Ich habe dich beim Namen gerufen

Ich habe dich beim Namen gerufen

JULIA, JULIA

Mensch Mädel, was lese ich da: Du liegst vorn!
Dein Name führt! Is’ das nicht Spitze?!

Weiß Gott, was Väter & Mütter sich denken,
wenn sie ihr neues Modell ins Rennen schicken.

Sturmvogel, Steppenblitz, Steelstar…
Unter verheißungsvollen Namen wird ungefragt
an den Start geschickt auch der Mensch.
Indes, da der Säugling bestenfalls den Greiftest
besteht, ohne zu versprechen, ob Geige oder
Goldstück den Einsatz lohnen, stehen die Eltern
als ratlose Rufer in der Kurve.

Klar – Wilhelm und Alexander werden schwerlich
die Welt erschrecken, hört man sie nennen,
kaum müssen Sarah und Ben Pogrome fürchten
angesichts ihrer arischen Kofferanhänger,
Carmen und Chris lassen ärgstenfalls (?)
Telefonapparate erröten und lang schon ist
Uwe der unsere nimmer.

Leider, Jule. Deine Mutter hat diesen Part
nie getanzt, wie ich den anderen – den meinen? –
nie gesprochen, doch hofften wir dich auf dem
Balkon, einzig und unerreichbar für Vulgaritäten.
Etwa, seine Kinder laufen zu lassen unter
aller Welt Namen.

Na schön, Du hast ja noch zwei im Gepäck.
Vielleicht bringen die Dir Glück, Kindchen,
so sie Dich bewahren vor Verwechslungen:
Mata Hari kam zwar als solche ins Walhalla
(Seitenflügel), erschossen aber hat man
Mademoiselle Gretje nämlich…

Uve Schmidt

 

 

Vorwort

Dem Titel dieser Anthologie folgen im Buch des Propheten Jesaja (43. Kapitel Vers 1) drei kleine und gewichtige Worte. Das ganze Zitat:

Ich habe dich beim Namen gerufen; du bist mein.

Die lapidare Konsequenz verschlug uns, wir geben es zu, für einen Augenblick den Atem. So spricht kein girrender Brautwerber, sondern ein Herrscher mit strenger Liebe:

Fürchte dich nicht.

mahnt Gott den Erzvater Jakob und das Volk Israel, „denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein“.
Das sind die Schlüsselworte der Auserwähltheit, die sich als ein bitteres, ja oft genug tödliches Geschenk erwies: nicht nur eine fordernde Erhöhung als das Volk Gottes, sondern vor allem – wie wir nun wissen – die Ankündigung der bösesten Heimsuchung, die dem Menschengeschlecht jemals auferlegt worden ist, schrecklicher als alle Prüfungen, die der arme Hiob zu dulden hatte. Wohl fügte der Herr tröstend hinzu:

Denn so du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, daß dich die Ströme nicht sollen ersäufen; und so du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen…

Millionen sind dennoch verbrannt, und die Menschheit wird es bis zum Ende ihrer Tage nicht vergessen. Obschon sich die Mitglieder der Gemeinden des Neuen Testamentes „Kinder Israels“ nannten, ließen sie die Vertreibung und die versuchte Vernichtung der Brüder und Schwestern und Nachbarn geschehen, die im Alten Testament die Heimat ihres Glaubens erkennen. Gott hatte sie beim Namen gerufen… wie es den Christenkindern mit der Taufe geschieht, wenn sie zum ersten Mal bei ihren Namen genannt und mit dem Wasser des Jordan benetzt werden: ein Sakrament, das allen Christen gemeinsam ist. Der Akt der Benennung, der erste Anruf beim Namen: die heiligste Handlung, die den kleinen, wimmernden oder krähenden Kindern Israels widerfährt. Die Theologen werden in ihrer Neigung zu furchterregenden Abstraktionen feststellen, daß sich damit die Übergabe der kleinen Seele in den Besitz Gottes vollzieht.
Das ist ein beunruhigender Gedanke, der uns frösteln läßt, denn wir haben gelernt, der Liebe zu mißtrauen, ja sie zurückzuweisen, wenn ihre Leidenschaft zur Besitzgier wird und sich Passion ins Possessive wendet. Kaum ein Liebender, der es noch wagte, der Geliebten ins Ohr zu flüstern: Du gehörst mir. Kaum eine Liebende, der es noch leicht über die Lippen ginge: Ich gehöre dir, wie du mir gehörst. Die Liebenden sagen eher: Wir gehören uns. Oder: Wir gehören zusammen. Manchmal erleben sie in der Liebe eine Art zweiter und durchaus heiterer Taufe: mit der intimen Benennung, wenn die Partner ihre ganz privaten Namen füreinander erfinden, für die im Deutschen der freundliche Begriff „Kosename“ steht, im Englischen der sacht ironisch gefärbte „nickname“, im Französischen die nicht allzu fröhliche Umschreibung „petit nom“ oder „nom d’amitié“.
Das biblische Wort aber zeigt mit einschüchternder Klarheit an, daß dem Anruf des Namens, der Namensgebung, ja dem Namen selbst ein Element der Magie innewohnt. Ein Zauber, der gut oder böse sein mag. Der Name ihres Gottes Jahwe war für die Juden so heilig und so schrecklich zugleich, daß sie ihn niemals auszusprechen wagten. Die Griechen und die Römer indes schrieben den Namen eine schicksalhafte Bedeutung zu. Plautus, der Komödiendichter, war es, der die (ominöse) Formel „nomen atque omen“ geprägt hat, die uns einreden will, daß der Name zugleich ein Geschick ist – eine kühne und manchmal beklemmende Behauptung, die hernach zum „riomen est omen“ simplifiziert worden ist: Der Name ist Schicksal. Den feinen Unterschied freilich sollte man im Auge behalten. In Wirklichkeit schleppten die Römer oft schon ererbte Namen durchs Leben. Oder wollen wir Plautus unterstellen, daß er plattfüßig war, wie es ihm der Name wörtlich nachsagt? Cicero wiederum leitete seinen Namen von „cicer“ her, das in seinem gloriosen Latein nichts anderes als die Kichererbse heißt. Sollte ihn dies zu seiner etwas rätselhaften Bemerkung „riomina sunt odiosa“ veranlaßt haben – daß Namen etwas Hassenswertes, Verachtungswürdiges, Lächerliches, vielleicht auch nur Langweiliges seien?
Die Namensgebung ist, auch das macht ihre Magie aus, ein Urelement der Sprachschöpfung, unserem Bedürfnis genügend, Landschaften, Pflanzen, Tiere, Gattungen, Menschen, ihre Häuser, ihre Siedlungen, ihre Tätigkeiten, aber auch abstrakte Phänomene durch Bezeichnung kenntlich zu machen. In der Tat muß für uns Menschenwesen jedes Ding seinen Namen haben, vor allem aber das Kind, und hier beginnt der tiefere und schönere Zauber: die Individualisierung durch den Namen. Er mochte sich aus einer Landschaft, einem Ort, einem Beruf, einer Eigenart, einer Ähnlichkeit mit dieser oder jener Naturerscheinung, mit Pflanzen, mit Tieren herleiten, vom Vater auf die Söhne übergehend, vom ersten Berg bis zum zehnten, zum zwanzigsten Bergson.

In Rom war die Zahl der Vornamen begrenzt. Man sagt, es habe nicht mehr als zwanzig gegeben. Die Sklaven hörten in der Regel auf die Namen ihrer Herren – wie übrigens anderthalb Jahrtausende später auch in Amerika, wo Thomas Jeffersons schwarze UrurEnkel bis auf den heutigen Tag den Namen des Gründervaters tragen, der ihre Ahnen mit seiner Lieblingssklavin und Lebensgefährtin, der schönen Sally Hemmings, gezeugt hat; seit einigen Jahren sind sie, nach zunächst zähem Widerstand, dank des unwiderlegbaren DNA-Nachweises ihrer Herkunft bei den Familienversammlungen der Nachkommen zugelassen, ja sie wurden schließlich – ein Gewinn der offenen Gesinnung – mit Freundlichkeit willkommen geheißen.
Wohl vom 11. Jahrhundert an wurden in Europa die Familiennamen erblich. Doch zugleich mehrten sich im Fortgang des Mittelalters die Vornamen – ein Signal der fortschreitenden Individualisierung, die mit der Renaissance und der Reformation ihre Erfüllung fand: in der Entdeckung der Unverwechselbarkeit jedes Menschenkindes, in der Bestätigung des Ich in seiner Unmittelbarkeit zu Gott, seiner Unersetzlichkeit in der Liebe, in der Familie, in der Gesellschaft. Der charakteristische Vorname wurde dem Familiennamen vorangestellt, freilich nicht in China (auch nicht, vermutlich dank der mongolischen Überlieferung, in Ungarn). Selbst im Westen hat der Familienname in allen behördlichen und offiziellen Dokumenten den Vorrang, erst recht beim Militär, in dem es die Gefreiten Arno Müller und Benno Müller in derselben Einheit nicht geben darf, sondern nur die Gefreiten Müller I und Müller II. Die Monarchen wiederum tragen nur ihren Eigennamen; erst als er dem Thron entsagte, wurde aus Wilhelm II. der Kaiser und König a.D. Wilhelm von Preußen. In manchen der fürstlichen Geschlechter ist es strenge Tradition, nur einen Namen von Generation zu Generation weiterzureichen. So sind die Prinzen zu Reuss unterdessen beim 27. oder 28. Heinrich angelangt. Der Papst hört nur auf einen Rufnamen, den er sich in freier Entscheidung wählen darf, meist nach einem der Vorgänger, den er als sein Vorbild betrachtet. Auch Mönche und Nonnen wählen sich, wenn sie sich durch die ewigen Gelübde an ihre Orden binden, einen neuen Namen, der ihnen in einem zweiten Taufakt verliehen wird.
Auch unter den gewöhnlichen Sterblichen der westlichen Gesellschaft wuchs im Gang der Jahrhunderte sichtlich (und hörbar) das Verlangen der Eltern, mit der Namensgebung für das Kind bedeutende Charakterzüge, liebenswürdige Vorzüge der äußeren Erscheinung oder eine Bestimmung ihres Berufes und ihres Geschicks herbeizuwünschen: Gerhard (oder Gerard) beschwor einst den Mann des starken Speeres, Friedrich den Mann der Friedensmacht, Irmgard die Schützerin der Ihren und Katharina (aus dem Griechischen hergeleitet) die Reinheit der Seele und solchermaßen die Tugend. Die römische Kirche allerdings bestand einst darauf, jeden Vornamen durch den eines Heiligen oder einer Heiligen zu ergänzen, damit die (protestantische) Individualisierung nicht überhandnähme; so beschloß es das Konzil von Trient im Jahre 1563, und es blieb katholischer Brauch, eher die Namenstage im Kalender (die den Heiligen gewidmet sind) als die Geburtstage zu feiern. Vielleicht erklärt sich aus der Pflicht, einen Heiligen zu benennen, die Neigung der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, ihre Kinder mit Doppelnamen in die Welt zu schicken: eine Gewohnheit, die sich auch des protestantischen Nordens in Deutschland bemächtigte. Warum dabei freilich der Johann als Erstname überhandnahm (nicht nur in der Familie von Johann Sebastian Bach), gibt uns ein kleines Rätsel auf.
Die Neigung zu einer Kollektivierung der Namensgebung fand hernach ein horrendes Echo in der nazistischen Verfügung, daß sämtliche Juden in Deutschland ihren Vornamen ein „Israel“ oder „Sarah“ anzufügen hatten: gewissermaßen der dunkle Spiegel der in jenen Tagen so servil wuchernden Neigung, die Buben „Adolf“ oder wenigstens „Hermann“ zu nennen, die Namen der Kinder zu germanisieren, den Herbert zum Heribert aufzunorden, die Waldtraut zur Ehrentraut, die Irmgard zur Edelgard zu befördern. Da die Geschichte in wachsendem Maße von der Ironie des lieben Gottes unterminiert zu sein scheint, wendete sich der Geschmack der Deutschen nach dem Ende des Dritten Reiches, freilich erst in der übernächsten Generation, mit einer frappierenden Entschiedenheit den biblischen, zumal den alttestamentarischen Namen zu. Die Sarah erlebte eine fast inflationäre Renaissance, nicht allerdings der Israel, dafür aber die Rahel, die Lea, der Jakob, selbst der Noah, der womöglich dazu bestimmt ist, die heimlichen Ängste seiner Erzeuger durch den Bau einer rettenden Arche zu stillen. Es ist schon so: Bei der Namenswahl geben sich Vater und Mutter, bewußt oder auch nicht, noch immer gern dem Spiel mit dem Namenszauber hin.
Einst, als sich die Eltern bei der Namensgebung für die Söhne und Töchter von den Gesetzen der Tradition leiten ließen, hatten sies leicht mit der Benennung: Onkel und Tante, die das Amt des Paten oder der Patin (damit eines Ersatzvaters oder einer Ersatzmutter) übernahmen, mußten – so wollte es der Brauch – in einer ergänzenden und mitunter sehr langen Kette der Vornamen ihren Ehrenplatz finden. Die schöne Gewohnheit wurde im Fortgang des zwanzigsten Jahrhunderts mehr und mehr von der Neigung verdrängt, den Namen des Kindes vor allem nach ästhetischen und modischen Erwägungen zu bestimmen, die jede Frage nach der ursprünglichen Bedeutung der Benennung verdrängten. Wer nimmt noch zur Kenntnis, daß Philip einst der hellenische philippos, der Liebhaber der Pferde, war? Wer, daß Isidor die Göttin Isis ehrte?
Wer, daß dem Wladimir verheißen ist, die Welt zu regieren (was Klein Putin womöglich von der Mutter ins Ohr geflüstert wurde)? Wer, daß Magdalena aus dem antiken Städtchen Magdala an der galiläischen See stammt?
Wenn sich die Eltern bewußt um einen schicksalsträchtigen Namen bemühen, was noch immer dann und wann geschieht, fordert die Entscheidung eine gründliche Prüfung. Oft stellen sie ihre Beratungen an, ehe das Kind noch empfangen ist, ehe sie der Schwangerschaft sicher sein können und, ganz gewiß, ehe es ausgetragen ist. Ein Bub oder ein Mädchen? Das Geschlecht läßt sich lange vor der Geburt feststellen, aber das macht es nicht einfacher, sich darüber einig zu werden, wie der kleine Engel denn heißen soll. Fügt sich der Vorname harmonisch zum Familiennamen? Ist man vor Koppelungen der präteniösen Art auf der Hut und setzt das Gör nicht mit grotesken Paarungen wie Theophil Schmälzle oder Claudine Pfannkuch dem grausamen Spott der künftigen Mitschüler aus? Was mag man den Armen raten, die dank ihrer ausgefallenen Vornamen ein Opfer des fragwürdigen Geschmacks der Eltern sind? Sollen sie sich umbenennen, offiziell oder auch nicht, im Zweifelsfall durch radikale Verkürzungen wie die jungen Eidgenossen, die den katholischen Anspruch ihres Taufnamens Beatus lieber abschütteln und die fromme Gesinnung der Eltern durch den amerikanisch-schrägen Beat unkenntlich machen? Oder kann man auch gegen den Namen leben? Müßte man am Ende nicht dem Ungemach trotzen wie so viele, die mit eher ungemütlichen Familiennamen wie Eierstock oder Huntgeburth geschlagen sind? Mit dem Verständnis der Standesbeamten darf heutzutage gerechnet werden. In unseren aufgeklärten Tagen zeigen die Behörden, was die Namensgebung angeht, eine lobenswerte Liberalität. Der freie Spielraum hat sich geweitet. Dennoch sind die Sittenwächter des Staates gehalten, die Kinder durch die Respektierung gewisser Grenzen zu schützen. Es würde unkonventionellen Eltern kaum erlaubt, den Sohnemann Airbus oder Dampfroß, das Wundergirl Puffreis oder Chanell zu nennen. Nicht in Deutschland, in der Schweiz, in Österreich. In den Vereinigten Staaten ist es zum anderen nicht unüblich, Familiennamen (aus der Verwandtschaft, aus den Künsten, aus der Politik) in Vornamen zu verwandeln. Einst, als das amerikanische Bürgertum gern seine Ehrfurcht vor der klassischen Bildung zur Schau stellte (zumal im 19. Jahrhundert), war es keineswegs anstößig, den vielversprechenden Knaben Homer oder Washington, das talentierte und hernach zweifellos bildschöne Mägdlein Aphrodite oder Monroe zu nennen (nicht nach Marilyn, sondern nach dem Präsidenten und Künder der gleichnamigen Doktrin, versteht sich). Immer noch besser, den Sohn als Aristotle ins Leben zu schicken denn als Stalin, wie es in Italien während der Konjunkturjahre der kommunistischen Partei mitunter geschah.
Dale Carnegie ausgerechnet, dem Urvater der modernen Erfolgspsychologie, ja der gesamten Public-relation-Industrie, schreibt man den erhellenden Satz zu, daß für jeden Menschen sein Name das schönste und bedeutungsvollste Wort in seinem Sprachschatz sei. Und Goethe, der zum einen Namen als Schall und Rauch verwehen ließ, behauptete zum andern, der Eigenname eines Menschen sei „nicht etwa wie ein Mantel, […] an dem man allenfalls noch zupfen und zerren kann, sondern ein vollkommen passendes Kleid, ja wie die Haut selbst ihm über und über angewachsen.“
Damit erklärt sich der Reiz, der die Poeten anregte, die Freundin, den Freund beim Namen zu rufen – nicht nur, um ihr, um ihm zu sagen: „Du bist mein“, sondern eher, um sagen zu dürfen: „Ich bin dein“, um Gehör für ihre, für seine Stimme des Herzens zu finden, um durch die Nennung des Namens das Bild des geliebten Menschen heraufzubeschwören, das Bild seines Wesens, das niemals ist wie das eines oder einer anderen, damit zugleich die eigene Seele öffnend, wie es Else Lasker-Schüler wagte, als sie vom „Prinzen Benjamin“ sang:

Deine Worte sind aus Lied geformt,
Ich traure, wenn Du schweigst

Manchmal behaupten die Dichter, ganz im Sinne des alten Herrn in Weimar, daß gewisse Namen sich nur mit gewissen Personen verbinden können, wie Erich Mühsam, der einer jungen Frau zurief:

Obwohl du Margot heißt, muß ich dich preisen.
– Gewöhnlich sind die Margot, Gerda, Ellen
mir allzu linienhaft zum Beigesellen
und zu empfindsam, um damit zu reisen.
– Verlieb ich mich schon in ein Mädchen sterblich,
so heiß’ es Trude, Miezl, Käthie, Annchen.
Die Namen Margot, Ingrid und noch manchen
find zu ästhetisch ich, zu kunstgewerblich.
– Man redet Liebe, küßt sich mit den Psychen
bei Helga, Irmgard, Edith und Elfrieden.
Du bist, mein Schatz, das Körperlich-Solide,

und darum, Margot, nenn ich dich Mariechen.

Was Mühsam mit kabarettistischer Ironie vorträgt ist, trotz des hübschen Spottes, eine Reverenz vor dem Zauber des Namens. Ob heiter oder dramatisch, ob klagend oder jubelnd, zynisch oder ernst, ob Liebes- oderFreundeshymne, ob erster Blick, Abschied oder Wiedersehen, ob balladesk oder lyrisch schwebend: es ist die Anrufung eines Menschenkindes bei seinem Namen, das die Gedichte dieser Sammlung zusammenbindet, ein wahrhaft bunter und reicher Strauß.
In den Namen aber erkennen die Poeten (und wir mit ihnen) unverwechselbare Gesichter. Gesichter können niemals namenlos sein. Der große englische Schriftsteller und Journalist Malcolm Muggeridge beschrieb in seinen Memoiren das Wiedersehen mit seiner Frau, von der er während eines grimmigen Moskauer Jahres getrennt war, noch vor dem Anbruch der Epoche von Stalins blutigen Säuberungen. Die beiden hatten sich in Genf verabredet. Er wartete auf sie am Bahnhof. Dann sah er sie endlich inmitten der Menge, die vom Perron durch die Halle nach draußen strömte: „There is nothing“, schrieb er hernach, „as beautiful as a face in a sea of faces“. Man möchte ihren Namen wissen. Kitty hieß sie. Wir ahnten es. Hätte sie denn anders heißen können?

Klaus Harpprecht, Vorwort

Schon der Name ist Gedicht

O du! – die Anrufung widerhallt aus unzähligen Liebesgedichten. Das lyrische Ich braucht in der Liebe bloß ein Gegenüber, und das heißt schlicht: Du. Dieses anonyme Du ist nicht nur aus Gründen der Diskretion von Vorteil, es schmeichelt bei der Lektüre: Jede Leserin, jeder Leser darf sich angesprochen fühlen. Praktisch sind auch die Anreden ,Geliebter‘, ,Freundin‘, ,mein Kind‘ oder ,Feinslieb‘. Den Vers „Ach Liebste laß uns eilen, wir haben Zeit“ hätte der Barocklyriker Martin Opitz gleich mehreren Damen verehren können, Unbestimmtheit ist ein Vorzug der namenlosen Liebe. Wie ein Mann, der seine wechselnden Geliebten umsichtig alle nur ,Schatz‘ nennt, um peinliche Irrtümer von vornherein auszuschließen, schickt mancher Dichter seine Liebesbekundungen ins Universelle, also Diffuse.
Der kleine Exkurs ins Namenlose schärft den Blick für das Gegenteil: das Namensgedicht. Wer Namen nennt, meint genau diese Frau, und keine andere; niemand andres als diesen Mann, Verwechslung ausgeschlossen. Jedes Namensgedicht ist eine Feier der einzigartigen Persönlichkeit.
Was Namensgedichte an Allgemeinheit einbüßen, gewinnen sie an Bildhaftigkeit. Könnten wir uns Goethes Lili so gut vorstellen, wenn er sie bloß Du genannt hätte? Benennung heißt Lebendigkeit. Die abstrakte, ideale Geliebte ohne Namen ist zwar vollkommen; aber eine Idee kann man nur platonisch lieben. Namensgedichte dagegen zelebrieren die gelebte Liebe mit ihren Mängeln, ja vielleicht ihren Makeln. Und nicht nur die erotische Liebe: Diese Anthologie deutscher Namenspoesie, die erste ihrer Art, umfaßt eine Vielzahl von Gedichten an Freunde, Geschwister und Kinder. Selbst in den Fällen, da Spott und nicht Zuneigung die Feder führt, bleibt das Namensgedicht dem unverwechselbaren einzelnen verpflichtet.

Namen dienen der Unterscheidung. Existierte außer dem Poeten, der Poetin nur ein anderer Mensch, könnte es beim Du der Liebeslyrik bleiben. So war’s am Anfang, als Adam und Eva allein im Garten Eden lebten. Namengebung spielt in der Schöpfungsgeschichte eine Schlüsselrolle: Adam benennt nicht nur die Tiere und macht sie sich damit untertan, sondern auch seine Gefährtin – aber erst nach der Vertreibung aus dem Paradies. „Und Adam nannte sein Weib Eva“. das heißt, ,Leben‘, oder ,Lebenspenderin‘, „denn sie wurde die Mutter aller, die da leben“ (1. Mose 3, 20). Ist es ein Zufall, daß manches Liebesgedicht den paradiesischen Zustand heraufbeschwört, in dem es auf der Welt nur die beiden Liebenden gibt?
Der Polytheismus kennt Namen für die Götter, der Monotheismus allerdings nicht, da eine Unterscheidung unnötig ist. Der eine und einzige Gott wird mit dem Gattungsbegriff angerufen: Gott. Genau das bedeutet Allah: ,der (eine) Gott‘. Und das JHWE aus dem Alten Testament ist weniger Name denn Aussage: Ich bin, der ich bin. Er wird in der Luther-Übersetzung mit HERR wiedergegeben.
Vornamen unterscheiden auch die Mitglieder einer Familie. Einst war es nicht unüblich, daß mehrere Geschwister gleich hießen. Man hielt sie mit Zusätzen wie Groß Hans und Klein Hans auseinander. Das verbietet inzwischen der deutsche Gesetzgeber: Der Vorname hat die Identität des Kindes eindeutig festzulegen.
Das Pendant der Unterscheidung ist die Identifizierung. Wer ein Ding vom anderen unterscheiden kann, kann es auch wiedererkennen. Bis ins elfte, zwölfte Jahrhundert trugen unsere europäischen Vorfahren einen einzigen Rufnamen, der sich nicht vererbte. Doch als die Bevölkerung kräftig anwuchs, reichte der Vorname nicht mehr aus, um einen Menschen zu identifizieren. Namensvetter gab es zu viele. So kam die Kombinatorik aus Vorname und Nachname auf.

Erst beide Funktionen der Namen, Unterscheidung und Identifizierung, gewährleisten die Unverwechselbarkeit. Kurt Tucholsky sagt es mit misanthropischer Ironie:

Der Name ists, der Menschen zieret,
weil er das Erdenpack sortieret –
bist du auch dämlich, schief und krumm:
Du bist ein Individuum.

Während der Nachname das öffentliche und offizielle Leben bestimmt, gehört der Vorname in die private Sphäre. Wer eine Person beim Vornamen nennt, duzt sie in der Regel. Der Vorname ist mit der eigenen Identität und dem Selbstbild verquickt. Kein Wunder: Während der Nachname heute bei Männern wie bei Frauen durch Heirat wechseln kann, begleitet uns der Vorname zeitlebens. Der Barocklyriker Christian Brehme schließt sein Gedicht „Auf der Lisilis Namenstag“ mit den Versen:

Vnd eh du wirst aus dem Gedächtnüß seyn
So werd ich zuvoran vergessen mich zu nennen.

Auch wenn Brehme seine Lisilis schmeichelhaft des Gegenteils versichert: Der eigene Name ist im gesamten Vokabular das Wort, das man zuletzt vergißt. Wem er entfallen ist, der hat seine Identität verloren.
Kleinkinder plappern von sich selbst zunächst in der dritten Person:

Paul will raus!

Erst mit etwa drei Jahren lernen sie, ,ich‘ zu sagen, das tatsächlich ein Wort mit viel komplizierteren Verwendungsregeln ist: Je nachdem, wer spricht, verweist es auf einen anderen Menschen. ,Ich‘ ist seiner grammatischen Klassifikation nach ein Pronomen, ein Wort also, das für einen Namen steht – genauso wie ,du‘.
In der Adoleszenz entwickeln die Menschen ein Verhältnis zum eigenen Vornamen. „Ich war nach Menschenweise in meinen Namen verliebt“. erinnerte sich Goethe in Dichtung und Wahrheit, „und schrieb ihn, wie junge und ungebildete Leute zu tun pflegen, überall hin.“ Wilhelm von Humboldt dagegen klagte in einem Brief an eine Freundin:

Von jeher habe ich mit Männern und Frauen den Gebrauch des Vornamens geliebt und ihn gern beibehalten. Nur lasse ich mich nicht gern bei dem meinigen nennen, das hat aber keinen anderen Grund, als daß ich den Vornamen Wilhelm nicht liebe, und mich auch nur wo es der Unterscheidung wegen nöthig ist, so unterschreibe. In keiner Sprache habe ich den Namen gern, und von Kindheit an ist er mir unangenehm gewesen.

Solche Erfahrung ist zeitlos. Christoph Meckel. Jahrgang 1935, ist in dieser Anthologie mit einem Trostgedicht vertreten „Für eine Frau, die ihren Namen nicht liebt“, sie heißt Cornelia. Zwei Jahrhunderte früher schrieb Anna Louisa Karsch ein Gedicht mit dem Titel „Ein Fräulein, Namens Evchen, will ihren Namen nicht hören“:

Englisches Evchen, ach gieb dich zufrieden,
Movire dich doch nicht, wenn man dich so nennt;
Ist dir der Name nun einmal beschieden,
So leid ihn geduldig und lebe content:

Eva ward höchst vergnügt, da es die Vorsicht fügt,
Daß sie der Adam sein Schätzchen genennt.

Nun denn, mein Evchen, so wird dirs auch gehen,
Ob dich dein Name gleich itzo verdriest;
Ich sichre, da wirst du schon freundlicher sehen,

Wenn dich ein Adam einst rufet und küßt:
Dann wird recht buchstabirt, gelesen und vexirt,
Wenn uns die Liebe den Namen versüßt.

Wiewohl sich Teenager manchmal einen anderen Namen wünschen, kränkt es uns dennoch, wenn jemand unseren Namen vergißt oder uns bei einem falschen Namen ruft. Das verletzt unser Verlangen nach Identität – als seien wir nicht merkwürdig genug, als stelle es unsere Unverwechselbarkeit in Frage. Eine Namensverwechslung ist nicht nur dem Betroffenen peinlich, sondern auch demjenigen, dem sie unterläuft.

Unverwechselbarkeit liegt den Eltern am Herzen, wenn sie überlegen, wie ihr Kind heißen soll. Wenn viel später im Schulzimmer die Lehrerin einen Namen aufruft und drei Klassenkameraden die Hand heben, dürften die Eltern ihre allzu modische Wahl bereuen. Jedes Kind ist ein einzigartiges Wesen, und der Name soll seine Individualität ausdrücken. Doch das war nicht immer ein selbstverständlicher Wunsch, frühere Generationen nahmen an der Häufung von Namensvettern weniger Anstoß. So blieb vom 17. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Zahl gebräuchlicher Vornamen ziemlich konstant. Erst im 20. Jahrhundert vervielfachte sie sich: ein Spiegel der Individualisierung.
Individualität ist bei der Namensgebung nur eines der Motive. Befragt man Eltern nach den Gründen für ihre Namenwahl, steht Wohlklang an erster Stelle. Dabei ist die Schönheit eines Namens eine völlig subjektive Empfindung, von keinerlei ,objektiven‘ Kriterien bestimmt. Den Beliebtheitslisten zufolge werden vokalreiche Vornamen wie Lena oder Leon derzeit als besonders schön betrachtet. Vor hundert Jahren gefielen Hedwig und Hermann, im 19. Jahrhundert hatten Gertrud und Gustav Konjunktur, und nochmals hundert Jahre früher standen Burkhard und Bertha hoch im Kurs.
Wissen die Dichter Rat? Wer könnte besser die Schönheit einer Silbenfolge ermessen, ihre Melodie und ihren Rhythmus beurteilen? „Schon der Name ist Gedicht“, schwärmt Joachim Ringelnatz über den Namen Venus. Auch Meistern der Prosa erging es ähnlich. Tonio Kröger in Thomas Manns Novelle ist verzückt von Dänemark:

Nehmen sie auch nur die Namen, die Vornamen… einen Laut wie Ingeborg, einen Harfenschlag makellosester Poesie.

Zu Beginn von Vladimir Nabokovs Roman Lolita läßt sich der Erzähler Humbert Humbert den Namen der Titelheldin auf der Zunge zergehen:

Lolita. Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.

Zahllose Gedichte loben den Wohllaut geliebter Namen. „Dein Name tropft wie weicher Rindertalg“, lautet ein abenteuerliches Kompliment von Kurt Schwitters an seine Anna Blume. Damit ist der Dadaist nicht weit vom Hohenlied der Bibel entfernt, diesem Ur-Liebesgedicht, in dem es vom Geliebten heißt:

Es riechen deine Salben köstlich; dein Name ist eine ausgeschüttete Salbe, darum lieben dich die Mädchen (Hohelied 1, 3).

Und Ingeborg Bachmann rühmt an der biblischen Mirjam „den süßen Namen mit dem Mandelton“.
Allerdings ist es nicht so sehr die ästhetische Qualität einer Folge von Konsonanten und Vokalen, die den Namen auszeichnet, sondern vor allem die Liebe zur Person: Sie überträgt sich auf den Namen. Er wird im Gedicht gepriesen, ja liebkost – ein Liebesakt in der Sprache und eine Art Ersatzhandlung, denn „der Name bleibt doch immer der schönste, lebendigste Stellvertreter der Person“, so Goethe in Wilhelm Meisters Wanderjahren. Wenn Kurt Schwitters betont, daß das Objekt seiner Begierde „von hinten wie von vorne A – N – N – A“ ist, verbinden sich Liebesspiel und Wortspiel. Schwitters’ frivole Pointe ergibt sich aus dem Palindrom – einem Wort, das vor- wie rückwärts gelesen werden kann.

Namen reizen die Lyrik zum Spiel, in Anagrammen, Akronymen oder Akrosticha zum Beispiel. Ein Akrostichon ist ein Gedicht mit einer geheimen Botschaft, die sich entziffern läßt, wenn man die Anfangsbuchstaben jeder Zeile von oben nach unten liest. Ein Notarikon wiederum ist der Vierzeiler von Friedrich Rückert:

Liebe, Unschuld, Inbrunst, Sitte, Ehre,
Sind der Züge fünf, die ich verehre;
Und die fünfe hab’ ich, schön verbunden
In der Freundin Namenszug gefunden.

Hier erschließt sich die Widmung aus den Anfangsbuchstaben der Wörter der ersten Zeile. Der Herausforderungen an den Spieltrieb nicht genug: kein Name, auf den sich kein Reim machen ließe. Gabriele reimt sich bei Ringelnatz auf Seele; Harald bei Uhland auf Wald; Inge bei Tucholsky auf Schlinge; und Gerhard Rühms Helene gleich auf Lehne, Zähne, Träne.
„Unsinn Auguste, heiraten mußt de!“: Am Schluß dieser Anthologie findet sich eine Auswahl Kinderreime, als mündlicher Nachtrag zu den gedruckten Klassikern. Und weil sie so schön sind, noch einer dazu:

Christian hat Hosen an
26 Knöpfe dran.
Hätt’ er keine Knöpfe dran,
Hieß’ er auch nicht Christian.

Kinder sind für Gereimtes empfänglich. Sie erzählen sich Witze, deren Pointe ein Namenreim ist:

Alle Kinder rennen aus dem brennenden Haus. Außer Klaus, der schaut raus.

oder:

Alle Kinder spielen auf dem Rasen. Außer Gunter, der liegt drunter.

Was genau sie daran zum Lachen reizt? Der Reim liefert die überraschende Zuspitzung, der Name läßt das Makabre konkret werden. Bei der Recherche für diese Anthologie zeigte sich übrigens eine Art Naturgesetz: Je humoristischer ein Dichter, desto mehr Namensgedichte in seinem Werk. Heine, Morgenstern, Klabund, Ringelnatz, Tucholsky bieten die empirischen Belege.
Witze leben vom Detail, die unerwartete Überlagerung präziser Bilder kitzelt das Zwerchfell. Humor ist konkret; und Namen sind Garanten des Konkreten. Man kennt das Scherzwort:

Nein. nein, keine Details, ich brauche bloß Namen, Daten und Fakten!

Ein abstrakter Witz ist so etwas wie ein hölzernes Eisen. Bei einem Dichter wie Hofmannsthal, der zur Abstraktion neigt – nicht umsonst schrieb er den Jedermann –, war die Ausbeute an Namensgedichten gering. Goethe schrieb fast doppelt so viele wie Schiller. Und bei Friedrich Nietzsche, der als Philosoph von Berufs wegen abstrahiert, fand sich nicht ein einziges Namensgedicht. Kein Wunder, bekennt er doch:

Im Norden – ich gesteh’s mit Zaudern –
Liebt’ ich ein Weibchen, alt zum Schaudern:
,Die Wahrheit‘ hiess dies alte Weib…

Wenn Dichter nicht nur die Wahrheit lieben, sondern einen konkreten Menschen, dann stellen sie mit seinem Namen allerhand an. Sie preisen und herzen ihn, paaren ihn mit Reimwörtern, jonglieren mit seinen Buchstaben. Können sie aber für die Schönheit eines Namens bürgen? Aus der ästhetischen Verwirrung helfen auch Dichter nicht heraus. Ihre Epoche und die Zufälle der Biographie prägen ihren Namensgeschmack, wie bei den werdenden Eltern von heute. Eduard Mörike zum Beispiel stieß in einem Wörterbuch auf den Namen Rohtraut und war so bezaubert – „er leuchtete mich an als wie in einer Rosenglut“ –, daß er am selben Tag die Ballade „Schön-Rohtraut“ schrieb. Aber wer würde im 21. Jahrhundert seine kleine Tochter so nennen?

Naturgemäß sind Dichter vom Zauber der Worte und damit von der Namensmagie rasch und oft auch tief berührt. Um Namen ranken sich Volksweisheiten, blüht der Aberglaube. In Zeiten hoher Kindersterblichkeit gab man den Neugeborenen in manchen Kulturen Vornamen wie ,Spinne‘ und ,Unkraut‘. Ekelnamen, um die bösen Geister zu täuschen. Oder die Namen drückten umgekehrt einen Wunsch aus: ,Bleibe‘, ,Lebender‘. In Märchen und Sagen entfalten Namen Zauberkraft.

Ach, wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß!

Als die gute Königin endlich Rumpelstilzchens Namen herausfindet, zerbricht sein böser Bann. Mit dem Namen einer Person kennt man ihr Wesen, so die magische Vorstellung, und gewinnt Macht über sie, im Guten wie im Schlechten.

Nie sollst du mich befragen, noch Wissens Sorge tragen, woher ich kam der Fahrt, noch wie mein Nam’ und Art.

redet Lohengrin seiner Elsa ins Gewissen. Vergeblich, die Wagnersche Oper endet tragisch. Im Gedicht „Vorgeschrieben“ beschreibt Ulla Hahn die Ambivalenz:

Diese Sehnsucht
dich beim Namen zu nennen
Diese Angst
dich beim Namen zu nennen

Ein verbreiteter Aberglaube: Wird ein Mensch dreimal beim Namen gerufen, muß er auch in der Ferne an den Rufenden denken. Umgekehrt soll man Tote keinesfalls beim Namen nennen, um ihre Ruhe nicht zu stören. Und wird der Teufel genannt, kommt er gerannt. In J.K. Rowlings Romanen darf der Name von Harry Potters Erzfeind Voldemort nicht ausgesprochen werden, aus Angst, ihn herbeizurufen. Man behilft sich mit der Umschreibung „He Who Shall Not Be Named“.
Wörter und gerade auch Namen sind Wünschelruten, wie es Eichendorff in seiner romantischen Losung formuliert:

Schläft ein Lied in allen Dingen
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst Du nur das Zauberwort.

Nach diesem Zauberwort suchen wohl die Eltern, wenn sie einen Namen für ihr Kind auswählen. Sie lassen sich dabei von zwei Wünschen leiten: daß ein Name die Eigenschaften des Namensträgers spiegle; und, umgekehrt, daß sich die Eigenschaften, die man einem Namen zuschreibt, auf den Benannten übertragen. Traditionelle Namen sind nicht lediglich Lautgemälde, nicht nur konkrete Poesie – sie sprechen auch. Vinzenz etwa kommt vom lateinischen vincere, ,siegen‘, Noemi vom hebräischen Wort für ,Freude‘. „Namen sind eine Verheißung“, sagte die Lyrikerin Erika Burkart in klugem Doppelsinn. Die Bedeutung steigert sich zur Bedeutsamkeit, eine Spielart magischen Denkens. Schönheit, Stärke, Erfolg, Sanftmut legt man Kindern gern schon mit dem Namen in die Wiege, wie im Gedicht des Barocklyrikers Daniel Czepko zur Geburt seiner Tochter Anna Theodora:

Nahmen und That bringet Genad
Des Ehbetts erste Frucht. Des Stammbaums zarter Reiß.
Der Liebe keusches Pfand. Der Treu erwehlte Preiß.
Der Eltern goldner Trost. Des Tauffsteins heilger Gast.
Des Hertzens traute Lust. Des Halses süße Last.
O Tochter, liebster Schatz, den ich von Gott vermocht:
Sey Last, Lust, Gast und Trost, sey Preiß, Pfand, Reiß und Frucht,
Und tritt als Gottes Gab und Gottes Lob herein,
So wirst ein ANNA Du und THEODORA sein.

Der Name Anna geht auf das hebräische Wort für ,Gnade. Huld, Liebreiz‘ zurück, und das griechische Theodora bedeutet ,Geschenk Gottes‘.
Die Namensgebung ist ein hochsymbolischer Akt. Im Nachwort zu seinem Romanzero sieht Heinrich Heine den Namen als Schatten, den ein Ding an die Wand wirft. Wie aufgeklärt wir auch sein mögen: Der Name soll dem Leben des Neugeborenen seinen Charakter, vielleicht sogar seine künftige Existenz vorzeichnen. Ist die Namensbedeutung ein psychologischer Antrieb und Anreiz, sich ihm anzugleichen? „To live up to one’s name“, sagt man in England. Aus Magie wird Psychologie, wenn auch vielleicht nur dem Namen nach. Theodor Fontane mahnt im Gedicht „Zur Taufe. Ein Gutachten“:

Bedenk’ es wohl, eh’ du sie taufst!
Bedeutsam sind die Namen;
Und fasse mir dein liebes Bild
Nun in den rechten Rahmen.
Denn ob der Nam’ den Menschen macht,
Ob sich der Mensch den Namen,
Das ist, weshalb mir oft, mein Freund,
Bescheidne Zweifel kamen;
Eins aber weiß ich ganz gewiß,
Bedeutsam sind die Namen!
So schickt für Mädchen Lisbeth sich,
Elisabeth für Damen;
Auch fing sich oft ein Freier schon,
Dem Fischlein gleich am Hamen
An einem ambraduftigen,
Klanghaften Mädchennamen.

Doch im Ernst: Wer könnte voraussagen, was aus dem schreienden Neugeborenen werden mag, wie sein Charakter sein wird? Der Säugling, die Hauptperson des Taufakts, wird ohnehin nicht gefragt. Darum sagt der Name weit weniger über das Kind aus als über die Wünsche und Hoffnungen der Eltern – und über ihre Zeit.

In seiner Schrift Über die Moden in den Taufnamen schrieb der Leipziger Magister Johann Christian Dolz bereits 1825:

Alles in der lieben veränderlichen Welt ist dem allgewaltigen Zepter der Mode unterworfen. Diese selbst aber scheint wieder der Herrschaft eines so genannten Zeitgeistes, die bald ausgebreiteter bald beschränkter, bald von längerer bald von kürzerer Dauer ist, unterthänig seyn zu müssen. Auch bei den Namen, welche die lieben Menschenkinder unter den, in frühern und spätern Zeiten lebenden, Völkern trugen und noch jetzt tragen, ist diese Herrschaft der Mode nicht zu verkennen.

Bis zum 13. Jahrhundert dominierten in unseren Breiten die germanischen Namen. Meist waren sie zweigliedrig: Sieghild aus den Bestandteilen Sieg und Kampf, Dietmar aus Volk und Ruhm. Kriegerisch die Namen bei Frauen wie bei Männern, sie drückten Herrschaft, Grundbesitz und Kraft aus. Auch Tiere aus der germanischen Mythologie schlichen sich als Verkörperungen von Stärke und Kampfesmut in die Namen, der Bär in Bernhardt, der Wolf in Wolfgang. Mit der Völkerwanderung und der Ausdehnung des Frankenreichs verbreiteten sich germanische Namen bereits im ersten Jahrtausend nach Christus über ganz Europa. Arnold (der den Adler, althochdeutsch arn, im Namen trägt) wurde in Frankreich zu Arnaud, in Italien zu Arnaldo. Alfons in Spanien zu Alfonso oder Alonso.
Diese geharnischten germanischen Namen wollten zur christlichen Nächstenliebe nicht so recht passen. Dennoch hatte die Christianisierung lange Zeit erstaunlich wenig Einfluß auf die Namengebung. Zwar tauchten die programmatischen Namen Christian und Christina schon im 8. Jahrhundert auf. Aber erst mit der aufkommenden Heiligenverehrung im Hochmittelalter gediehen die christlichen Namen. Das Kind wurde nun gern auf den Namen eines Heiligen getauft und seinem besonderen Schutz anempfohlen. Im 14. Jahrhundert traten die hebräischen, griechischen oder lateinischen Namen der Heiligenlegenden und des Neuen Testaments den Siegeszug an. Im Englischen heißen Vornamen schlicht christian names: Keine andere Namensgruppe hat Europa stärker geprägt.
Auch in dieser Anthologie finden sich viele Heiligennamen, drei Gedichte sind ausdrücklich an Heilige gerichtet: Friedrich Spee von Langenfeld besang den Missionar Franz Xaver. Novalis die Gottesmutter Maria und Kuno Raeber die heilige Katharina von Alexandrien. Im 16. Jahrhundert aber schieden sich die Geister am Heiligenkult der mittelalterlichen Kirche. Die Reformatoren lehnten die Vergötzung der Heiligen ab – und damit auch die Heiligennamen. In Abgrenzung zu den Katholiken besannen sich Protestanten auf Namen des Alten Testaments. Dieser theologischen Revolution verdankten Samuel von Pufendorf oder Immanuel Kant ihre Vornamen. Martin Luther selbst nahm es noch nicht so genau. Von seinen sechs Kindern trugen zwei Heiligennamen, Martin und Margaretha. Zwingli, der Zürcher Reformator, legte seinen Taufnamen Ulrich ab ( er war ihm wegen des heiligen Ulrich von Augsburg nicht mehr genehm) und nannte sich fortan Huldrych. 1534 verfügten die Calvinisten im Genfer Rat, Kinder seien ausschließlich auf biblische Namen zu taufen.
Die Gegenreformation aber ließ auch in Namensfragen nicht auf sich warten. Die katholische Kirche empfahl, nur noch Heiligennamen zu vergeben, um sich von den Häretikern abzugrenzen. Die Pietisten wiederum erfanden im 17. Jahrhundert neue fromm-protestantische Namen: Gottlieb, Christlieb, Fürchtegott, Traugott. Gotthold Ephraim Lessing vereinte in seinem Namen den Pietismus und den Bezug aufs Alte Testament.
Die christlichen Namen waren der erste und massivste Import neuer Vornamen in den deutschen Sprachraum. Er blieb nicht der letzte. Unter den Humanisten des 16. Jahrhunderts kamen Namen aus dem klassischen Altertum in Mode: Rektor, Marius, Julius, Claudia, Cornelia, Felicitas… überdies latinisierte oder gräzisierte man gern seinen Familiennamen: Aus Herrn Schmidt wurde Herr Faber, aus Frau Schneider Frau Sartorius. Andreas Greif mutierte zum Dichter Gryphius, Philipp Schwarzerd zum Gottesgelehrten Melanchthon. Später löste das Französische als Sprache der Diplomatie und Wissenschaft das Latein ab. Bis ins 18. Jahrhundert sprach man in Deutschlands hoher Aristokratie französisch. Annette, Charlotte, Jean, Henriette, Louis wurden de rigueur. Im 18. und 19. Jahrhundert folgten italienische Namen wie Eleonora oder Guido und englische wie Arthur, Edith oder Betty.
Bereits im 17. Jahrhundert monierten Sprachpuristen die ,Namensüberfremdung‘. Der Dichter Philipp von Zesen, in dieser Anthologie mit einem Gedicht an eine treudeutsche Adelmund vertreten, ging so weit, selbst für römische Götternamen deutsche Entsprechungen zu erfinden: Aus Minerva, der Göttin der Weisheit, wurde Kluginne; aus Juno, der Himmelskönigin, wurde Himmeline, aus Venus wurde Lustinne oder – wegen ihrer Schaumgeburt – Schauminne.
Die Komik des Unterfangens entging Zesens Zeitgenossen nicht. Es blieb ohne Wirkung. Jean Paul zwar schrieb knapp 160 Jahre später einen Aufsatz mit dem Titel „Rat zu urdeutschen Taufnamen“. Er schlug Namen wie Ethelwina oder Thorismund vor und bemerkte nebenbei, ein lieblicher Vorname sei für Frauen „die einzige Schönheit, die ihnen Männer und Jahre nicht rauben“. Aber da der Meisterironiker seinen eigenen Namen französisierte (er hieß Johann Paul Friedrich Richter), ist die Schrift kaum für bare Münze zu nehmen.
1825, im Jahr von Jean Pauls Tod, spottete Johann Christian Dolz über die „Deutschthümlichkeit“ eines gewissen Christian Heinrich Wolkes, der Namen wie Anmutina und Blumine propagierte:

Nach meiner unvorgreiflichen Meinung würde die Forderung, lauter ursprünglich deutsche Namen zu wählen, bei aller Vaterlandsliebe, doch auch eine gewisse Einseitigkeit verraten. So wie wir durch schöne ausländische Blumen unsere Gartenflora verschönern: so darf es uns auch erlaubt seyn, die schönen Namenblumen des Auslandes in dem Garten unserer aufblühenden Menschheit aufblühen zu lassen.

Im 19. Jahrhundert spiegelte die Namensvergabe vor allem zwei Entwicklungen: die Säkularisierung und den Nationalismus. Einerseits sank der Anteil an christlichen Namen, diese Säkularisierung der Vornamen beschleunigte sich im 20. Jahrhundert dramatisch. Wie der Soziologe Jürgen Gerhards in seiner Studie „Die Moderne und ihre Vornamen“ darlegt, war 1894 die Hälfte der vergebenen Namen biblisch-christlich, 1994 nur noch ein knappes Drittel. Schon um 1900 wurde die jahrhundertelange Vorherrschaft der christlichen Namen gebrochen. Sie wichen einerseits den Neuimporten aus Westeuropa und andererseits – im Kielwasser des radikalen Nationalismus – den germanischen Namen. Allerdings überrascht, daß diese Konjunktur bereits 1930 ihren Höhepunkt erreichte und dann nachließ – trotz der rassistischen Namenspolitik der Nazis. Der Rückgang deutscher Namen aber vollzog sich laut Gerhards selbst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs keineswegs abrupt, erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts war ein regelrechter Einbruch zu beobachten.
In der DDR waren sich die Machthaber der Symbolkraft von Namen nur zu bewußt, das zeigten Umbenennungen wie die von Chemnitz in Karl-Marx-Stadt. Die Bürger im Osten aber orientierten sich bei der Namensgebung (von Ausnahmen wie dem slawischen Jana abgesehen) unverdrossen nach Westen. Namen brauchten keinen Passierschein: Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs stammten die beliebtesten Namen aus dem Französischen und Englischen. Zwei deutsche Staaten, aber im wesentlichen nur eine Namenmode. Und heute?

Die Vergangenheit läßt sich leichter interpretieren als die Gegenwart. Die Rangliste der zehn beliebtesten Namen im vereinten Deutschland des Jahres 2005:

Bei den Jungen:                             Bei den Mädchen:   

Alexander                                        Marie   

Maximilian                                      Sophie / Sofie   

Leon                                                 Maria   

Lukas / Lucas                                Anna, Anne   

Luca                                                 Leonie   

Paul                                                 Lena   

Jonas                                              Emily   

Felix                                                Lea / Leah   

Tim                                                 Julia   

David                                             Laura   

Auf den ersten Blick ergibt sich ein konservatives Bild: Bis auf Alexander sind alle Jungennamen biblische oder Heiligennamen. Der Evangelist Lukas bringt es sogar auf drei Varianten. Die Gottesmutter ist mit zwei Namensformen präsent, doch nur die Hälfte der populärsten weiblichen Namen ist christlich-biblischen Ursprungs. Germanische Namen fehlen, und auch die neueren Fremdnamen machen sich rar: Luca als italienische Variante von Lucas, Emily als englische Form von Emilie und das französisch geprägte Leonie: das ist schon alles.
In Österreich steht Lukas auf dem ersten Platz. Außerdem verrät die Rangliste eine merkwürdige Vorliebe für Männernamen mit ,ia‘: Neben Maximilian finden sich 2005 Tobias, Florian, Fabian, Julian und Sebastian unter Austrias ersten zehn. Österreichische und deutsche Eltern aber zeigen bei den Mädchennamen weitgehend den gleichen Geschmack, nur heißen die kleinen Österreicherinnen häufiger Katharina, Hannah und Sarah. Den ersten Platz hält Leonie – wie in der deutschsprachigen Schweiz. Im eidgenössischen Nachwuchs sind überdies Lara, Nina und das italienische Chiara beliebt, bei den Jungen Nico. Noah und Joël.
Lassen die Listen auf die Rückkehr der Religion schließen, die manche schreibenden Missionare proklamieren? Ist die Säkularisierung am Ende? Gewiß nicht – die Eltern von Lukas, Lea und David benennen ihre Kinder in den seltensten Fällen nach ihrem Glaubensbekenntnis. Häufig sind sie sich nicht einmal des jüdisch-christlichen Erbes bewußt. Diese Namen werden als klassisch und schlicht geschätzt. Sie sind im deutschen Sprachraum schon so lange eingebürgert, daß sie für heimisch gelten. Exotik ist nicht gefragt.
Dafür scheint sich Europa auch bei den Namensmoden zu vereinen. So findet man Lea und Lucas auch auf den vordersten Rängen in Frankreich. Thomas und Emma sind die Lieblingsnamen der westlichen Welt: in Frankreich auf Platz fünf und zwei, in den Niederlanden auf Platz drei und zwei. In England und der Tschechischen Republik steht Thomas auf dem dritten Platz. Emma führt die Popularitätsliste in Finnland, Norwegen und Schweden an, in den Vereinigten Staaten muß sie sich mit dem zweiten Platz begnügen. Deutschland hinkt nach: Emma kann den Geruch der altmodischen ,Tante-Emma-Läden‘ nicht loswerden und verharrt – noch? – auf Platz 18. Thomas zählt nicht einmal zu den ersten dreißig.
Manchmal birgt das Seichte abgrundtiefe Rätsel: Wo soll man auch nur beginnen, die Vorliebe für bestimmte Laute zu erklären? Beispielsweise für die Konsonanten M oder L, sogenannte stimmhafte Gleitlaute, und für viele Vokale, namentlich I und A? Der Harvard-Soziologe Stanley Lieberson analysiert die Mode in seinem Buch A Matter of Taste anhand bestehender Vorlieben und ihrer moderaten Veränderung: Ist ein bestimmter Name beliebt geworden, zieht er ähnliche Namen nach, die sich in Details von ihm unterscheiden. Bei Namen wie bei Rocklängen kennt die Mode keine Revolutionen, sondern nur den Wellenschlag sanfter Anpassungen. Beliebt werden Namen, die man zugleich als vertraut und neuartig empfinden kann. Ein Trend verstärkt sich über Jahre und Jahrzehnte, bevor der Gegentrend einsetzt. Daher die phonetische Ähnlichkeit der Namen in den deutschen, österreichischen und Schweizer Ranglisten. Vielleicht hat Lena, die 1996 erstmals zu einem der zehn beliebtesten Namen aufrückte, Lea den Weg geebnet, danach Leon und Leonie und schließlich auch Joel und Noah. Die österreichische Häufung von Florian, Fabian, Julian & Co ist ein Paradebeispiel für Liebersons Modell.

Das konservative Bild aber täuscht, denn nur zwei bis drei Prozent aller Kinder tragen Namen aus den Top ten. Der Namensschatz ist insgesamt reicher geworden. Neben den Erbjuwelen finden sich darin ausgefallene Halbedelsteine und allerhand Modeschmuck: Leandro ist in der Schweiz immerhin unter den ersten vierzig, bei den Mädchen Luana. In Deutschland gehören Marlon und Cheyenne zu den zweihundert beliebtesten Namen. Amerikanische Statistiken verzeichnen plötzlich eine Häufung des Mädchennamens Nevaeh: das rückwärts geschriebene Wort heaven, ,Himmel‘. Pop- und Filmstars machen es vor und nennen ihre Kinder Apple oder Peaches; Lourdes, Brooklyn oder Ireland; Jaden Gil oder Tallulah Belle. Die Gesetzgebung in Deutschland ist strenger, Standesämter lehnten die Namen Agfa, Domino, Grammophon, Sputnik und Moewe ab. Markennamen und Sachbezeichnungen sind nach deutschem Recht nicht als Vornamen zulässig.
Kevin war unlängst noch der Prototyp eines Modenamens. Ein Dreigestirn aus dem englischen Fußballer Kevin Keegan, dem Schauspieler Kevin Costner und dem Hollywoodfilm Kevin allein zu Haus machte den irischen Heiligennamen ab 1992 in Deutschland populär. Heute zählt Kevin nicht mehr zu den ersten dreißig. Das Prinzip der Benennung nach Vorbildern galt schon im Mittelalter, als man sich an den Heiligen orientierte. Später benannte man das Taufkind gern nach seinen Paten, man kopierte Moden der oberen Schichten, erwies auch dem Landesmonarchen seine Reverenz – und ließ sich von der Literatur leiten. Im 18. Jahrhundert begeisterten die Ossian-Dichtungen ganz Europa und brachten die Namen Oskar, Selma und Malwine in Schwang. Der Schotte John MacPherson posierte als Entdecker und Übersetzer der angeblichen altgälischen Bardenlieder, die er in Wahrheit selbst erfunden hatte. Doch das minderte weder den Publikumserfolg noch die Beliebtheit der Namen. Rousseaus Roman Emile förderte in Deutschland Emil und Goethes Wahlverwandtschaften (unter anderem) Eduard, der Shakespeare-Enthusiasmus Edgar und Edmund. Mit Klopstocks Drama über das Massaker im Teutoburger Wald, Hermanns Schlacht, und den Bearbeitungen des Stoffs von Kleist und Grabbe wurden die Namen Hermann und Horst erst ,volkstümlich‘. 1825 mokierte sich Dolz über die „Nibelungensucht“ seiner Zeitgenossen. Um wieviel schlimmer sollte es erst mit Wagners Werken werden!
Nicht selten erfindet die Literatur Namen. Vanessa ist eine Schöpfung des Gulliver-Autors Jonathan Swift: Er kombinierte Buchstaben aus dem Namen seiner Verlobten Esther Vanhomrigh. Shakespeare ersann für die Tochter des Zauberers Prospero in Der Sturm den Namen Miranda. Pamela ist eine Kreation des elisabethanischen Dichters Sir Philip Sidney, der Briefroman Pamela seines Landsmanns Samuel Richardson sorgte für die Verbreitung des Kunstnamens. Solcher Präjudizien wegen darf ein deutsches Paar seinen Sohn Legolas nennen, nach der Gestalt des Elbenkönigs in J.R.R. Tolkiens Epos Der Herr der Ringe. Die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden, Gutachterin in Zweifelsfällen, hält fest: Literarische Namen dürfen als reguläre Namen gelten. Auch Goethe hätte gegen Legolas nichts einzuwenden gehabt, schreibt er doch in Dichtung und Wahrheit:

So sind als kleine Nebenzweige der romantisch-poetischen Fiktionen die historisch-poetischen Taufnamen, die sich an die Stelle der heiligen, nicht selten zum Ärgernis der taufenden Geistlichen, in die deutsche Kirche eingedrungen, ohne Zweifel anzusehn. Auch dieser Trieb, sein Kind durch einen wohlklingenden Namen, wenn er auch sonst nichts weiter hinter sich hätte, zu adeln, ist löblich, und diese Verknüpfung einer eingebildeten Welt mit der wirklichen verbreitet sogar über das ganze Leben der Person einen anmutigen Schimmer.

Der Transfer geht selbstverständlich auch von der wirklichen in die imaginierte Welt. Die Gedichte dieser Sammlung spiegeln den Wandel in der Namengebung. Viele der Namensgedichte gelten ja Menschen aus Fleisch und Blut – Geliebten, Ehepartnern, Geschwistern, Kindern oder Freunden der Dichterinnen und Dichter.
Bei den Vorarbeiten für diese Anthologie kamen rund 1.500 Namensgedichte zusammen. Davon handeln allein 26 von einem Johannes, der wohl beliebteste Männername der deutschen Geschichte. Vorbilderwaren der Evangelist und vor allem Johannes der Täufer. Im Spätmittelalter hörte in manchen Gegenden jeder dritte Mann auf Johannes oder Hans, Hannes und andere Kurzformen; 2005 besetzte Johannes Platz 25 der deutschen Rangliste. Kein Wunder auch, daß die Herausgeberin auf 26 Maria-, 24 Marie- und fünf Mary-Gedichte stieß. Bis zum 16. Jahrhundert wurde der Name aus Respekt vor der Muttergottes kaum vergeben, danach gedieh er allerdings zum Evergreen der Evergreens – so sehr, daß sogar Männer ihn als Zweitnamen tragen dürfen (und damit die katholische Kirchentreue der Eltern betonen). Und heute steht Marie in Deutschland auf Platz eins. Ähnlich bezeugen die Gedichte die nachhaltige Beliebtheit von Anna, von Margaretha (mit den Kurzformen Grete und Gretchen) und von Franz und Fritz.
Was jeder Leser dieser Anthologie bemerken wird: Die Gedichte zu Frauennamen sind in der Überzahl. Der Gleichberechtigung der Männer stellte sich zweierlei in den Weg. Zum einen gehört ein Löwenanteil der Namensgedichte zur Gattung der Liebeslyrik (von den 1.500 im Fundus beinahe die Hälfte). Zum anderen sind mehr männliche Dichter als Dichterinnen gedruckt und überliefert worden. Hinzu kommt: Nicht nur in der Literatur, auch in der Wirklichkeit gibt es mehr Frauen- als Männernamen. Das verlangt nach einer Erklärung.
Namen sind auch ein Mittel der Unterscheidung in männlich oder weiblich. Der Vorname verkündet den ,kleinen Unterschied‘, es gehört zu seiner Funktion, den Säugling in seine Geschlechtsgemeinschaft einzuordnen. Deutsche und Schweizer sind rechtlich gezwungen, neutralen Vornamen wie Kim, Heike oder Toni einen zweiten, unzweifelhaften Namen beizufügen – Kim Peter also, oder Heike Susanne. Auch ist es verboten, ein Mädchen etwa Markus oder einen Jungen Sarah zu nennen. Maria als Zweitname für Knaben ist die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Ob ein Name männlich oder weiblich ist, erkennen wir aus Erfahrung, aber auch am Klang. Wir verfügen über ein generalisiertes phonetisches Wissen, vor allem über die Endlaute. Namen klingen gleichsam hellblau oder rosarot.
Unter den ,rosaroten‘ Namen herrschte durch die Jahrhunderte hindurch eine größere Vielfalt. Zum einen wagte man es viel früher, Mädchen mit fremden und ausgefallenen Namen zu schmücken. Offenbar waren Eltern bei den Töchtern experimentierfreudiger, die Namen der Stammhalter hingegen blieben der Tradition verpflichtet. Das spiegelt überkommene Rollenbilder: Frauen als das schöne, Männer als das solide Geschlecht. Zum anderen wechseln die Namensmoden bei den Mädchen viel rascher als bei den Jungen – ganz ähnlich wie in der Kleidermode, vermerkt Jürgen Gerhards in seiner Studie. Das überwiegen der Frauennamen in diesem Band spiegelt also die Gesellschaft.

Interessanter als die Übereinstimmungen zwischen Literatur und Leben sind aber die Abweichungen. So finden sich in dieser Anthologie ausgefallene Namen wie Belloise und Caliste,                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   die man nicht auf jeder Party trifft. Die Namen verdanken sich dichterischer Erfindung im einen Fall (Anna Louisa Karsch bildete den Namen aus dem französischen la belle Louise) und klassischer Bildung im andern Fall (Kallisto war der Name einer Nymphe der griechischen Mythologie, die in Ovids Metamorphosen auftritt). Viele Namensgedichte handeln von literarischen oder mythischen Gestalten. Nicht nur die biblischen Namen, auch Melusine oder Tristan eröffnen durch die bloße Nennung einen Assoziationsraum von Bildern und Motiven. Damit erweisen sie sich als effiziente poetische Mittel: Schon der Name erzählt eine Geschichte, mit der die Dichter spielen können.
In die Kategorie der literarischen Namen gehört auch Laura. 23 Gedichte in diesem Fundus gelten einer Laura, das älteste stammt aus dem 18., das jüngste aus dem 20. Jahrhundert. Das entspricht der heutigen Beliebtheit des Namens, vor zweihundert Jahren jedoch gab es in Deutschland kaum eine Laura in natura. Dafür um so mehr in der Poesie. Literatur speist sich von Literatur: Der italienische Dichter Francesco Petrarca, der seine Laura im 14. Jahrhundert in mehr als dreihundert Sonetten besang, hat den Namen poetisch geadelt. Wenn Schiller seine Luise Dorothea Vischer in Versen Laura nannte, war schon der Name Kompliment und Liebeserklärung. Im Gedicht „Die Unbekannte“ begegnet Heinrich Heine in einem Pariser Park täglich einer Schönen. Endlich erfährt er ihren Namen:

Laura heißt sie! Wie Petrarca
Kann ich jetzt platonisch schwelgen
In dem Wohllaut dieses Namens –
Weiter hat ers nie gebracht.

Was Laura für Petrarca, war Beatrice für Dante Alighieri, den Autor der Göttlichen Komödie. Nicht unähnlich, aber etwas weniger subtil heißt es bei Bertolt Brecht im zwölften Sonett „Über die Gedichte des Dante an die Beatrice“:

Noch immer immer über der verstaubten Gruft
In der sie liegt, die er nicht vögeln durfte
Sooft er auch um ihre Wege schlurfte
Erschüttert doch ihr Name uns die Luft.

Literarische Gründe hat es auch, daß unter den gesammelten Gedichten zwölf an eine Doris, neun an eine Chloe und acht an eine Daphne gerichtet sind. In Barock und Rokoko blühte die Gattung der Schäferpoesie. Verliebte Hirten stellten schönen Schäferinnen nach, durchlebten Liebesglück und -schmerz auf grünen Auen, an säuselnden Bächen. Wild war die Natur in dieser Szenerie so gut wie nie, mild waren die Schäferinnen, die Galathee, Chloe, Phyllis, Magdalis, Daphne, Rosilis, Cynthia oder eben Doris hießen. Die Namen waren griechisch und beinahe austauschbar. Leise spottete Gotthold Ephraim Lessing in seinem Gedicht „Die Namen“:

Ich fragte meine Schöne:
Wie soll mein Lied dich nennen?
Soll dich als Dorimene,
Als Galathe, als Chloris.
Als Lesbia. als Doris,
Die Welt der Enkel kennen?
Die Namen sind sehr schöne,
Sprach meine holde Schöne.
Wähl selbst. Du kannst mich Doris,
Und Galathe und Chloris,
Und – – wie du willst, mich nennen,
Nur nenne mich die Deine.

Mancher Dichter warf seiner realen Liebsten das Schäferinnengewand über, um ihre Identität zu verschleiern. Bei feurigen Ergüssen wahren Codenamen die Diskretion. Goethes Lida war eine Charlotte, Klopstocks Cidli hörte auf den Namen Margareta, Hölderlins Diotima hieß Susette. „Der verschwiegene Schäfer“ in Heinrich Christian Boies Gedicht von 1773 liebt eine Philinde, aber:

Voll der süßesten Gefühle
Sey mein Busen; doch der Mund
Mache bei dem Saitenspiele
Niemals ihren Namen kund!

Im Codenamen kann sich zudem die poetische Phantasie beweisen. Else Lasker-Schüler war darin Meisterin. Sich selbst stilisierte sie zum Prinzen von Theben, zu Jussuf oder Tino von Bagdad, ihren Freunden schenkte sie klangvolle Namen wie Senna Hoy, Giselheer der Tiger oder Venus von Siam. Einem Laurencis erklärt die Dichterin:

Ich gab Dir einen Namen
Wie eine fromme Guirlande
Darum will ich ihn
Nun immer liebend rufen.

Die Dichterin, die den Geliebten umtauft, macht ihn zu ihrem Geschöpf, sie gleicht ihn der Vorstellung an, die sie von ihm entwirft. Ebenso andächtig wie anmaßend teilt Wilhelm Müller einer Frau mit:

Maria möchte ich Dich begrüßen
Mein Herz hat stets dich so genannt.
Maria soll Dein Name sein!

Statt den Namen des geliebten Menschen zu vertuschen, schreiben ihn andere ganz im Gegenteil in den Himmel oder ritzen ihn in Baumrinden. Das Namensgedicht setzt dem oder der Geliebten ein Erinnerungsdenkmal, manchmal ist das die erklärte Absicht. „Alma. dein Name tön’ in fernen Zeiten“. schrieb Ludwig Tieck, eine self fulfilling phrophecy. Goethe hat den Namen seiner Lili unsterblich gemacht – eine konventionelle Floskel, die kaum übertreibt. Wüßte man sonst von der Existenz der Frankfurter Bankierstochter Anna Elisabeth Schönemann ?Wer interessierte sich, ohne Johann Christian Günthers Gedichte, für eine seit über zweihundert Jahren tote Schweidnitzerin namens Leonore Jachmann?
Über sechs Milliarden Menschen leben auf der Erde, und Milliarden sind, für uns namenlos, untergegangen. Einige der anrührendsten Gedichte in diesem Band sind Trauergesänge wider das Vergessen: Zinzendorfs Klage um den Tod seiner zweijährigen Tochter Theodora oder Mascha Kalékos Elegie für ihren Sohn Steven. In Theodor Storms Requiem für seine Frau heißt es:

Und deinen Namen wie lang hab’ ich von keinem gehört.
Rastlos wandert die Zeit, in den Augen der Kinder verdämmert
Mählich dein Bild, und bald – wer noch wüßte von dir!
Denn so schwindet der Menschen Gedächtnis.

Storm nennt ihren Namen noch einmal, macht ihn zum Titel seines Gedichts: Constanze.

Margaux de Weck, Nachwort

 

Das Kind muss doch einen Namen haben…

Namen haben ihre Magie. Eltern überlegen sich es in der Regel zweimal oder dreimal, wie sie das Kind beim Namen nennen, sofern sie nicht dem Zauber einer Mode erliegen oder, wie einst üblich, der Familientradition gehorchen. Namen zeichnen, wie die Römer zu wissen meinten, ein Schicksal vor. Womöglich prägen sie den Charakter? Dass ein Name die Person, die er bezeichnet, genau treffe und ihre Eigenschaften in kürzester Zeit zusammenfasse; oder umgekehrt, dass sich die Eigenschaften, die man einem Namen zuschreibt, auf die Person übertragen mögen – das sind Sehnsüchte, die allein die Poesie einzulösen vermag. Denn hier ist ein Name nie nur ein Name, sondern Chiffre dessen, was Dichter von Goethe über Heine und Benn bis Gernhardt mit der benannten Person verbinden: Empfindungen, Erlebnisse, Phantasien. Dies und nichts anderes signalisieren die Dichter, wenn sie die Geliebte, den Freund liebend, den Feind spottend benennen: jedes Namensgedicht eine Feier der unverwechselbaren Persönlichkeit.
Ich habe dich beim Namen gerufen ist ein ideales Geschenkbuch für die geliebte Person: Denn es versammelt nicht nur hundertachtzig Namensgedichte von A wie Anna über J wie Jakob bis Z wie Zoë, sondern geht auch den Ursprüngen der Namen nach, forscht nach historischen, literarischen oder biblischen Vorbildern. Ein werbender, oft genug zärtlicher Zuruf, der nicht nur zu Geburts- und Namenstagen, sondern immer willkommen sein sollte.

Eichborn Verlag, Klappentext, 2007

 

Wer nennt die Namen?

Liebste Ruth, sei wieder gut: Eine so kuriose wie anregende Anthologie deutscher Namenspoesie versammelt adressierte Gedichte. Ein Heimspiel für die Liebe. –

Ein hübscher Einfall, denkt man fürs Erste: „deutsche Namenspoesie“, gesammelte Gedichte, in denen jemand mit Namen angeredet wird. „Namenspoesie“ ist insofern undeutlich, denn es geht nicht um die Poesie von Namen. Aber dann gerät man ins Stocken, fragt sich, ob das Kriterium ausreicht. Kommt da nicht allzu Verschiedenes zusammen? Oft steht der Name nur im Titel der Gedichte. Freilich – aber auch dies ist eine interessante Frage – gehört dieser doch wohl (aber wie?) zum Gedicht selbst. So heißt ein Gedicht von Elisabeth Borchers:

Für Maximilian am ersten Schultag

Hat das Gedicht damit schon begonnen, oder beginnt es erst danach? Diese Information braucht man jedenfalls für das Gedicht, den Namen „Maximilian“ aber am wenigsten. Oder bei Celan: Nur im Titel heißt es „Marianne“. Von dieser Frau, die er im Gedicht „Geliebte“ nennt, sagt er als Erstes:

Fliederlos ist dein Haar…

Da muss man erst einmal drauf kommen – man erfährt es im Kommentar –, dass der Dichter mit diesem Namen auch Frankreich meinte, obwohl im Gedicht so gut wie nichts in diese Richtung weist. Was aber unklar ist, stiften die Dichter. Übrigens sind viele Gedichte in dem Buch ganz außerordentlich klar.
Gedichte mit einem Namen richten sich über diesen an eine Person, und diese, nicht der Name,  ist dann Gegenstand. Für Personen interessieren sich nun einmal auch die Dichter, und über Personen mag sich dann auch deren jeweiliger Name mit Poesie füllen. „Namen sind widerwärtig“, „Nomina sunt odiosa“, zitiert Klaus Harpprecht, der ja (ohne Ironie gesagt) fast über alles sinnvoll schreiben kann und es auch hier tut, in seinem Vorwort den Cicero und betont, dies sei eine „etwas rätselhafte Bemerkung“. Aber Cicero meint das Nennen von Namen in der Auseinandersetzung mit einem Problem, weil es etwas Unsachliches, eben Persönliches, hineinbringe. Deshalb dürfen etwa im britischen Unterhaus rituell keine Namen genannt werden:

Mr. Speaker, der ehrenwerte Vertreter des Wahlkreises soundso, hat soeben haarsträubenden Unsinn gesagt.

Ganz anders ist es natürlich bei Liebesgedichten. Denn in der Liebe, der ersten Verliebtheit besonders, ist der Name der oder des Geliebten ja schon etwas wie Besitz, oder er ist, danach, geballte Erinnerung: „Lili“, „Diotima“, „Marie A.“ oder „Lili Marleen“. Aber es geht natürlich auch ohne Namen:

O Mädchen, Mädchen,
wie lieb’ ich dich!

Margaux de Weck, die junge Herausgeberin, Jahrgang 1979, zitiert in ihrem Nachwort die schönen Verse von Ulla Hahn:

Diese Sehnsucht
dich beim Namen zu nennen
Diese Angst
dich beim Namen zu nennen.

Da wird in der Ambivalenz etwas deutlich vom Gewicht dieses Vorgangs.
Natürlich dominieren unter den Adressaten die Frauen und also die Frauennamen in diesen Gedichten. Und das liegt nicht nur daran, wie die Herausgeberin allzu vorsichtig sagt, dass „mehr männliche Dichter als Dichterinnen gedruckt und überliefert worden sind“. Es gibt oder gab halt mehr Dichter als Dichterinnen. Und die Dichter richten sich in der Regel an Frauen (zuweilen aber doch auch, zumindest von Shakespeare an, an Männer – aber davon findet sich keines in dem Buch). Es ist ein Jammer, natürlich, dass sich jahrhundertelang die liebenden Frauen, auch wenn sie dichteten, aufgrund ärgerlicher Konvention nicht so deutlich ausdrücken konnten, wie dies Männern möglich war. Ein Verlust für die Dichtung, ein großes Fehlen.
Es geht also bei den Gedichten, die Namen nennen, zumeist – „Löwenanteil“, sagt Margaux de Weck – um Liebe, also um jenes, wie der Philosoph Walter Schulz in seinen Vorlesungen kopfschüttelnd zu sagen pflegte, „eigentümliche Hingerissenwerden an ein Du hin“. Es ist ja wirklich nicht falsch beobachtet: das „Hingerissenwerden“, dessen „Eigentümlichkeit“, dann das große „Du“, zu dem der Name auf innigste gehört. Aber es sind in dem Buch doch auch andere Gedichte mit Namen versammelt, die etwa an Kinder oder Freunde gerichtet sind oder auch an Tiere wie in Morgensterns wunderschönem „Der Rabe Ralf / will will hu hu…“
„Ich habe dich beim Namen gerufen“ ist der Titel. Ein heikler Punkt – denn ist da nicht eine kaum erlaubte Vermischung der Sphären? Hier werden Sätze aus dem zweiten Jesaja aufgenommen, die mit „gewaltig“ noch unzureichend beschrieben sind. Sie sind auch nicht eigentlich „poetisch“, sondern der Einbruch des Heiligen, des Ungeheuren. Eine unfassliche, auch erschreckende Inanspruchnahme. Es ist der Herr selbst, der da redet, und er redet in der Tat besitzergreifend, namentlich zu seinem Volk – zu seinem, nicht zu irgendeinem, und er nennt es mit zwei Namen. Luther übersetzt:

Und nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel. Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!

Man kann nun diese Jesaja-Sätze nicht damit zusammenbringen, dass Eltern nach – warum nicht? – der Mode folgenden Gesichtspunkten ihren Kindern Namen geben und Dichter und Dichterinnen ihre Geliebten mit deren Namen rufen, also zum Beispiel „Lili Marleen“. Wobei dieses Gedicht von Hans Leip auch ohne die Melodie, von der es so schwer zu trennen ist, auf seine Weise, rein von seinen Worten her, rasend schön ist (so viel Kitsch darf sein) bis hin zur letzten Strophe, der fünften:

Wenn sich die späten Nebel drehn,
Werd’ ich bei der Laterne stehn…

Also da ist in der Wahl dieses Titels für das Buch, bei allem Humor, mit dem man schon rechnen darf, eine Übertretung. Sicher, in den Namen steckt etwas Theologisches, oder es kann darin stecken, und zwar über die Taufe, in der man aber nicht primär einen Namen bekommt, sondern mit Nennung des schon bestehenden Namens „aufgenommen“ wird. Im englischen „christian name“ ist dies noch latent da, und übrigens nennen auch Spanier, ohne sich des Hintergrunds bewusst zu sein, wenn man sie fragt, wie sie heißen, immer den Vornamen – also nicht „López“ oder „García“, sondern „Luis“ oder „Pilar“. So heißt man, so wurde man getauft.
Trotzdem handelt es sich um ein schönes, um ein – wie immer in der Anderen Bibliothek – kostbar aufgemachtes und gedrucktes Buch mit schönen oder, wo sie nicht schön sind, zumindest interessanten und sehr verschiedenartigen, gerade auch vielen heiteren Gedichten, denn in diesen sind Namen in der Tat häufiger.

Hans-Martin Gauger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.9.2008

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