Ron Winkler (Hrsg.): Schneegedichte

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Ron Winkler (Hrsg.): Schneegedichte

Winkler (Hrsg.)-Schneegedichte

SCHNEE
Dem Gedächtnis Hans Henny Jahnns

Der Schnee treibt,
das große Schleppnetz des Himmels,
es wir die Toten nicht fangen.

Der Schnee wechselt
sein Lager.
Er stäubt von Ast zu Ast.

Die blauen Schatten
der Füchse lauern
im Hinterhalt. Sie wittern

die weiße
Kehle der Einsamkeit.

Peter Huchel

 

 

 

Nachwort

Nichts ist wie Schnee. Der Schnee, der dort, wo er fällt, die Landschaft übernimmt. Sie verändert und überlagert und transzendiert. Schnee erscheint uns als etwas Absolutes, etwas Immenses. Ein Ereignis auf jeden Fall, eine Zäsur, die uns wieder und wieder für sich einnimmt: Ende und Anfang.
Schnee – beziehungsweise das, „was / wir uns entschlossen / Schnee zu nennen“ (Günter Kunert) – ist eine der Texturen des Schönen und des zugleich Fremden. Unterform des weißen Rauschens und Membran zwischen etwas sehr Abstraktem und etwas sehr Konkretem. Ein Phänomen durchaus von magischer Qualität.
Wie exakt man ihn auch definieren kann: Es bleibt eine Restunschärfe, denn das, wovon wir reden, ist nichts eineindeutig Gewisses, vor allem nicht hinsichtlich der Wirkung, die der Schnee auf uns entfalten kann.
Das Filigrane der Flocken, die Schneedecke in ihrer Massivität – das alles eröffnet einen weiten Raum. Einen idealen Ort für das „feine Instrument“ (Durs Grünbein) der Poesie.
In diesem Raum kann der Schnee (wie etwa in Eugen Gomringers „snow is english“) alles sein. Er kann real bleiben, etwas Erlebtes, oder aber transformiert werden zu einem privaten, einem inneren, einem mentalen Schnee. Zu etwas, das weit mehr ist als Materie, die sich flüchtig ereignet.
Den invasiven, erratischen Charakter des Schnees zu erkunden, oder ihn, wie es bei Rolf Dieter Brinkmann heißt, zu Ende zu denken, ist ein Topos, der in der Lyrik immer wiederkehrt. Sei es als sinnliches, sei es als schmerzendes Ereignis, das es auf literarische Weise zu bestimmen und zu erweitern gilt – dokumentarisch, spekulierend oder mit einem launischen Blick durch die „Antischneepupille“ (Gerhard Falkner).

Die vorliegende Anthologie versammelt deutschsprachige Gedichte der letzten hundert Jahre. Texte, die den Schnee ins eigene Sein holen. Die dem Schnee Raum geben und diesem Raum eine Sprache – voller überraschender Bilder und ungehörter Worte.
„der Schnee führt in den Schnee“, schreibt Tom Schulz, aber er führt auch darüber hinaus, ins Ganze. Und so umspielen die Gedichte dieser Sammlung den Schnee als die Kunstform der Natur, die er ist, der aber auch kraft poetischer Imagination unendlich viele Bezugsräume öffnet. Düstere, kryptische, strahlende. Es gibt den „Schnee, der tot wärmt“ (Inge Müller), aber auch „das Brautkleid aus Schnee“ (Rose Ausländer). Und natürlich all die virtuellen und metaphorischen Entitäten, die auf Schnee rekurrieren. Eigensinnig in die Testwelten der Poesie eingefügt, als Bild- und Stimmungsquell. Plötzlich trifft man auf „Bäume von Körperschnee“ (Friederike Mayröcker), auf „versteckte weiße Engel“ (Silke Scheuermann), auf das funkelnd Fremde, das er ist oder freilegt.
Es ist spannend, wie der Nukleus Schnee literarisch so variabel geformt werden kann. Ob als von Umweltverschmutzung korrumpiertes Etwas, als das Reine an sich oder als eine Erscheinung an der Grenze zur Unfasslichkeit.
Was Schnee ist, wissen die Meteorologen. Was er aber bedeuten kann, sagen uns die Dichter. Immer wieder neu.

Ron Winkler, Nachwort

 

Nichts ist wie Schnee.

Der Schnee, der dort, wo er fällt, die Landschaft übernimmt. Sie verändert und gleichzeitig transzendiert. Schnee hat etwas Absolutes, etwas Klares, etwas Immenses. Das, „was / wir uns entschlossen / Schnee zu nennen“ (Günter Kunert), ist eine Textur der Schönheit und zugleich des Fremden. Ein Phänomen mit magischer Qualität.
Schneegedichte bringt neunzig deutschsprachige Dichter der letzten hundert Jahre zusammen, die diesem Phänomen nachspüren. Die dem Schnee Raum geben und diesem Raum eine Sprache – voller neuer Bilder und ungehörter Worte. Schnee kann hier alles sein, und alles kann Schnee sein, erratisch und unfassbar.
So wie es um Schnee geht, als Kontrastmittel oder Verstärker, als Element der Gefühlswelt oder der Zauberhaftigkeit, so geht es auch um ein Panorama der Lyrik des letzten Jahrhunderts. Es ist immer Schnee, aber er ist immer anders. Funkelnd und vielschichtig und überraschend. Ein Buch, das über etwas scheinbar Vertrautes interessante Einblicke in poetische Individualität gewährt.

Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Ankündigung

 

Schnee aus Samt!

Was für ein wunderschönes Buch! Optisch und haptisch. Dunkelblauer Samt und diese kleinen weißen Sprenkel-Pünktchen…
Und innen? Auf jeder Seite (nur?) ein Gedicht. (Ok, es gibt Ausnahmen, wie „Der Schnee von heute“ von Durs Grünbein, der gleich zwei ganze Seiten beansprucht und zwei Zeilen auf einer dritten.)
Was Schnee ist und nicht ist…
Es geht auf Seite 7 mit „Tristitia ante…“ von Jakob van Hoddis los und endet auf Seite 191 mit der „schneekönigin“ von Birgit Kreipe. Zufall? Auf der Seite davor „Selbstgebaut“ von Ilse Aichinger, schließend mit: „Platz für den König!“

Seltsam leer erscheinen mir einige Verse, inhaltlich. Manche sind kurz, hier fehlt, worum es geht:

es war die farbe grün
also nicht winter
und wenn doch
dann ohne schnee
obwohl auf einem berg
wenn auch nicht ganz oben

von Ernst Jandl.
Von seiner langjährigen Lebensgefährtin Friederike Mayröcker ist etwas dabei:

Raptus

weisz oder Winterzähnchen, die
Zeitlosigkeit ist entlaufen, ein…

Oh nein, weiter nicht, denn jetzt wird es blutrot…
Lieber dieses Rot vor Weißem

„LIED“ (von ihr)

du spielst eine Sonate von Beethoven
die glatte Stille zerbricht
und wird ein kreisender Duft
rote Kelche heben sich deinem Lächeln entgegen
hinter deiner Stimme ist Schnee:
leise schleiert dein Bernsteinring
meine Gedanken ein
o Abend

Und – noch lieber? – ein anderes Gegen-Stück zu Herrn Jandl, im Erleben:

Robert Walser

SCHNEE (II)

Jetzt seh ich von der Welt
von Himmel und von Erd
nichts als den weißen Schnee.
Hier Schnee und wieder Schnee,
dort Schnee und wieder Schnee.
Ich sehe nichts vom Grün…

So soll’s sein! Oder?

Gottfried Benn:

RAUHREIF

Etwas aus den nebelsatten
Lüften löste sich und wuchs
Über Nacht als weißer Schatten
Eng um Tanne, Baum und Buchs.

Und erglänzte wie das Weiche
Weiße, das aus Wolken fällt,
Und erlöste stumm in bleiche
Schönheit eine dunkle Welt.

Paul Celan, Else Lasker-Schüler (beide mehrmals vertreten), Hans Thill (einmal) – altbekannte und neuere Namen, 90 DichterInnen, aus den letzten 100 Jahren.
Eins meiner Lieblingsgedichte gehört zu den kurzen, es ist von Ror Wolf, und es kommt viel Schnee drin vor, vor allem gewinnt der Schnee, und das finde ich gut:

WETTERVERHÄLTNISSE

es schneit, dann fällt der regen nieder,
dann schneit es, regnet es und schneit,
dann regnet es die ganze zeit,
es regnet und dann schneit es wieder.

Serafinas Tanz, amazon.de, 18.1.2012

Schnee, Schnee, überall Schnee,

im Flockentanz und als massive Decke

– Passend zur Jahreszeit stromern Dichter durch weiße Welten. –

Wenn der Zug wieder einmal in Schneeverwehungen stecken bleibt oder das Flugzeug wegen Vereisung nicht starten kann, tröstet dies handliche Büchlein über alle Winterkatastrophen hinweg. Mittels deutschsprachiger Schneegedichte der vergangen hundert Jahre kann man durch die „Antischneepupille“ Gerhard Falkners schauen, ein ganzes Kapitel „Schneerätseltiere“ erraten oder mit Jürgen Becker einen imaginären Schneemann bauen. Schnee als wandelbare Kunstform der Natur ist der ideale Stoff für Gedichte. Als Flockentanz oder Schneedecke belebt er Landschaften oder lässt sie erstarren.
Denker wie Rolf Dieter Brinkmann erkunden den „erratischen Charakter“ des Schnees. Pessimistische Geister wie Günter Kunert inspiriert er zu einer lakonischen Beschreibung des Verschwindens der Menschheit. Auch Hans Magnus Enzensberger kommt im Wirrwarr des Schneegestöbers die „kalte Erleuchtung“. Vielleicht unternehmen wir doch lieber eine Zeitreise rückwärts im Schnee mit Sarah Kirsch? Erstaunlich, wie Ulrike Draesner sich auf einem Bein im Schnee dreht! Neben Spiel, Komik und Gezänk sind Verse voller Gedankentiefe und vollendeter Bildkraft zu entdecken. Sie zählen zu den Weltschätzen der Poesie, darunter Paul Celans „Heimkehr“ und Nelly Sachs’ “Sie reden Schnee“.

Dorothea von Törne, Die Welt, 7.1.2012

Aufgelesen – für Abtaucher

– Gedichtete Welten entdecken, für die man ein bisschen Zeit mitbringen muss, die es aber wert sind: Wir haben literarische Anregungen für alle, die es sich gönnen, mal eine Weile abzutauchen. Auch schön als Geschenk! –

Noch ist nicht Weihnachten, und trotzdem ist schon ein Wunder geschehen: Ich mag jetzt Gedichte. Jahrelang habe ich mich gegen sie gewehrt, ohne einen Grund nennen zu können. Ich mochte einfach keine Gedichte, so wie man auch die Oper nur lieben oder hassen kann. Gut, es war wie mit der Oper. Denn Ron Winkler hat mich überzeugt. Er hat sich die Mühe gemacht, 176 deutschsprachige Gedichte aus den vergangenen 100 Jahren zu sammeln, die sich alle mit Gefühlen rund um den Schnee beschäftigen. Plötzlich fühlte es sich so an, wie Albert Ehrenstein es beschreibt:

WINTER

Leise,
wie wider meinen Willen
fallen Flocken Schnee zu Boden.
Leise,
wie wider meinen Willen
falle ich zu Boden.

Wie wider meinen Willen bin auch ich eingeknickt und zu Boden gefallen: vor den Schneegedichten. Die sind kurz bis sehr lang, modern wie altmodisch, und das Abtauchen in Winterwelten und Kindheitserinnerungen funktioniert sogar, wenn die Sonne scheint.
Das Buch fühlt sich übrigens auch noch gut an, während man sich die Worte im Kopf zergehen lässt. Es ist nämlich aus dunkelblauem Velours und mit weißen Schneeflocken übersät. Wo die hinfallen, verändert sich was.
Robert Walser:

SCHNEE (I)

Es schneit, es schneit, bedeckt die Erde
mit weißer Beschwerde, so weit, so weit.

Es taumelt so weh hinunter vom Himmel
das Flockengewimmel, der Schnee, der Schnee.

Das gibt Dir, ach, eine Ruh’, eine Weite,
die weißverschneite Welt macht mich schwach.

So dass erst klein, dann groß mein Sehnen
sich drängt zu Tränen in mich hinein.

Marlis Schaum, dw.com, 1.12.2011

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Tobias Roth: Diese kalte fraktale Grammatik
fixpoetry.com, 17.1.2012

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + FacebookPIA +
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Dirk Skiba Autorenporträts
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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Ron Winkler

 

Ron Winkler liest zweites urbanes Panneau im Maxim Gorki Theater Berlin („Hardcover Studio“) am 5.2.2011.

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