Christoph Buchwald & Raoul Schrott (Hrsg.): Jahrbuch der Lyrik 2000

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Christoph Buchwald & Raoul Schrott (Hrsg.): Jahrbuch der Lyrik 2000

Buchwald & Schrott (Hrsg.)-Jahrbuch der Lyrik 2000

SO GILT ES das, was locht, zu stopfen
im denken davon und darüber – zu sühnen
alle jene, die ehedem noch am brunnen sich labten,
nun aber gerufen sind
– hühnen genauso wie hennen –,
zu treten auf der stelle (dar),
auf die bühne für jene stimme,
die spricht in grossem mut

– und nun allen vergeben tut,
gehisst vor den winden nicht nur mit diesen treibt,
die masse an nassem damit auch zu verblasen weiss,
zu schliessen die löcher, die oben
– durchs fenster des himmels – sich tun auf

was wiederum heisst, ja bedeutet
dass ein bild das ersetzt,
was – ganz gehörig wirklich –,
draussen wie drinnen, sich häutet,
um hintanzuhalten das regnen,
und es zu segnen mit einem bild,

aus: sprache, für: das, was tat,
das gesagt, bestückt mit damals
noch lange nicht vergilbter silbe,
„vergeben“ meint und lautet,
sodass die im kasten schauen dürfen aus dem fenster,
dem wahren jetzt zwischen holz und holz,
um zu erkennen, das, was sie sehen
und es benennen (lernen) als name wiederum
für das getane, die gar nicht so sacht gemachte sache:

„ah – da – rat“ – so nennt es das andere spiel,
das zwar die dinge beim namen verkennt,
aber dennoch so etwas wie einen laut raus lässt
und somit erkennbar hält, was hie und dort
sich als: da, gegebenes verhält,
hier: ein berg, der war nun einfach dieser,
der nicht mehr eis und wasser birgt,
sondern höhe, die ihn zeichnet, die er ist,
sicht über stein und wiese
und somit über sich und diese hinweg,
über alles gestrandete,
von obigem stand aus gehandhabte,
das sich verfing, und nun, das, was gefangen,
– zur rettung versteht sich –,
durch die fenster drängt zu beobachten:
wo und was
– nach dem hasten der flut noch vorhanden –
zu rasten erlaubt
nach dem flug aus dem winkel des blicks,

von dem, der noch ohne farbe, nämlich schwarz,
hochsteigt mit seinen schwingen
– ein mass für das, was verstreicht –
(noch kein knabe der rabe)
im hin und her, über jedes meer hinaus,
zu markieren: eins wies andere
und dennoch dieses zu vergleichen
also zu unterscheiden lernt,
und als die zeit zu zeichnen –

aber was es gibt, prangt nicht immer
(in der zeit) –
was nach weiterer prüfung verlangt,
ob das was da ist, so ist,
wie es sich gibt (liebt ?),
oder nennt (brennt ?),
das aber ist nicht (nur) die frage (pur?):

seis rabe seis taube – es fliegt immer was auf,
wenn versucht wird, darauf zu setzen,
um – endlich – das zu geniessen
worauf es sich so trefflich wetzen lässt

was auch heisst, eben nicht mehr zu gerinnen, –
und darüber: zu sinnen ob es nun das sei oder nicht

Ferdinand Schmatz

 

 

 

Editorische Notiz

I
Still crazy after all these years – ob Paul Simons berühmt gewordener Song über einen Mann, der in die Jahre gekommen ist, auch als Motto für das Unternehmen Jahrbuch der Lyrik gelten kann, ist wohl erst mit größerem zeitlichen Abstand zu sagen, sicher ist jedoch, daß das Jahrbuch nun ins zwanzigste Jahr geht und zu einer „festen Institution der deutschsprachigen Gegenwartslyrik“ geworden ist. Der aufeinandergeschichtete Manuskriptstapel der insgesamt siebzehn Jahrbücher – drei bei Claassen, neun bei Luchterhand, inzwischen fünf bei C. H. Beck – dürfte ca. drei Stockwerke (Altbau) hoch sein, gut 80.000 Bände haben ihre Leser gefunden: die durchschnittlich 4.700 verkauften Exemplare pro Band liegen um einiges über den heute üblichen Gedichtbandzahlen, die meist als „irgendwo zwischen 600 und 1.200“ beziffert werden, aber deutlich unter denen vielbesprochener Anthologien wie etwa Andreas Thalmayers Wasserzeichen der Poesie (1990) oder Raoul Schrotts Erfindung der Poesie (1997), Harald Hartungs Luftfracht (1991) oder Joachim Sartorius’ Atlas der neuen Poesie (1995). Anders als diese große und sehr große Zeiträume überblickenden Anthologien ist das Jahrbuch mit der unmittelbaren Gegenwart befaßt, es stellt stets neue Autoren vor: die Zahl derer, die im Jahrbuch zum ersten Mal publiziert wurden und dann mit eigenen Bänden ihren Weg gemacht haben, ist beträchtlich. (Magister-Kandidaten, an die Arbeit!) Welche Gedichte aus den siebzehn Bänden, nach Jahren wiedergelesen, sich als „haltbar“ erweisen, das wäre – möglicherweise – eine eigene Anthologie wert.

II
Stattdessen haben sich die Herausgeber dieses Jahrbuches lieber über die aufgefordert und unaufgefordert eingesandten Gedichte gebeugt und unisono festgestellt, daß sich diesmal eine andere Leserichtung und also Kapiteleinteilung fast wie von selbst anbot: in Gedichtgruppen, die sich mehr durch verwandte Tonlagen und Formen auszeichnen denn durch benachbarte Inhalte, und zu einem großen Choral fügen, dessen lateinisch überschriebene Grundtonart dem Leser als Orientierung und Anregung dienen möge.

III
Die Überlegungen des Kästner-Preisträgers Robert Gernhardt zum Verbessern von Gedichten und zur Befindlichkeit von Preisträgern haben uns so eingeleuchtet, daß wir sie dem Band vorangestellt haben: im zweiten Kapitel findet sich nahezu die ganze legendäre Wiener Gruppe wieder vereint: im dritten hat Zsuzsanna Gahse als „Blick zum Nachbarn“ eine kleine Anthologie ungarischer Gegenwartslyriker zusammengestellt (allen Dank dafür!), aufschlußreich scheinen uns auch die Gedichte von Autoren, die in zwei Sprachen zu Hause sind oder in „kleinen Sprachen“ wie dem Jenischen oder in computergenerierten Codes. Und weil das Jahrbuch immer wieder auch die Brückenbauer zwischen Poesie und bildender Kunst berücksichtigen will, beschließt Jochen Gerz, den die Leser schon aus vorangegangenen Jahrgängen kennen, dieses siebzehnte Jahrbuch.

Christoph Buchwald und Raoul Schrott, Nachwort

 

Seit nunmehr 20 Jahren

erscheint das Jahrbuch der Lyrik, herausgegeben von seinem „Erfinder“ Christoph Buchwald und einem zeitgenössischen Lyriker als jährlich wechselndem Mitherausgeber. Jahr für Jahr versammelt es etwa 100 neue, bislang in Büchern unpublizierte Gedichte – als Querschnitt dessen, was in der deutschsprachigen Lyrikszene passiert. Es zeigt, in welchen Formen, in welcher Sprache Gedichte auf Zeit, Gegenwart, Epoche, auf Lebensgefühle und Stimmungen in Lande reagieren: vom freien Rhythmus bis zum strenggefügten Sonett, vom lockeren Prosagedicht bis zur konkreten Poesie, vom lapidaren Vierzeiler bis zum optischen Lautgedicht…
Viele inzwischen namhafte Autoren debütierten im Lyrik-Jahrbuch, andere veröffentlichten regelmäßig darin, von Jürgen Becker bis zu Ror Wolf, von Adolf Endler bis Raoul Schrott, von Robert Gernhardt bis Thomas Kling und von Michael Krüger bis Durs Grünbein. Die Summe der Jahrbücher ist die Anthologie, die das deutschsprachige Gedicht in diesem ausgehenden Jahrhundert umfassend und angemessen repräsentiert und seine Entwicklung und seine Suchbewegungen lebendig dokumentiert.

C.H. Beck Verlag, Klappentext, 1999

 

Verse fürs Verbessern?

Die Lyriker des vergehenden Jahrhunderts sind die des kommenden. Lyrik des 20. Jahrhunderts wird Lyrik im 21. Jahrhundert sein. Wie nicht anders zu erwarten, wenn, erwartungsgemäß, Christoph Buchwalds Poesie-Periodikum als Jahrbuch der Lyrik 2000 auftaucht. Die Älteren und Abonnenten vieler Ausgaben, die Herrn Artmann bis Rühmkorf, werden nun wirklich alt. Die Jüngeren, von Braun bis Sartorius, werden älter. – Das Lyrik-Jahrbuch also ein sicherer Alterssitz?
Die Jüngsten, von Beyer bis Stolterfoht, scheinen sich einzurichten und zu keinem Bildersturm mehr bereit. Gut, daß es den Robert Gernhardt gibt. Kurz entschlossen hat sich der Altersgrenzgänger eines weisen Dichters bemächtigt – sein Name sei möglicherweise Brecht – und dessen Dichtung nach besten Kräften verbessert. Wenn das kein Schritt ins nächste Jahrhundert ist! Das Jahrbuch riskiert den Jahrhundertschritt, indem es sich auf eine Allianz des 18. Jahrhunderts einläßt. In der Sammlung stehen Wiener und andere Österreicher Seite an Seite mit den ungarischen Nachbarn. Was haben Buchwald und sein diesjähriger Mitherausgeber Raoul Schrott da bloß aus dem Haufen der eingesandten Gedichte herausgeholt? Mehr Spreu als Weizen? Wunder finden anderswo statt. Garantiert nicht in der Silvester-Neujahrs-Nacht, in der vier Zahlen ausgetauscht werden. Am ersten Tag des nächsten neuen Jahres wird alles beim alten bleiben. Wie in der Anthologie. Pech gehabt! Glück gehabt! Ob was von dem bleibt, was in den Jahrbüchern war? Den „Das bleibt“-Diktator Jörg Drews fragen? Der den Daumen senkt? Der an so manchen Namen nicht vorbeiging, die in den Jahrbüchern Sitz und Stimme hatten. Wer Schritt mit dem 21. Jahrhundert hält? Die nächste Generation hält das Fallbeil bereits bereit. Gewisser ist nichts. Gut werden die Gedichtemacher dran sein, deren Verse fürs Verbessern taugen.

Sven Sagé, luise-berlin,de

 

 

Christoph Buchwald: Selbstgespräch, spät nachts. Über Gedichte, Lyrikjahrbuch, Grappa

Das Jahrbuch der Lyrik im 25. Jahr

Jahrbuch der Lyrik-Register aller Bände, Autoren und Gedichte 1979–2009

Fakten und Vermutungen zum Jahrbuch der Lyrik

 

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shi 詩 yan 言 kou 口

 

Raoul Schrott im ORF Interview bei Treffpunkt Kultur am 24.10.1997, Teil 1/2.

 

Raoul Schrott im ORF Interview bei Treffpunkt Kultur am 24.10.1997, Teil 2/2.

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