Bernd Jentzsch (Hrsg.): Ich sah das Dunkel schon von ferne kommen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Bernd Jentzsch (Hrsg.): Ich sah das Dunkel schon von ferne kommen

Jentzsch (Hrsg.)-Ich sah das Dunkel schon von ferne kommen

BALLADE VON DER REISENDEN ANNA

1
Anna zog mit dreizehn Jahren nach dem Osten um
den Kammern und den Öfen zu entfliehn denn der
süße Rauch stank widerlich hieß die Mutter sie nach
Rußland ziehn vor sich sahn sie rote Fahnen hinter
sich die braunen Posten

2
nach dem ersten freudevollen Ankunftsglück fuhr
die Anna mit dem Reiseautobus südwärts in ein
Schülerinternat ihre Mutter las im Lehrerweih-
nachtsgruß – Anna – die sei fleißig und begabt ins-
besondre für Physik

3
damals streunten durch die Apparate schwarze Li-
sten und rissen eines Morgens Annas Mutter aus
dem Schlaf die Emigranten hatten sichs nicht neh-
men lassen mitzubalgen und hatten sie als Stalin-
Feind entlarvt sie schickten sie ganz ruhig untern
Galgen zu den Trotzkisten

4
Anna bündelte mit starrer Miene wieder die Kle-
dasche – reisen – denkt sie als es laut empört und
hysterisch aus den Lehrerkehlen sprudelt – haben
die Genossen schon gehört ein Trotzkistenkind hat
unsern Ort besudelt Sabotage Spionage

5
Sibiriens Sonne brannte heiß auf den Viehwaggon
und ein Mann mit uniformer Mütze brachte zwei-
mal täglich schwarzes Brot mittags kam er mit nem
Blechtopf Grütze und der Stern an seiner Jacke der
war rot wie ein Lutschbonbon

6
über ihrer Blockhaussiedlung zitterte ein fremder
Wind doch Anna lernte Bäumefällen leicht mit
siebzehn Jahren bis sie selbst gefällt von Igor bei
den Stapelflecken und in ihren kurzgeschornen Stop-
pelhaaren blieb ein weißer Fetzen Birkenborke
stecken und es folgte jedes Jahr ein Kind

7
irgendwo im Westen ging ein Krieg über Weizen-
felder und die Anna durfte dafür büßen keiner
spielte mit den Kindern und zu Haus begann denn
man hatte aufgehört auch ihn zu grüßen heimlich
Sprit zu brennen Annas Mann im Kartoffelkeller

8
fünfzehn Jahre später kam die große Wende der
kollektive Rundfunk versprach Gerechtigkeit Mor-
de Spitzeleien Fehlurteile seien aus und ein Schrei-
ben brachte Anna den Bescheid packe unverzüglich
deine Sachen fahr nach Hause die Verbannung ist zu Ende

9
ohne Igor nicht zu fahren hatte Anna sich gedacht
doch sie sagten auf dem Rat daß das gar nicht geht
sie müßt mit den Kindern weg und zwar schnell
Igor hätte keine deutsche Nationalität blieb sie aber
wäre vor dem Volk ihr Fall nicht wiedergutgemacht

10
in Berlin steht Anna in einem leeren Zimmer ihre
Mutter ist rehabilitiert worden urkundlich unter
Glas hängts an der Wand sie zeigt es ihren Söhnen
wie einen Orden es fällt dabei auf ihre ausgestreck-
te Hand ein Abendsonnenschimmer

Helga M. Novak

 

 

 

Mit leichtem Gepäck

1
1959, acht Jahre nach der Rückkehr aus fast zwanzigjährigem Exil erinnert sich eine Frau an eine Szene, wie sie damals an der Tagesordnung war:

Das erste schattenhafte Bild meiner Kindheit: Ich sitze auf dem Schoß meines Vaters. Ich habe Angst. Mutter weint. Und fremde Männer werfen Bücher aus den Schränken, reißen Bilder von der Wand. 1933. Ich bin vier Jahre alt. Kurz darauf lernte ich ein neues Wort kennen, das Wort Emigration. Es war ein bitteres Wort.

Das Haus, in dem das geschah, kenne ich gut. Ich habe in dieser Straße meine Kindheit verbracht. Es ist ein von wildem Wein überwachsenes einstöckiges Siedlungshaus der Allgemeinen Baugenossenschaft für Chemnitz und Umgebung, gelegen an der östlichen Peripherie der Stadt im Ortsteil Gablenz. Die Siedlung war mitten im Ersten Weltkrieg von Sozialdemokraten gegründet worden, unter den Gründern mein Großvater väterlicherseits, der in der Uniform eines Infanteristen Seiner Kaiserlichen Majestät als Vertreter der Arbeiter- und Soldatenräte Sachsens an der Grundsteinlegung teilnahm. Es wunderte niemanden, daß der Siedlung eine der ersten Aktionen der Chemnitzer Nazis galt. Vor diesem Haus, in einer kleinen, rechteckigen Parkanlage, stand eine Linde, daneben befand sich das Café Geibel-Linde. Nach dem Reichstagsbrand rückte ein SA-Schlägertrupp an, fällte die Linde und schlug die Inneneinrichtung des Cafés kurz und klein, getreu der Prophezeiung, die sie in einem ihrer Lieder immer wieder gröhlten.
Ich kann mir vorstellen, welche Bücher aus den Schränken des sozialdemokratischen Redakteurs Karl Böchel geworfen wurden; er war der Vater des vierjährigen Mädchens. In jener Nacht verschwanden viele Bewohner der Straße. Die meisten von ihnen sind nie zurückgekehrt. Von einem weiß ich, daß er nach Bolivien entkam. Unter denen, die sich auf abenteuerliche Weise und „mit leichtem Gepäck“ in Sicherheit bringen konnten, war auch die Familie Böchel. Ihr gelang auf den alten Wegen der Wilderer über die grüne Grenze hinweg die Flucht in die Tschechoslowakei, ins Böhmische, dem klassischen Versteck sächsischer Emigranten. 1937 flohen sie dann in den hohen Norden Europas, nach Norwegen, und 1944, als die Faschisten auch dieses Land besetzten, weiter nach Schweden. Als der Krieg zu Ende war, gingen sie erneut nach Norwegen, dort blieben sie noch, unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen, bis 1951, um danach in das Land zurückzukehren, das einmal Deutschland geheißen hatte und nun geteilt war. Das alles haben mir mein Großvater und meine Eltern erzählt, die in der Nachbarschaft wohnten, jedenfalls solange, bis auch sie „verreisen“ mußten.
Das Mädchen, über das bei uns zu Hause so oft gesprochen worden war, lernte ich 1956 kennen. Ich war damals sechzehn Jahre alt, aber „die kleine Böchel“ mit dem mir sonderbar vorkommenden Vornamen Rose war inzwischen eine junge Frau geworden. Sie hieß auch nicht mehr Böchel, sondern Nyland. Und sie war eine Dichterin. Rose zeigte mir eine Nummer der Zeitschrift Avent-Garden, herausgegeben vom kommunistischen Jugendverband Norwegens, in der einige ihrer Gedichte abgedruckt waren. Wir sprachen über vieles, andeutungsweise, als ob wir in Eile wären, und, wie ich mich gut erinnere, sehr unsystematisch. Das Wort Emigration spielte in unserer Unterhaltung eine wichtige Rolle. Ich mußte sofort an dieses Gespräch denken, als ich nach Jahren aus ihrer Feder den lapidaren Satz las:

Es war ein bitteres Wort.

Während unserer ersten Begegnung kreisten unsere Gedanken so lebhaft um diese Erfahrung, die sie mir anhand von immer neuen Beispielen verdeutlichte, daß wir weder an dem Tag noch bei anderer Gelegenheit eine Einzelheit erwähnten, die für ihr Schicksal bedeutungsvoll geworden war: das Fluchtauto in die Tschechoslowakei und den Mann, der es beschafft hatte, meinen Vater.
Die hier vereinten Gedichte, zu Ehren einer ganzen Exilgeneration zusammengetragen, die mit ihrem Leben bezahlt hat oder mit kenntlichen Narben weiterlebt, sprechen von jüngster deutscher Geschichte. Dieses Buch ist die Chronik der Familie Böchel und zugleich die aller Erniedrigten und Vertriebenen anderen Namens. Daß die hunderttausendfach gelebten Erfahrungen für diesen oder jenen Nachgeborenen zudem erneut am eigenen Leib nachprüfbar geworden sind, widerlegt die selbstgenügsame Formulierung von der sogenannten „bewältigten Vergangenheit“. „Die Teller werden hart hingestellt / daß die Suppe überschwappt“, hat Brecht geschrieben. Das Gedicht heißt „Gewohnheiten, noch immer“. Ich meine das eine, das vor allem, aber das andere auch.

2
„Der Geruch der Freiheit“ lautet der schöne, das Ende der endlosen Flucht herbeirufende Titel eines Gedichts, dessen Verfasser es 1938 gelungen war, eine als Reclamheft Nr. 7248 getarnte kleine Auswahl seiner Gedichte von Frankreich nach Deutschland zu schmuggeln. Schon 1927 hatte er die Heimat verlassen und war, einer Einladung Walter Hasenclevers folgend, nach Paris gegangen. Sein Name steht auf der Gründungsurkunde des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller im Exil. Vielen nach ihm emigrierten Kollegen hat er, der leidenschaftliche Antifaschist, geholfen, das nackte Leben zu retten. Bei Kriegsausbruch wurde auch er interniert, zunächst im Lager Le Vernet in den Pyrenäen (hier schrieb er eine erschütternde Verschronik in mehr als sechshundert Gedichten), dann im gefürchteten Auslieferungslager Castres. Ihm gelang die Flucht, er tauchte in Marseille unter und schloß sich dem Maquis an. Als er am 2. Juni 1947 die französisch-deutsche Grenze überschritt, um am ersten deutschen Schriftstellerkongreß in Berlin teilzunehmen, mögen ihm einige Verse aus seinem Gedicht „Der Geruch der Freiheit“ besonders nahe gewesen sein:

Ja, Thymian und Rosmarin
und Luft und Leben zum Lieben,
ihr, Rosmarin und Thymian,
die Namen hab ich laut geschrien,
ich bade mich auf meiner Bahn
in Thymian und Rosmarin,
mit Rosmarin und Thymian
hab ich mich eingerieben.

Ich spreche von Rudolf Leonhard. 1950 kehrte er endgültig nach Deutschland zurück, in die DDR. Sein 1951, zwei Jahre vor seinem Tod, erschienenes Buch Unsere Republik, eine Sammlung von Aufsätzen und Gedichten, wurde von der Kritik ein „Bekenntnis zur Deutschen Demokratischen Republik als dem Garanten einer neuen Kultur“ genannt.
Die Stimme Rudolf Leonhards wird man auf diesen Seiten vergebens suchen. Von ihm waren für die dreibändige Dokumentation vierzehn Beispiele gewählt worden, elf für den vorliegenden Band; Gedichte über das Lager Le Vernet, den Februaraufstand der Wiener Arbeiter, den spanischen Bürgerkrieg. Das DDR-Büro für Urheberrechte hat die Erteilung der Druckerlaubnis für diese und zahlreiche Gedichte anderer Autoren an die Forderung geknüpft, „Wolf Biermann und Reiner Kunze“ aus der Anthologie „zu entfernen“; es behielt sich außerdem das Recht vor, „die Beiträge“ (in dieser Reihenfolge) „von B. J., Helga M. Novak und Christa Reinig auf antisozialistische Tendenzen zu überprüfen“. Konfiszieren heißt wörtlich übersetzt: für dem Staat verfallen erklären, wegnehmen. Die Liste der Gedichte, die die DDR den Lesern dieses Bandes weggenommen hat, umfaßt fünfundzwanzig exemplarische antifaschistische Lektionen: Johannes R. Becher: „General Mola“, „An diesen Orten“, „Absage“, „Nur kein Vergessen!“, „Es nahen andre Zeiten“; Uwe Grüning: „Ein Psalm Salomos, den Kindern zu singen“; Hugo Huppert: „Das Wort“; Kuba: „Brief aus dem Lager“, „Judenliedchen“; Georg Maurer: „Vor der Tribüne des Führers“; Rudolf Leonhard: „Wiener Blut“, „Irún, Frente popular“, „Der Verbannte“, „Vielleicht,“ „Emigrantenballade“, „Das Zimmer“, „Füße“, „Ballade vom Schuh“, „Das Lied vom Stacheldraht“, „Der Geruch der Freiheit“; Erich Weinert: „Ein Ochse meldet sich zu Wort“, „Der Führer“, „Der Gerichtstag“; Arnold Zweig: „Emigration“.
In Rudolf Leonhards Versen über die tapferen Verteidiger der spanischen Stadt Irún ist jener Zustand erreicht, in dem das Licht des Gedichts die Gegenwart erhellt:

Sie ließen sich für uns töten,
sie waren stark und gut;
wenn wir in Scham erröten,
ist es mit ihrem Blut.

Bernd Jentzsch, August 1979, Vorwort

 

Vertreibung, Vernichtung, Heimkehr

– Eine fällige Dokumentation im Gedicht. –

Den Herausgebern deutscher Lyrik sind in den letzten Jahrzehnten namhafte Anthologien gelungen. In den 50er Jahren Ergriffenes Dasein (1953) und Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte (1956); in den 60er Jahren Widerspiel (1962) und Aussichten (1966); in den 70er Jahren Gedichte vor und nach 1968 (1977), Lyrik-Katalog Bundesrepublik und In diesem Lande leben wir (beide 1978). 1979 erschienen die beiden Lyrik-Jahrbücher bei Claassen und im Athenäum-Verlag. Merkwürdigerweise entstand bisher keine repräsentative Anthologie über die Lyrik, die sich mit dem Dritten Reich und seinen Folgen auseinandersetzte.
Man kennt das jüdische Totengedenken in den Gedichten von Paul Celan und Nelly Sachs. Man kennt die Exilgedichte Bert Brechts:

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?

Wer aber kennt die Exilgedichte von Max Herrmann-Neiße, Mascha Kaléko, Karl Wolfskehl, von Albert Ehrenstein und Paul Zech? Wer kennt das Totengedenken der jüngeren Autoren zwischen Wien (Conny Hannes Meyer), Berlin (Günter Kunert) und Stuttgart (Helmut Heißenbüttel)? Gibt es tatsächlich keins von einem Schweizer Autor?
Bernd Jentzsch, der ehemalige DDR-Autor und Herausgeber, der heute in der Schweiz lebt, hat Autoren und Gedichte der Exil-, Kriegs- und Nachkriegszeit zu einer markanten dreiteiligen Anthologie versammelt. Der Titel des Buches Vertreibung. Ich sah das Dunkel schon von ferne kommen entstammt dem Gedicht „Verdammnis 1933“ von Max Herrmann-Neiße. Der Titel für das Buch Vernichtung. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, ist der Schlußstrophe von Paul Celans „Todesfuge“ entnommen. Den Titel für das Buch Rückkehr und Hoffnung. Ich sah aus Deutschlands Asche keinen Phönix steigen entlieh Jentzsch Christoph Meckels satirischer Elegie „Der Pfau“. Der 1940 geborene Herausgeber hat für jeden Band ein Vorwort verfaßt, das von persönlichen Erlebnissen des Kriegsendes und der Nachkriegszeit ausgeht. Er teilt damit nicht nur historisch konkrete Details, sondern auch die Betroffenheit des Kindes mit, das im Erwachsenen diese Gedächtnisarbeit notwendig machte. Es sollte eine Anthologie aus allen vier deutschsprachigen Ländern werden, vor allem aus den zwei deutschen Staaten. Das Ost-Berliner „Büro für Urheberrechte“ hat die Erteilung der Druckerlaubnis von insgesamt 41 Gedichten davon abhängig gemacht, daß die Beiträge von Wolf Biermann und Reiner Kunze entfernt würden. Außerdem behielt es sich die Überprüfung der Texte von Bernd Jentzsch, Helga M. Novak und Christa Reinig auf antisozialistische Tendenzen vor. Weil Jentzsch auf solche Zensurbedingungen nicht einging, mußte er auf die Texte von Johannes R. Becher, Kuba, Rudolf Leonhard, Erich Weinert, Arnold Zweig verzichten. Was würde Johannes R. Becher sagen, wenn er erfahren müßte, daß sein Staat die Verbreitung antifaschistischer Literatur hindert? Jentzsch meint, er hätte schallend gelacht. Vielleicht auch wäre sein Gesicht versteint.
Die drei Bände sind thematisch – Exil, Vernichtung, Neubegründung – geordnet. Innerhalb der Bände gliedert Jentzsch nach Motivgruppen. Sie heißen im ersten Band:

Kälbermarsch, Herzzerspringen, Flüchtlingsschritte, Emigrantenballade, Zwillingsröte, Zufluchtsstätte, Gnadenbrot, Traumgespinst, Samenkorn.

Formale Gesichtspunkte kommen im Aufbau und im editorischen Vorwort nicht ins Blickfeld. Die chronologische Linie bleibt außer Acht. Im Blickfeld stehen lyrische Zeugnisse als Appell an die Nachgeborenen.
Die Sprache wirkt überwiegend – wie könnte es anders sein? – traditionell. Im Exil ist kein Raum für sprachliche Experimente. Schmerz und Todesnähe gebären keine experimentellen Töne. Der Ausgestoßene klammert sich als poetischer Mensch ans Wort. Es ist das einzige, was er nicht verloren hat. Das Wort ist sein Eigentum. Nein, keine Waffe, allenfalls Besteck: das Wort als Nahrung und Besteck des Ohnmächtigen. Reime überwiegen. Mit Reimen wehrt sich der poetische Mensch gegen die ungereimte Welt, mit der Ordnung der Worte gegen die Unordnung der Macht, mit dem ästhetisch und moralisch Schönen gegen den Haß. Gereimte Lieder überwiegen. Dazwischen freie Rhythmen in expressionistischem Pathos, elegische Klagen, satirische Ansprachen, auch Songs und Balladen, leise Selbstgespräche, ideologische Scheidungen, richtende und apokalyptische Texte. Der Vers als Klage und Anklage, als Zuspruch und Ermutigung, als Aufbegehren und Drohgebärde. Verse, die das eigene Herz, den öffentlichen Adressaten aber nicht erreichen. Verse der Notwehr unter dem Zeichen der Vergeblichkeit.
Im ersten Band überwiegen die Texte der vom Exil betroffenen Autoren: Juden, Antifaschisten, Menschen, für die in Deutschland kein Platz mehr war. Im zweiten Band halten sich Betroffene und Nachgeborene die Waage. Im dritten Band überwiegen die Nachgeborenen, die Rückkehrer. Autoren des Anfangskapitels „Feuersbrünste“ heißen: Adolf Endler (geb. 1930), Rolf Haufs (geb. 1935), Helga M. Novak (geb. 1935), Günter Kunert (geb. 1929), Christine Busta (geb. 1915), Heinz Czechowski (geb. 1935), Bernd Jentzsch (geb. 1940), Karl Mickel (geb. 1935), Wolfgang Weyrauch (geb. 1907), Nicolas Born (geb. 1937) – in dieser Reihenfolge. Keiner dieser Autoren ist ein „Rückkehrer“, ein einziger unter ihnen, Wolfgang Weyrauch, „Heimkehrer“. Der Untertitel des dritten Teiles der Anthologie heißt aber „Rückkehr und Hoffnung“. Ich begreife nicht, warum der Herausgeber nicht mit Texten von „Rückkehrern“ begonnen hat und warum er die „Heimkehrer“ als Gruppe damals junger Autoren (die heimkehrenden Soldaten) nicht sichtbar macht. Kennt Jentzsch die frühen Texte der Gruppe 47 zu wenig? Von hier aus hätten dann die „Hoffnungen“ jener Autoren gezeigt werden können, die erst in den späten 50er oder gar erst in den 60er Jahren zu schreiben begannen. Mir scheint, daß soziologische Gruppen – rückkehrende Exilanten, Soldaten, Heimkehrer, Autoren, die erst in den späten 50er Jahren im juristischen und literarischen Sinn mündig wurden – das Thema „Rückkehr und Hoffnung“ plastischer und intensiver geschichtsbezogen gezeigt hätten.
Damit sind wir bei den Problemen dieser, was die Sammlung der Texte anbetrifft, vorzüglichen, editorisch aber mit Mängeln behafteten Anthologie angelangt. Die Probleme beginnen, wenn man mit dieser Anthologie arbeiten will, bei der Chronologie der Autoren und ihrer Gedichte. Gerade der kritische Leser, der beim ungefähren Eindruck und Gefühl nicht stehenbleiben will, wird hier im Stich gelassen. Einige Beispiele. Das erste Gedicht des ersten Bandes stammt nicht von einem Exilautor, sondern von Franz Fühmann (geb. 1922). Über ihn schreibt das in Leipzig herausgegebene Lexikon Schriftsteller der DDR (1974):

wuchs in einer Atmosphäre von Kleinbürgertum und Faschismus auf… die sowjetische Kriegsgefangenschaft wurde zum Wendepunkt seines Lebens.

Franz Fühmann schreibt in seinem den Band eröffnenden Gedicht „Zu einem Bild Carl Hofers: Die schwarzen Zimmer (1928)“. Nun wüßte ich als Leser gern, wann Fühmann das Gedicht geschrieben hat. Der editorische Nachweis sagt nur „mit Genehmigung des Autors“. Der Text kann 1956, er kann auch 1976 geschrieben sein. Und das macht für das „poetische Zeugnis“ wie für den poetischen Appell einen Unterschied. Das Titelgedicht des ersten Kapitels im ersten Band heißt „Kälbermarsch“. Es stammt von Brecht:

Hinter der Trommel her
Trotten die Kälber
Das Fell für die Trommel
Liefern sie selber
Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen.
Das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt.
Die Kälber, deren Blut im Schlachthof schon geflossen
Sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit.

Der Leser hört sofort die grimmige Parodie auf das einstige Horst-Wessel-Lied und seine Sänger. Wann hat Brecht das „Kälberlied“ geschrieben? Der editorische Nachweis sagt: Edition Suhrkamp Werkausgabe, Gedichte 1–3, 1973. Die Werkausgabe verweist aber im alphabetischen Verzeichnis auf „Stücke, S. 1976“, also Band 5 der Stücke. „Kälbermarsch“ ist ein Song aus Schweyk im Zweiten Weltkrieg. Das Stück wurde 1943 geschrieben. Das Entstehungsjahr hätte leicht verifiziert werden können. Brecht schreibt und kämpft in Amerika. Aber erst die Nachgeborenen werden seine Gedanken und Lieder erfahren.
Von Yvan Goll steht im Kapitel „Gnadenbrot“ ein Auszug aus dem Gedicht „Hiob“. Es wird jedoch nicht mitgeteilt, um welche der beiden Fassungen und um welchen Teil es sich handelt. Der Auszug ist Teil II aus dem vierteiligen Gedicht der ersten Fassung von 1948, Goll hat es im Straßburger „Hôpital Civil“ geschrieben. Es hat mit dem Thema „Vertreibung“ direkt nichts zu tun. Der Gebetscharakter dieses psalmistischen Textes wird bei Jentzsch gerade nicht sichtbar. Da das Hiobthema sich auch bei Nelly Sachs und Wolfskehl findet, hätte es einen wichtigen Deutungshorizont der eigenen Existenz (zusammen mit dem Abraham- und Fluchtmotiv) bei jüdischen Autoren abgeben können. Die Textnachweise sind wiederholt unzureichend. Von Hermann Broch stammt der Text „Stimmen – 1933“. Textnachweis: „Gesammelte Werke“, Zürich 1953. Wurde das Gedicht 1933 geschrieben? Oder stammt die Klarsicht, der Pessimismus, die Satire aus einer späteren Zeit?

Wir wollen uns nicht täuschen, wir werden niemals gut; uns treibt’s von Rausch zu Räuschen, zu Folterung und Blut.

Tatsächlich stammt der Text aus dem Roman Die Schuldlosen, und dessen lyrische Teile wurden im Jahre 1949 geschrieben.
Die „Hoffnung“ ist im dritten Band dünn gesät. Einer der wenigen, der sie direkt formuliert, ist Bert Brecht mit seinem „Aufbaulied“. Der Refrain lautet:

Fort mit den Trümmern
Und was Neues hingebaut!
Um uns selber müssen wir uns selber kümmern
Und heraus gegen uns, wer sich traut!

Wo wurde das Gedicht geschrieben, wann, aus welchem Anlaß, in welchem Kontext? Auch hier nennt der Textnachweis nur die „Gesammelten Gedichte, Frankfurt 1973“. Wäre es nicht sinnvoll, mitzuteilen, daß das Gedicht kurz nach der Rückkehr und Übersiedlung Brechts in die DDR geschrieben wurde? Ob das Kapitel „Hiroshima Nagasaki“ die durch zwei Bände durchgehaltene spezifisch deutsche Thematik erhellt, wage ich in diesem Kontext zu bezweifeln. Es müßten ja dann auch Vietnam und andere Orte der Gewalt gezeigt werden. Leider hat der Herausgeber die Prinzipien seiner Auswahl und Anordnung nirgends reflektiert. Warum wird im dritten Band, der „Rückkehr und Hoffnung“ thematisiert, das „Rückkehr“-Gedicht von Hilde Domin ausgelassen? Stünde es nicht formal und inhaltlich in einer hervorragenden Spannung zu den motivgleichen Gedichten von Brecht und Kaschnitz?
Die Situation der „Rückkehr“ und das Motiv der „Hoffnung“ bei den Exilautoren hätte meines Erachtens getrennt werden sollen von der nur schwer und immer weniger möglichen Hoffnung der jüngeren, von Anfang an politisch bewußten, zugleich utopischen und skeptischen Generation. Die meisten älteren Autoren befanden sich mit ihrer Erfahrung nicht auf der Ebene einer utopischen Ideologie. Wenn Christoph Meckel (geb. 1935) hier dem ganzen Band, also auch den Exilautoren, das Stichwort geben darf, so müßte die Aussage des jungen Autors datiert sein. Das bekannte „Pfau“-Gedicht wurde 1962 erstveröffentlicht. Es stand bereits in der Anthologie Deutsche Teilung (Wiesbaden 1966). Die erste Strophe lautet:

Ich sah aus Deutschland keinen Phönix steigen.
Räumend mit dem Fuß in der Asche
stieß ich auf kohlende Flossen, auf Hörner und Häute –
doch ich sah einen Pfau, der Asche wirbelnd
mit einem Flügel aus Holz und einem aus Eisen
riesig wachsend die Flocken der Feuerstellen
peitschte und sein Gefieder strahlte.

Die zweite Strophe erweitert Vergleich und Allegorie:

Ich sah aus Deutschlands Asche alte Krähen kriechen
und borstige Nachtigallen mit heiseren Kehlen…

Die dritte Strophe wiederholt (zu einer Zeit, da junge Ästhetiker gegen Mythisierungen und Metapher bereits polemisierten) das mythologische Bild: „Ich sah aus Deutschlands Asche keinen Phönix steigen“ und setzt dem Ausbleiben der Wiederbelebung, des Auferstehungsvorgangs (übrigens ein ungeheuerer, geradezu antihistorischer Vorgang) entgegen:

doch ich sah einen Pfau in der Leuchtzeit seines Gefieders,
ich sah ihn strahlende Räder schlagen
im Gegenlicht eisgrauer Himmel und Wetterleuchten
und hörte den Jubel der Krähen und Spatzen…

Politische Utopie oder poetische Vision?
Die Errichtung der Berliner Mauer, bald nach Veröffentlichung dieses Gedichts, die nochmalige und potenzierte deutsche Teilung findet kein Kapitel in diesem Band der enttäuschten Hoffnungen. Wäre es unangebracht, Karl Mickels schöne, poetisch-utopische „Friedensfeier“ zu kontrastieren mit Meckels warnender Denunzierung des politischen Friedens? Wäre es nicht erhellend, die Lieder der Utopie zu ergänzen, zum Beispiel mit Günter Kunerts herzzerreißenden Klagen über die „verblaßte“, „zerbröckelte“ Utopie? Denn die Aufbau-Hoffnungen waren ja sehr viel größer, umfassender und radikaler in jenem deutschen Staat, der seit einigen Jahren seine Dichter vertreibt.
Der dritte Band der Anthologie befriedigt in seinem Aufbau am wenigsten. Zu verschieden sind die gesellschaftlichen Systeme, ihr Ausgangspunkt, ihre Basis, ihr politischer Horizont, als daß man die Gedichte ununterschieden auf den Nenner „Rückkehr und Hoffnung“ setzen durfte. Es wäre ja gerade interessant zu sehen, wie die „poetischen Zeugnisse“ in den beiden so verschiedenen Staaten ihre Hoffnung auf Goldgrund setzten oder im täglichen Grau ansiedelten, wie der Goldgrund zerbricht, oder aber die Hoffnung von Anfang an realistischer aufgebaut wird. Im Westen war die Denunziation des Staates und der Verhältnisse leicht. Sie konnte gelegentlich sogar Attitüde werden. Wie aber geriet im östlichen Land die große Affirmation in die Krise? Wie wurde aus der Begrüßung satirische Entlarvung? Wie kam es von der Zustimmung zum Bruch mit dem „besseren“ deutschen Staat? Das wäre in den „poetischen Zeugnissen“ zu zeigen. Jentzsch bleibt im Aufbau und in der editorischen Begleitarbeit vieles schuldig. Der dritte Teil der Anthologie ist der schwächste.
Weil sich für den republikanischen Leser die Zustimmung zur Jentzsch-Anthologie so leicht einstellt, mußte hier auf Mängel verwiesen werden. Diese Anthologie füllt nicht nur eine Lücke. Sie leistet in der Tat Gedächtnisarbeit und Trauerarbeit. Aber was leistet sie für die Misere der beiden Republiken? Hier hätte strukturierend gebaut werden müssen.
Ohne Frage enthält die Anthologie literarisch zentrale, bekannte und neu entdeckte Texte in einer guten Proportion. Bei den Fundstücken denke ich an die KZ-Gedichte von Gerty Spies (geb. 1897) und Hermann Adler (geb. 1911), an den unbekannten Paul Mayer (1889–1970) und nicht mehr bekannten Ernst Schiebelhuth (1895–1944), an den von Jentzsch neu entdeckten und breit dokumentierten Max Herrmann-Neiße, der 1941 im Londoner Exil starb. Ich denke an die alten Wiener Autoren Theodor Kramer, Albert Ehrenstein, Ernst Waldinger, an den totengedenkenden jüngeren Conny Hannes Meyer (geb. 1931). Obschon Peter Handkes „Drei Lesungen des Gesetzes“ fehlen, sind die österreichischen Autoren angemessen vertreten. Wo aber bleiben die Schweizer Autoren, die nach Auskunft des dritten Bandes einbezogen werden sollten? Hat die ganze Wirklichkeit des Dritten Reiches und der zu ihnen ins Exil kommenden Autoren in ihren Gedichten nichts hinterlassen? Gibt es keine Stellungnahme zur deutschen Misere und zur deutschen Hoffnung nach 1945?
Ganz ausgelassen hat Jentzsch – offenbar liegen diese Autoren außerhalb seines Gesichtskreises – die Gefängnisgedichte von Albrecht Haushofer (Moabiter Sonette) und die Widerstandssonette von Reinhold Schneider. In die Dimension einer kritischen republikanischen Aufbau-Hoffnung hätten auch die Gedichte des Schweizers Kurt Marti oder der bundesrepublikanischen Dorothee Sölle eingetragen werden können. Die religiöse Dimension der Opfer, der Widerständler und der kritisch Hoffenden bleibt gänzlich außer acht.
Wie wenig die Vertriebenengedichte, die Widerstands- und Sterbegedichte aus den Konzentrationslagern bekannt sind, zeigte jüngst das üppig aufgemachte Programmheft der Bayerischen Staatsoper zur szenischen Aufführung des Judas Maccabäus Oratoriums. Die Aufführung hatte einen bedeutenden szenischen Einfall. Herbert Wernicke und August Everding ließen das Oratorium aus einem KZ singen. Das Programmheft druckte dazu bekannte Gedichte von Nelly Sachs und Else Lasker-Schüler ab, nicht aber die jüdische Ghetto-Chronik von Jens Gerlach oder das motivgleiche Gedicht von Ernst Waldinger, welches beginnt:

In Warschau fiel ein Makkabäer,
Nicht weil’s ihm irgendein Gesetz befahl…

Dafür hätte der im Programmheft abgedruckte „Choral aus der Tiefe der Hölle“ von Leonhardt Krasnodebski, 1942, durchaus die Spannung zwischen dem poetischen Text und dem Zorn der Realität in der Jentzsch-Sammlung zeigen können:

hört unseren choral
aus der tiefe der hölle
er soll unseren henkern
auf ewig die träume stören!
choral, choral!
aus der tiefe der hölle…
attention! attention! hier krepieren menschen, auch hier sind MENSCHEN!

Paul Konrad Kurz, aus Paul Konrad Kurz: Zwischen Widerstand und Wohlstand. Zur Literatur der frühen 80er Jahre, Verlag Josef Knecht, 1986

 

 

„Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts“. Ein Gespräch zwischen Bernd Jentzsch, Wulf Kirsten und Karl Mickel 1993 in der Literaturwerkstatt Berlin.

 

Zum 60. Geburtstag des Herausgebers:

Bernd Heimberger: Initiator, Inspirator, Integrator
Berliner LeseZeichen, 3/2000

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + KLG + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + deutsche FOTOTHEK

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