Wolfgang Heidenreich (Hrsg.): Stimmen Stimmen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Wolfgang Heidenreich (Hrsg.): Stimmen Stimmen

Heidenreich (Hrsg.)-Stimmen Stimmen

DIE ZISTERNE

Einmal ihr Musen noch blättern
im Traumbuch der Moderne. Entziffern die Lettern
bis zur letzten brandgefleckten Seite bis zur letzten
aaaaaWendung.
Einmal noch den trüben Spiegel plündern
ohne Selbst und ohne Sendung…
Mit euch im Verein?
aaaaaaaaIhr rieft mich zu spät in den heiligen Hain…
dort stritten schon Makler um unser Gebein…
und Nattern sah ich züngeln aus den Mündern
der Nymphen aus ergrautem Stein.

Wir zielten auf die Schönheit doch die war in der Ferne
was bleibt uns nun von allem was wir ausgelitten?
O Musen in den dunklen Wasserspiegel schütten
die nächtlichen Himmel ungereimtes Licht der Sterne.

Wolfgang Hilbig

 

 

 

Dankrede

Ich habe eine Dankrede zu halten, vor einer Jury, vor einem Publikum, vor den Stiftern des Peter-Huchel-Preises, ich werde diesen Dank ehrlichen Herzens aussprechen, aber warten Sie bitte noch ein paar Augenblicke. Ich weiß, daß es in einem Jahr an diesem Ort eine neue Dankrede geben wird, dann wird die meine in irgendeinem Archiv gelandet sein, und das ist auch gut so. Wem aber könnte ich etwas längerfristig Danke sagen, vielleicht dem Steuerzahler? Dem Steuerzahler in uns hätte ich ein paar Worte zu sagen, aber könnte ich damit ein Gespräch pflanzen? Woher die Wurzeln nehmen, was ergäbe einen Sinn, was eine Form?
Das Bild, das ich Ihnen vorführe, gehört nicht dazu: ich sehe mich nachts vor einer anthrazitfarbnen Wahlurne sitzen, die Fernbedienung in der Hand, und ich habe die Wahl unter mehr als dreißig sogenannten Programmen. Mit Verbissenheit, mit einer Penetranz ohnegleichen suchen sie sich in der Überschüttung ihrer Opfer, die sich als solche nicht fühlen, mit Spaß, Blödelei, trommelndem Gelächter und johlenden Beifall gegenseitig zu übergipfeln. Zuviel Spaß verdirbt mir die Freude, und das schon vor dem 11. September 2001, nach dem man einige Wenige murmeln hörte, man müsse jetzt Schluß damit machen, sich als reine Spaßgesellschaft zu gebärden. Die Phonzahl des Spaßbetriebs scheint mir seitdem kontinuierlich anzuwachsen, und ich wage noch immer nicht zu sagen, irgendwie hätten wir uns den 11. September verdient.
Sie wissen, daß ich alle vierzig Jahre, die das Land existiert, das sich offiziell als demokratisch bezeichnete, und aus dem auch Peter Huchel kam, bis fast zum Ende ausgereizt habe, und erfuhr, wie dort der Gang zur Wahlurne eine immer gleiche Einbahnstraße war. Ich brachte meine Stimme in der Urne unter, wo sie sich in die immer wiederkehrende Asche der Phraseologie verwandelte. Aber Sie wissen vielleicht nicht so genau, daß in den Phrasen der Kulturbeauftragten der DDR das Wort Spaß ziemlich oft vorkam, aber man mußte sich davor nicht fürchten, da dort in den meisten Fällen die Mittel zum Zweck fehlten.
Die Mittel der Welt, die ich 1990 ausdrücklich gewählt habe, und zwar mit Erleichterung, die Mittel der Bundesrepublik, beginnen nach und nach ebenfalls zu fehlen, sie werden verbrannt und verascht in überdimensionalen Müllverbrennungsanlagen, deren Besitzer sich mit den Titeln von Monarchen schmücken, und denen sich sogenannte Parteipolitiker in Reihe andienen, sodaß mir, wenn ich das unter dem Gelächter der Spaßgesellschaft medienwirksam aufbereitet erfahre, das Gefühl ankommt, daß mir langsam aber sicher das Wahlrecht entzogen wird. Was mir bleibt, ist das Recht auf Verweigerung, doch ich habe den Verdacht, daß die Parteien gerade diese Verweigerung brauchen, um ungestörter, unbefragter, ungeschorener den Machenschaften der Verdunkelung nachgehen zu können.
Während in Afghanistan die Landminen krepieren, kann ich in diesem Land zuschauen, wie man sich, quer über den Bildschirm, Butter-Cremetorten in die Fresse schmeißt, unter dem Geheul und Getrampel einer Zuschauerschaft, die sich als Spaßgesellschaft zu verstehen scheint. Ich habe heute hier ein anders Publikum, und ich bedanke mich für die Geduld, mit der es mir zugehört hat. Ich danke den Steuerzahlern, ich bedanke mich für die Ehre, die mir hier erwiesen wird, im Namen des großen Dichters Peter Huchel, der das Licht sinken sah, das des schutzlosen Laubs, ich stimme ihm zu.

Aus: Wolfgang Hilbig, Dankrede, 3.4.2002

Die Gegenstimme der Poesie

Dieses Lyriklesebuch zum 100. Geburtstag Peter Huchels und zur 20. Verleihung des Peter-Huchel-Preises ist eine Offerte an den Leser, die unverwüstliche Benennungsschärfe und Geistesgegenwart heutiger Gedichte in einer polyphonen Gedicht- und Textauswahl zu erleben. Dann mit eigenen Leseerfahrungen an dem Gespräch über Gedichte teilzunehmen, das durch den Peter-Huchel-Preis zu einer Institution geworden ist. Tatsächlich ging der erste Impuls zur Stiftung und Ausgestaltung dieses dem gesamten deutschsprachigen Raum gewidmeten Lyrik-Preises 1983 von begeisterten Lyrik-Lesern aus, die ein Gespräch über Gedichte führten und sich von Peter Huchels Zeilen inspirieren ließen, solche „Gespräche wie Bäume“ zu pflanzen. Der Funke transformierte sich nun in kühlere Gründerenergien, brachte den Bauplan, die kulturpolitische Konzeption des Preises voran und die Stiftungs-Kooperation zwischen dem Südwestfunk und dem Land Baden-Württemberg zustande.
Mit den konkreten Plänen reifte von Anfang an auch der Wunsch, den Auftrag und den Anspruch dieses Preises mit dem Gedenken an den 1981 in Staufen im Breisgau verstorbenen Peter Huchel zu verbinden. Die Anteilnahme an seinem Lebensschicksal, die Bewunderung seines Werks hatten sich durch professionelle und persönliche Verbindungen konkretisiert. In Staufen, der „Notherberge für seine letzten Jahre“, hatte er nach 1972 für den Südwestfunk seinen gedächtnisbitteren, autobiographischen Essay über den Jüdischen Friedhof im benachbarten Sulzburg geschrieben, sich dem Exerzitium eines umfangreichen Lebensberichts aber verweigert. Die rastlose Fron seiner Lesereisen hatte er sarkastisch mißachtet, aber der alte Berliner Rundfunkmann hatte bei den Radioaufnahmen seiner Gedichte im Freiburger SWF-Studio die vertraute Studioatmosphäre und das Gespräch mit den jüngeren Rundfunkmitarbeitern geschätzt. Während er mit märkisch näselndem Singsang seine sich immer karger ins Schweigen hinüberdrehenden Verse aufs Band sprach, war es ihm sogar selbstironisch gelungen, seinen heftigen Zigarettenverzehr auf die schnüffelnde Präsenz der Rachmelder über den Mikrofonen einzustellen.
Las Peter Huchel, entfiel die Frage, ob und wo er und seine Dichtkunst aus- oder eingebürgert seien. Seine Wortklänge, seine Bilder, der „große Hof seines Gedächtnisses“ schufen (fernab der Reichweite jedweder Paßbehörde) den Raum einer eigenen Souveränität mit einem eigenem Wohn- und Transitrecht seiner Sprache. In privaten Gesprächen machte er aus seinen Verletzungen und Verzweiflungen („… den alten Jammer / bis zur Vernichtung der Sinne zu sehen“) keinen Hehl, sah sich und die Poesie an den Rand gedrängt, sagte: „Der Lyriker lebte immer am Rande der Gesellschaft“. Aber schrieb und sprach er Verse, schlug er seinen Kreis um eine eigene Mitte. Ihn „im Westen“ des zerschnittenen Landes mit der Geste „nun ist er unser“ gegen den „Osten“ anklagend oder auftrumpfend instrumentieren zu wollen, wäre dem unbehausten, dem das Alter zum Exil geriet, peinlich zu nahe getreten. Als Monica Huchel bald nach seinem Tode der Benennung des Peter-Huchel-Preises zustimmte, mag dies den Agenten des Mauerbaus und der Entmündigung scharf in Ohr und Nase gefahren sein; aber seinen Namen als politisches Plakat im Ost-West-Konflikt in Dienst zu nehmen, lag den Preisstiftern und Juroren fern. Handfesteres in Sachen Poesie lag näher und am Herzen: In Huchels Namen der Marginalisierung, Versimpelung und Verjuxung der Lyrik alljährlich eine im Durchspielen und Bearbeiten von Welt- und Sprachstoff beispielhafte, nonkonformistisch eigene Stimme entgegenzuhalten. Sie zu ermutigen, etwas für ihr Honorarkonto zu tun. Poesiedienliche Arbeit zu leisten z.b. gegen den Schwund der Lyrik-Titel und -Auflagen, gegen die Verarmung der Lyrikkompetenz in der Literaturkritik. Mit welchem Lesevermögen, Finderglück, Entscheidungswitz die Juroren in 20 Jahren zu Werke gingen, mag der Leser dieser Dokumentation sich neugierig einlesend, widersprechend, zustimmend nachvollziehen.
Hört und liest man sich hinein in die dichterischen Idiome dieses durch die Chronologie von zwei Jahrzehnten komponierten Ensembles, wird man Stimmenvielfalt, Pluralität der Sprech- und Schreibweisen erkennen können. Offenkundig hat die Jury in ihrer wechselnden Besetzung einen werkorientierten, offenen Lyrikdiskurs geführt, hat sich nicht als Bauverein zur Errichtung eines Kanons, zur Aufsockelung bevorzugter Stilrichtungen oder gar zur Bebauung des Architekturparks einer post- oder antimodernen Nationalliteratur verstanden.
So liegen die Werkplätze der 20 Preisträgerinnen und Preisträger oftmals kaum mehr in Rufweite voneinander entfernt, und doch lassen sich Korrespondenzen, Funkverkehr und Materialaustausch zwischen ihnen auffangen. Man mag die Unübersichtlichkeit dieser Landschaft der poetischen Herstellungsweisen registrieren, mag feststellen, daß die Lyrik nur noch weitab von den zentralen Plätzen der kulturellen Öffentlichkeit als „Subsubsystem des Subsystems Literatur“ (Sibylle Cramer) verortet werden könne, eine „grandiose Beiläufigkeit“ (Kurt Drawert) einer bald schon postliteraren Gesellschaft – arbeitet ein Poet an seinem Text, liest ein Leser Lyrik, haben beide ihren Anteil am Fortbestehen einer robusten, mutationsprächtigen Gattung. Allemal kommen die humane Würde und die zivilisationsresistenten Wunder der Poesie von weiterher, als sich die Schulweisheit der Marktschreier auf dem globalen Dorfplatz träumen läßt.
Ein stimmig verliehener Preis entdeckt und bewirkt auf diesem weiten Feld keine Wunder, konnte und kann aber als Sinnesvorgang zur Wahrnehmung und Verstärkung von Stimmen überlebensnützlich sein. Wie sagte doch eine vermeintliche Berühmtheit auf die Nachricht, dass sie den Peter-Huchel-Preis bekomme, erfreut und sachlich ins Telefon: „Davon kann ich jetzt ein ganzes Jahr lang leben.“
Leben müssen für Gedichte, leben können für Gedichte? Dazu eine Leseempfehlung: Man wird in den Biographien dieses Gruppenbilds mit Huchel entdecken, dass drei Viertel der Lebensläufe durch heißen und kalten Krieg, politische Umstürze, Grenzüberschreitungen geprägt, dass auch die übrigen, jüngeren, von den Nachbeben und vom Stimmengewirr der Historie umgetrieben sind. Der Lebenshintergrund der in diesem Buch vereinigten Stimmen ist also nicht die Abgeschiedenheit im Fluchtquartier, sondern erschütterte Zeitgenossenschaft, von Verwerfungen durchzogenes, zur Zukunft hin hellhörig offenes Gelände.
Und der Titel dieses Buches? Ist eine Hommage an die widerständige Stimmkraft und Reichsweite der Poesie, zitiert aus einer Huchel-Zeile: „Gezählte Tage, Stimmen, Stimmen, / vorausgesandt durch Sonne und Wind.“ Man kann den Reichtum der Töne und Klangbilder „am Schnittpunkt sehr vieler Stimmen“ (Durs Grünbein) lesend hören in diesem Band. Ihre „vorausgesandten“, unsere Begrenzungen und Befristungen zurücklassenden Botschaften zeigen die Lyrik als ein Projekt der menschlichen Stimme, als Projekt der Stimme der Menschlichkeit. Die Poesie gibt Lebenszeichen.

Wolfgang Heidenreich, Nachwort

 

Dieses Lyriklesebuch zum 100. Geburtstag Peter Huchels

Und zur 20. Verleihung des Peter-Huchel-Preises ist eine Offerte an den Leser, die unverwüstliche Benennungsschärfe und Geistesgegenwart heutiger Gedichte in einer polyphonen Gedicht- und Textauswahl zu erleben. Dann mit eigenen Leseerfahrungen an dem Gespräch über Gedichte teilzunehmen, das durch den Peter-Huchel-Preis zu einer Institution geworden ist.
Für die Auswahl der Preisträgerinnen und Preisträger hatte die unabhängige Jury von 1984–2003 tausend Gedichtbände mit über 100.000 Gedichten durchgearbeitet.
Die 20 ausgewählten Namen werden mit Textproben, Angaben zu Leben und Werk und mit Auszügen der Lob- und Dankreden in dieser Chronik dokumentiert. Ihre Stimmen lassen in der Vielfalt der Sprech- und Schreibweisen das lamentierende Geraune vom Ende der lyrischen Kunst vergessen.

Edition Isele, Klappentext, 2003

 

Kleine Lyrikgeschichte

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, vom Wort allerdings, wenn es nicht das eines wahrhaft göttlichen Autors ist, auch nicht. Auch Lyriker, die von je eine besondere Beziehung zum Wort haben, müssen daher schauen, wie sie ihre Brötchen verdienen; selbst dann, wenn ihr Wort schon etwas zählt, zahlt es sich nicht immer aus. Die Auflagen von Gedichtbänden sind in der Regel winzig, daher sind Preise für Lyriker oft noch wichtiger als für Prosaschriftsteller. Einer der renommiertesten ist der in diesem Jahr zum zwanzigsten Mal verliehene Peter-Huchel-Preis, der 1983 gestiftet wurde. Aus diesem Anlaß – der mit dem hundertsten Geburtstag Huchels in diesem Jahr zusammenfiel – hat Wolfgang Heidenreich eine schöne Anthologie zusammengestellt, die die Geschichte des Preises dokumentiert und sich zu einer kleinen Geschichte der Gegenwartslyrik zusammenfügt.
Jeder der Preisträger wird mit Bio- und Bibliographie sowie etwa fünf Gedichten vorgestellt, zusätzlich wird in Auszügen die jeweilige Laudatio abgedruckt. Unter den Ausgezeichneten finden sich so bekannte Dichter wie Michael Krüger, Ernst Jandl, Sarah Kirsch, Jürgen Becker, Durs Grünbein, Thomas Kling, Raoul Schrott, Oskar Pastior und Wolfgang Hilbig, aber der Band erinnert auch an einige etwas aus dem Blick geratene Autoren wie die in der Prenzlauer-Berg-Szene sehr wichtige Elke Erb oder den in Utrecht lehrenden Gregor Laschen. So ist ein Buch entstanden, das einen nicht vollständigen, aber doch brauchbaren Kanon deutscher Gegenwartslyrik anbietet und zugleich (Wieder-)Entdeckungen ermöglicht.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. September 2003

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber

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