Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen

Hinck (Hrsg.)-Gedichte und Interpretationen

GOTTFRIED BENN

Nur zwei Dinge1 

Durch so viel Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?

Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
– ob Sinn, ob Sucht, ob Sage –
dein fernbestimmtes: Du mußt.

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.

 

DESTILLIERTE GESCHICHTE

Für Paul Hoffmann
zum 5. April 1982

Das Gedicht ist nicht schwer zu verstehen. Es spricht deutlich aus, ja es definiert geradezu, was es sagen will. Gottfried Benn hat Gedichte dieser Art schon 1936 etwas salopp als „gereimte Weltanschauung“ bezeichnet. Und als sich das Bändchen Destillationen mit dem Gedicht „Nur zwei Dinge“ im Druck befand, da schrieb er im März 1953 an den Brieffreund Oelze:

Ich fürchte, es sind langweilige altmodische Aussagegedichte.

Die Aussage dieses Spätgedichts, in dem Benn dreieinhalb Jahre vor seinem Tode die Summe seiner Existenz zu ziehen scheint, ist auf derart griffige und wohlklingende Formulierungen gebracht, daß man den Autor bald ganz darauf festlegte. Die erste Taschenbuchausgabe seiner Briefe (1962ff.) trägt den Titel Das gezeichnete Ich und benutzt „Nur zwei Dinge“ als Mottogedicht. Benn selber hat den Bilanz- und Vermächtnischarakter betont, als er es 1956 in der Gedichtausgabe letzter Hand (Gesammelte Gedichte) an die vorletzte Stelle, vor den „Epilog 1949“ rückte.
Es ist wohl eines seiner populärsten Gedichte geworden – eingängig nicht nur durch die formelhafte, schwerelose Klarheit, die etwas höchst Komplexes, die Welt und das menschliche Leben, auf „nur zwei Dinge“ reduziert (wobei das eine, die Welt, noch zum Vakuum entwirklicht ist), sondern eingängig auch durch den reizvollen Kontrast, den die Härte der Aussage und die Weichheit des Aussagens, die apodiktische Prosa des Inhalts und die parlandohafte Poesie der Form bilden. Denn der Ton des Gedichts wird bestimmt von musikalischen Assonanzen, Alliterationen und Anaphern, von Wiederholungen verschiedener Art. Am auffälligsten ist der weiche d-Laut, mit dem die ersten sechs Verse beginnen und an den dann die letzte antwortende Zeile der zweiten Strophe („dein fernbestimmtes: Du mußt“) ebenso anschließt wie das zweiversige Fazit des Gedichts (S. 12f.). Die dreifache Substantiv-Reihung erscheint in jeder Strophe (2, 8, 10), der zuspitzende Doppelpunkt viermal (S. 4, 7, 9, 12), das Enjambement jeweils in den Schlußversen; die dreifache „ob“-Konstruktion – ein letzter Rest sinnlicher Vergänglichkeitsklage inmitten leerer Abstraktionen – wird ebenso wiederholt wie die entschiedene Wendung:

es gibt nur.

Metrisch-rhythmisch der gleiche Eindruck: Variationen des dreihebigen Verses, jede metrische Verseinheit erscheint höchstens zweimal im Gedicht, Polyphonie in der Monotonie. Nur die letzte Strophe nimmt, mit ihren zahlreichen Doppelsenkungen, eine Sonderstellung ein, und ganz einsam und abgehoben steht ihr letzter Vers; er beginnt als einziger mit einer Hebung. Seine (daktylische) Antwort bringt die (anapästische) „Frage: wozu?“ zum Schweigen. Jede Strophe, in rhythmischem Aufstieg und Abstieg, schlägt gleichsam einen Zirkel und kehrt im Bogen der drei gereihten Substantive – „durch Ich und Wir und Du“, „ob Sinn, ob Sucht, ob Sage“, „Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere“ – an den Ausgangspunkt zurück. Das ganze Gedicht geht und steht im Kreis, vom „Ich“ des zweiten Verses zum „gezeichneten Ich“ des letzten; es gab und gibt kein Weiterkommen, weder im Gedicht noch im Leben; nur eine wachsende Erkenntnis der Leere, ein spätes Sich-selber-gegenständlich-Werden, eine letzte Desillusionierung, ein Abschreiten des eigenen Kreises, wie der späte Benn sagen würde.
Das lyrische Ich, das hier am Ende seines Lebens wie von einem Archimedischen Punkt her spricht, hat nicht nur seinen eigenen Lebenslauf als sinnlosen Kreislauf erfahren, sondern auch das Ganze: „Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere, / was alles erblühte, verblich“ – so wird Spenglers Kulturkreislehre naturalisiert und zum poetischen Kurzschluß gebracht. Das einzige aktiv-sinnliche Verb des Gedichts („erblühte“) wird sofort annulliert („verblich“), die Passivität der Verben endet in der Statik der Substantive. Die Bewegung ist endgültig zum Stillstand gekommen. Hinter dem Gedicht kann das Schweigen beginnen.
Durch diese unauffällige Häufung einfacher und verwandter lyrischer Mittel erhält das fast essayistische Aussagegedicht seine lyrische Suggestivität. Die apodiktischen, radikalen und am Ende unerhörten Feststellungen werden im Tonfall des Selbstverständlichen und Fraglosen ausgesprochen und verführen den Leser zum Mitvollzug und Mitgenuß – der müden Trauer, der gefaßten männlichen Haltung, der Schicksalsgläubigkeit, der Entwirklichung der Welt und des hybriden Bei-sich-selber-Ankommens.
Nach Benn ist solche Wirkung durchaus legitim. Er hat die biologisch-kathartische Funktion der Kunst in seiner Spätzeit, mit zunehmender Verdüsterung seiner Altersstimmungen, immer wieder betont und sie als den Drang definiert, „qualvolle innere Spannungen, Unterdrücktheiten, tiefes Leid in monologischen Versuchen einer kathartischen Befreiung zuzuführen“ (Bd. I, S. 533). In diesem Sinne kann sich der Leser mit dem Gedicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen: daß nämlich alles vergänglich und unbegreiflich und daß jeder Mensch einsam und für sich allein sei. Solchen Pakt haben in der Nachkriegszeit viele deutsche Leser mit dem Gedicht geschlossen.
Schwierig wird es erst, wenn man sich aus seinem Banne löst, wenn man seine Klarheit als eine Klarheit der Abstraktion, der Inhaltslosigkeit, der Unbestimmtheit und der Leere durchschaut, wenn man es an den Stellen untersucht und historisiert, an denen es zeitlose Antworten zu geben scheint: am Ende der zweiten und der dritten Strophe. Dann erkennt man, daß dieses Gedicht mehr verschweigt als sagt, daß es vor allem seine schmerzliche Entstehungsgeschichte verschweigt. Denn seine radikale Absage an Gesellschaft und Geschichte hat paradoxerweise eine sehr aufschlußreiche Vorgeschichte, und seine verabsolutierte Schlußkonstellation – „die Leere und das gezeichnete Ich“ – ist nicht erst das melancholische Resultat des Alters – „Wer altert, hat nichts zu glauben, / wer endet, sieht alles leer“ (Bd. III, S. 267) –, sondern sie läßt sich sehr genau historisch situieren und in die Jahre 1934–37 zurückdatieren.
Was heißt „das gezeichnete Ich“? – Man kann die vieldeutige Aura dieses Ausdrucks – in einem anderen bekannten und benachbarten Gedicht Benns ist von dem „sich umgrenzenden Ich“ die Rede (Bd. III, S. 327) – zu umschreiben versuchen: das mit einem Zeichen, einem Mal versehene Ich; also das gebrandmarkte und das ausgezeichnete Ich; das verwundete, das leidende, das ausgestoßene, das einsame – und das berufene und auserwählte Ich. Benn selber hat in dem Gedicht „Ach, das Erhabene“, das er am 3. September 1935 an Oelze schickte, eine genaue lyrische Definition gegeben: 

Nur der Gezeichnete wird reden
und das Vermischte bleibe stumm,
es ist die Lehre nicht für jeden,
doch keiner sei verworfen drum
.
(Bd. III, S. 181) 

Der „Gezeichnete“ sei der im Unterschied zur unerfahrenen „Menge“ Berufene und Auserwählte, dem das „Erhabene“ aus „einer Wolke“ tönt, der einer unbekannten „Gottheit“, einem Deus absconditus dient und verpflichtet ist, also einem „fernbestimmten: Du mußt“. Dieses elitär-religiöse Bewußtsein ist Teil einer Christus-Typologie, eines Rückbezugs auf christliche Vorbildfiguren, Lebensformen und Erfahrungen, die in zahlreichen brieflichen und lyrischen Zeugnissen der Jahre 1934–37 anzutreffen sind. Sie bilden ein konsistentes Bewältigungsmodell, in dem und durch das sich Gottfried Benn mit den traumatischen Erfahrungen der Jahre 1933/34, mit seinem Irrglauben an den deutschen Faschismus, an eine Synthese von Geist und Macht und mit seiner baldigen Enttäuschung und Abwendung von ihm auseinandersetzte. Dieser Prozeß kulminiert in mehreren Gedichten des Jahres 1936, in denen es zu einer unverhüllten Usurpation und Überbietung des leidenden, gekreuzigten Christus und seiner Heils- und Erlösungstat durch die Gestalt des Künstlers und die Kunst kommt (z.B. in „Valse triste“). Seitdem enthält die ambivalente Aura des Gezeichneten, des Künstlers, des „gezeichneten Ich“ stets einen geheimen, hybriden Christus-Bezug. In der ersten großen Abrechnungs- und Rechtfertigungsschrift seiner „Inneren Emigration“, dem Weinhaus Wolf (1937), erscheinen die „Gezeichneten“, die Träger der „außermenschlichen Wahrheit“, daß sich der Geist nicht mehr im Leben, in der Geschichte verwirklicht, in einer Reihe mit den „Esoterischen, Zersetzten, Klüngel, Destruktiven, Abgespaltenen, Asozialen, Einzelgängern, Intellektualisten “ (Bd. II, S. 146). Welch erhabenes Zeichen diese Ohnmächtigen und Parias jedoch tragen, das wird am Ende des Weinhaus kaum noch chiffriert: 

[…] diese Erkenntnis war nicht mehr zu verdrängen: die Geschichte war machtlos geworden gegenüber dem Menschen, sein Kern war noch einmal auferglüht, der hatte ein Wort geschrieben auf sein Kleid und einen Namen auf seine Hüfte. (Bd. II, S. 150) 

Der Pfarrerssohn Benn bezieht sich hier typologisch auf die Offenbarung des Johannes, 19. Kapitel, 2. Teil (V. S. 11ff.), der den Titel „Christus der Sieger“ trägt. Johannes schildert visionär, wie Christus auf einem weißen Pferd mit den himmlischen Heerscharen herabsteigt, um die irdischen Könige und ihre Völker zu vernichten und ein „tausendjähriges Reich“ zu gründen, währenddessen der Satan im Abgrund gebunden und verschlossen liegt. Vers 16 aber sagt von dem siegreichen Christus: er „trägt einen Namen geschrieben auf seinem Kleid und auf seiner Hüfte: König aller Könige und Herr aller Herren“.
Ein merkwürdiger Vorgang: ein postfigurativer Christus besiegt das Dritte Reich! Inmitten einer schweren inneren und äußeren Lebenskrise gelingt es Benn, seine faktische Ohnmacht in spirituelle Macht, seine moralische Niederlage in einen poetischen Sieg, seine irdische Erniedrigung in eine überirdische Erhöhung umschlagen zu lassen: durch eine vielfältige Christus-Typologie, vor allem durch die Übernahme der Rolle des von der Welt verstoßenen leidenden Gerechten (22. Psalm) und des Christus-Wortes:

Mein Reich ist nicht von dieser Welt.

Sein Bannstrahl fällt nicht auf die eigene moralisch-politische Verfehlung und ihre inneren und äußeren Voraussetzungen, sondern ausschließlich auf die ,böse‘ Welt der Geschichte, der Macht, der Gesellschaft. Sie wird fortan zur „Leere“, zum „Nichts“, zum „Dunkel“ derealisiert und entmächtigt, aus denen sich der ferne, unbekannte Gott zurückgezogen hat – übrig bleibt eine „Metaphysik der Leere“ (Bd. II, S. 211). „Die Leere ist wohl auch von jenen Gaben, / in denen sich der Dunkle offenbart“, lauten Verse eines anderen Spätgedichts (Bd. III, S. 252). Der Begriff der „Leere“ wird ebenfalls im Weinhaus Wolf programmatisch eingeführt und in der für Benn typischen Art geschichtsphilosophisch überspannt: 

Alle großen Geister der weißen Völker haben, das ist ganz offenbar, nur die eine innere Aufgabe empfunden, ihren Nihilismus schöpferisch zu überdecken. […] Keinen Augenblick sind sie sich im unklaren über das Wesen ihrer inneren schöpferischen Substanz. Das Abgründige ist es, die Leere, das Resultatlose, das Kalte, das Unmenschliche. (Bd. II, S. 146f.) 

Hier findet man die Begriffe und die Konstellation des späten Gedichtes „Nur zwei Dinge“ bereits versammelt: das „gezeichnete Ich“ (die „großen Geister“), das „fernbestimmte: Du mußt“ (die „innere Aufgabe“) und die „Leere“ als die schöpferische Herausforderung eines unbekannten Gottes. Im Unterschied aber zum weitgehend entleerten und verformelten Spätwerk vermag man noch die historischen Spuren und Entstehungsbedingungen eines existentiellen und poetischen Modells zu entdecken, mit dem Benn schon in den dreißiger Jahren und auf seine Weise die faschistische Vergangenheit bewältigte. Auf seine Weise, d.h., indem er ein ursprünglich moralisch-religiöses in ein artistisch-religiöses Modell umwendete, genauso, wie er zur gleichen Zeit in einer Invektive Luther ,umgewendet‘ hat:

[…] dreckiger Niedersachse: Gewissensbisse an Stelle von Formproblemen, moralisches statt konstruktives Denken, tiefstehender Freiheitsbegriff („Selbstverantwortung“ – so ein Blech für diese Schuld-Sühne-bastarde!) – […] (21.11.1935 an Oelze.) 

„Selbstverantwortung- so ein Blech für diese Schuld-Sühne-bastarde!“ – diese Formel mußte nach 1945, als nun wirklich für alle Deutschen die „Bewältigung der Vergangenheit“, die Frage nach Einzel- und Kollektivschuld anstand, höchst verführerisch wirken und mit ihr Benns existentielles und poetisches Bewältigungsmodell, d.h. die ihm immanente Geschichtsfeindschaft, die Derealisierung von Macht, Politik und Gesellschaft, die Schicksalsgläubigkeit und negative Religiosität, der Umschlag von Erniedrigung in Selbsterhöhung und vor allem die Berufung auf die Rolle des leidenden Gerechten. Benns erstaunliches literarisches Comeback nach 1948 ist völlig untrennbar von solchen persönlichen und kollektiven Entlastungsprozessen und Verhaltensweisen. Er selber hat sein Modell nach 1945, als er verständlicherweise ins Kreuzfeuer moralischer und politischer Kritik geriet, immer wieder praktisch angewendet. In seiner autobiographischen Rechtfertigungsschrift Doppelleben (1950) heißt es an entscheidender Stelle: 

Immer alles gewußt zu haben, immer recht behalten zu haben, das alleine ist nicht groß. Sich irren und dennoch seinem Inneren weiter Glauben schenken müssen: – das ist der Mensch – sagt einer meiner „Drei alten Männer“ –, und jenseits von Sieg und Niederlage beginnt sein Ruhm. Der Ruhm nämlich, das auf sich genommen zu haben, was der uns zugemessene Teil, was die Moira, man kann natürlich auch sagen der Zufall und die Gegebenheit, uns bestimmte. (Bd. IV, S. 89f.) 

Hier wird das „fernbestimmte: Du mußt“, die „Moira“, die Benn in seiner Spätzeit mit zahlreichen Namen immer wieder bemüht, als Alibi moralischer und historisch-politischer Schuld mißbraucht und die „Niederlage“ und der Irrtum zur Voraussetzung des „Ruhms“ gemacht. Dieses paradoxe Kunststück ist nur möglich, weil gleichzeitig die geschichtliche Welt gründlich entleert und entwirklicht wird.
Dafür ist das Spätgedicht „Nur zwei Dinge“ wohl das repräsentativste lyrische Zeugnis. Aus ihm hat der Dichter in kunstvoller Weise alle Inhalte herausgefiltert, herausdestilliert. Das Jahr 1933 ist kaum noch erahnbar in dem Mittelglied einer fast grammatikalisch-abstrakten Reihung: „durch Ich und Wir und Du“, die Schuld in dem „Du mußt“ aufgehoben und die Selbstrechtfertigung in der sublimen Formel „das gezeichnete Ich“ angedeutet. Und da in den letzten Lebensjahren Benns stets latente Versöhnungs- und Auferstehungshoffnungen wachsen – die Schlußverse seiner Gesammelten Gedichte sprechen von „jener Sphäre […], / in der du stirbst und endend auferstehst“ (Bd. III, S. 345), die bekenntnishafte Rede „Altern als Problem für Künstler“ (1954) endet mit der Gewißheit: „auch ich werde nicht in Ewigkeit verworfen werden“ (Bd. I, S. 582) –, konnten sich nicht nur die Existentialisten, Nihilisten und Atheisten, sondern auch die modernen Christen von ihm verstanden fühlen und auf ihn berufen.
Alexander und Margarete Mirscherlich haben 1967 ein Buch veröffentlicht, in dem sie unter dem diagnostischen Titel Die Unfähigkeit zu trauern die „Grundlagen kollektiven Verhaltens“ der Nachkriegsdeutschen untersuchen. Ihre Hauptthese lautet, daß die Deutschen, um der fälligen Trauerarbeit, d.h. der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auszuweichen und den Ausbruch einer schweren kollektiven Melancholie zu vermeiden, nach dem Kriege im großen Stil eine passive (verleugnende) „Derealisation“, eine Entwirklichung der Naziperiode betrieben hätten.
Im Unterschied zu den meisten Deutschen bedurfte Gottfried Benn zwar nicht erst des Jahres 1945, um sich vom Hitler-Faschismus zu lösen; er setzte sich schon seit 1934 vom Dritten Reich ab. Er tat es jedoch mit Hilfe eines ästhetisch-religiösen Modells, das in aggressiver Weise die geschichtliche Welt überhaupt derealisierte, das „Formprobleme“ an die Stelle von „Gewissensbissen“ setzte und „konstruktives“ statt „moralisches“ Denken pflegte. Seine Krisenlösung diente weniger der selbstkritischen konkreten Trauerarbeit als vielmehr einer existentiellen Selbstrechtfertigung im Stimmungsraum von Trauer und Melancholie. In diesen Stimmungsraum sind die Westdeutschen nach 1948 begreiflicherweise gerne eingeströmt. Die kleine Dosis an melancholischer Trauerarbeit und Selbstwertzweifeln im Spannungsfeld von Selbsterniedrigung und Selbsterhöhung, die sie darin vorfanden, reinigte ohne Risiko. So fingen sie mit Gottfried Benn an, auf poetische Weise die verleugnete Vergangenheit zu bewältigen:

es gibt nur zwei Dinge: Die Leere
und das gezeichnete Ich

Paul Celan mochte diese Formel nicht.
Als solch poetische Katharsis in den sechziger Jahren nicht mehr ausreichte, wurde Benn fast vergessen oder seinerseits verleugnet. Erst jetzt, bei der erneuten Wiederentdeckung, wird eine weniger zeitbezogene Lektüre seines Werkes möglich. Ihr mag das Gedicht „Nur zwei Dinge“, auf dem Hintergrund von Nietzsche (Bd. IV, S. 308) und Spengler (Bd. I, S. 591), als ein negatives christliches Vermächtnis erscheinen, das den Menschen trotz allem noch im Mittelpunkt der Schöpfung sieht und das noch immer an eine metaphysische Botschaft glaubt.2

Jürgen Schröder

 

 

 

Inhalt 

Walter Hinck: Einleitung

– Gottfried Benn: Nur zwei Dinge
Jürgen Schröder: Destillierte Geschichte. Zu Gottfried Benns Gedicht „Nur zwei Dinge“

– Bertolt Brecht: Vier Buckower Elegien
Harald Weinrich: Bertolt Brecht in Buckow oder: Das Kleinere ist das Größere

– Nelly Sachs: Das ist der Flüchtlinge Planetenstunde
Christa Vaerst-Pfarr: Nelly Sachs: „Das ist der Flüchtlinge Planetenstunde“

– Peter Huchel: Brandenburg
Gerhard Schmidt-Henkel: „Ein Traum, was sonst?“ Zu Peter Huchels Gedicht „Brandenburg“

– Marie Luise Kaschnitz: Interview
Fritz Martini: Auf der Suche nach sich selbst. Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Interview“

– Günter Eich: Inventur
Jürgen Zenke: Poetische Ordnung als Ortung des Poeten. Günter Eichs „Inventur“ 

– Ingeborg Bachmann: Böhmen liegt am Meer
Peter Horst Neumann: Ingeborg Bachmanns Böhmisches Manifest

– Ernst Meister: Ich sage Ankunft
Christoph Perels: Der dornige Weg des Gedichts. Zu Poesie und Poetik Ernst Meisters an der Schwelle zum Spätwerk

– Hilde Domin: Herbstzeitlosen
Winfried Woesler: Lyrik vor dem Ende des Exils. Zu Hilde Domins „Herbstzeitlosen“

– Johannes Bobrowski: Wiederkehr
Alfred Kelletat: Johannes Bobrowskis Wiederkehr

– Paul Celan: Fadensonnen
Peter Michelsen: Liedlos. Paul Celans „Fadensonnen“

– Erich Fried: Beim Wiederlesen eines Gedichtes von Paul Celan
Michael Zeller: Die Aufklärung einer Dunkelheit

– Eugen Gomringer: vielleicht
Harald Hartung: „vielleicht“ – Eine Konstellation Eugen Gomringers

– Helmut Heißenbüttel: Lehrgedicht über Geschichte
Rudolf Drux: Historisches als Sprachmaterial. Helmut Heißenbüttels „Lehrgedicht über Geschichte 1954“

– H.C. Artmann: Bei Rotwein
Ute Druvins: Sänger verführt Nixe. Zu H.C. Artmanns Ballade „Bei Rotwein“

– Gerhard Rühm: die ersten menschen sind auf dem mond
Karl Riha: Apollo 11: zeit-sonette als zeitungs-sonette

– Ernst Jandl: bibliothek
Klaus Jeziorkowski: Zu Ernst Jandls Gedicht „bibliothek“

Günter Bruno Fuchs: Gestern
Reinhold Grimm: Genrebild mit Hintergrund. Berlinisch, um 1967

– Kurt Marti: der name
Ulla Hahn: Zu Kurt Martis Gedicht „der name“

– Karl Krolow: Terzinen vom früheren Einverständnis mit aller Welt
Klaus Jeziorkowski: Zu Karl Krolows „Terzinen vom früheren Einverständnis mit aller Welt“

– Walter Helmut Fritz: Also fragen wir beständig
Helmut Koopmann: Annäherung an die Vogelscheuche Vergänglichkeit. Zu Walter Helmut Fritz: „Also fragen wir beständig“

– Elisabeth Borchers: chagall
Peter Wapnewski: „Fisch und Feuer, Stier und Stadt“. Zu Elisabeth Borchers’ Gedicht „chagall“

– Günter Grass: Adornos Zunge
Heinrich Vormweg: Ein Gelegenheitsgedicht 

– Hans Magnus Enzensberger: leuchtfeuer
Hiltrud Gnüg: Poesie und Metapoesie. Zu Enzensbergers Gedicht „leuchtfeuer“

– Erich Arendt: Nach den Prozessen
Heinrich Küntzel: Hieroglyphe und Zeitgedicht. Zu Erich Arendts Gedicht „Nach den Prozessen“ 

– Karl Mickel: Dresdner Häuser
Frank Trommler: Die Mühen des Nachkriegsaufbaus. Zu Karl Mickels Gedicht „Dresdner Häuser“ 

– Volker Braun: Nach dem Treffen der Dichter gegen den Krieg
Andreas F. Kelletat: Im Dickicht der Widersprüche. Zu Volker Brauns Gedicht „Nach dem Treffen der Dichter gegen den Krieg“

– Günter Kunert: Geschichte
Manfred Durzak: „… unverstümmelt dasein ist alles.“ Zu Kunerts „Geschichte“

 Wolf Biermann: Und als wir ans Ufer kamen
Manfred Jäger: „Am liebsten“: eine melancholische Ermutigung. Zu Wolf Biermanns Lied „Und als wir ans Ufer kamen“

– Peter Rühmkorf: Hochseil
Hans Peter Bayerdörfer: Loreley wird rehabilitiert. Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Hochseil“

– Christoph Meckel: Andere Erde
Wulf Segebrecht: Vom Sterben der Bäume. Zu Christoph Meckels Gedicht „Andere Erde“

– Sarah Kirsch: Die Luft riecht schon nach Schnee
Sybille Demmer: „Schnee fällt uns/ Mitten ins Herz“. Naturbildlichkeit und Liebeserlebnis in Sarah Kirschs Gedicht „Die Luft riecht schon nach Schnee“

– Jürgen Becker: Vorläufiger Verlust
Franz Norbert Mennemeier: Poetik des Rückzugs: ein lyrischer Gestus der siebziger Jahre. Zu Jürgen Beckers Gedicht „Vorläufiger Verlust“

– Nicolas Born: Da hat er gelernt was Krieg ist sagt er
Walter Hinderer: Form ist eine Ausdehnung vom Inhalt. Zu Nicolas Borns Gedicht „Da hat er gelernt was Krieg ist sagt er“

– Rolf Dieter Brinkmann: Einen jener klassischen
Thomas Zenke: Der Augenblick der Sensibilität

– Wolf Wondratschek: In den Autos
Volker Hage: Über Wondratscheks „In den Autos“

– Ursula Krechel: Meine Mutter
Elisabeth Hoffmann: Trauerarbeit. Zu Ursula Krechels Gedicht „Meine Mutter“

– Karin Kiwus: An die Dichter
Walter Hinck: Kleine Poetik des Tagtraums. Zu Karin Kiwus’ Gedicht „An die Dichter“

Autorenregister

Gesamtregister der Bände 1–6

 

Einleitung 

Als Gottfried Benn, dessen Sammlungen Statische Gedichte und Trunkene Flut 1948/49 erschienen waren, mit dem Marburger Vortrag „Probleme der Lyrik“ endgültig und triumphal in die literarische Öffentlichkeit zurückkehrte, im Jahre 1951, erschien im Ost-Berliner Aufbau-Verlag Bertolt Brechts Auswahlband Hundert Gedichte. 1918–1950, dem erst 1956 eine westdeutsche Ausgabe Gedichte und Lieder folgte. Diese verzögerte Wirkung Brechts in der Bundesrepublik war keineswegs nur eine Folge seiner Entscheidung, nach der Heimkehr aus dem amerikanischen Exil den Wohnsitz in Ost-Berlin zu nehmen. Als Stückeschreiber, als Regisseur und eigentlicher künstlerischer Kopf des Berliner Ensembles erwarb er sich rasch ein internationales Ansehen, das selbstverständlich – trotz sich vertiefender Gegensätze zwischen den beiden deutschen Staaten – auch in die Bundesrepublik hinüberstrahlte. Aber ebendiesen Vorsprung des Theatermannes vermochte der Lyriker Brecht nur langsam auszugleichen, obwohl viele Kenner der Exilgedichte sofort von seiner Gleichrangigkeit überzeugt waren. Die fünfziger Jahre standen, zumindest in der ersten Hälfte, bei uns ganz im Zeichen eines Benn redivivus.
Benn und Brecht sind – als exemplarische Lyriker – die beiden Väter der Nachkriegs- und Gegenwartslyrik. Insofern haben sie zu Recht ihren Platz am Anfang unseres Interpretationsbandes. Benn ist – nimmt man die späte Lyrik (Fragmente, Destillationen, Aprèslude) und die späte Poetik aus – als Dichter und Theoretiker beispielgebend für die magische, absolute und hermetische Poesie, Brecht hat Maßstäbe gesetzt für eine auf Mitteilung und Erkenntnis gerichtete und der sozialen Wirklichkeit verpflichtete Lyrik; für den einen bleibt das Gedicht letztlich immer monologisch, dem anderen ist es auch ein Organ zur Kommunikation. Benn und Brecht stehen für gegensätzliche Richtungen neuerer Lyrik, sie vertreten zwei Pole, zwischen denen es selbstverständlich einen großen Reichtum an Formen gibt – eine Fülle von Variationen, deren Möglichkeiten nur eben dadurch begrenzt sind, daß sie jeweils mehr der Anziehungskraft des einen oder des anderen Pols unterliegen.
Wie wir einen großen Abschnitt in der politischen Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Adenauer-Ära nennen, so ließe sich auch in der Geschichte der Nachkriegslyrik von einer Benn-Ära sprechen. Zweifellos gibt es einen Zusammenhang zwischen der frühen politischen Entwicklung der Bundesrepublik, gegen deren konservativ-liberale Antriebskräfte sich der Wille zu grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen nicht durchsetzen konnte, und einer Dichtungsauffassung, die der Lyrik den Zugriff zur konkreten geschichtlichen Situation verwehrte. Nur war die Ära Benns erheblich kürzer bemessen als die Adenauers, weil politische und kulturgeschichtliche Epochen nicht völlig synchron zu verlaufen pflegen, weil Bewußtseinsprozesse sozialen und politischen Prozessen nachhängen oder sie vorwegnehmen können. In diesem Falle antizipierten neue Tendenzen in der Literatur, in der Lyrik jene politische Bewegung, die der – relativ kurzen – Ära Brandt den Weg ebnete, traten aber andererseits auch in Opposition zur Großen Koalition und zu Verhärtungen staatlicher Macht unter der sozialliberalen Regierung. Solchen literarischen Strömungen kam das Modell der Lyrik Brechts entgegen. Und überblickt man heute die dreieinhalb Nachkriegsjahrzehnte, so hat sich im ganzen das Brechtsche Vorbild als wirkungsvoller erwiesen denn das Bennsche Programm, zumal wenn man die in der DDR entstandene Lyrik mit einbezieht.
Natürlich reichen solche groben Scheidemuster nicht aus, die ganze Vielfalt lyrischer Produktionen zu erschließen oder wenigstens bestimmte Entwicklungslinien genauer zu bestimmen. Im übrigen enthüllt sich auch hier – und in Anbetracht des betont individuellen Moments in der Lyrik vielleicht gerade hier – das Problematische aller Periodisierungsversuche. Gegensätzliche Richtungen existieren nebeneinander, eine Reihe von Autoren entzieht sich überhaupt der Zuordnung zu Gruppen oder Programmen. Ja, die Wahl von Themen und Formen kann allgemeinen Erwartungen geradezu zuwiderlaufen.
So hat Peter Rühmkorf (Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen. 1962, in: Rühmkorf, S. 11ff.) gezeigt, daß der Großteil von Lyrik, die in den ersten beiden Nachkriegsjahren ans Licht kam, keineswegs, wie man nachträglich vermuten möchte, das Grauen der überstandenen Kriegskatastrophe zum Gegenstand hatte und durchaus nicht dem Entsetzen oder der Erschütterung über die Naziverbrechen Sprache verlieh, sondern Halt und Zuflucht im „ungetrübt Herkömmlichen“ suchte, damit allerdings auch einem Publikum von „Einkehrwilligen“ entsprach, die „wieder Heimchen am Herde werden wollten“ und die es „nach nichts so sehr verlangte wie nach der Windstille in der Zeit“. Den Beruhigungs- und Beschwichtigungsvorsatz signalisieren schon Buchtitel wie Mittagswein (Anton Schnack), Die Herberge (Albrecht Goes), Die Silberdistelklause (Friedrich Georg Jünger) oder Alten Mannes Sommer (Rudolf Alexander Schröder). Da bildeten Marie Luise Kaschnitz’ Totentanz und Gedichte zur Zeit (1947) eine der denkwürdigen Ausnahmen. Bereits eine postume Veröffentlichung waren die Moabiter Sonette (1946), die dichterischen Dokumente eines Widerstandes aus christlichem Geist; ihren Autor, Albrecht Haushofer, hatte noch kurz vor dem Kriegsende ein Rollkommando der SS im Gefängnis erschossen.
Weite Bezirke der frühen Nachkriegslyrik, für die Hans Egon Holthusens und Friedhelm Kemps Anthologie Ergriffenes Dasein (1950) repräsentativ ist, lassen sich unter den bei Werner Bergengruen entlehnten und rasch populär gewordenen Begriff der „heilen Welt“ fassen. Die Naturlyrik eroberte ihr altes Terrain zurück und neues dazu, das naturmythische oder gar naturmystische Gedicht hielt einen Geborgenheitstrost bereit, den die Wirklichkeit noch versagte. Auch Günter Eichs Sammlung Abgelegene Gehöfte (1948) weist Titel wie „Märzmorgen“, „Wacholderschlaf“, „Mohn“ oder „Variationen über eine Novemberlandschaft“ auf – Gedichte allerdings, die sich auf die Naturbildlichkeit einlassen, um vor allem Verlorenheit auszudrücken. Aber da kommt auch eine ganz andere Seh- und Sprechweise zum Durchbruch, ein kühles Herangehen an Dinge und ein nüchternes Konstatieren, ein von Selbsttäuschung, aber auch von Selbstmitleid freies Erfassen der Wirklichkeit. In solchen Versen, zumal in den „Inventur“ überschriebenen, konnte seine eigene Haltung wiedererkennen, wer desillusioniert aus dem Krieg zurückgekehrt und an einem „Nullpunkt“ angelangt war, sich aber deshalb nicht auch der Verzweiflung überließ. Hier war Lyrik zur Bestandsaufnahme und die Bestandsaufnahme des Ich zu der einer ganzen Generation geworden.
Nicht immer enthalten Titel von Anthologien zugleich deren Resümee; gelegentlich führen sie sogar auf eine falsche Fährte. So hat Mein Gedicht ist mein Messer, der Titel einer Sammlung programmatischer Kommentare von Lyrikern zu ihren Gedichten, die Hans Bender im Jahre 1955 herausgab, sicherlich keinen allgemeinen Signalwert für die Position des Lyrikers und des Gedichts um die Mitte der fünfziger Jahre. Und auch die Forderung nach dem transparenten, unverschlüsselten Gedicht, die Lyriker wie Karl Krolow und Heinz Piontek hier erhoben, war keine unbestritten geltende Maxime. Denn gerade zeigte die Kärntnerin Ingeborg Bachmann mit ihren Bänden Die gestundete Zeit (1953) und Anrufung des großen Bären (1956), welche neuen Möglichkeiten des magisch-metaphorischen Sprechens noch zu entdecken waren. Und seit 1948 erschienen die Gedichtbände Paul Celans, in denen die hermetische Dichtung der Nachkriegszeit ihren Höhepunkt erreichte und zugleich ihre Aporien austrug, bis der fortschreitende Rückzug der Sprache ins Schweigen im endgültigen und freiwilligen Verstummen des Autors, mit seinem selbstgewählten Tod (1970), endete.
Der Sprachskepsis des späten Celan steht scheinbar ein grenzenloser Sprachoptimismus in der sogenannten Konkreten Poesie gegenüber: die Sprache wird zu ihrem eigenen Inhalt, ihrem eigenen Material. Doch kommt im provokatorischen Verzicht auf die Metapher, auf die üblichen semantischen und grammatischen Bezüge, mit deren Ordnungsstrukturen man auch ein überliefertes Weltbild konserviert sieht, in Wahrheit Sprachkritik zum Zuge. In der Absage an die kommunikative Sprache waren Eugen Gomringers konstellationen (1953) und die Texte anderer Experimentatoren der Konkreten Poesie noch ungleich konsequenter als die Gedichte der absoluten oder hermetischen Dichtung. Zwischen den ,Konkreten‘ und den Mitgliedern der Wiener Gruppe (vor allem H.C. Artmann und Gerhard Rühm) mit ihrer schockierenden, witzigen Sprachakrobatik und -gaukelei steht Helmut Heißenbüttel mit seinen spielerischen Kombinationen (1954), seiner antigrammatischen Schreibweise und seinen Zitatmontagen.
Ein stark parodistisches Element verbindet den Norddeutschen Peter Rühmkorf und die geborenen Wiener Artmann, Rühm und Ernst Jandl, aber von Anfang an schlug bei seinem respektlos-artistischen Umgang mit überlieferten Formen durch die Traditionskritik die Zeitkritik durch. So stellte sich Rühmkorf, als ein neuer Heine und als ein ernüchterter Benn-Bewunderer, eher in jene Linie, die durch Namen wie Hans Magnus Enzensberger und Erich Fried (in bedingter Weise auch Günter Grass) markiert wird und die auf die Lyrik Brechts zurückweist.
Indem Enzensberger im Band landessprache (1960) eine Formel Brechts aus den zwanziger Jahren abwandelte und seine Gedichte zu „Gebrauchsgegenständen“ erklärte, suchte er Lyrik zum sozialen und politischen Leben hin zu öffnen. Freilich rivalisierte in Enzensbergers Poetik mit dem Erbe Brechts der Einfluß der Ästhetik Theodor W. Adornos, für die das Gesellschaftliche von Lyrik gerade dadurch verbürgt ist, daß sie sich der negierten Wirklichkeit verweigert, sich nicht durch eine Mitteilungsfunktion der Gesellschaft anpaßt. So sah auch Enzensberger zunächst (Poesie und Politik, 1962), das Politische mit Herrschaft oder Macht gleichsetzend, den ,politischen‘ Auftrag eines Gedichtes eben darin, auf politische Mitteilungen zu verzichten. Die einseitige Beschränkung ließ sich nicht aufrechterhalten, als auch Enzensberger von der durch Studentenbewegung und Außerparlamentarische Opposition (APO) ausgelösten Politisierung des Lebens miterfaßt wurde und nunmehr die „politische Alphabetisierung Deutschlands“ forderte (im Kursbuch 15 von 1968).
Schon in den Warngedichten (1963/64) hatte Erich Fried, aus London nicht heimgekehrter österreichischer Emigrant, sich aus dem Bann von Vorbildern wie Dylan Thomas gelöst und das erlesene poetische Bild zugunsten der zeitdiagnostischen Aussage preisgegeben. Aber den eigentlichen Umschlag in die Direktheit des politischen Gedichts brachte erst die Sammlung und Vietnam und von 1966, mit der sich Fried der internationalen Bewegung gegen den Vietnam-Krieg der Amerikaner anschloß. Mit diesem Buch öffneten sich die Schleusen für eine wahre Flut politischer Lyrik. Die besten der Schüler Frieds eigneten sich seine Technik des dialektischen Kurzkommentars und der epigrammatischen politischen Reflexion an (Formen, mit denen schon Brecht im Exil experimentiert hatte). Aber die größere Gruppe politischer Autoren war an der lyrischen Form wenig interessiert und suchte den kürzesten Weg zum Adressaten: über die Anklage, den Protest, den Aufruf. Die Anthologie agitprop. Lyrik. Thesen. Berichte (1969) versammelt außer Erich Fried und Nicolas Born Autoren wie Uwe Friesel, Roman Ritter, Peter Schütt, Volker von Törne, Uwe Timm oder Guntram Vesper. Unzählige politische Gedichte dieser Jahre blieben allerdings im Plakativen stecken. Für sie scheint Brecht („Die Dialektik“) sein Verdikt schon vorweggenommen zu haben:

Flach, leer, platt werden Gedichte, wenn sie ihrem Stoff seine Widersprüche nehmen, wenn die Dinge, von denen sie handeln, nicht in ihrer lebendigen, d.h. allseitigen, nicht zu Ende gekommenen und nicht zu Ende zu formulierenden Form auftreten. Geht es um Politik, so entsteht dann die schlechte Tendenzdichtung.

Doch die politische Lyrik im ganzen trug sicherlich zu jener „Wiederentdeckung der Wirklichkeit“ bei, zu der Peter Hamm im Nachwort seiner Anthologie Aussichten – Junge Lyriker des deutschen Sprachraums (1966) aufgerufen hatte. In diesen Zusammenhang gehört auch Walter Höllerers Angriff gegen lyrische „Kurzatmigkeit“ und Preziosität, gegen starrgewordene Metaphorik und Rhythmik in seinen Thesen zum langen Gedicht (1965). Von anderen Voraussetzungen her – und zum Teil in Opposition zum politischen Gedicht, in Anlehnung an amerikanische Muster – näherte sich der Wirklichkeit eine Lyrik, für die Rolf Dieter Brinkmann und seine Technik des „snap-shot“ sowie die Anleihen bei der Subkultur bezeichnend sind.
Überdruß an der politischen Lyrik, der Wir-Lyrik, und Resignation angesichts ihrer praktischen Wirkungslosigkeit, angesichts des Scheiterns der politischen Aufbruchsbewegung von 1968, ließen das Pendel zwar nicht zur hermetischen Dichtung, wohl aber zu einer Ich-Lyrik zurückschlagen. Für diese neue, in den siebziger Jahren dominierende Richtung bürgerten sich rasch die Begriffe „Neue Subjektivität“ und „Neue Sensibilität“ ein. Zur Sprache kommen sollten, wie es Jürgen Theobaldy in seinem Essay „Das Gedicht im Handgemenge“ (1975) programmatisch formulierte, „die Erfahrungen eines gewöhnlichen, nicht eines ungewöhnlichen Individuums“. Nicht aufzugeben gedachte man, bei aller Hinwendung zum Privaten, die gesellschaftliche Perspektive.
Die Rehabilitierung des Subjekts räumte dem lyrischen Autor neue Freiheiten ein, und schon bald sprach man von einer Wiedergeburt der Poesie. Freilich ließ auch die Verflachung nicht auf sich warten, die Verstrickung in die Banalität des Alltags, das Schrumpfen der Erfahrung zur „Flächenwahrnehmung“ (Hiltrud Gnüg) oder das Abgleiten in eine – wie Spötter sagten – „Neue Weinerlichkeit“. Eine kritische Analyse von Jörg Drews löste eine heftige Diskussion im Jahrgang 1977 der Zeitschrift Akzente aus. Und auf der Tagung der bundesrepublikanischen PEN-Sektion im Herbst 1978 fiel das deklassierende Wort vom „lyrischen Journalismus“.
Auch in der DDR entwickelte sich eine Diskussion über die Rolle der Subjektivität in der Dichtung, zumal der Lyrik. Aber sie hatte hier doch einen anderen Stellenwert, weil sie einer offiziösen Kunstideologie abgerungen werden mußte. Immerhin deutet sie an – was auch durch die Ausweisung bzw. die Übersiedlung so bekannter Lyriker wie Wolf Biermann, Günter Kunert oder Sarah Kirsch in die Bundesrepublik nicht widerlegt wird –, daß sich die Unterschiede der lyrischen Tendenzen diesseits und jenseits der Grenze einzuebnen beginnen.
Prognosen für den weiteren Gang der Entwicklung zu stellen ist mißlich; zu rasch können sie sich als Irrtümer erweisen. Walter Hinderer sieht Anzeichen dafür, daß die „Berührungsangst vor metaphorischen Aussagen“ abklingt, beispielsweise „in Nicolas Borns letzten Gedichten, bei Jürgen Becker, Karin Kiwus, Dietrich Krusche und Michael Krüger“. Schwieriger sein dürfte, angesichts der technologischen Zerstörung der Natur und der stärker ins Bewußtsein gedrungenen ökologischen Probleme, eine unreflektierte Rückkehr zum Naturgedicht (vgl. Hiltrud Gnüg: „Die Aufhebung des Naturgedichts in der Lyrik der Gegenwart“, in: Jordan/Marquardt/Woesler (Hrsg.): Lyrik – von allen Seiten). Keine wirkliche Zukunft hat, wie mir scheint, die Bescheidung auf das banale Alltagssujet und das völlige Aufgehen der poetischen in der Umgangs- oder Prosasprache. Gegen die Beliebigkeit der Themen und der lyrischen Mittel gelten zwei Argumente: ihren Abdruck in der Lyrik findet ein Subjekt in einer geschichtlichen Situation, und „Gedichte sind genaue Form“ (Peter Wapnewski). 

Die Auswahl der Texte zu diesem Interpretationsband zwang zum Verzicht auf Gedichte, die selbst der Herausgeber gern darin gesehen hätte. Kein Zweifel, daß öfter anders hätte entschieden werden können. Zwei Ziele waren zu verbinden: einmal die bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker der Nachkriegsjahrzehnte aufzunehmen, zum anderen die wichtigsten lyrischen Richtungen zu dokumentieren. Kriterium war also das Exemplarische. So muß nun – um nur einige Beispiele zu nennen – Nelly Sachs für die jüdische Emigrantin Rose Ausländer mitsprechen, Ingeborg Bachmann für andere österreichische Lyrikerinnen, Erich Fried für Autoren politischer Lyrik, Wolf Biermann für andere Liedermacher. Keine Auswahl, wie immer sie ausgesehen hätte, wäre ohne eine gewisse Ungerechtigkeit ausgekommen – läßt sich zu den hier vertretenen doch ohne Schwierigkeiten die gleiche Zahl von Lyrikern nennen, über deren Aufnahme man diskutieren könnte: Ilse Aichinger, Christine Busta, Christine Lavant, Friederike Mayröcker, Oda Schäfer, Helga M. Novak, Dagmar Nick, Christa Reinig, Friederike Roth, Ulla Hahn, Horst Bienek, Wolfdietrich Schnurre, Rudolf Hagelstange, Wolfgang Bächler, Heinz Piontek, Peter Härtling, Hans-Jürgen Heise, Peter Handke, Walter Höllerer, Ludwig Fels, Reiner Kunze, Peter Hacks, Franz Mon, Oskar Pastior, Günter Herburger, Rolf Haufs, Arnfried Astel, Volker von Törne, Jürgen Theobaldy, F.C. Delius, Uwe Timm, Roman Ritter, Peter-Paul Zahl, Rainer Malkowski, Ralf Thenior, Alfred Kolleritsch, Harald Hartung, Michael Krüger… usf. So hätte sich leicht ein zweiter Band füllen lassen.

Walter Hinck, Vorwort

 

Diese sechsbändige Interpretationssammlung

in historischer Folge – von der Renaissance bis zur Gegenwart – soll allen interessierten Lesern Zugang zu einzelnen Gedichten und lyrischen Epochen öffnen. Die Auswahl der Texte und ihre Deutung sind so angelegt, daß die jeweils epochen-spezifischen Formen und Themen an repräsentativen Beispielen vorgeführt werden und eine verläßliche Abfolge zu einer Geschichte der deutschen Lyrik sich ergibt.

Philipp Reclam jun. Stuttgart, Klappentext, 1982

 

Zum 90. Geburtstag des Herausgebers:

Raimund Neuss: Ein Leben für Heine und Brecht
Kölnische Rundschau, 8.3.2012

Paul Michael Lützeler: Walter Hinck wird 90
Deutschlandfunk, 8.3.2012

Friedmar Apel: Ferne bleibe uns Dogmatismus
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.3.2012

Michael Braun: Anwalt der Literatur
Konrad Adenauer Stiftung, 2.4.2012

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Internet Archive +
Kalliope
Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos
Nachrufe auf Walter Hinck: FAZ ✝︎ SZ ✝︎ KSTA ✝︎ Blog ✝︎ Buth

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