Sabine Küchler & Denis Scheck (Hrsg.): Vom schwierigen Vergnügen der Poesie

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Sabine Küchler & Denis Scheck (Hrsg.): Vom schwierigen Vergnügen der Poesie

Küchler/Scheck (Hrsg.)-Vom schwierigen Vergnügen der Poesie

DICHTUNG UND RELIGION

Religionen sind Gedichte. Sie bringen
unseren Tages- und Traumgeist in Einklang,
unsere Gefühle, Instinkte, den Atem und die uns
aaaaaangeborene Gestik

in das einzig vollkommene Denken: Dichtung.
Nichts ist gesagt, bis es in Worten hinausgeträumt ist
und nichts ist wahr, was nur in Worten wahr ist.

Ein Gedicht kann, verglichen mit einer geordneten Religion,
wie die kurze Hochzeitsnacht eines Soldaten sein
nach der man sterben und leben kann. Aber das ist eine kleine Religion.

Volle Religion ist das große Gedicht in liebevoller Wiederholung;
wie jedes Gedicht muß sie unerschöpflich und vollkommen sein
mit Wendungen, wo man sich fragt Warum hat der Dichter das wohl getan?

Man kann eine Lüge nicht beten, hat Huckleberry Finn gesagt;
man kann sie auch nicht dichten. Es ist derselbe Spiegel:
beweglich, aufblitzend nennen wir es Dichtung,

um eine Mitte verankert nennen wir es eine Religion,
und Gott ist die Dichtung, die in jeder Religion gefangen wird,
gefangen, nicht eingesperrt. Gefangen wie in einem Spiegel,

den er anzog, da er in der Welt ist, wie die Poesie
im Gedicht ist, ein Gesetz gegen jeden Abschluß.
Es wird immer Religion geben, solange es Dichtung gibt

oder einen Mangel an ihr. Beide sind gegeben und periodisch,
wie der Flug jener Vögel – Haubentaube, Rosellapapagei −
die so fliegen: die Flügel zu, dann schlagend und wieder zu.

Les Murray
Übersetzt von Margitt Lehbert

 

PAMPHLET WIDER DIE MODISCHE DICHTUNG

[worinn die moderne Poesie und ihre Poethen aufs Korn genommen wird, man Einsicht in das Allerheiligste erhält, fürchterlich gegen ihre Ketzereien gewettert wird, sich eine Rifutatio ihrer medizynischen und anderer hochgelahrter Argumente und der lästerlichen Art ihrer Formulatio findet, die aber auch eine Recusatio, warum es ein Falsch ist, dasz itzo niemand mehr mag die Gedichte lesen, wohl es eine fürtreffliche Kunst sey.]

Sie haben ja recht, Sie haben ja recht: bloß keine Lyrik nicht, dieses ungereimte Zeugs. Die Dichter sind zwar alles ganz nette Kerle, ihr kuhäugiger Blick nicht unsympathisch, er scheint immer an ein gewisses Wohlwollen zu appellieren, so bewußt bescheiden, und auch die Dichterinnen haben so etwas Sanftes, nicht ganz von dieser Welt… Sie wissen ja, was ich meine, es ist angenehm sich mit ihnen zu unterhalten, ich will Ihnen darin nicht widersprechen, mir selbst wär’ manchmal auch lieber, sie blieben mir mit ihrem Geschreibsel vom Leib, diese Poetaster.
Ich sitze manchmal im Flugzeug neben einem, er ist dann so sauber gescheitelt wie gescheit, die Armbanduhr farblich abgestimmt aufs Handgepäck, alles in Schwarz, weil’s die übliche Arbeitskluft ist, und dann geht’s auch schon los: kennst Du den oder jenen, warst Du schon in x, die hat den Preis erhalten und den anderen nicht, ein wenig gelangweilt und ein wenig blasiert, man hat es ja geprobt. Abends dann produziert man das bißchen an Auratischem für die Lesung, das Stimmchen sanft nuschelnd in der Kehle, ein kokettes Erröten und Zögern bei den delikateren Stellen, so denn solche wären, ein kurzer Blick irritiert ins Publikum, wenn einer hustet, und dann wird weiter über die Zeilen geholpert; daß dies bei eines anderen Pörformentz nicht passiert, dafür sorgt nur die Rückkopplung, wenn er mit der Zunge etwas erratisch übers Mikrofon leckt und sich dann seine Seele aus dem Leib stöhnt, ganz von der Avantgarde und sich selbst ergriffen, ja, das sind sie ausnahmslos alle: von sich selbst ergriffen, ohne daß sie es selbst so recht begriffen.
Dazu braucht es auch keiner Muse mehr und keiner Dichterweihe; sie sind sich selbst genug, Selbststilisierung ist die halbe Kunst, das andere die Kontakte und die literarischen Salongs, die Buchmessen, Juryen und Kritiker, die das alles absolvieren wie eine Pflichtübung. Was Dichtung ist, war oder sein könnte, interessiert am Rande, Namen werden in Umlauf gesetzt wie Gerüchte anderswo, die Börse dafür gibt es nun einmal, so unlukrativ ist die Dichtung letztlich nicht, also wird sie gehandelt wie ein Termingeschäft, halten wir uns an ein oder zwei, zeichnen wir sie aus und damit erledigt: wissen Sie übrigens, wer jetzt für die Dingsbums schreibt, hat der jetzt den Verlag gewechselt, übrigens, aber undsoweiter.
Wie gesagt ich sitze neben ihnen manchmal in einem Flugzeug von oder nach Frankfurt, sie fliegen gerade zu irgendeinem Poetry Festival nach Moskau, Melbourne oder Chicago, man klappert die Runde ab wie besessene Schnürsenkelverkäufer oder ist gerade aus New York zurück, natürlich New York, und zwei Monate danach erscheinen dann die Gedichte darauf, Belegexemplare eines poetischen Lebens zwischen den Welten. Anatomische Prägnanz und strukturalistische Ambiguität, gekoppelt mit expressiver Notation und Sprachgewalt!! Ein klares Auge für Klischees! So habe ich mir Dichtung immer vorgestellt.
Beispiele dafür kennen Sie ja selbst zur Genüge, und darum, sich einzelne Namen herauszugreifen, geht es nicht. Verstehen Sie mich nicht falsch; eine Krähe hackt der anderen erstens kein Auge aus. Zweitens macht man es ja selbst kaum besser und drittens ist das Dichten immer noch die kultivierteste Beschäftigung, die Literatur selbst nichts anderes als gelebter Humanismus. Wem läge da, bei einem politisch so korrekten Fach, an einer Debatte? Was ich trotzdem möchte ist, diese Polemik nur im Raum stehen lassen, um der Dichtung ein wenig mehr Luft zu verschaffen. Denn selbst wenn es nur mein eigenes Temperament wäre, das mir bei diesem Zeugs von der Stange den Kragen platzen läßt, stimmen Sie doch auch zu, daß hinter der nichtssagenden Beliebigkeit der modernen Lyrik auch eine Portion Zynismus steckt. Abgebrüht sind sie ja, die Dichter, das muß man ihnen lassen, mit allen Selters-Wassern gewaschen.
Die Sache liegt natürlich auch dort im Argen, wo es kein Bewußtsein mehr gibt für die Leistung des Gedichts, das man schwierig nennt, nur weil man nicht mehr zu lesen versteht. Genausogut läßt sich aber auch behaupten, daß diese scheinbare Diffizilität auch daher rührt, daß sich einem selbst nach eingehender Lektüre nur dichterische Ignoranz offenbart und dem Interesse am poetischen Ich folglich Grenzen gesetzt werden. Auch die Langweile ist ja ein nicht zu unterschätzendes existentielles Kriterium. Mag sein, daß ich da einem zu kurz greifenden und etwas zu schnell verstehen wollenden Konzept der Selbstevidenz anhänge: entweder leuchtet ein Gedicht schlagartig ein, oder seine Sache ist nichtig. Die Schönheit überrascht, oder sie ist keine.

Es ist ihnen schwer habhaft zu werden, den Dichtern, was auch daranliegt, daß sie sich ja nur selten zu ihrer Tätigkeit äußern. Poetologische Deklarationen sind so selten wie dann meist abstrus, und Auseinandersetzungen mit der eigenen Tradition findet man eher in kümmerlichen Ansätzen; sie geben sich eben schnell mit etwas zufrieden. Doch noch etwas anderes spielt da hinein.
Mit einigen Veranstaltern von Lyrikfesten war mehrmals die Rede darüber, man war allerorten der Meinung, ein poetischer Disput, eine Diskussion übers Handwerk und seine Kriterien täte mehr als Not – Sie wissen ja, keiner verlegt und keiner kauft mehr Lyrik, nur jeder schreibt sie, und das müßte ja einen Grund haben −; man hätte es in diesem Sinne auch schon probiert, aber die Reaktion wäre mehr als entmutigend gewesen, die befragten Dichter hätten geantwortet, so eine Konfrontation wäre ja vielleicht gut gemeint, aber eben schmerzlich, es ginge ihnen zu nahe, sie wären verletzliche Kreaturen. Nun, denn.
Und es ist wahr, auch im privaten Gespräch kommt nicht mehr heraus. Das Desinteresse der Dichter an allem, was nicht ihre sieben Sachen betrifft, ist langsam sprichwörtlich. Ich kann mich erinnern, mit einem Kollegen kürzlich einmal den Versuch unternommen zu haben, ein bißchen übers Handwerk zu reden, ganz privat, also wirklich zwanglos, wobei er nur auf den Satz kam, daß die Gedichte breiter werden müßten. Ich hielt’s fur einen Köder, dachte an Atemtechnik, Rhythmus oder Elegie, aber nein, das war’s: breiter, nur – breiter. Meine Generation ist wirklich vielseitig begabt, nur nicht, was irgendwelche Selbstzweifel betrifft.
Vereinbaren läßt sich das eigentlich nur mit einem Genieanspruch. Aber da man ein solches bereits mit 20 wie Büchner oder Rimbaud war, oder es erst über den harten Weg wird, bleibt die Frage, woran Dichter sich dabei wohl halten? Ans Übersetzen jedenfalls nicht, das immer noch der einzige Weg war, sich Fingerfertigkeit und einen Horizont anzueignen; dazu müßte man von sich selbst absehen, was unserer Poeten Sache nicht ist. Die Kenntnisse der Literaturgeschichte wiederum sind lückenhaft geben sich aber als eklektisch aus: Benn, Schwitters und ein bißchen Bachmann. Konkrete und visuelle Poesie ihrerseits genügen als Landmarken und sein bißchen Deutsch hat man von Celan und leicht abgestandenem (und natürlich uneingestandenem) Rilke und Punkt.
Von den Ausländern hat man bestenfalls einen Pound hinter einer Vitrine im Wohnzimmer; die Weinflecken darauf aber rühren meist vom Vorbesitzer her. Sprachen, selbst noch lebende europäische, sind kein Thema: Französisch, Italienisch, Spanisch kennt man vom Hörensagen oder von der Menükarte, was aber keinen der poetae docti davon abhält, ein paar Fetzen fremdländischen Sprachguts einzustreuen mon frère, oder ein immer angebrachtes ecce homo – von wegen dem Niveau, wobei sie nicht einmal die drei Worte halbwegs richtig auszusprechen wüßten. Und Englisch, werden Sie jetzt einwerfen? Ein Bachmannpreisträger meinte unlängst, dazu wäre nach dem Gymnasium nie richtig Zeit gewesen, und von drei Dichterinnen wurde jüngst bekannt, daß sie in Chicago stundenlang in der falschen U-Bahn saßen, was immer noch besser ist, als sich von einem Taxifahrer übers Ohr hauen lassen zu müssen.
Aber es ist doch einiges bereits in Übersetzung greifbar, werden Sie anfügen, und das Interesse müßte doch vorhanden sein? Ich kann Ihnen jedoch versichern, von dem was die moderne Poesie in den letzten Jahrzehnten ausmachte, und wenn’s nur die Nobelpreise sind – Milosz, Brodsky, Walcott, Heaney etc. – auch da werden Sie nur in Ausnahmefällen jemanden finden, mit dem Sie ein paar vernünftige Worte wechseln könnten. Wie die arbeiten und worüber ist für speziell deutsche Verhältnisse nicht von Belang, unsere Dichter gehen eben von einer spezifisch eigenen Tradition aus, doch woraus die bestehen soll, darüber herrscht einige Konfusion.
Man wird Ihnen dann entgegnen, daß die wirklich moderne deutsche Dichtung nun nicht formell, sondern thematisch arbeitet; sie nimmt sich eben der großen Themen unserer Zeit an: Wirklichkeitsverlust, Übersättigung durch die Medien, Sprachkritik und poststrukturalistische Philosophie, die Aporien der Worte und der Wirklichkeit, bei der sie sich in einer etwaigen Zwangslage auf Pathologie, Wissenschaft und Medizin herausredet – naiv und auf Schulbuchniveau. Realismus ist in diesem Kontext ein obsolet gewordener und immer schon kleinkarierter Begriff und die Dichtung nicht da, sich damit abzugeben. Wie könnte sie auch, wo sie doch Stenogramm autonomer Assoziationen ist, welche die Wirklichkeit weit übersteigen, um nicht zu sagen: transzendieren? Anders gesagt, kennen Sie etwa auch nur ein Gedicht, daß nicht nur von des Poeten geplagten Nöten spricht, sondern irgendetwas über Bitterfeld aussagt, oder Berlin, Köln, Schilda oder Rostock? Oder überhaupt einen Vers, den Sie auswendig zu zitieren wüßten?
Ich weiß keinen, der’s wert wäre. Und das, obwohl eine der meistzitierten Zeilen mit programmatischem Inhalt ein „Zusichkommen des Gedichts“ apostrophierte. Wovon es jedoch dann nach dem Erwachen aus der Ohnmacht zu erzählen hat, sind Notate aus dem Wunderland des eigenen Ich, fern jedes anderen Anspruchs. Und dabei frei von jedem Anflug der Selbstparodie.

Ich schreibe Ihnen das so vom Blatt runter, nur um Ihnen ein wenig die Atmosphäre zu schildern; statt essayistischen Sophismen nur grobe Blöcke. Aber wozu eine Polemik punktgenau auszufeilen, wenn noch ein erster Rundumschlag die Hälfte trifft: schlimm genug. Und lamentabler war die Situation der Poesie noch nie, darin stimmen wir wohl alle überein. Es wäre dabei nicht schwer, Gedichte festzunageln, doch die Poeten, mein Lieber, die winden sich und krümmen wie die Kopffüßler im Brackwasser, die sie nun einmal zu sein scheinen. Und das mit Methode.
Worum’s ihnen geht, sind nicht Gedichte, und beileibe nicht Gott und die Welt, sondern ein ,junger Dichter‘ oder noch wörtlicher, ,eine einzigartige und meteorhaft auftauchende Erscheinung‘ zu sein. Ehrgeiz und Ambition, nichts dagegen, aber nicht gepaart mit solcher Naivität. Wenn ich diesen Satz noch einmal lese, wie er sich so offenkundig exponiert – obwohl er natürlich der Form halber einem anderen in den Mund gelegt ist – wundert’s mich nur, daß man nicht laut über diese Exaltiertheit eines anderen Jahrhunderts lacht. Der Dichter als Endprodukt einer langen Ahnenkette und deshalb ein salbungsvolles Wesen, das bereits im Studium schon seine erste ,recherche‘ überkommt. Recherche, wohlgemerkt: nichts Geringeres nennt sich bereits die erste Proseminararbeit. Und das eigentlich Erstaunliche ist, daß man einem das bißchen Essayistik, das man sich erarbeitet, auch noch abnimmt. Das rührt vielleicht daher, daß alles sowieso bewußt kryptisch gehalten ist, was schon allein die Tatsache ungemein erleichtert, daß man dies ohnehin für die Tonlage der Dichtung hält.
Die Erwartungen an die Dichter sind so gering geworden, daß es genügt, wenn sie nichts weiter als nur ,durch Hintergründe marschieren, sich durch Annotationen und Bibliographien lesen und den Zauber der Anspielung in einem Nebensatz entdecken‘. Ingredienzien einer Fußnoten-Intelligenz, die die großen Züge und den Rahmen aus den Augen verloren hat und ihre Erzeugnisse freiwillig als ,Versuche‘ betitelt. Für Hauptsätze langt die Substanz nicht aus, stattdessen beziehen die Gedichte ihre Subsistenz aus der kreativen Rolle von Mißverständnissen. Und das gilt es zu kultivieren, denn scheinbar ist es ja nur die Unbeweisbarkeit, welche die Poesie aus ihren vernunftkritischen Zusammenhängen heraus zu katapultieren imstande ist. Und dem Dichter würde ja nun wirklich jede soziale Intelligenz fehlen, würde er das nicht mit der Glattheit eines Opportunisten und Parvenues zur unendlich fortsetzbaren Taktik machen und es als Haltung deklarieren: ,ein geschicktes Hakenschlagen, ab durch die Mitte im Zickzack voraus‘.
Was an Persönlichkeitsstruktur so dabei allmählich zur Oberfläche kommt, bricht sich auf eine Art, die dem Narzißmus gleichkommt, seiner Abwehr einer als übermächtig gesehenen Außenwelt und seiner dauernd drohenden Leere, die nur Vereinnahmung und Idealisierung füllen kann; Objektbeziehungen zerfallen, weil man sie allein aus dem Selbst mehr für denkbar hält. Folglich gehorcht der Dichter einzig und allein mehr den scheinbaren Unheimlichkeiten des eigenen Ichs. In dieser dann eher unangenehmen Pose, die in der Regel zur dekadenten Posse ausartet, erhält die Poesie den Status der Selbstbegegnung: der Spiegel des Narziß und die eigene Starre davor. Das Gedicht wird zu einem solipsistischen Artefakt: ,virtuell‘, ,monadisch‘ und ,autistisch‘ – ,ein feines nervliches Knistern und neuronales Gewitter‘, wie’s in einem seltsamen Versuch diese Hypochondrien etwas zu objektivieren auch genannt wird. Und dann Funkstille.

Selbst wenn man Ihnen wirklich jede Lyrik in der Oberstufe ausgetrieben hat, wird Ihnen ein anderes Bild der Dichtung wohl noch irgendwo im Hinterkopf präsent sein, eins, das mit allen diesen Sätzen wohl kaum etwas zu tun hat. Die Frage ist nur, wo diese Anflüge von Megalomanie herrühren, die mit der vollkommenen Entmündung jedweder dichterischen Aussage einhergehen.
Das Paradoxon ist ein einfaches und rührt im Grunde nur von dem ewigen Minderwertigkeitskomplex her, der im deutschen Sprachraum der Dichtung anzuhaften scheint. Und der Tatsache, daß man über die deutschen Epochen hinweg der Literatur eine ontologische Bürde aufhalste – von der philosophischen über die politische und moralische bis zur didaktischen – die zu tragen nie ihre Aufgabe war. Evangelische Flagellationsphantasien, mit der man die Lust an der Sprache büßt? Die protestantische Ethik und ihr Beharren auf einer sola scriptura, sola gratia und sola fide, ihrem Purismus und Puritanismus, welche die in ihrem Wesen immer schon pantheistische Poesie auf ein belangloses Maß zurechtstutzte? Ein Konformismus, dem man sich im vorauseilenden Gehorsam unterordnet? Wirklichkeit, die man deshalb den Philosophen und Naturwissenschaftlern überläßt, weil Statistiken und Traktate sie scheinbar wirksam sezieren und neutralisieren?
Dabei ist diesen Dichtern das Talent nicht abzusprechen, ganz im Gegenteil; sie meinen es auf ihre verquere Art ja ehrlich. Was man ihnen jedoch durchaus zum Vorwurf machen kann, ist, daß sie sich nicht einfach darüber hinwegsetzen. Oder, daß sie nicht von sich abzusehen bereit sind. In der jahrtausendealten Geschichte der Poesie gab es noch nie eine Periode, wo so unverwunden und unverbunden nur von der ersten Person Einzahl gesprochen wird. Sache der Dichtung war, von den Dingen zu reden, das verrät schon das Sammelsurium ihrer Stilmittel – schließlich kann ja auch die Metapher nichts anderes tun, als das, was außerhalb unserer selbst liegt, miteinander zu verknüpfen. In diesem Ausgreifen über alle Abgründe hinweg wurde das Ich bestenfalls als Sprecher impliziert; es war – seit den Anfangen der Poesie – nur Träger, nicht aber Mittelpunkt und Vorwand der Aussage. Stattdessen geht man jetzt den spiegelverkehrten Weg und meint, die Welt würde umso mehr an Kontur gewinnen, je tiefer der Blick in den eigenen Nabel geht; was als Kritik der reinen Vernunft heuristischen Stellenwert hatte, vereinnahmt man jetzt als pauschale Legitimation der Selbstbezogenheit.
Die Konsequenz dessen ist die unreflektierte Kapitulationserklärung an eine Realität, die zu entschlüsseln nur mehr den Wissenschaften zugetraut wird. Damit treibt man die Dichtung vollends ins Marginale und in einen Elfenbeinturm, in dem jede Aussage von vornherein konsequenzlos bleibt: als Wortwitz für Eingeweihte, die selbst nicht mehr wissen, wie noch lachen. Das Gedicht als fadenscheiniges Alibi für die eigene Impotenz, der Wirklichkeit zu begegnen und mit ihr zu Rande zu kommen; ein Abwehrzauber gegen die Macht des Realen.
Das Schibboleth, das die Positionen voneinander kenntlich macht, sind dabei Behauptungen, die argumentieren, ,daß es noch mehr als ungewiß ist, ob der Außenraum mit seinen Mustern aus Geographie und Geschichte, Architektur und urbanem Leben, anscheinend durch und durch codiert, nicht längst ausgeschritten und zu Ende gedacht ist‘. Einen Teufel ist er.

Ich kann Ihnen, zumindest für dieses Argument, die Dichtung auf zwei wesentliche Elemente reduzieren: formal – die Musik; inhaltlich – das Bild und die Metapher. Und ich will zumindest für den Rest dieses Pamphlets behaupten, daß Ihre Dichtung dieses Instrumentarium einfach nicht mehr beherrscht, noch sich groß darum bemüht, aus den von oben bis unten skizzierten Gründen.
Die Musik gehört zum Handwerkszeug, die Palette von Metrum, Rhythmus, Reimen, Alliterationen und Assonanzen, die Stimmigkeit, die Tonlagen, die ganze Choreographie der Worte. Sie sind das, was uns über die Sterilität der Logik hinweghilft in irgendein Fleisch und Blut, das, was uns hinter den Widersprüchen einen Zusammenhang zu suggerieren imstande ist. Jeder Werbespruch ist in dieser Hinsicht geschickter gearbeitet, als irgendeine Zeile, die man sich aus Ihren Gedichten herausgreifen könnte. Wenn Sie kürzlich einmal bei einer Dichterlesung waren, werden Sie wahrscheinlich eher von gestörten Analogien, der Verwirrung sprachlicher Hierarchien und vom leichten Schwindel der Arhythmie erfasst worden sein, als von anderem. Dagegen hat’s die Schönheit schwer, da haben Sie recht. Der eine Grund, Gedichte zu hören und zu lesen, ist aber gerade sie, die Schwierigkeit ihrer Fügung, die sie vom Geräusch unserer Sprache abhebt. Kein Grund, ihren Lärm auch noch zu reduplizieren.
Es herrscht dennoch die Meinung vor, man könnte über ästhetische Kriterien nicht mehr reden. Zugegeben, die Rhetorik als Disziplin ist überkommen und ihre Begriffe beruhen auf veralteten Definitionen; grundlegend aber bleibt dennoch die Ökonomie der Sprache – und sie allein ist die Domäne der Poesie. Keine andere Gattung kann ein Maximum von Ideen mit solch einem Minimum an Mitteln ausdrücken; die Ableitung der Dichtung von ,verdichten‘ – auch wenn sie unrichtig ist – trifft darin den Punkt.
Eigentlich leitet sich der Begriff jedoch von der ,Diktion‘ ab, von der Art wie Dinge gesagt werden. Und wie immer Sie es auch auslegen, die Poesie tut nichts anderes, als die in der Umgangssprache latent vorhandene Musik zum Ausdruck zu bringen. Sie komprimiert sie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner unseres Denkens, was weder etwas mit mysteriösem Raunen noch mit hermetischer Künstlichkeit zu tun hat: nein, sie bündelt das größte gemeinsame Vielfache der Gedanken und ihrer inhärenten Widersprüche und bezieht sie zurück auf den Mittelpunkt der Sprache. Und dieses Zentrum symbolisiert nicht irgendetwas, sondern ist das menschlichste Zeugnis der Existenz. Eine, wenigstens für den kurzen Moment eines Gedichts gültige Wahrheit, ein Augenblick humaner Totalität. Über sie machen wir uns im wahrsten Sinne des Wortes erst einen Reim auf die Dinge, auch wenn er Suggestion bleibt.
Wenn das Gedicht jedoch als ,physiologischer Kurzschluß‘ postuliert wird, verdammt man es zur Beliebigkeit und legitimiert die Art von ausufernder Geschwätzigkeit, die die gegenwärtige Lyrikproduktion auszeichnet. Ästhetik dagegen – ihr Prinzip der Dichte; der Balanceakt zwischen Chaos und Form, der die Schönheit erst ausmacht – ist nicht eine Kategorie, der man seit Auschwitz und Adorno Gültigkeit absprechen könnte. Die Begriffe von Wissen und Weisheit beruhen auf der Idee von Ordnungen und Grenzen, die man nur dann als wahr akzeptiert, wenn sie mit geringstem Aufwand möglichst viel in sich subsummieren können. Theorien werden nur unter dem Gesichtspunkt der Effizienz aufgestellt und wieder umgeworfen – und Effizienz ist hier nur ein Synonym für Eleganz, Stringenz und eben Ästhetik; unsere ganze Vorstellung des Kosmos beruht auf dieser ,Kosmetik‘ des Universums. Die Wahrheit war nie etwas anderes, als ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien und Anthropomorphismen, Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind. Ihre Keimzelle jedoch ist die Poesie, nichts anderes.
Das Argument nun umzudrehen und – wie die bemühten Poststrukturalisten unter den jungen Dichtern – zu meinen, Realität ließe sich abbilden, wenn man diesem Schwindel nicht aufsäße, ist ein Trugschluß: nicht einmal der Syntax der Sprache kommt man aus und schon gar nicht den vielfaltig verästelten Hierarchien des Denkens. Selbst unsere Vorstellungen des Chaos sind letztlich geordnet und mehr oder minder pittoresk; das Hirn kommt dem Zwang nicht aus, noch in den willkürlichsten Anordnungen zusammenhängende Strukturen zu sehen und die Wirklichkeit in Kategorien zu komprimieren. Daß diese sinnvoll sind, darin besteht nicht nur ein spielerisches, sondern im Grunde ein zutiefst existentielles Interesse: das Gegenteil unseres ästhetischen Vergnügens an Strukturen ist nichts als ein Verlust an Bedeutung.
Darin liegt aber auch das zunehmende Desinteresse an moderner Poesie: wenn die Dichtung wie ein Picknick wird, bei dem Sie die Worte beisteuern und der Leser erst den Sinn, wie vor kurzem ein Semiotiker meinte, dann führt sie sich selbst in die Aphasie.

Diese jedoch rechtfertigt man, indem eine ,vom Herzen amputierte Intelligenz‘ gefordert wird. Lassen Sie mich auch auf diesen flott hingeschriebenen Gemeinplatz eingehen. Der Satz mag zwar metaphorisch gemeint sein, ablesbar ist er aber dennoch an den Sprach-Scharaden der Postmoderne und ihrer mathematischen Kombinatorik, die anfangs in den Experimenten OULIPO’s und der Wiener Gruppe noch witzig waren, in Graz und Bielefeld aber längst zur erstarrten Doktrin geworden sind. Was sie letztlich verraten, ist nicht nur der Kniefall vor einem zwanzigsten Jahrhundert, dessen Weltanschauung von der Wissenschaft dominiert wird, und das daraus resultierende Mißtrauen jedwedem Gefühl gegenüber – sondern auch die eigene, mangelnde éducation sentimentale, die sich in den zahllosen Gedichten über diverse Hamletsituationen beim Staubsaugen äußern. Hirn, Hirn und nochmals Hirn, samt deutscher Dogmatik und Humorlosigkeit auf einer Seite: und auf der anderen der süßliche und verbrämte Kitsch purer Sentimentalität.
Reden wir noch ein bißchen über Gefühle, weil sie ja immer schon die Domäne der Poesie zu sein schienen, und rücken wir das Bild ein wenig zurecht, von mir aus auch mit der von Ihnen jetzt allseits herbeizitierten Neurologie. Der wohl berühmteste Fall in dieser Wissenschaft bezieht sich auf einen gewissen Phineas P. Gage. Ihm schoß 1848, als er als Vorarbeiter beim Eisenbahnbau in Amerika für die Sprengungen von Bohrlöchern zuständig war, bei einem Unglück eine sechs Kilo schwere, spitze, 3 cm dicke und einen Meter lange Eisenstange durch die linke Wange und trat im vorderen Schädelbereich wieder aus. Er fiel nicht einmal in Ohnmacht, war bei klarem Verstand und schilderte dem Doktor Stunden später selbst noch den Vorfall; auch die Heilung der großflächigen Wunde gelang. Überraschend aber war weitaus mehr, daß weder seine motorischen noch sprachlichen Funktionen, noch die Wahrnehmung, die Erinnerung und Konzentrationsfähigkeit irgendwie beeinträchtigt waren; Rechnen, Lesen und Schachspielen konnte er wie vorher. Was sich jedoch änderte, war seine Persönlichkeit, sein soziales Verhalten und die Entschlußfähigkeit, die grob in Mitleidenschaft gezogen war: er war unfähig geworden, primär noch Emotionen und sekundär Gefühle zu haben; die derart abgetrennte Intelligenz konnte keine Bezüge mehr zu einem Ich und der Umwelt herstellen und lief ins Leere.
Der Hirnschaden, den er davongetragen hatte, tritt häufig auch bei Tumoren auf, die die ventromedialen, präfrontalen und somatosensorischen Kortizes oder die Amygdala zerstören, jene Regionen, die zusammen mit dem Gehirnstamm Gefühle erzeugen und verarbeiten. Unter Emotionen versteht die Fachsprache dabei nichts anderes als Kalibrierungen und Prägungen von Reaktionen, die als körperlich automatisierte Dispositionen gespeichert werden und abrufbar bleiben – eben nicht Kurzschlüsse, sondern vielmehr Abkürzungen im alltäglichen Entscheidungsablauf. Sehr einfach gesagt, nennen wir Bewußtsein von Ich und Dingen die Überlagerung von somatischen Reaktionen und mentalen Prozessen. Was sie wachrufen, sind Vorstellungen und Bilder, unterlegt von dem latenten Bewußtsein bereits erworbener Erfahrungen und dem Wissen um mögliche Konsequenzen, die jedem auftauchenden Problem einen Rahmen und eine Perspektive verleihen. Ob wir heute einen Regenschirm brauchen oder nicht, kann eine reine formale Logik nicht entscheiden, dazu bräuchte sie unendlich viele Daten. Was Gefühle jedoch tun, ist einen halbbewußten Film mentaler Bilder zu jedem Stichwort ablaufen zu lassen, wie ein Generator der uns diverse mögliche Situationen vor Augen führt, um aufgrund vorheriger Erfahrung schnell zu einer Entscheidung zu gelangen. Da die Kapazität des Gehirns jedoch beschränkt ist, müssen diese Bilder in ,Phrasen‘ strukturiert und in ,Sätzen‘ zeitlich angeordnet sein.
Eine Definition der Dichtung nun als ,zerebrale Seite der Kunst, in der das Gedicht das Denken in einer Folge physiologischer Kurzschlüsse vorführt‘, ist also nicht einmal ihren eigenen Argumenten nach schlüssig, sondern purer Unsinn – es sei denn, Sie fassen das Zerebrale so weit, daß darin das zitierte ,Herz‘ wieder enthalten ist. Und das werden Sie wohl oder übel auch wieder tun müssen, denn nichts in unserem sprachlichen Repertoire ist diesen geschilderten Vorgängen näher, als das Gedicht, das Emotion und Intellekt, Intuition und Logik immer schon zu synchronisieren wußte. In der größtmöglichen Unmittelbarkeit und Intensität. Es ist der direkteste Zugriff auf Wirklichkeit, den wir haben: ihre kürzeste Paraphrase und ihre knappste Definition.

Wenn man sich nun aber so von einem Gedichtband zum anderen liest, bleibt kaum mehr als der Eindruck, daß man’s beim reinen Assoziieren bewenden läßt: als sich selbst genügendes Exerzitium. Was ein gelungenes Gedicht jedoch stets auszeichnet, sind seine Bilder und die Genauigkeit der Beobachtung: wieweit man in ihnen Dinge oder Motive zu Ende denkt, Analogien zusammen- und weiterführt. Das ist neben der musikalischen die eigentliche Arbeit des Gedichts, das, was einem nicht nur zufällt. Seit kurzem ist zwar wieder eine Hinwendung zu kursiveren Strukturen bemerkbar – weg von der Konzeption eines Gedichts als rein typographische Angelegenheit und auf die Seite geworfene Semantik – aber das Ganze setzt sich immer noch aus zusammengewürfelten Bildern ohne roten Faden zusammen, brüchig und abgekappt, von der fragmentarischen Logik eines Comic-strips.
Kaschiert wird der Unwillen, den Gedanken und Bildern zu folgen und sie so erst entstehen zu lassen, durch Sätze, die behaupten, daß in der ,Neurologie‘ die Poetik der Zukunft versteckt liegt. Die Neurologie! Ganz abgesehen davon, daß da einem Positivismus das Wort geredet wird, dem keine Wissenschaft je wirklich anhing, ist, was immer sie zutage fördern mag, für die Dichtung relativ unwichtig. Welche Synapsen da ihre Neuronen abfeuern, was zwischen Sprachzentrum und Sehrinde passiert, wird wenn – wie oben skizziert – die Poesie und die Prozesse ihrer Erkenntnis höchstens bestätigen. Bei einer Uhr interessiert ja auch nicht, aus wievielen Teilen sie besteht und wie sie gedämpft oder gelagert werden, sondern allein das Ziffernblatt und die Zeit, die man daran abliest.
Doch nehmen wir Sie auch bei diesem Zitat beim Wort. Die Neuroanatomie hat, mit Methoden, vor denen einem graust, bei Versuchen mit Primaten gezeigt, daß die visuelle Wahrnehmung von Objekten – wie Kreuzen, Quadraten oder den Bewegungen eines Gesichts – die Aktivität von Neuronen im inferotemporalen Kortex so organisiert, daß ein Muster im Hirngewebe entsteht, das diese Formen in aller äußeren Ähnlichkeit abbildet. Die Basiselemente unseres Denkens sind also Bilder und sowohl Worte wie willkürliche Symbole bauen auf diesen topographisch organisierten Repräsentationen auf. Kurz, all unser faktisches Wissen und Denken geschieht in Bildern, die zwar dann nicht als Faksimiles gespeichert werden, sondern interpretiert abgelagert und dann – verändert durch den Rahmen unserer übrigen sinnlichen, emotionalen und intellektuellen Erfahrungen – wieder aufgerufen werden können und zur Disposition stehen.
Diese unablässige Visualisierung erstreckt sich auch auf ein rein mathematisches Denken: Benoit Mandelbrot und Einstein etwa haben sich ausführlich darüber geäußert, daß sie in mehr oder weniger deutlichen Bildern und Konzepten denken, für die konventionelle Zeichen und Worte zu finden, erst mühsam auf einer zweiten Stufe geschieht. Je komplexer das Stimulans – und nicht je rudimentärer −, desto größer ist auch das ästhetische Vergnügen an den poetischen images, Similes und Metaphern als dem neben dem Klang wichtigsten Material der Poesie.
Neu ist dieser grundlegende erkenntnistheoretische Aspekt der Bilder nicht; schon die Etymologie besagt dasselbe. So geht etwa das Wissen auf die indo-europäische Form weid zurück, die ,sehen‘ bedeutet, ,die Erlaubnis zu sehen gehabt zu haben‘ und deshalb ,zu Wissen gelangt zu sein‘. Davon leitet sich ,Weisheit‘ und ,Witz‘ ebenso ab wie ,Vi-sion‘, ,His-torie‘ und ,Id-ee‘, das heilige Wissen des Sanskrit ,Ved-a‘. Die ältesten Namen, die wir für den Dichter im europäischen Raum haben, kommen auf einem anderen Weg auf diese Bedeutung zurück; das Altirische leitete seine filidh – Dichter, Richter, Propheten, Historiker und Seher in Personalunion – von fil ab: ,schau, da ist!‘

Bellatrix ist etwa 350 Lichtjahre von der Erde entfernt, Beteigeuze 420, Rigel 1000, ihre Entfernung untereinander beträgt weitere 1000; Sirius dagegen ist von der Erde nur 8,6 Lichtjahre weit weg – disparate Distanzen nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit. Was uns diese wissenschaftliche Statistik an letztlich relevanter Information vermittelt, ist gering. Was sie dagegen anschaulich macht und damit vor allem begrifflich als Konstellation des Orion und des Großen Hundes faßbar macht, ist einzig und allein die Poesie.
Ihre Rolle ist keine ornamentale, sondern eine die Welt erst konstituierende. Wir denken in Analogien, Vergleichen und Metaphern; über Ähnlichkeiten stellen wir neue Bezüge her und integrieren jedwedes faktische Wissen in Zusammenhänge, die für uns Relevanz besitzen. Jeder kreative Akt und jede Erfindung baut auf den neuen Beziehungen auf, die eine Metapher als einziges sprachliches Instrument herstellen kann. Daß etwas wie etwas anderes sein kann, das hat zu all dem geführt, was Zivilisation und ihre sogenannten Errungenschaften erst ausmacht: vom Flugzeug bis zum Reißverschluß, vom Pinsel aus synthetischen Fasern bis zum Benzol-Kekules Traum von zwei sich in den Schwanz beißenden Schlangen, der ihn auf die chemische Struktur dieses Moleküls brachte; bei der Helix der DNA war’s ähnlich.
Die Vorstellung der vorsokratischen Philosophen, daß die Sterne Schiffchen voller Feuer sind, die am Himmel dahintreiben und wenden, oder daß die Sonne ein Wagenrad voller Feuer ist, das sich am Himmel dreht: das alles wird erst aus dem zeitlichen Abstand wieder als poetisches Konstrukt wahrnehmbar. Und bis Parmenides wurden diese Theorien auch als Dichtung fixiert und überliefert. Die Beispiele, welche die gegenwärtige Wissenschaft liefern kann, inkorporieren diese sprachlichen Analogien ebenso, nur ist man sich dessen weniger bewußt. Was anderes als Metaphern und mehr oder minder schlechte Poesie sind die ,Milchstraße‘, ,schwarze Löcher‘, ,fossile Strahlung‘, ,Antimaterie‘, das alte griechische ,Elektron‘ und der ,Aether‘, oder ,Quarks‘ – nach dem Joyce-Zitat „Three quarks for Muster Mark“ −, denen man drei ,Geschmacksrichtungen‘ und drei ,Farben‘ zuschreibt, zusätzlich zu jenen drei seltsamen, die ,charm‘, ,beauty‘ und ,truth‘ heißen?
Und die Poesie – nicht nur die Ihre – ist umsomehr gefordert, je mehr das Material der Beobachtungen nur mehr mittelbar erfahrbar wird und nicht mehr der sinnlichen Anschauung zugänglich sein kann. Da werden dann aus Theorien ganze Allegorien wie Maxwells Dämon, Embleme wie Schrödingers Katze in ihrer schwarzen Kiste, ganze Parabeln nach denen der Flügelschlag eines Schmetterlings das Wetter verändert, und halbe Mythen, wie jener, nach dem die Idee des Lebens in diesem willkürlichen Universum so unwahrscheinlich ist, daß man seine Entstehung schon mit einem Wirbelsturm vergleichen muß, der durch einen Schrottplatz fegt und eine Boing 747 zusammenbaut.
Der Großteil unseres geistigen Arsenals besteht aus diesen Übertragungen von Begriffen in andere Bereiche mittels Analogien, die streng wörtlich genommen absurd sind, vom Tischbein bis zum Bergfuß. Mit der Logik der Prosa, ihrer simplen kausalen und metonymischen Syntax, wären wir immer noch vor der Erfindung des Rades. Gerade an ihr zeigt sich die Schwierigkeit, sich etwa ein System wie die Quantenmechanik vorzustellen, wo ein Partikel gleichzeitig eine Welle sein kann und man es erst weiß, wenn man hinschaut – obwohl man’s eh nicht sieht: und dann wär’s noch zu spät, denn daran hängt ja noch das Unschärfeprinzip usw. Sie ist nur ein weiteres Beispiel für eine als Empirie und Grundlage der Physik ausgegebene Metapher, ihre ständige Paradoxie, bei der man ja auch zwei einander ausschließende Komponenten wahrnimmt: eine wörtliche und eine figurative, zwischen denen der Sinn oszilliert, ohne daß man eine Bedeutung jemals ausschließen könnte. Woher dann also dieser Kniefall vor den Wissenschaften?
„Wir müssen uns klar darüber sein, daß die Sprache in der Quantentheorie“, sagte Niels Bohr, „nur ähnlich gebraucht werden kann wie in der Dichtung, in der es ja auch nicht darum geht, Sachverhalte im Sinne der klassischen Physik präzise darzustellen, sondern Bilder im Bewußtsein des Hörers zu erzeugen und gedankliche Verbindungen herzustellen.“ „Wie aber“, antwortete Werner Heisenberg, „sollen dann eigentliche Fortschritte erzielt werden? Schließlich soll die Physik doch eine exakte Wissenschaft sein.“ „Man kann hoffen, daß sich im Laufe der Zeit neue Begriffe bilden, mit denen wir auch diese unanschaulichen Vorgänge im Atom irgendwie ergreifen können. Aber davon sind wir noch weit entfernt.“
Die Erde ist blau wie eine Orange – von welcher Seite lesen Sie’s? Wie groß oder klein ist sie und welche Farbe hat sie? Kann man sie schälen? Ein banales, doch auch angenehmes Bild; sagen wir: ein Ausgangspunkt unter anderen. Und erst dann wieder kann man, wie Baudelaire 1859 postulieren, daß die Poesie „unter keinen Umständen und niemals sich von der Wissenschaft und der Moral assimilieren lassen soll, weil sie keine Wahrheit zum Ziel, sondern nur sich selber hat. Doch erst dann ist sie sich auch selbst genug.“

Raoul Schrott

 

 

 

Nachbemerkung

Mit Lyrik ist kein Staat zu machen. Sie führt ein Schattendasein – bestenfalls. Man hat sie längst ins Ghetto gesteckt. Selbst „literarische“ Buchhändler – gibt’s auch andere? billigen ihr höchstens ein paar Regalmeter ganz hinten neben den fremdsprachigen Originalausgaben zu. Laut Hans Magnus Enzensberger – dem wir den Titel des Buchs verdanken – läßt sich die Zahl der Lyrikleser empirisch ziemlich genau bestimmen: „Sie liegt bei plusminus 1354“. Wozu Peter Rühmkorf einfällt: „Wer Lyrik schreibt, ist verrückt.“
Zeitungen drucken zwar noch hin und wieder Gedichte, doch meist in schwarzen Kästen, als gelte es, das baldige Ableben eines moribunden Genres schon vorab durch Trauerrand zu signalisieren. Auch aus den Radioprogrammen ist die zeitgenössische Lyrik fast völlig verschwunden. Noch vor zehn Jahren schmückte sich fast jede Kulturwelle mit einer „Lyrikgalerie“, einem „Poesiealbum“ oder sonst einer Nische für Gereimtes und Ungereimtes. All diese Sendeplätze sind längst Programmreformen zum Opfer gefallen. Doch mitunter tun sich dadurch auch Chancen auf – wie etwa in der thematisch völlig offenen Langen Nacht im DeutschlandRadio. Warum also nicht ernst mit der Lyrik machen? Drei Stunden über Poesie und Poetik im Radio, ein Gespräch mit Dichtern über Dichtung, aber auch mit den Stimmen fremdsprachiger Lyriker – das war unsere Idee.
„Anything goes in poem and prose?“ Das provokante Statement stand am Anfang. Mit Jürgen Becker, Robert Gernhardt, Joachim Sartorius und Raoul Schrott fanden wir Gesprächspartner, die von jeweils ganz unterschiedlichen biografischen und poetologischen Voraussetzungen aus die uralte, gleichwohl keineswegs banale Frage beantworteten: Wie und zu welchem Ende schreibt man Gedichte?
Am 17. Dezember 1996 traf man sich im Kölner Deutschlandfunk zur Langen Nacht der Lyrik. Man hatte sich etwas zu sagen. Die eingespielten Lesungen von Auden bis William Carlos Williams lieferten Anlaß zu einer tour d’horizon der Gegenwartsdichtung, Anstöße zum Austausch von Einsichten und Glaubenssätzen, mitunter auch zu produktivem Streit. Als um zwei Uhr das Rotlicht erlosch, war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Ein Buch und zwei CDs sollten entstehen – nicht als bloße Dokumentation einer Rundfunksendung, sondern als möglichst kongeniale Übersetzung der Langen Nacht der Lyrik in ein anderes Medium. So unterscheiden sich Buch und Sendung zwar im Titel, doch die Anordnung der Texte – soweit sie von den eingeladenen Autoren nicht eigens für den Band Vom schwierigen Vergnügen der Poesie geschrieben wurden – folgt dem Verlauf des Gesprächs. Keineswegs sollte eine repräsentative Anthologie der internationalen Lyrik entstehen – dies versuchte nach Enzensbergers Museum der modernen Poesie zuletzt der Atlas der neuen Poesie von Joachim Sartorius.
Angestrebt war vielmehr eine Sammlung von Gedichten aus unterschiedlichen Sprachen und Zeiten, die über alle Verständnisbarrieren hinweg einige markante Positionen moderner Dichtung wiedergibt.

Sabine Küchler / Denis Scheck, Nachwort

 

Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin + Kalliope
Faken und Vermutungen zum Herausgeber + ARD Mediathek +
Kalliope

 

Denis Scheck im Interview.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00