oft erlebt, „daß es gerade eindrucksvoll für den Gesprächspartner ist, wenn ein Nichtmarxist sich zu Gestalt und Zukunft der sozialistischen Gesellschaft bekennt.“ Dieser Erfahrung aus vielen Gesprächen kommt allgemeine Bedeutung zu als einer unmißverständlichen Formulierung seiner Position.
Bobrowski sprach auf dieser Tagung als Mitglied und Mitarbeiter der CDU in der Deutschen Demokratischen Republik. Sein politisches Engagement hat er oft betont. So in seinem „Lebenslauf“ für den Deutschen Schriftstellerverband, wo er die Wahl seines Hauptthemas – des unglücklichen und schuldhaften Verhältnisses des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarvölkern bis in die jüngste Vergangenheit – mit der Absicht verbindet, „damit zur Überwindung revanchistischer Tendenzen beizutragen“. So in einem Interview über Levins Mühle, wo er es als ein Hauptanliegen des Romans bezeichnet, „hinzuweisen auf die Immoralität der politischen Zustände, wo sich Verbrechen auf Macht und Macht schließlich auf Verbrechen stützt“. So, wenn er in seinem Beitrag für eine Broschüre mit Stellungnahmen christlicher Kulturschaffender zu den Volkskammerwahlen 1963 die Bemühungen der Sowjetunion und der DDR um den Frieden hervorhebt, „der immer gerade auch ein Auftrag an die Christen ist“. So, wenn er sich gegen den „Antikommunismus, in unterschiedlichsten Formen“ wendet und vor den „tödlichen Gefahren“ warnt, „die er am Leben erhält und die er erweckt“.
Die Warnung Johannes Bobrowskis vor dem Antikommunismus findet sich in seiner aufschlußreichsten autobiographischen Äußerung, der er die Überschrift „Fortgeführte Überlegungen“ gab. Zu erinnern ist an das einprägsame Bild, in dem er die Erfahrungen seiner Jugendjahre – aus der Lektüre des Neuen Testaments, Diskussionen mit marxistischen Jungarbeitern, der Beschäftigung mit der historischen Rolle der Kirchen – zusammenfaßte:

Eine Gebirgsstraße, eine schmale, kurvenreiche Fahrbahn, die eine Seite offen gegen den steilen Abhang. Die Christen also bauen ein Geländer oben. Und unten für die Verunglückten eine Rettungsstation. Das ist, zugegeben, viel. Aber richtig wäre es, einen Tunnel durch den Berg zu hauen. Also Umgestaltung der (sozialen) Verhältnisse, darauf lief es hinaus.

Von jenen damaligen Einsichten aus führten spätere Erlebnisse und Überlegungen – er nennt die Zeit des Kampfes der Bekennenden Kirche, den Krieg und die arbeitsreichen Jahre in sowjetischer Gefangenschaft – den Christen Johannes Bobrowski schließlich zu jener „sicheren Position“, die er vielfach deutlich gemacht und in seiner Weimarer Rede klar definiert hat. Er war ein Mann der Freundschaft und des Gesprächs, das sich, wie er in Weimar sagte, „gerade an Mißverständnissen, aber mehr noch an verschiedenen oder gegensätzlichen Meinungen entfalten“ müsse, aber nicht unter der Devise „Ich kenne keine Parteien mehr“ laufen dürfe, sondern das, in der Erkenntnis, daß friedliche Koexistenz nicht gleichzusetzen ist mit ideologischer Koexistenz, geführt werden müsse „von einer sicheren Position aus, der Position eines bewußten Bürgers unserer Republik, der Position eines Sozialisten!“ Diese Haltung Bobrowskis, diese seine grundsätzliche Standortbestimmung sollte man vor Augen haben, wenn man die Beiträge dieses Buches liest.
Die Idee zu der vorliegenden Sammlung ergab sich aus der Vorbereitung einer Gedenkveranstaltung für Johannes Bobrowski. Am 2. September 1975 jährte sich der Todestag des Dichters zum zehnten Male. Aus diesem Anlaß fand am Abend des folgenden Tages in der Berliner Stadtbibliothek eine musikalisch-literarische Veranstaltung des Union Verlages statt. Acht Schriftsteller lasen dem Dichter gewidmete Arbeiten, der Komponist Rainer Kunad spielte Buxtehude und bot eine Passage aus seiner Oper Litauische Claviere. Der Andrang des Publikums war ungewöhnlich groß, viele der Besucher mußten stehen, die Resonanz war hörbar stark. Es war eine bewegende Ehrung des Dichters durch einige seiner Künstlerkollegen.
Als nun, ermutigt durch den Erfolg des Abends, der Herausgeber an die Verwirklichung des Buchprojekts ging, stand von vornherein fest, daß auch das Buch den besonderen Charakter der Gedenkveranstaltung bewahren sollte – zum einen dadurch, daß die von ihren Autoren in der Berliner Stadtbibliothek vorgelesenen Texte aufgenommen wurden – zum anderen in der Weise, daß zur Erweiterung des Kreises der Autoren fast ausschließlich Künstler um Beiträge gebeten wurden, Schriftsteller vor allem, aber auch einige Vertreter anderer Künste. Es waren ja bereits in den Jahren zuvor eine Reihe von Bobrowski gewidmeten Arbeiten, vornehmlich Gedichte, im Druck erschienen, die früheste 1961, aus denen es die geeignetsten auszuwählen galt; und andererseits kannte man die Namen vieler Künstler, die in einer persönlichen Beziehung zu Bobrowski gestanden oder sie über seine Dichtung gefunden hatten, von denen also neue Beiträge zu erhoffen waren. In ähnlicher Weise, ältere und neue Arbeiten einbeziehend, wurden die Graphiken zusammengestellt. Wenn auch nicht alle um Mitarbeit gebetenen Schriftsteller und Künstler unserer Bitte entsprechen wollten oder konnten – einige von ihnen, die der Leser möglicherweise vermißt, haben erst nach längerem Überlegen und sicher nicht leichten Herzens eine Absage gegeben –, und wenn vielleicht auch manche bereits veröffentlichten Arbeiten unserer Aufmerksamkeit entgangen sind, die diese Auswahl bereichert hätten, so hat sich doch eine stattliche Anzahl von Autoren mit eigens für diesen Band geschriebenen oder zum Erstdruck überlassenen Arbeiten den Mitwirkenden des denkwürdigen Abends in der Berliner Stadtbibliothek hinzugesellt. Das Verzeichnis der Autoren enthält dazu die näheren Angaben. So vielfältig all diese Stimmen klingen, so verschiedenartige Beziehungen zu Bobrowski sie ausdrücken – sie lassen die Ausstrahlungskraft dieses Menschen und Dichters ebenso stark spüren wie die seines dem großen Thema der Verständigung zwischen den Völkern verpflichteten Werks, das inzwischen durch Übersetzungen seiner Bücher in achtzehn Sprachen verbreitet ist.
So haben sich hier den zahlreichen Schriftstellern, den Bildhauern, dem Komponisten sowie den Graphikern aus der DDR Dichter und Künstler aus anderen sozialistischen Ländern – der Sowjetunion, Ungarn und Polen – sowie aus der BRD, Westberlin, der Schweiz und England hinzugesellt. Wie sich um Bobrowski und seinetwegen im Friedrichshagener Haus und Garten, aber auch anderwärts immer gern Freunde und Kollegen zusammenfanden, geschieht das nun auch in diesem Buch. Hubert Faensen drückte es im Schlußwort des Abends in der Berliner Stadtbibliothek mit den Worten aus:

Die gesellige Runde verschiedener Temperamente und Auffassungen, einig in dem Ziel, die Welt zu vermenschlichen, in sie fand Bobrowski sich gern ein, und sie liebte er in seinem Haus zu versammeln.

Wie an jenem Abend, so hat sie sich auch hier wiederholt.
Während der Haupttitel, „Ahornallee 26“, das kleine altmodische Wohnhaus der Familie Bobrowski bezeichnet, den Ort vieler Gespräche des Dichters mit Freunden und heiterer Geselligkeit, ist der zweite, „Epitaph für Bobrowski“, gleichsam als Kontrapunkt gesetzt. Denn dies ist auch ein Buch des Gedenkens. Die Bestürzung über den frühen und jähen Tod Johannes Bobrowskis, die Trauer um den Verlust dieses Menschen und dieses Dichters spricht aus vielen Gedichten und Erinnerungen. Aber zugleich ist es ein sehr lebendiger Bobrowski, der uns hier entgegentritt, lebendig im Gedächtnis seiner Zeitgenossen, lebendig vor allem durch seine Dichtung, ihre Unersetzbarkeit, ihre fortdauernde und sich beständig erneuernde, neue Lesergenerationen bei uns und im Ausland erreichende Wirkung. Aus dem Nachlaß, von dessen unpublizierten Teilen in einigen Beiträgen die Rede ist, sind gerade eben die Xenien erschienen, in denen Bobrowski seiner Lust am Spott, an Polemik und derbem Humor die Zügel schießen läßt und Leute seiner Zunft, Klassiker ebenso wie Kollegen, in Doppeldistichen von meisterlicher, mit Witz, Schärfe und Eleganz gehandhabter Form aufs Korn nimmt.
Wer Bobrowski gekannt hat, kannte sicherlich auch diese Seite an ihm, kannte wohl auch einen großen Teil der Epigramme, aus denen er gern vorlas, allerdings fast nur im privaten Kreis, denn es handelte sich ja um ein Manuskript, für das er immer noch neue Stücke schrieb. Die trug er dann vor, mit sichtlichem Vergnügen. Zum Beispiel in seinem Stübchen im Lektorat des Union Verlages, wo er sechs Jahre lang gearbeitet hat und das auch einmal zu beschreiben wäre. Hinter der Tür, an der ein Spaßvogel das Pappschild mit dem seriösen Aufdruck „Lektorat“ umgedreht und mit der Aufschrift „Wuhlewatz, Reimer“ versehen hatte, bekamen Kollegen und Autoren im Laufe der Jahre viele seiner Gedichte und Geschichten zu hören; mitunter waren sie gerade erst entstanden, mit äußerster Konzentration innerhalb kurzer Zeit in eiligen Bleistiftzeilen niedergeschrieben. Aber Bobrowski brauchte nicht nur aufmerksame Zuhörer, er war es oft genug auch selber. Ob jemand mit einer alltäglichen Frage zu ihm kam oder ob er sich bei ihm etwas von der Seele reden und Rat holen wollte, Hannes hatte eigentlich immer Zeit dafür, und wenn nicht gleich, dann eine halbe Stunde später, er müsse da eben nur etwas aufschreiben.
Man muß wohl nicht betonen, daß hier auch viel ernsthafte Lektoratsarbeit geleistet wurde, Hubert Faensen hat darüber gesprochen in seiner Dankrede bei der postumen Verleihung des F.C.-Weiskopf-Preises an Bobrowski 1967, nachzulesen jetzt in der Neuen Zeit, dem Zentralorgan der CDU, vom 30.8.1975, und Günter Wirth hat in einem Beitrag für Ernte und Saat 1978, das Hausbuch aus dem Union Verlag, Notizen und Materialien über die Arbeit Bobrowskis und ihre Resonanz mitgeteilt.
Es ist also einiges ausgegangen von diesem Zimmer und seinem Bewohner, deren ersten Eindruck Christa Johannsen beschrieben hat. Zutreffend beschrieben, gewiß, aber sie hat ein paar Dinge nicht erwähnt, die für diesen Bewohner kennzeichnend waren, die ihm das Stübchen, neben Kaffeetasse, Aschbecher und Schnapsgläsern, wohl erst bewohnbar machten. Da hingen an den Wänden zwei Bilder: ein Porträtfoto Otto Nuschkes („Da lege ich Wert darauf!“ sagte er darüber zu Hubert Faensen) und, Bobrowskis Platz gegenüber, jener kolorierte alte Stich vom Canal grande in Venedig, auf dem der Dichter an irgendeinem Tag des Jahres 1964 „Im Guckkasten: Galiani“ entdeckte. Und da lagen auf dem Schreibtisch, unter der Glasplatte, ein handschriftliches Blatt und eine großformatige Kunstpostkarte. Auf das weiße Blatt hatte sich Bobrowski in kalligraphischen Zeilen Verse seines Freundes Günter Bruno Fuchs abgeschrieben:

Hilfe! Tante Emma hext in meinen Schrank alle ihre Tassen!

Und unmittelbar unter seinen Arbeitsplatz hatte er sich die farbige Reproduktion gelegt; sie zeigte ein Gemälde von Alexej Jawlensky: „Dornenkrone“. Das ist, mit dem Erzähler der Geschichte von Boehlendorff gesprochen, womöglich schon etwas, und wenn wir noch: „Guter Mensch“ sagen, ist es, womöglich, unnötig, mehr über Bobrowski hinzuzufügen.

Gerhard Rostin, Nachwort, Februar 1977

 

Bobrowski

hat auf mich nur als Autor gewirkt, persönlich habe ich ihn nur ganz wenig gekannt, aber ich entsinne mich an Menschen, die ihn gut kannten und viel von ihm erzählten, natürlich auch daran, daß Gerhard sich viel mit ihm beschäftigte, ihn öfter traf. Er wollte ja über ihn schreiben, da starb Bobrowski. Da hat er die Beschreibung eines Zimmers geschrieben, ohne den Bewohner dieses Zimmers. Und auch ich bin dann in diesem Zimmer gewesen, bei Bobrowskis Familie. Aber deine Frage zielt auf etwas anderes. Der „Sog“, von dem du sprichst, ging aus von seiner Prosa. Da hörte man jemanden reden durch seinen Text: „Rede, daß ich dich sehe“… Ich suchte ja nach einer Möglichkeit, mich auszudrücken, die nicht konventionell sein durfte, die konventionelle Methode, eine „Geschichte“ zu erzählen, hätte das Netzwerk von Beziehungen, mit dem ich umging, nicht fassen können. Und, das muß man wissen, wir waren ja damals noch nicht sehr eingeweiht in die moderne Literatur und ihre Stilmöglichkeiten, ihre Autoren mußten einzeln durchgesetzt werden. Bobrowskis Art und Weise, sich frei in seinem Stoff zu bewegen, anachronistisch zu sein, den inneren Monolog zu behandeln, umgangssprachliche Elemente in stilisierte Dialoge hineinzunehmen – das hat mir alles zuerst mal einfach „gefallen“, wenn ich es las, und ich glaube schon, daß er mir auch bestimmte technische Möglichkeiten des Schreibens eröffnet hat (übrigens, das fällt mir gerade ein, in anderer Weise auch Aragon).
Ich brauche für jede meiner Arbeiten sehr viele Anfänge, ich schreibe mich ganz allmählich an die Freiheit gegenüber meinem Material heran, das ja erst, indem es eine ihm gemäße Form findet, zum literarischen Stoff wird: Diesen Prozeß habe ich an den Vorarbeiten zu Christa T. ein für allemal begriffen, über die vielen Versuche in herkömmlich realistischem Stil, Bobrowski verführte mich nicht zur Nachahmung, sondern dazu, meinen eigenen Ton zu finden.

Christa Wolf
Aus: Gespräch mit Therese Hörnigk (1987/88), in Christa Wolf: Werkausgabe, Band 12: Essays, Gespräche, Reden, Briefe, hg. Von Sonja Hilzinger, Luchterhand Literaturverlag, 2001

In letzter Zeit

hab’ ich Gedichte und einige Prosatexte von Johannes Bobrowski gelesen. Der schafft Sprachbilder, wie ich sie sonst nirgends gelesen hab’. Das ist eine Sprache, die verwundet beim Lesen. Ich wär’ sehr neugierig, wie lange Bobrowski an solch einem Text gearbeitet hat, weil bei ihm jedes Wort so weit in die Tiefe geht. Und wie er jedes dieser Wörter leben konnte, denn die sind gelebt, in allem, was sie sagen können.

Herta Müller
Aus: „Und ist der Ort, wo wir leben“. Interview von Annemarie Schuller mit Herta Müller (1982), in Emmerich Reichrath (Hrsg.): Reflexe II. Aufsätze, Rezensionen und Interviews zur deutschen Literatur in Rumänien, Dacia Verlag, 1984

Die zentrale Erfahrung

dieser ersten intensiven Dichterlektüren war das durch Vereinzelung freigesetzte, in einen Traumzustand versetzte Wort, das seine Echos durch Zeiten und Räume von überall her empfing. Dieses Wort aber schien bereits tief in mir selbst angelegt zu sein, es wurde gewissermaßen aus dem innersten Speicher abgerufen und funktionierte nun als freies Radikal, das im Gehirn immer neue Verbindungen einging. Doch das begriff ich erst später. Der vorläufige Effekt war, daß ich tatsächlich eine Weile lang in diesem Hölderlin-Ton zu schreiben versuchte: Bei Johannes Bobrowski ließ sich seine zeitgenössische Variante studieren, übertragen auf ein anderes Landschaftsmodell, Ostpreußen anstelle des gräzisierten Schwabenlandes. Aber was hieß das schon?

Durs Grünbein
Aus Durs Grünbein: Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung 2009, Suhrkamp Verlag, 2010

 

JOHANES BOBROWSKI

Türen offen
hinter dem Abschied
wiedergrün
deine Hügel

Auch der Regen
auf dem du geritten
kommt wieder
Kranich und Kahn

Flöße stromab
Stämme aus deinem Wald
oder vom polnischen Nachbarwald

Windstimmen
Espengespräche

Dein Wort
hier gewachsen
in der Sonnenzeit
Sonnenfinsterniszeit

wächst weiter
verwurzelt
im Echo

Rose Ausländer

 

AHORNALLEE 26

Wenn deine Fenster
offenstehen,
vernehmbar,
zu den Ahornbäumen hin
die alte geräuschvolle
Schreibmaschine.

In deinem Zimmer
Klopstock und Herder,
die Maler Ebert und Chagall
und das dunkle Licht
der Ikone.

Hier fließen
Farben und Linien,
die Ströme
der Sprachen zusammen.

Du überspringst
und bindest
die Zeiten –
brennendes Mehl,
die Mühle
stürzt über das Wehr
in die lichtscheue Schuld.

Ulrich Grasnick

 

 

Zum 50. Geburtstag des Autors:

Gerhard Desczyk: „… so wird reden der Sand“
Neue Zeit, 9.4.1967

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Gerhard Rostin: Der geht uns so leicht nicht fort
Neue Zeit, 9.4.1977

Zum 15. Todestag des Autors:

Jürgen Rennert: Von der Sterblichkeit der Dichter
Das Literaturjournal, 3.9.1980

Zum 20. Todestag des Autors:

Gerhard Wolf: Stimme gegen das Vergessen
Freibeuter, Heft 25, 1985

Reinhold George: Brober
Schattenfabel von den Verschuldungen. Johannes Bobrowski zur 20. Wiederkehr seines Todestages, Amerika Gedenkbibliothek, Berliner Zentralbibliothek, 1985

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Michael Hinze: Mitteilungen auf poetische Weise
Berliner Zeitung, 9.4.1987

Eberhard Haufe: Der Alte im verschossenen Kaftan
Neue Zeit, 9.4.1987

Zum 50. Todestag des Autors:

Annett Gröschner: Der sarmatische Freund
Die Welt, 29.8.2015

Christian Lindner: Mit dem dunklen Unterton der Melancholie
deutschlandradiokultur.de, 2.8.2015

Lothar Müller: Nachrichten aus dem Schattenland
Süddeutsche Zeitung, 1.9.2015

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Helmut Böttiger: Große existenzielle Melodik
Süddeutsche Zeitung, 6.4.2017

Dirk Pilz: Dem großen Dichter zum 100. Geburtstag
Berliner Zeitung, 6.4.2017

Dirk Pilz: Ostwärts der Elbe
Frankfurter Rundschau, 7.4.2017

Arnd Beise: Ein Christenmensch und ein großer Geschichtenerzähler
junge Welt, 8.4.2017

Klaus Walther: Johannes Bobrowski: In „Sarmatien“ eine poetische Heimat gefunden
FreiePresse, 7.4.2017

Richard Kämmerlings: Der Deutsche, der an der Ostfront zum Dichter wurde
Die Welt, 9.4.2017

Cornelius Hell: Wer war Johannes Bobrowski?
Die Presse, 7.4.2017

Klaus Bellin: Erzählen, was die Leute nicht wissen
neues deutschland, 8.4.2017

Tom Schulz: Mein Dunkel ist schon gekommen
Neue Zürcher Zeitung, 9.4.2017

Manfred Orlick: Die Deutschen und der europäische Osten
literaturkritik.de, 5.4.2017

Oliver vom Hove: Der Dichter verlorener Welten
Wiener Zeitung, 9.4.2017

Wolf Scheller: Poetische Landnahme im Osten
frankfurter-hefte.de, 1.4.2017

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv 12 +
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Porträtgalerie: Keystone-SDA + deutsche FOTOTHEK
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Nachrufe auf Johannes Bobrowski: Der Sonntag ✝ Die ZeitSZ
Kürbiskern ✝ Kunze ✝ Grabrede 1 & 2

 

Klaus Wagenbach spricht über Johannes Bobrowski und Günter Grass liest die Erzählung „Rainfarn“.

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