Hugo Huppert & Roland Links (Hrsg.): Verlassener Horizont

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hugo Huppert & Roland Links (Hrsg.): Verlassener Horizont

Huppert & Links (Hrsg.)-Verlassener Horizont

ALS DAS EIS BLÜHTE

Als das Eis blühte,
bebten die Bäume,
denn von Kristall waren
Blume und Blatt.

Tausendmal gebrochen,
schwer und undurchlässig
hing von Zweig und Nadel
das gefrorene Licht,

und das Eis blühte
schön und ungeheuer.
Doch die es betraf,
hielten dem Wunder nicht stand.

Eva Loewenthal

 

 

 

Nachwort

Österreichs Jetztzeitdichtung – soweit sie sich im „lyrischen Ich“ und in dessen Umfeld ergeht – kann immer noch mittelbar auf zwei inspirative oder modulative Vorausgegebenheiten hinweisen, die, von Generation zu Generation mehr verdünnt und mehr verwischt, deutlich als Spurenelemente nachwirken und eine Art Erbcharakteristikum verraten.
Der eine Faktor ist musikalischer Natur und geht zurück auf den historischen Dilemmazustand während der Reaktion vor 1848/49, als man die Unfreiheit des Wortes gewissermaßen mit dem Aufschwung der klassischen und romantischen Tonkunst kompensierte. Man kennt die literarische Drosselung durch Metternichs Zensur mitsamt der Zurücknahme all der aufklärerischen Denkungsarten und josephinischen Reformen, die dem österreichischen Schriftwesen sozialen Schwung und Auftrieb verliehen hätten, wären sie nicht unterdrückt, sondern weiterentwickelt worden. So aber entfalteten sich mehr die Werte einer sprachmusikalisch verfeinerten Innerlichkeit; die Dichtkunst bezog gleichsam die Positionen melodischer Melancholie, schöngeistiger Sammlung und Reserve. Als Verspoet war weniger der leidend aufbegehrende Grillparzer tonangebend als vielmehr der einlenkende und sich ins Schicksal fügende. Und geringere Auswirkung fand Lenau als flammend begeisterter Freiheitsdichter („Polenlieder“, „Faust“, „Albigenser“) denn als Sänger gesellschaftlicher Enttäuschung und Weltschmerzromantik.
Der andre Faktor, der die Lyrik Österreichs alsdann zusehends kräftiger mitbeeinflußte, war die Hereinstrahlung tschechischer, polnischer, magyarischer Motive, Gefühlslagen, Seelenzustände, gestalterischer Formqualitäten.
Seit Beginn der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts jedoch werfen beschleunigte Prozesse des großen, umfassenden Formationszerfalls der Habsburgermonarchie ihren Schatten aufs Feld des dichterischen Schaffens. Die im Reich des Doppeladlers aufgewachsenen deutschsprachigen lyrischen Geister reflektieren, ohne die erreichte Eleganz und Raffinesse der Ausdrucksform zu senken oder gar preiszugeben, mehr und mehr einen angsttraumhaften Schwebezustand einer müde und morbid gewordenen Umwelt. Die voreinst antireformatorische, erzfeudale, bis in die Zeit der „Heiligen Allianz“, in die restaurative Mentalität Franz des Zweiten und Franz Josefs des Ersten hineingeisternde Barockgesinnung hat zwar auf Nestroy (den Überwinder des Jesuitentheaters) keineswegs mehr eingewirkt, hingegen auf Raimund noch ganz erklecklich. Das Barock lebt und webt subtil in jeder Zeile, die der Österreicher Hofmannsthal je zu Papier gebracht hat; ja, es feiert fröhliche Urständ in den Burlesken eines Herzmanovsky-Orlando, taucht überraschend und bestürzend wieder auf in schnurrigen Erscheinungen wie Hans Carl Artmann, in den verschrullten Versgebilden Andreas Okopenkos, sogar in gewissen Sprachverschnörkelungen der Neutönerin Friederike Mayröcker („Tod durch Musen“, „Arie auf tönernen Füßen“), bei der sich metaphysische Theatralik schon mit grotesk-manieristischen Popkunstelementen amalgamiert.
Der Untergang des Reiches „Kakanien“, wie Robert Musil findig die k. k. Doppelmonarchie benannt hat, gespenstert vorausgeahnt und vorweggenommen bereits in der fortschrittsfremden, antiurbanen, am Vorbild der französischen Décadence-Lyrik geschulten und hochgezüchteten Moderne der Wiener und der deutschsprachigen Prager Dichter der Jahrhundertwende. Diese österreichische Moderne schöpft aus dem Füllhorn der deutschen Romantik ihren Grundstoff, meidet aber funkensprühende Elementargeister oder Naturdämonen – etwa den Satyr Heinrich Heine mit seiner revolutionär eingefärbten „romantischen Ironie“ −, wie man das Feuer meidet. Die Vorahnungen des Allmählich-den-Boden-Verlierens und Sterbens werden in Gedichten und Lyrogrammen nicht etwa opponierend laut und streitbar, sondern in bittersüßer Resignation als Fatum und Wehmutmotiv verschmerzend, verwindend bewältigt. Vorwaltende Tonalität in sprachgeadelter Verfeinerung: „gab mir ein Gott, zu sagen was ich leide“. Wie denn bei Rilke weniger im lyrischen Schaffen Hofmannsthals mit seinem parfümgesättigten Jugendstil-Zauber und seinem Vergänglichkeits-Weltgeheimnis – das Moment einer recht vordergründigen modernistischen Schein- oder Als-ob-Religiosität die Ästhetik des Verses mitbestimmt, und zwar nicht im Geiste einer transzendentalen Weltschöpfungsmagie, sondern mehr dekorativ-symbolträchtig, visionär, imaginativ, beispielsweise durch Einbindung in den (an sich rein katholisch fundierten) Marienkult, der bei Rilke der Andachtbereitschaft und Erbauungssehnsucht des bürgerlichen Lesers Rechnung trägt. Gottsuche und Gottbeschwörung, die der vom imperialistischen Zeitalter genährten und gesteigerten Weltangst des Bürgers entgegenkommen, gehen in Rilkes lyrischer Produktion allmählich über in pseudorealistische Figurationen, in gestaltete Liebe zu den konkreten Dingen, ins beseelende Schildern der Ding-Erscheinung, ins fast vergottende Belauschen der Dinggebärde, welches freilich indifferent gesellschaftlich neutral, unverbindlich, nichtverpflichtend bleibt.
Diese soziale Indifferenz des Hofmannsthalschen und des Rilkeschen lyrischen Ästhetizismus, ob nun in feierlicher Hymnik, ob im Andachts- oder im Dinggedicht, in gewissem Maße formal ein Widerhall oder Nachhall französischer Modernismen, etwa der Rimbaudschen Prägung, konstituiert einen vielfach daheim nachgeahmten österreichischen Symbolismus (Schaukal, Politzer, Leifhelm, Waldinger, Weinheber, Leitgeb, Busta), welcher dann partiell im Expressionismus österreichischer Spielart aufging, wobei in dem Maß, wie diese Transformation vor sich ging, die soziale Thematik und Problemwelt ins Gedicht einströmte. Bei den mit Recht schon im Klassikerrang anerkannten Belle-Epoque-Sprechern Hofmannsthal und Rilke schaltet und waltet eine Art rückwärtsgewandter romantischer Antikapitalismus, wie ihn notabene verarmte aristokratische Familien des Jahrhundertbeginns organisch empfunden, gepflegt und geäußert haben. Für diese Dichter der Gehobenen ist Kapitalismus gleich Urbanismus, Großstadtzerfahrenheit. Von der eigentlichen Entäußerung und Entfremdung alles Menschlichen unter der Kapitalherrschaft haben sie kaum eine Ahnung. Die Ausgebeuteten sind für sie simplerweise „die Armen“, „Enterbten“, „Ausgestoßenen“. – „Es ist, als ob ein Trug sie täglich äffte…; / das Geld wächst an, hat alle ihre Kräfte“ (Rilke). Proletarier ist für Hofmannsthal einfach der Bettler, von Krankheit Befallene, der Diener, Almosenempfänger, Heimatlose, der plebejische Greis, der Gärtner; auch bei Rilke ist es der beklagenswerte Vagabund, Tippelbruder, Bettler, Obdachlose, Aussätzige. Eingliederung dieser bemitleidenswerten Armen ins harte Stadtmilieu ist einzig schuld an ihrem Elend, ihrem Dulderschicksal, meinen die Dichter-Ästheten und spenden den Opfern der Industriegesellschaft Mitgefühl, Mitleid, Sympathie. Das Haupt des hohlwangig Verkümmerten, Erwerbslosen, Erbarmungswürdigen empfängt gar einen Heiligenschein. Denn „Armut ist ein großer Glanz von innen“ (Rilke). Seltsam genug, daß sogar bei Werfel herablassendes Mitempfinden mit dem Landstreichergeschick, mit den Leiden betrogener Vorstadtmädchen, den gealterten Kinderfrauen, den Opfern des Kriegs und des „Unrechts aller Schöpfung“ nicht abgelöst wird von Tönen bestimmteren, konkreteren Protestes. Eine Haltung des Expressionisten, die fast wie anachronistische Ausflucht anmutet, aber in Österreichs Lyrik bis in spätere Jahrzehnte Schule gemacht hat, besonders das religiös-metaphysische Dichten (Christine Lavant beispielsweise) angesteckt und durchdrungen hat, zumal Werfel in seiner eigenen Spätzeit-Bekehrung die Katholische Inbrunst kultiviert hatte:

Und ich werde, hingekauert,
jenes ersten Sanktus inn’,
während mich die Scham durchschauert,
ob ich seiner heilig bin.

Doch auch der lyrische Realist Theodor Kramer erbarmt sich meist allzu bedauernd und mitleidspoetisch des Tagelöhners, des Deklassierten, des Zerlumpten, Abseitigen, Hilflosen, Ausgesteuerten, fröstelnd Abgefundenen; er äußert Liebe zu den Darbenden, Affinität mit dem Schusterlehrling, dem Bäckerbuben, dem jüdischen Hausierer, dem karg Verabschiedeten, dem Auswanderer, dem Trinker aus Verzweiflung. Keine Regung echter Resistenz. Kramers Mutter ist im Januar 1943 im KZ Theresienstadt von nazistischen Henkern ermordet worden; dennoch schreibt er das „Requiem für einen Faschisten“ (Sommer 1945), einen gefallenen SS-Mann:

Du warst in allem einer ihrer Besten,
erschrocken fühl ich heut mich dir verwandt;
du schwelgtest gerne bei den gleichen Festen
und zogst wie ich oft wochenlang durchs Land…
Ich hätte dich mit eigner Hand erschlagen;
doch unser keiner hatte die Geduld,
in deiner Sprache dir den Weg zu sagen:
dein Tod ist unsre, ist auch meine Schuld.

Welche Ungeheuerlichkeit, Wahnwitzverirrung eines großen Dichters; hier ist das Christenwort „liebe deine Feinde!“ nicht nur unangebracht, unzeitgemäß, sondern gradezu unchristlich – weil es der Barbarenmentalität huldigt und der Antihumanität Vorschub leistet.
Was dem unvoreingenommenen Leser auffällt, ist eine für den Großteil bürgerlicher Dichtkunst in Österreich kennzeichnende Orientierung an vorkapitalistischen, vorindustriellen Zuständen. Die sieben Bedrängnisjahre des kriegerisch-brutalen Zwangsanschlusses, genauer: der Annexion durch Nazideutschland, haben den Geist und Ungeist einer alteingewurzelten, bodenständigen österreichischen Nostalgie nicht brechen, nicht tilgen können. Es ist nach 1945 sozusagen aus dem Untergrund wiedererstanden, nicht unbedingt als Hang zur „guten alten Zeit“, doch immerhin mit den Insignien von Indolenz, Heurigenkult, Naschmarktständen für die mittleren Stände, Radetzkymarsch-Reminiszenzen, Walzerklängen, gemütlichkeitsbetontem Widerstreben gegen alles Rationale und Radikale. Die von Karl Kraus leidenschaftlich bekämpfte Zivilisation des „Kasmaders“, des anbiederungssüchtigen Spießers, des gesinnungslosen Pfahlbürgers, der hernach sieben magere Jahre lang sich ans Hitlertum duckmäuserisch angepaßt hat, schiebt sich wie eine speckige Polsterung zwischen Arbeiterklasse und (Geld-)Aristokratie, nachgiebig federnd, biegsam den Zusammenprall hemmend, zum jeweiligen Machthaber emporschielend. Der begabte Schauspieler-Poet-Literat Helmut Qualtinger hat für die Nachhitlerzeit diesen neuen „Kasmader“ in der Gestalt des berühmt gewordenen „Herrn Karl“ gültig verewigt. Ein sehr hochgestochen sublimiertes, veredelt hinaufdestilliertes Wesensabbild oder Idol dieses österreichischen Kleinbürgerphänomens kann man nun freilich in der Persönlichkeit Rainer Maria Rilkes erblicken; Sohn eines kleinen k.k. Eisenbahnbeamten, beteuert er den absolut unpolitischen Charakter seines Denkens und Fühlens, legt aber im Briefwechsel mit einer seiner adligen Verehrerinnen, der Herzogin Gallarati-Scotti, folgendes Bekenntnis zum Faschisten-Duce Mussolini ab: „Glückliches Italien!“ – denn es hat zum Führer „den Architekten des italienischen Willens, den Schmied eines an der Flamme eines alten Feuers neu auflodernden Bewußtseins“. Dieses Gelegenheitskredo des Dichters wird ergänzt durch seine strikte Verwahrung gegen die Zumutung von Kritikern: er, Rilke, habe „Soziales“ im Sinn, führe „Sozialreformerisches“ im Schilde. Schlagartig reagiert er mit resolutem Hinweis auf „die berechtigte Unparteilichkeit des künstlerischen Ausdrucks“. Rilke verbürgt sich:

… Wenn ich irgendwann die imaginären Stimmen des Zwerges oder des Bettlers in der Form meines Herzens ausgießen konnte, so war das Metall dieses Gusses nicht aus dem Wunsche gewonnen, der Zwerg oder der Bettler möchte es weniger schwer haben; im Gegenteil, nur durch Rühmung ihres unvergleichlichen Schicksals vermochte der zu ihnen entschlossene Dichter wahr und gründlich zu sein, und er mußte nichts mehrfürchten und ablehnen als eine korrigierte Welt, darin die Zwerge gestreckt sind und die Bettler bereichert. Der Gott der Vollzähligkeit sorgt dafür, daß diese Varietäten nicht aufhören…

Rilke hebt vollends die „Freude des Dichters an dieser leidenden Vielfalt“ hervor, an der begrüßenswerten Gegenüberstellung der Begriffe „reich und arm“.
Wenn man nach dieser wichtigen Erfahrung nunmehr die Lyrik Paul Celans einer gründlicheren Betrachtung unterzieht, dessen österreichische Tönung und eher vom grüblerischen, psychagogischen Georg Trakl als vom formgewandt brillierenden Rilke herkommende Innigkeit nichts gemein hat mit frommer sozialer Resignation oder tolstojanischer „Nichtwidersetzung gegen das Böse“, so entdeckt man, ganz abgesehen von den frühen starken, antifaschistisch plakativen Versen für den republikanischen Freiheitskampf in Spanien und der vielzitierten zündenden „Todesfuge“, einen spezifischen Celanschen Zeitprotest und subtilen Anklagewillen:

Es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird…

oder:

Welchen der Steine du hebst –
du entblößt,
die des Schutzes der Steine bedürfen,
nackt…
Welches der Worte du sprichst –
du dankst
dem Verderben

oder:

Zur Tränke gingen wir, Herr.
Es war Blut, es war,
was du vergossen, Herr

oder:

Fruchtblatt, augengroß, tief
geritzt, es
harzt, will nicht
vernarben

… Hier ist, trotz surrealistischer Ausdrucksmittel, eine implikative, dem Du und Wir zugeordnete Anrede-Lyrik ertastet und gewonnen, die weit über die Schranken des bürgerlich zahmen, philanthropisch abstrakten Wohlmeinens und Wohlwollens hinauszielt.
Entschieden abgewandt vom sterilisierten monologischen Establishment-Symbolismus bewegen sich die „Worte in Versen“ von Karl Kraus, die strophischen Schöpfungen von Berthold Viertel, endlich die zutiefst humanistischen, stimmungsintensiven, bildhaft eindringlichen Lyrismen von Ingeborg Bachmann auf unterschiedlichen Schaffensbahnen, deren imaginative Querverbindung in kulturkritisch antibourgeoiser, antinationalistischer Kriegsgegnerschaft und Friedensliebe beruht. Damit stehen diese Menschenfreundschafts-Propagandisten in einem mittelbaren ideellen Verwandtschaftsverhältnis auch zu Poeten, die als österreichische Naziopfer unvergeßbar bleiben, so verschiedenartig ihre literarische Hinterlassenschaft sich ausnehmen mag. Der als Lyriker auf einer kritisch-realistischen Basis der Gedankenwelt von Karl Kraus und der Poetik Berthold Viertels eng verbundene Franz Theodor Csokor hat auf mannigfache Art die antifaschistische Ideenwelt ins Gedicht getragen und ist als Senior der bürgerlich hitlerfeindlichen Emigration, ähnlich wie der ihm seelenverwandte sozialdemokratische Dichter Fritz Brügel, ehrenvoll in die Nachkriegsgeschichte der österreichischen Literatur eingegangen. Csokor bildete in kunstpolitischer Hinsicht gewissermaßen das Gegenbild zu dem auf katholisch-konservativer Linie produzierenden Rudolf Henz, dem wiederum als sozusagen konservativaltständischer Neuromantiker Max Mell nahesteht. In dieser Reihe der „Altmeister“-Poeten hat nach seiner Heimkehr aus dem britannischen Exil auch Felix Braun sein differenziertes Kolorit hineingetragen.
Wesentlich und redlich auf Neuerung bedacht, wenngleich an überlieferte Formstrukturen anknüpfend und immer wieder zurückgreifend auf seinen bevorzugten rustikalen Stoffkreis, bedeutet – neben dem urbanistischeren Hans Heinz Hahnl und Johann Gunert – der bedächtige Lyriker Wilhelm Szabo eine dichterische Zentralfigur, um die sich (als Niederösterreichs „Podium“-Gruppe) mehr oder minder ähnlich Veranlagte sammeln, darunter beachtliche poetische Begabungen wie Alfred Gesswein, Alois Vogel, Kurt Klinger, Ilse Tielsch-Felzmann, Doris Mühringer, Hermann Jandl, Ernst Nowak, um stellvertretend für zwei Dutzend Namen nur die bekanntesten zu nennen. Nicht nur, daß bei Szabo und seinen Freunden die Mühsal und Naturnähe der dörfischen Arbeitswelt markant Ausdruck fand in meist vortrefflich gereimten Strophen. In Szabo vollzieht sich ein mentales Geheimtreffen mit keinem Geringeren als dem zärtlichen Naturpoeten Nikolaus Lenau, der ja zugleich der leidenschaftliche Freiheitsdichter war, ereignet sich ein inwendiges geistiges Rendezvous auch mit Meister Theodor Kramer, dem feinsinnig-reizbaren Freund der Werktätigen. Im einfühlsamen Nachdichten bewährt sich Szabo an Sergej Jessenin. Mit der gemäßigten Moderne der „Podium“-Leute verband sich ihr Streben nach einem neuen, breiteren Publikum. Mittels intensivierter Flugzettelaktionen, Lesungen auf Straßen und Plätzen, in Fußgängerzonen und -passagen, in Mittelschulen, Kranken- und Gefangenenhäusern, in öffentlichen Gastlokalen, Kunstgalerien, Kinovestibülen wird (zunächst in Wien) das Insassen- und Passanteninteresse für Dichtkunst und schöne Literatur bei Leuten geweckt, die ansonsten nur die nüchterne Forderung des Tages und – neben der Massentobsucht des Leistungssports – nur den Zugzwang der Konsumbesessenheit kennen. Durch Blickfang und optisches Signal in Form von Fotozitaten wollen die „Podium“-Autoren die geschäftig Vorbeihastenden aufhalten und ihnen Zusammenhänge zwischen Bild und Wort suggerieren, ihnen Existenz der Poesie manifestieren, ihnen Anregungen vermitteln zur eigenen Auseinandersetzung mit Gegenwartsliteratur.
Nach dem Starrkrampf der tödlichen, geistfeindlichen Nazijahre und der blutigen Katastrophe des Unterfangens, aus Besatzungszonen, Generalgouvernement, Protektorat, „Ostmark“ usw. ein kolonialisiertes „Fleckerlteppich“-Europa zusammenzubasteln, kurz: nach dem ruhmlosen Kladderadatsch des „Dritten Reichs“ durchmaß ein Teil der radikalen, keinem weiteren nostalgischen Schwächeanfall unterlegenen dichterischen Intelligenz Österreichs ziemlich rasch den Weg zur Abschaffung aller Traditionen und Erbgüter der Wortkunst. Es wurde „tabula rasa“ gemacht, Platz frei gemacht für den pionierhaften Bildersturm. Auch hier nicht ohne Modellüberlieferung, Vorausmuster, also „Tradition“. Wie es Gutzkow seinem Rabbi Ben Akiba in den Mund gelegt hat: „Alles schon dagewesen.“ Ob die verbalen Umstürzler der fünfziger Jahre, die sich lose als Wiener Gruppe konstituierten, auf die Wortballungen und Schrei-Expressionismen des von Herwarth Walden geförderten August Stramm zurückgriffen oder mehr zum vor einstigen Dadaismus neigten – Anstöße zur Veränderung des real Bestehenden, der sozialen Ordnung gingen von ihnen nicht aus. Gerhard Rühm und Friedrich Achleitner, Konrad Bayer und Oswald Wiener verband hauptsächlich der Wille zum destruktiven Hineinwirken ins Sprachgewebe, in die Basis der breiten Kommunikation. Dazu gehörte auch die gelegentlich forcierte Anwendung einer regional engbegrenzten mundartlichen Artikulation. Die vermeintlich und vorgeblich „antibürgerliche“ Sprengung der literarischen, stilistischen und grammatikalischen Formenwelt ist als rigoroses Experiment bemerkenswert. Eine solche Haltung jedoch „revolutionär“ oder „innovatorisch“ zu nennen verrät sozialhistorische Ahnungslosigkeit.
Die kurzlebige Wiener Gruppe mußte zerfallen, weil sie ihrer Natur gemäß keine Fühlung, geschweige denn einen Zusammenschluß mit der Arbeiterbewegung finden konnte und weil sie anderseits durch ihre sektiererische Einkapselung und Selbst-Isolierung auch vom bürgerlichen (an marktgängige Vermittlungen gewöhnten) Publikum meilenweit entfernt blieb. Was von der „Gruppe“ sozusagen als dichterisch kreative Nachhut sein eigenes abgelöstes Dasein fortfristet, beschränkt sich im Grunde auf zwei Persönlichkeiten: H.C. Artmann und Ernst Jandl, die an der Methode der subjektivistischen Praxis einer Form- und Sprachauflösung festhalten, deren Poetik freilich mehr irreal als surreal geartete Ziele verfolgt. Dem politischen Inhalt nach bleiben Artmann und Jandl dem anarchistischen Utopismus der „Gruppe“ treu, welcher – zutiefst kleinbürgerlich – sich im wirkungslos konfusen Protest gegen rational verwaltete, staatsmonopolistisch gelenkte und „ideologisch“ manipulierte Lebensweisen zu erschöpfen droht. Dabei entfernen sich Jandl und Artmann zusehends von ihren besten lyrischen Ansätzen und Leistungen, in welchen sie volksnah waren (Artmanns Med ana schwoazzn Dintn, 1958) bzw. realistische Antikriegsstimmungen kultivierten. Es kann nicht wundernehmen, daß gewisse Großverlagshäuser der westdeutschen Bourgeoisie, sich als „aufrührerisch“ tarnend, gerade diese österreichische Pseudo-Avantgarde marktschreierisch auf den Schild heben und der gestikulativen Wiener und Grazer Sprach-Aleatorik – als harmlosem Klassenkampfersatz – ihren kostspieligen Werbungsapparat zur Verfügung stellen. So wurde unter anderem auch der schwindelerregende Senkrechtstart und die Karriere eines Peter Handke künstlich bewerkstelligt und zweckbewußt finanziert. Das exklusive Profitdenken eines Teils der BRD-Verlegerschaft fördert und ermutigt das von (an sich hochbegabten) österreichischen Dichtern erpicht und verbohrt praktizierte Problematisieren und Infragestellen, Entmaterialisieren – und Entmachten der Sprache, deren seit Jahrtausenden beglaubigte kommunikative Funktion als Aussagemittel „ausgedient“ haben soll. Wer auf der Frankfurter Buchmesse als lyrischer Österreicher das Rennen macht, ist nicht mehr der Neutöner, sondern der Nihilist von der paralogischen oder transmentalen Couleur. Importartikel: Wortakrobatik und Silben-Äquilibristik. Das semantische Sinngefüge einer Wortfolge, eines Satzbaus, wie er dem Visionärpoeten Paul Celan in seinen Surreal-Lyrismen noch als Ausdrucksmittel gedient hat, ist etwa bei Ernst Jandl den Versuchsreihen gewichen, welche nur noch aus Sequenzen von Konsonanten bestehen, dann wiederum den Texten, die z.B. das Zeitwort ausschließlich in der Infinitivform verwenden. Man kann nach dem Zusammensturz des sinn-entleerten Gedichts eine Atomisierung des Wortes feststellen, wobei man durchaus „gekonnt“ verfährt und solch artifizielles Vorgehen auch „könnerisch“ begründet.
Die Befreiung vom Faschismus und das Wiedererstehen Österreichs 1945 aus der Zwangsvermummung einer „Ostmark“ erschien vielen einheimischen Lyrikern irrigerweise als erlösender Sprung aus jederlei Erbe und Überlieferung in eine absolute Nullpunktsituation des modernen Künstlers. Solch durchgreifend bedingungsloser Impuls konnte in der Nachkriegszeitspanne gar nicht wundernehmen und hatte gewiß auch sein regenerativ Gutes. Mit unterschiedlicher Intensität durchlebten diese Regung Gerhard Fritsch, Hermann Lienhard, Christine Busta, Jeannie Ebner, Wieland Schmied, Christine Lavant, Juliane Windhager, Ilse Tielsch-Felzmann und viele andre. Einer von ihnen, der Kärntner Lyriker Heinz Pototschnig, unterstrich mit Recht die explosive Wucht und kreative Bedeutung der durchs Ende des Hitlertums freigewordenen Geisteskräfte. Betroffenheit und Abwehr muß jedoch Pototschnigs Kredo auslösen:

Das gegenwärtige Gedicht ist der bewußte oder unbewußte geistige Protest des Individuums gegen den Kollektivismus; es ist die Kampfansage des Einzelerlebnisses und der privaten Schau der Dinge gegenüber der Verformung durch Massenmedien; es ist das Bestreben, die Existenz und Schicksalhaftigkeit des Einzelnen vor dem Kollektiv zu demonstrieren…

Danach wäre der Einzelne am stärksten im Alleingang. Der Jedermann zerfiele in streng private Jemands, in asoziale Moleküle, das Gemeinwesen in hilflose Individual-Schlemihle.
Daß eine poetische Abriegelung oder solipsistische Schlemihlisierung des zeitgenössischen Menschen auch im „neutralen“ Österreich auf wirklichkeitsfremde Abwege führt und zurückgewiesen wird, das bekundet und erhärtet die reale Gegenprobe, die vermehrte Hinbewegung der Dichter zur Arbeiterklasse. Sie befolgen mit wachsendem Engagement Bertolt Brechts Forderung:

… such dir die Punkte aus, wo die Realität weggelogen, weggeschoben, weggeschminkt wird! kratz die Schminke an! widersprich, statt zu monologisieren!…

Die Monologisierer sind zahlreich, doch wirkungsarm – auch dort, wo sie gelegentlich ins Kulinarische zurückverfallen. Fortschrittliche Traditionen auch der politischen Lyrik und des Zeitgedichts sind in Österreich, dem Lenauland, lebendig geblieben; sie setzen ihre Kraft für Friedenssicherung, Völkerfreundschaft und die Interessen der Werktätigen ein; ihr Avantgardismus steht im Zeichen der Arbeiterdemokratie; ihre Überlieferungen kommen, in vielfacher Wandlung, von Whitman, von Verhaeren, von Majakowski, von Neruda und Brecht. In Österreich ist die Kraftlinie proletarisch-revolutionärer Dichtung am besten von Jura Soyfer vermittelt und fortgesetzt worden. Schreiber dieser subjektiven Betrachtungen halt als Lyriker in elf Gedichtbüchern konkret (wenngleich beileibe nicht im Sinne der „konkreten Poesie“) dem Sozialismus zu dienen gestrebt und eine zuletzt implikative Methode erarbeitet. Einer jüngeren Generation gehören der im Kampflied und Satiren-Genre bewanderte talentvolle Heinz Rudolf Unger und. der formgewandt-bedächtige Arthur West an, engverbunden der Wiener Arbeiterschaft. Ermutigend wirkt der realistische Lyrismus Michael Scharangs, welcher, brechtisch inspiriert, unverwechselbar eigenständige Formzucht erreicht hat. Der im freiwilligen Exil lebende Erich Fried ist, nach überwundenem Gelüst zur Wortspielerei, zum Sprach-Marionettentum, in eine meisterlich den Leiden und Kämpfen der Werktätigen, dem Aufbegehren der Unterdrückten und Gepeinigten zugeordnete Phase eingeschwenkt. Im Medium seines streitbaren Einzelgängertums ist der Antifaschist Michael Guttenbrunner trotzdem als lyrisch dem Ringen der Arbeiterklasse wahlverwandt zu bezeichnen. Aus Tirol stammen zwei ganz junge dichterische Begabungen: Gerhard Kofler und Marie-Therese Kerschbaumer, deren vielversprechendes poetisches Engagement auf kommende sozialistisch-realistische Dimensionen hinzielt. – „Wir waren zurückgeblieben, um ganz vorne zu sein“, schreibt Kofler, „in den stimmen des widerstands; / wir sagten uns wesentliches, obwohl kaum ein wort fiel, / wir sprachen mit der geschichte…“ Auf dies Gespräch, auf solche Stimmen ist Verlaß.

Hugo Huppert, Nachwort, 15. April 1979

Editorische Nachbemerkung

Die besondere politische Note dieser Anthologie, Ergebnis der Beschränkung auf die letzten vierzig Jahre, war anfangs nicht beabsichtigt; sie ergab sich aus ihrem Gegenstand. Ursprünglich sollten die nach Ansicht der Auswählenden besten Verse jener Dichter des 20. Jahrhunderts gefunden werden, die als Repräsentanten ihrer Heimat auch im Ausland bestehen konnten. Eine Art Blütenlese also, die leichtgefallen wäre, wenn man es nicht ausgerechnet mit Österreich zu tun gehabt hätte. Denn das, was sich mit diesem Namen verbindet, hat sich im Verlaufe dieses Jahrhunderts mehrmals grundlegend gewandelt – in politischer Hinsicht wie auch im vielschichtig-kontroversen Urteil der Österreicher selbst. Welches Österreich beispielsweise hätte Trakls Gedichte repräsentiert? Die kaiserlichkönigliche Monarchie, vielleicht im Geiste jenes Mannes, auf den Hugo von Hofmannsthal sich berief, als er mitten im ersten Weltkrieg, 1916, eine Österreichische Bibliothek im Insel-Verlag herausgab: Philipp Graf Stadion? Oder mehr im Geiste Maria Theresias, den der gleiche Hugo von Hofmannsthal 1918, im Bewußtsein der bevorstehenden Katastrophe, heraufbeschwor? Was dann noch von Österreich blieb, war, durch den Frieden von St. Germain zur Selbstbehauptung gezwungen, der „Staat wider Willen“, über den viel geschrieben, gerätselt, geklagt wurde. Willkommenes Thema dieses gesellschaftlichen Gebildes, das sich selbst nicht traute, wurde sein kleinster Bestandteil, der homo austriacus, dessen Wesen viele zu bestimmen suchten – Hugo von Hofmannsthal im Insel-Almanach von 1919, Anton Wildgans 1929 in seiner nach 1945 so oft zitierten „Rede über Österreich“, der zufolge sich vor 1918 „der Begriff des gemeinsamen Vaterlandes nur durch einen komplizierten staatsrechtlichen Denkprozeß ergab“ und danach durch „historisches Bewußtsein“ und „Stolz“ auf eine ereignisreiche Vergangenheit auch wieder synthetisch erzeugt werden sollte.
Fünfzig Jahre später, 1979, empfinden sich zwei Drittel der Bevölkerung dieses Landes – eine Umfrage hat das ergeben – unangezweifelt als Teile einer Nation, als behütete Kinder eines vielleicht nicht immer geliebten aber doch geachteten (oder vice versa?) „Vaterlands“. Mindestens einen gemeinsamen Nenner dieser nun nicht mehr auf komplizierten Denkprozessen beruhenden Empfindungen scheinen – als „Piefkonen“ – die bei ihrem Einmarsch im März 1938 von vielen bejubelten Nachbarn im Norden abzugeben. Verfolgt man die Spuren dieser Kollektivaversion, wird man feststellen, daß der eigentliche und verbindende Ursprung des heutigen Österreich im Erleiden des Faschismus und im antifaschistischen Widerstand zu suchen ist. Und ist man erst dort angelangt, wird man diese entscheidende historische Zäsur auch literarisch manifestiert finden und verzichtet gern auf literarische Blütenlesen, die eher geeignet sind, derart tiefgreifende Wandlungen zu verdecken.
Betroffen liest man Zeugnisse von Verfolgten, von Vereinsamten, von Verzweifelten, stößt auf Zeichen des Aufbegehrens, auf Botschaften hingerichteter Kämpfer und widersteht nur schwer der Versuchung, sie all den vielen anderen Gedichten entgegenzuhalten. Welches Recht aber hätten wir zu solch einer absichtsvollen Konfrontation – nur weil man als Ausländer das von Wildgans einst postulierte historische Bewußtsein im Alltag dieses Landes nostalgisch verklärt empfindet? So haben wir uns damit begnügt, der eigentlichen Sammlung einen Prolog voranzustellen, der dem Leiden und dem Kampf der vom Faschismus Verfolgten ein Denkmal setzt.
Wären wir in der Anordnung der Anthologie den Erscheinungsjahren der einzelnen Gedichte gefolgt, hätte sich vielleicht ein Spiegelbild von vierzig Jahren österreichischer Geschichte ergeben. Möglicherweise wären wir dann aber vollends ins historisch-politische Werten geraten und nie zu Spannungen gelangt, die sich aus den Gedichten selbst ergeben. Dies aber strebten wir an, und so entschlossen wir uns zu einem anderen chronologischen Ordnungsprinzip – dem nach Geburtsjahren, und suchten trotzdem Kon- und Dissonanzen, Übergänge, Harmonien, Höhepunkte und Abschlüsse. Tatsächlich meinen wir, daß man im ersten Kapitel dem Geist der Nachkriegsjahre begegnet, in denen Otto Basil in der Zeitschrift Plan eine neue Generation und von der alten die Vertreter eines neuen, besseren Geistes zu Wort kommen ließ. Schon 1946 hatte er Ilse Aichingers „Aufruf zum Mißtrauen“ veröffentlicht, der bis in die sechziger Jahre, ja fast bis zu Beginn der siebziger Jahre aktuell blieb (vielleicht sogar heute noch immer wieder als zeitgemäße Herausforderung empfunden wird):

… uns selbst müssen wir mißtrauen. Der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten! Unserer eigenen Wahrhaftigkeit müssen wir mißtrauen! Schwingt nicht schon wieder Lüge darin? Unserer eigenen Stimme! Ist sie nicht gläsern vor Lieblosigkeit? Unserer eigenen Liebe! Ist sie nicht angefault von Selbstsucht? Unserer eigenen Ehre! Ist sie nicht brüchig vor Hochmut…

Die Jüngeren fanden immer neue Veranlassung, dem Sinn dieses Textes zu entsprechen Neun Jahre nach seiner Veröffentlichung war es der Staatsvertrag mit seinen Begleiterscheinungen. H.C. Artmann und seine damalige, später als Wiener Gruppe bekannt gewordene Gefolgschaft fühlten sich dadurch zu einem wortreichen „Manifest“ und zu einer spektakulären Protestdemonstration am 17. Mai 1955 im Zentrum von Wien veranlaßt, und manche ihrer grotesken Verrenkungen hat in der politischen Enttäuschung wie im politischen Mißtrauen ihre Wurzeln. Andere waren persönlich enttäuscht, weil trotz der 1961 gegründeten Österreichischen Gesellschaft für Literatur und trotz des seit 1950 wieder verliehenen Staatspreises Dichtung in Österreich nur gedeihen konnte, wenn sie in der BRD verlegt wurde.
Der Restaurierung kapitalistischer Verhältnisse folgten, wie in der BRD, die vielen Versuche, den Faschismus zu verharmlosen, ehemaligen faschistischen Aktivisten alles – oder mindestens vieles – zu vergeben. Handkes berühmt gewordene Publikumsbeschimpfung von der Bühne herab hat manche gereimte und ungereimte Entsprechung bei einer Jugend, die im Österreich der sechziger Jahre beim Forum Stadtpark Graz und dessen Zeitschrift Manuskripte (seit 1960) ein neues Zentrum fand. Peter Handke und Ingeborg Bachmann zählten dazu, Ilse Aichinger und Thomas Bernhard veröffentlichten hier, Andreas Okopenko, Friederike Mayröcker, Barbara Frischmuth oder Michael Scharang haben sich zum Forum ebenso bekannt wie die Teilnehmer der Wiener Gruppe: Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener. Ein kleinerer Kreis der Genannten bildet überdies die Grazer Gruppe, die sich weniger durch ein Programm als durch regelmäßige Begegnungen manifestiert.
Den zahllosen, nach 1968 mehr oder minder zornig gestimmten Gruppierungen der siebziger Jahre gerecht werden zu können scheint unmöglich. Schon die Namen der vielen Zeitschriften, durch die sie sich Gehör verschafften, könnten lange Listen füllen. Sie setzen eine jahrhundertealte Tradition dieses Landes fort. Zu deren Höhepunkten gehörten und gehören teilweise noch seit der Befreiung vom Faschismus außer Plan und Manuskripte Wort in der Zeit (1955-1956), Literatur und Kritik (seit 1966), Das Silberboot (1935-1952), Protokolle (seit 1966).
Im Zusammenhang mit der vorliegenden von Hugo Huppert angeregten und sorgsam mitbedachten Sammlung müssen noch andere Periodika, vor allem aber Anthologien hervorgehoben werden:

− Tür an Tür. Hrsg. v. Rudolf Felmayer. Wien: 1950, 1951, 1955 u. 1970.
− Stimmen der Gegenwart. Hrsg. v. Hans Weigel. Wien: 1951-1954.
− Dein Herz ist deine Heimat. Hrsg. v. Rudolf Felmayer. Wien: 1955.
− Neue Dichtung aus Österreich. Hrsg. v. Rudolf Felmayer. 166 erschienene Nummern und 10 Sonderbände. Wien: 1955ff.
− Das österreichische Wort. Stiasny-Bücherei. Ca. 180 Bändchen. Graz: 1956 ff.
− Frage und Formel. Gedichte einer jungen österreichischen Generation. Hrsg. v. Gerhard Fritsch, Wolfgang Kraus, Hans M. Löw, Herbert Zand. Salzburg: 1963.
− Und senden ihr Lied aus. Lyrik österreichischer Dichterinnen vom 12. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Wien: 1963.
− Zwischen den Ufern. Eine Anthologie. Linz: 1966.
− Profile + Facetten. Literarische Reihe des Bergland Verlages. Hrsg. v. Dr. Kurt Benesch, Dr. Hermann Mayer, Dr. Franz Richter, Wien: 1972ff.

In der Regel haben wir uns jedoch mit den in Anthologien gefundenen Texten nicht begnügt – was dem Quellenverzeichnis leicht zu entnehmen ist. Bis auf wenige Fälle haben wir die Originalveröffentlichung herangezogen und deren Fassung übernommen. Für erste bibliographische Hinweise und damit für Hilfe schon beim Konzipieren, später beim Auswählen und Komponieren der Texte gebührt vielen Österreichern, die gar nicht alle genannt werden können, unser Dank. Den zahlreichen Gesprächen mit Hugo Huppert in Berlin, Wiepersdorf, Halle und Wien war immer wieder die Sucharbeit in Bibliotheken und Archiven gefolgt, bei der ich auch immer wieder die Hilfsbereitschaft mir namentlich bekannter und auch unbekannt gebliebener Berater in Anspruch nehmen konnte in der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin; in der Deutschen Bücherei in Leipzig; im Österreichischen Kulturzentrum in Warschau; in der Nationalbibliothek in Wien; im dortigen Haus des Buches in der Škodagasse; in den verschiedenen Dokumentationszentren und -archiven; schließlich im Forum Stadtpark Graz; im dortigen Styria-Verlag; im Residenz-Verlag Salzburg.
Frau Christine Busta und Frau Jeannie Ebner haben mir manches Licht aufgesteckt und uns – die eine im Haus des Buches, die andere auf den Seiten der damals noch von ihr geleiteten Zeitschrift Literatur und Kritik – zu vielen neuen Texten verholfen. Manchen Hinweis auf Neuerscheinungen verdanken wir Herrn Dr. Kraus und seinen Mitarbeitern in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur und Herrn Dr. Lunzer von der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur. Bei der Suche nach vergessenen und verschollenen Dichtungen aus der Nazizeit wurden wir von Herrn Prof. Dr. Steiner, dem Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands, und der unermüdlichen Frau Dr. Steinmetz unterstützt, die nun leider unser Buch nicht mehr erleben konnte. Besonders ihre Hinweise, Agitationsreden und Ermahnungen, gefolgt von Ratschlägen unserer Genossen der KPÖ – Ernst Wimmer, Dr. Zaslawsky, Arthur West −, haben zur jetzigen Form der Anthologie Wesentliches beigetragen. Dank an E.A. Richter aus Wien, der uns Texte junger und jüngster Autoren zuschickte und uns damit zu noch größerer Aktualität verhalf, und Dank meiner Frau, Elfriede Links, ohne deren Mithilfe ich diese Arbeit nicht hätte beenden können.
Schließlich muß und möchte ich unserem Lektor, Christlieb Hirte, für die Geduld und Umsicht danken, die er bei den vielen Fassungen des Manuskriptes wie bei den Beratungen mit den beiden Herausgebern aufgebracht hat.

Roland Links, Januar 1980

 

Literarisches Eins- und Anderssein

(…)

Dazu gesellt sich der Band mit dem Titel Verlassener Horizont. Österreichische Lyrik aus vier Jahrzehnten, der mit Gewißheit für längere Zeit in die Reihe der gültigen Sammlungen ausländischer Lyrik gehört. Anders als die genannte Prosa mit ihren sehr differenzierten Stimmungen zwischen den ästhetischen Polen, liegt der Tenor hier ganz auf dem Tragischen, dem Memorial, der Warnung, der niemals einzustellenden Anklage des unsagbaren Verbrechens, vom Hitlerfaschismus begangen ebenso am österreichischen wie am deutschen Volk und den anderen Völkern, Rassen, Nationen Europas.
Es ist unzweifelhaft das Beste und Bleibende, was hier zusammengetragen, zum Teil gewiß dem möglichen Vergessen entrissen worden ist. Die im Buch sichtbare Ablösung und Verschränkung der österreichischen Dichtergenerationen mit ihrer Weiterführung des Humanismus- und Friedensgebots bis in die Gegenwart zeigt dem Leser, daß die Menschheitssehnsucht nach Solidarität und Brüderlichkeit in allen Literaturen unausschreibbar ist.
Aus dem Strom der Stimmen ragen dabei Namen heraus wie Jura Soyfer (1912–1939), Paul Celan (1920–1970), Erich Fried (1921), Ilse Aichinger (1921), Ernst Jandl (1932), Jutta Schutting (1937), Peter Handke (1942), Gerhard Kofler (1949), der, anhebend mit der Strophe: „Ich will anfangen mit Buchenwald…“, in seinem Poem Pablo Neruda und Erich Arendt als Gefährten und Brüder zitiert.
Einssein – Anderssein, gerade die hier vorliegenden Bücher können ihren Beitrag dazu leisten, die in dieser Formel enthaltene Dialektik des Humanismus noch stärker zur Geltung zu bringen.

Werner Neubert, neue deutsche literatur, Heft 417, September 1987

 

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